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Hamburg 1622. Anneke Claen, Tochter einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie, wird der Hexerei bezichtigt. Mithilfe eines teuflischen Amuletts soll sie ein Unwetter herbeigerufen und Menschen krank gezaubert haben. Einige mysteriöse Todesfälle in ihrem Umfeld erhärten den Verdacht. Sie wird eingekerkert und soll unter Folter alle Missetaten gestehen. Wird ihr die Flucht ins Holländische gelingen? Dort könnte sie Ihre Unschuld mittels der kaiserlichen Hexenwaage beweisen. Das ergreifende Schicksal der Hamburger Kaufmannstochter Anneke Claen, nach einer alten Handschrift erzählt. Eine wahre Geschichte, die unter die Haut geht.
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Seitenzahl: 444
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Antje Windgassen
Die Hexe von Hamburg
Historischer Roman
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes von: © http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_a_lady_-_Collectie_Smidt_van_Gelder.jpg
und © Antje Windgassen (historische Karte)
ISBN 978-3-8392-4730-3
Für Angela, Iris, Marianne, Petra und Wolfram
Eine alte Weisheit besagt: ›Viele Menschen gehen im Leben ein und aus, aber nur ein Freund hinterlässt auch Fußabdrücke‹.
Die neue Welt – im Jahr des Herrn 1519
Man schrieb den 18. Februar. Die spanischen Conquistadores unter dem ehrgeizigen Hernán Cortés verließen Havanna und segelten, auf der Suche nach einem sagenhaften Goldschatz, der unbekannten Küste Mittelamerikas entgegen.
Eine Flottille von elf Schiffen stach in See: neben dem Flaggschiff Santa Maria de la Conception drei weitere Karavellen und sieben kleinere Brigantinen.
Cortés umfuhr die östliche Spitze von Yucatán und segelte dann in nördlicher Richtung an der Küste entlang. Am 12. März erreichte die Expedition das Mündungsgebiet des Tabasco, zehn Tage später den Rio Grijalva. Am 24. März, in aller Frühe überfielen die Spanier die Ortschaft Pontonchan. Sie setzten die Binsenboote am Strand sowie die Grasdächer der einfachen Lehmhütten in Flammen.
Als die Eingeborenen aus dem Schlaf erwachten, brannte das ganze Dorf bereits lichterloh. Sie weinten, beteten, liefen um ihr Leben und wurden dennoch gnadenlos niedergemetzelt – Männer, Frauen und Kinder. Nur wenigen gelang die Flucht.
Der Priester des Dorfes hatte sich in den unterirdischen Teil des Tempels zurückgezogen, fand jedoch auch hier nur für kurze Zeit Sicherheit. Er wusste, dass er mit seinem Dorf würde sterben müssen, wusste, dass der große Gott Itzamná nicht mehr helfen konnte.
Doch ungestraft sollten die Fremden nicht davonkommen. Seine Hände zitterten ein wenig, als er die Flüssigkeit mischte und in eine Schale gab. Dann nahm er das goldene Abbild Itzamnás, das er an einem blauen Sisalband um seinen Hals trug, und tauchte es in die milchige Substanz.
Als die Spanier in den Tempel eindrangen, war der Priester bereits tot. Um seine Hand war noch das blaue Sisalband geschlungen, an dem, im qualmenden Licht der Fackeln gut zu erkennen, eine goldene Figur schimmerte.
Erschrocken wichen die Soldaten zurück. Sie wussten nichts über den Glauben der Eingeborenen, wussten nicht, dass Itzamná für sie der Gott des Himmels war, der Herr des Ostens und des Westens, der ihnen sowohl die Kunst des Schreibens als auch Mais und Kakao geschenkt hatte.
Auf die Spanier wirkte das Amulett wie eine Fratze Satans – Furcht einflößend und Unheil verkündend.
Immerhin, es war aus purem Gold. Das einzige Gold, das die Conquistadores in Pontonchan erbeuten konnten. Und so entschied Cortés, die Figur mitzunehmen und sie dem Schatz hinzuzufügen, den er seinem König nach Europa senden wollte …
Die alte Welt – im Jahr des Herrn 1622
Es war finster in Europa, finster und kalt. Das 17. Jahrhundert brachte den Menschen nicht nur Hungersnöte und Seuchen, sondern auch den Krieg der Kriege, der bereits vor vier Jahren entbrannt war. Der Dreißigjährige Krieg war eine der größten Katastrophen der europäischen Geschichte. Er verwüstete blühende Landschaften und kostete Millionen Menschen das Leben. Ganze Landstriche wurden in Schutt und Asche gelegt, Unschuldige gefoltert, vergewaltigt und vertrieben.
Feldherren wie Wallenstein, Tilly und der Schwedenkönig Gustav II. Adolf führten riesige Armeen durch das Land, die, ständig auf der Suche nach Nahrung, wogende Felder zermalmten und nichts als verheertes Land und erschlagene Bauern zurückließen. Hungersnöte und Seuchen folgten den Truppen.
Immer schneller drehte sich die Spirale der Gewalt – zum Krieg gegen das eigene Land, die eigenen Leute, jeder gegen jeden.
Eine der wenigen Städte, die bisher von den Schrecken des »Großen Krieges« unbehelligt geblieben war, war die Hansestadt Hamburg, die sich seit 1618 zudem »Freie Reichsstadt« nennen durfte und demnach nur noch dem Kaiser und keinem Landesfürsten unterstellt war. Zwar hatte Dänenkönig Christian IV. gegen den Spruch des obersten Gerichtes des Heiligen Römischen Reiches Berufung eingelegt, weil er Hamburg als Teil Holsteins und damit als sein Eigentum betrachtete, konnte sich mit seinen Ansprüchen dem Kaiser gegenüber aber nicht durchsetzen.
Nun galt Hamburg mit seinen 40 000 Einwohnern als die größte Stadt des Reiches – und als die reichste. Der Handel blühte, und der Wohlstand war so groß, dass es viele neue stattliche Häuser gab.
Gut zwei Jahrzehnte zuvor hatte man das Rathaus an der Trostbrücke vergrößert. Es trug jetzt als einzigen Schmuck das Hamburger Wappen, nicht mehr das der Grafen von Holstein und Stormarn. Das war Hamburgs Antwort an den Dänenkönig Christian IV., der die hansischen Kaufleute als »hochmütige Krämer und Pfeffersäcke«, »schmierige Heringshändler« und »Bärenhäuter« beschimpft hatte.
1618 war die Hamburger Bank, als erste Deutschlands überhaupt, gegründet worden. Sie hatte ihren Sitz im Rathaus gleich neben der Börse. Der gut verschlossene Silberkeller wurde rund um die Uhr bewacht.
Um die Ecke, am Neß, stand ein gleichfalls stattliches Gebäude: das Gasthaus Kaiserhof – eine wahrhaft hochherrschaftliche Unterkunft für vornehme Reisende. Der Pächter des Kaiserhofs hatte von der Stadt die ausdrückliche Genehmigung erhalten, jede Kammer mit einem Ofen auszustatten. Außerdem durfte er im Winter Maskenbälle veranstalten.
Immer mehr Kaufleute ließen sich Häuser bauen, die offen ihren Reichtum zeigten, und ab 1611 waren sogar alle Straßen des Stadtgebiets gepflastert.
Ja, der Wohlstand war so groß, dass sich der Rat der Stadt genötigt sah, eine Verordnung gegen die übertriebene Kleiderpracht der Bürger und gegen unangemessen hohe Ausgaben bei Festen zu erlassen.
Auch die Armen wurden nicht vergessen, ein Waisen- und ein Pesthaus waren neu errichtet worden, und in der Spitalerstraße gab es mehrere Hundert neue Gotteswohnungen.
Das Geld für ein modernes Werk- und Zuchthaus wurde auf ganz neuartige Weise zusammengebracht: Hamburg hatte 1614 eine Lotterie veranstaltet. Über dem Tor des Gebäudes, das in der Nähe der Binnenalster stand, war in Stein gemeißelt: LABORE NUTRIOR, LABORE PLECTOR (Durch Arbeit werde ich ernährt, durch Arbeit werde ich gezüchtigt).
Die Gelehrtenschule des Johanneums, 1529 von Johannes Bugenhagen, dem Gesandten Martin Luthers, gegründet und an der Großen Johannisstraße gelegen, hatte bereits mehr als 1100 Schüler, und seit drei Jahren gab ein gewisser Johann Meyer die »wöchentliche zeitung aus mehrerley örther« heraus.
Um das alles vor den benachbarten Dänen und den ständig näher rückenden Wirren des Großen Krieges zu schützen, hatte die Stadt beschlossen, Hamburg zur stärksten Festung Deutschlands auszubauen. Anstelle der Stadtmauern umgaben jetzt gewaltige sternförmig angeordnete Wälle das Stadtgebiet, das nach Westen hin um das Doppelte vergrößert worden war.
Sechs Jahre dauerten die Arbeiten unter der Leitung des niederländischen Baumeisters Johan van Valckenburgh bereits an, und noch war ein Ende nicht absehbar …
2. Juli 1622 – Mariä Heimsuchung
»Wonach hältst du Ausschau?« Neugierig musterte Philipp seine Schwester, als er in ihr Zimmer trat.
Anneke, die am Fenster saß, wandte sich zu ihm um. Sie lächelte schuldbewusst.
»Nach nichts Bestimmtem«, erwiderte sie. »Ich verstecke mich nur vor Mutter und Gertrude, um mich ein wenig ausruhen zu können. Es gibt für das große Fest morgen noch so viel zu tun.«
Philipp lachte und trat neben sie.
»Meine brave Schwester drückt sich vor der Arbeit? Wer hätte das gedacht.«
»Du hast es grad not, dich lustig zu machen«, wehrte Anneke ab. Sie war es gewohnt, sich gegen ihre großen Brüder zur Wehr zu setzen, und von Philipp, der dem lieben Gott ohnehin die Zeit stahl und von der Arbeit weniger hielt als ein Klumpen Blei, musste sie sich gewiss keine Vorhaltungen machen lassen.
Philipp reagierte nicht, sondern schaute interessiert aus dem Fenster.
»Sieh nur, das alte Weib. Wie eine neugierige Katze streicht sie durch das Viertel und kommt schon zum dritten Mal die Straße entlang. Kennst du sie?«
Anneke schüttelte den Kopf, blickte nun aber auch neugierig hinab.
Philipp öffnete das Fenster, um besser sehen zu können. Schwer auf ihren Stock gestützt, humpelte die Alte am Haus der Claens vorbei und murmelte leise vor sich hin.
»Richtig unheimlich ist sie«, fand Anneke schaudernd.
In diesem Augenblick blickte das Weib zu ihnen herauf, bemerkte sie und hob ihren Stock.
»Will sie uns etwa drohen?«, wunderte sich Philipp belustigt.
»Gewiss nicht«, widersprach Anneke. »Wahrscheinlich ist sie nicht ganz helle im Kopf.«
»Nein«, stellte Philipp erstaunt fest. »Sieh nur, sie gibt uns Zeichen, herunterzukommen. Ich möchte wirklich wissen, was sie von uns will.«
Ohne auf seine Schwester zu warten, verließ Philipp das Zimmer und lief die breite reich geschnitzte Treppe hinunter, die in die große Halle des weitläufigen Hauses führte.
Anneke zögerte kurz, entschied sich dann aber doch, ihm nachzueilen.
Gemeinsam traten sie aus der Haustür, direkt auf die Alte zu.
»Meine Reverenz, hübsche Jungfer und gnädiger Herr«, sagte sie. »Wie gefällig von Euch, mich alte Frau zu begrüßen. Mein Name ist Azadeh, und ich stamme nicht von hier. Meine Heimat liegt weit entfernt. Habt Ihr schon einmal von einer Stadt namens Algier gehört?«
Philipp antwortete nicht. Als Sohn eines Kaufmanns wusste er, dass Algier zum Osmanischen Reich gehörte, noch immer ein Piratennest war und am Mittelländischen Meer lag. Doch ihn interessierte eine ganz andere Frage.
»Was willst du von uns und warum fuchtelst du mit deinem Stock vor unserem Haus herum?«
»Zu Eurem Nutzen, gnädiger Herr. Es gibt nur wenige Frauen, die wie ich aus der Hand eines Menschen das Schicksal lesen können, gleichwohl dem Apotheker in seinem Rezeptbuch. Wie viel gebt Ihr mir, wenn ich Euch die Zukunft weissage?«
Anneke hatte sich bisher zurückgehalten und einen Schritt hinter ihrem Bruder gestanden. Doch nun mischte sie sich ein.
»Wir haben kein Geld bei uns«, sagte sie abweisend. »Und außerdem ist es verboten, zauberische Wahrsagekünste anzuwenden und entgegenzunehmen. Wir können dafür alle aus der Stadt gestäupt werden.«
Besorgt sah sie sich um.
Philipp lachte laut auf.
»Du Hasenherz, wer sollte uns denn anklagen? Weit und breit ist doch niemand zu sehen.«
Er suchte bereits in der Tasche seines schwarzen Überrocks nach ein paar Schillingen.
»Mich würde meine Zukunft jedenfalls sehr interessieren«, erklärte er und fügte gleich darauf kleinlaut hinzu: »Geld habe ich allerdings nicht dabei. Ich müsste schnell noch einmal ins Haus …«
»Das macht nichts«, erklärte die Alte hastig. »Ihr seid so freundlich, dass ich Euch die Zukunft umsonst weissagen will.«
Sie hieß die Geschwister, ihr die linke Hand vorzuweisen.
Philipp gab ihr seine sofort, seine Schwester zögerte. Doch dann siegte die Neugier, und sie streckte der Fremden gleichfalls ihre Linke entgegen.
Diese betrachtete die Hände eine Weile und brummte dann: »Merkwürdig, Ihr habt beide die gleichen Linien wie ich, die für ein rastloses Leben und weite Reisen stehen. Und bei Euch, Jungfer …« Sie stockte und schaute Anneke erschrocken ins Gesicht.
»Was ist mit mir«?, wollte das Mädchen erstaunt wissen. »Werde ich wirklich weite Reisen machen?«
Die Alte gab ihre Hand frei.
»Dass Euch Hören und Sehen vergeht«, murmelte sie. »Und der gnädige Herr noch weitere. Doch es wird ein großes Unglück über diese Familie …«
»Treibst du dich noch immer vor unserem Haus herum, alte Gaunerin?« Plötzlich stand Hausmagd Gertrude wie aus dem Boden gewachsen neben ihnen.
Die Wahrsagerin nahm sich nicht einmal die Zeit, sich zu verabschieden, sondern humpelte sofort und so schnell sie konnte davon.
Anneke wollte ihr hinterher, wollte wissen, was die unheilschweren Worte zu bedeuten hatten, doch Gertrude hielt sie zurück.
»Mit solch dreckigem Gesindel musst du nicht sprechen«, sagte sie streng. »Heute Morgen war sie schon einmal da, ich habe sie hinausgeworfen. Außerdem habe ich mich nach ihr erkundigt. Sie ist eine schmutzige Diebin, verrückt und böse. Und es schadet dem Ruf des Hauses, mit ihr auch nur gesehen zu werden. Hat sie euch wenigstens nicht bestohlen?«
Unwillkürlich griff sich Anneke an den Arm.
Ein Seidenband, das der Mode gemäß ihre weiten Ärmel teilte und von einer mit Perlen verzierten Rosette gehalten wurde, war verschwunden.
»Na also«, giftete Gertrude. »Das wird euch beiden hoffentlich eine Lehre sein.«
Obwohl sie nur eine Magd war, nahm sie sich das Recht heraus, so streng mit Anneke und Philipp zu sprechen. Immerhin stand sie schon länger in Diensten der Claens, als die jungen Herrschaften an Jahren zählten.
»Hol dir rasch ein neues Band, Anneke«, ordnete sie an. »Danach, lässt dir deine Mutter ausrichten, sollst du auf den Markt gehen und ein paar Besorgungen machen.«
Bevor noch jemand auf die Idee kommen konnte, ihn gleichfalls einzuspannen, zog Philipp es vor, sich eilig zu verabschieden.
»Ich muss mich um meine Geschäfte kümmern«, murmelte er und entfernte sich in Richtung Hafen.
Gertrude schüttelte nur den Kopf.
»Geschäfte?«, wiederholte sie geringschätzig. »Das wird bestimmt nichts Gescheites sein.«
*
Zu Füßen der majestätisch aufragenden Backsteinkirche St. Nikolai, die dem Heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Seefahrer, geweiht war, lag der Hopfenmarkt, der quirligste Markt der Kaiserlich Freien Reichs- und Hansestadt Hamburg. Hier herrschte stets ein buntes Leben und Treiben, standen die Händler bei ihren Körben und Schrangen und priesen lautstark ihren für die Bierstadt Hamburg so wichtigen Hopfen an. Doch auch Obst und Gemüse aus den Vierlanden, Eier, Butter und Milch von der Insel Wilhelmsburg und natürlich Brot und Fleisch wurden angeboten. Es gab kaum ein Lebensmittel, das man auf dem Hopfenmarkt nicht erstehen konnte.
Dieser Markt war mehr als nur Einkaufsmöglichkeit der Hamburger. Man sah und wurde gesehen, machte Geschäfte, tauschte Neuigkeiten aus und hielt gern einen kleinen Klönschnack, wenn die Gelegenheit sich bot.
Danach stand Anneke jedoch heute nicht der Sinn.
Einen schönen Braten sollte sie kaufen für das große Fest, das am nächsten Tag im Haus ihrer Familie gefeiert werden sollte, und steuerte daher zielstrebig auf die Fleischschrangen der Knochenhauer zu, die in langer Reihe aufgebaut waren.
Ohne zu zögern trat Anneke an den Stand von Piet Wieland; die Claens pflegten ihr Fleisch immer bei ihm zu kaufen.
»Ah, die Jungfer Anneke!«
Der Knochenhauer strahlte über das ganze Gesicht.
Bei Gott, eine wahre Augenweide war sie wieder mit ihren dunklen lockigen Haaren, den veilchenblauen Augen und dem schlichten, jedoch aus feinstem Tuch gefertigten Kleid in eben der gleichen Farbe. Ihr einziger Schmuck war der große weiße Spitzenkragen, der ihr über die Schultern fiel, und die zarten aufgestülpten Spitzenmanschetten an den weiten gebauschten Ärmeln.
Anneke war der Blick des Fleischhauers nicht entgangen; da er es jedoch trotz aller Bewunderung niemals an der erforderlichen Höflichkeit mangeln ließ, lächelte sie nur und kam auf ihr Anliegen zu sprechen:
»Denkt Euch, Meister Wieland, wir feiern morgen ein großes Fest zu Ehren meines Großonkels …«
Der Knochenhauer wusste Bescheid.
»Des Herrn Joachim, unseres neuen Bürgermeisters!«
»Ja genau. Und seine Wahl soll gebührend gefeiert werden. Dafür brauchen wir einen guten Festbraten.«
»Da habe ich genau das Richtige«, nickte der Knochenhauer. »Vor wenigen Tagen erst sind fette Ochsen im Küterhaus am Heilig Geist geschlachtet worden. Ganz frisch und sehr gute Ware.«
Meister Wieland schnitt ein prächtiges Bratenstück aus einer Rinderkeule und präsentierte es Anneke. »Etwas Besseres bekommt Ihr nirgends.«
Sie nickte zufrieden und holte einen großen Schmortopf aus ihrer Markttasche.
»Gebt mir das Fleisch nur in den Topf«, bat sie. »Ich werde es gleich zum Bäcker bringen.«
Bevor Anneke ihren Topf jedoch wieder in der Markttasche versorgen konnte, wurde er ihr aus den Händen genommen.
»Lasst mich Euch helfen, Jungfer Anneke.«
»Maarten!«
Sie lächelte den jungen Mann, der so plötzlich vor ihr stand, überrascht und erfreut zugleich an.
Zu erfreut, wie sie sofort selbst feststellte. Für eine brave Jungfer ziemte sich mehr Zurückhaltung. Daher fuhr sie rasch in vorwurfsvollem Ton fort: »Müsst Ihr nicht mit Eurem Herrn auf den Wällen stehen und die Erdarbeiten beaufsichtigen?«
Der junge Niederländer schmunzelte.
Ihm war wohl bewusst, dass die Geduld der Hamburger, was den Ausbau der Befestigungsanlagen betraf, fast erschöpft war. Allenthalben hielt man seinen Meister, Johan van Valckenburgh, zur Eile an.
Er zog seinen Filzhut mit der breiten Krempe und der Reiherfeder vom Kopf und deutete eine galante Verbeugung an.
»Wir geben uns die größte Mühe, Hamburg und die Jungfer Claen zufriedenzustellen. Doch um Eure Frage zu beantworten: Ich habe Besorgungen für den Herrn Baumeister zu erledigen und ritt gerade vorüber, als ich Euch sah.«
»Und anstatt pflichtbewusst Eurem Auftrag nachzukommen, stiegt Ihr vom Pferd?« Auch Anneke musste nun lächeln.
»Oh, ein wenig Zeit kann ich schon erübrigen«, gab Maarten van Aelst zurück. »Gerade genug, um Euch zum Bäcker zu geleiten und Euch anschließend eine kleine Überraschung anlässlich des heutigen Tages zu bereiten.«
»Eine Überraschung?«
Neugierig sah Anneke zu dem jungen Niederländer auf.
18 Lenze zählte er und war damit nur ein Jahr älter als sie. Doch während sie als behütete Tochter einer wohlhabenden Familie aufwuchs, war Maarten schon früh zur Waise geworden und hatte sein Leben selbst in die Hand nehmen müssen. Vielleicht wirkte er deshalb trotz seiner Jugend so bedeutend älter und reifer als sie.
Zum Bäcker war es nicht weit. Auf dem Weg warf Anneke immer wieder verstohlene Blicke zu ihrem Begleiter hinüber, der mit der einen Hand sein Pferd führte und in der anderen die Markttasche trug.
Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, wie gut er aussah, groß und kräftig, mit seinen schulterlangen blonden Locken, aufgeweckten grünen Augen und einem Mund …
Anneke rief sich selbst zur Ordnung.
*
Nachdem der Braten beim Bäcker abgegeben war, verließen sie die Stadt durch das Steintor. Auf dieser Seite waren die Befestigungsarbeiten Hamburgs fast abgeschlossen. Tiefe wassergeflutete Gräben hatte man ausgehoben und hohe Wälle angeschüttet, die von insgesamt elf Ravelings und 22 Bastionen verstärkt wurden.
Jede einzelne Bastion trug den Namen eines Mitglieds des Hamburger Rates. Und Anneke war sehr stolz darauf, dass die Bastion Joachimus, zwischen Dammtor und Millerntor gelegen, nach ihrem Großonkel benannt worden war.
Natürlich verschlang der Bau der Wallanlagen sehr viel Geld, das von der Stadt durch großzügige Stiftungen und eine Sondersteuer, dem sogenannten Grabengeld, aufgebracht wurde.
Doch nicht nur Geld mussten die Hamburger Bürger geben, sondern sich auch an den Festungsarbeiten beteiligen. Ferner hatte man alle Männer der Stadt zwischen 18 und 60 Jahren zu einer Bürgerwache mobilisiert und jedem Einzelnen vorgeschrieben, welche Waffen er zu seiner Verwendung besorgen musste. Darüber hinaus standen 3000 Söldner in Lohn und Brot.
Ja, in Hamburg durfte man sich sicher fühlen. Und Sicherheit war in diesen Tagen ein seltenes, kostbares Gut. Dafür mussten die Hamburger wohl oder übel Opfer bringen und in Kauf nehmen, dass ihre Stadt seit Jahren einer riesigen Baustelle glich.
*
Hinter dem Steintor befand sich der Lämmermarkt, begannen die Landstraßen, die nach Lübeck und Berlin führten. Schwere Fuhrwerke rumpelten auf ihnen dahin.
Maarten würdigte sie jedoch keines Blickes, sondern schlang den Zügel seines Pferdes um den Stamm einer jungen Birke und trat unter das Laubdach eines kleinen Gehölzes. Mit gesenktem Kopf schritt er dahin und schien offensichtlich etwas zu suchen.
Als Anneke ihn aus den Augen verlor, setzte sie sich an das mit Gras bewachsene Ufer des Wassergrabens, um dort auf ihn zu warten.
Sie war ein wenig beunruhigt, weil sie schon längst wieder hätte daheim sein müssen, und sich die Aale, die sie auf dem Fischmarkt erstehen sollte, noch nicht in ihrer Markttasche befanden.
Um sich die Wartezeit zu vertreiben, beobachtete sie angelegentlich ein Schwanenpärchen, das seine ruhige Bahn durch den Graben zog. Wie schön diese Tiere waren, wie graziös und elegant sie sich bewegten.
Doch plötzlich, als würden sich die Schwäne durch die Beobachterin gestört fühlen, hoben sie mit kräftigen Flügelschlägen und Paddeltritten von der Wasserfläche ab und flogen in Richtung Alstersee davon.
Nachdenklich blickte Anneke ihnen nach. Sie wusste wohl, dass ihre Vaterstadt ein besonderes Verhältnis zu diesen stolzen Vögeln hatte, um ihr Wohlergehen besorgt war und sie im Winter sogar mit Getreide fütterte.
Eigentlich war das Halten von Schwänen ausschließlich ein Privileg des Hochadels. Doch Hamburg als Freie Reichsstadt nahm dieses Recht gleichfalls in Anspruch – nicht zuletzt, um Dänenkönig Christian IV., der sich die Stadt an Alster und Elbe nur allzu gern einverleibt hätte, eine lange Nase zu drehen.
Schon deshalb galten die Schwäne in Hamburg als Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit.
»Jungfer Anneke?«
Als sie Maartens Stimme hinter sich hörte, wandte sie sich um. Er trat auf sie zu, die Hände zu einer Schale geformt, die mit duftenden roten Früchten gefüllt war.
»Die ersten Walderdbeeren«, lächelte er. »Und wie es sich geziemt, zu Mariä Heimsuchung gepflückt.«
*
Das Claen’sche Anwesen gehörte zu den stattlichsten Häusern der Deichstraße. Die prächtige Fassade mit ihren geschnitzten Knaggen war zwar schmal, doch das Gebäude, das mit der Rückseite direkt an den Mündungsarm der Alster grenzte, hatte genügend Tiefe, um ausreichend Platz für Wohnung, Kontor und Lager zu bieten.
Durch ein reich verziertes Eingangsportal gelangte man am Kontor vorbei in die große lichte Diele, die das gesamte Erdgeschoss einnahm.
Hier wurden Waren angeliefert, registriert, gewogen, neu verpackt und wieder verschickt oder mit der Haspelwinde ins Lager befördert, das sich unter dem Dach befand.
Von diesem Speicher aus ließ sich eine Luke öffnen, die zum Fluss hinausging, und durch die, gleichfalls mittels einer Winde, Waren direkt von den Schuten und Ewern gelöscht werden konnten.
Die Diele mit ihren kostbaren Kronleuchtern, der aufwendig bemalten Holzdecke, den mit Schnitzwerk verzierten großen Schränken und Truhen und dem wuchtigen gleichfalls verzierten Kamin bot viel Platz für lange Tafeln und war daher der Raum für jedwede gesellschaftlichen Anlässe – von der Kindstaufe bis zum Leichenschmaus.
Eine hölzerne Treppe mit reich geschnitztem Geländer führte zur Galerie hinauf, von der die Wohn- und Schlafräume der Familie abgingen. Darüber, über eine einfache Stiege zu erreichen, lagen die Räume der Dienstboten.
Die Küche befand sich auf halber Treppe. Ebenso wie das Kontor verfügte sie über Fenster, die den Blick auf die Diele boten und somit den Eindruck erweckten, ein Haus im Haus zu sein.
Und in eben diese schlüpfte Anneke gerade in dem Augenblick, als es von St. Nikolai zur fünften Nachmittagsstunde schlug.
Schnell versorgte sie die Markttasche samt Aalen und hoffte, ungesehen in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Doch Gertrude hatte sie bereits bemerkt.
»Da bist du ja endlich. Wo warst du? Warum kommst du so spät? Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?«
Schuldbewusst senkte das Mädchen den Blick. Da sie nicht einschätzen konnte, was die Magd von ihrem kleinen Ausflug mit Maarten halten mochte, stotterte sie verlegen:
»Ich war … ich habe …«
Gertrude hatte jedoch keine Zeit für lange Erklärungen. »Deck schon einmal den Tisch für das Nachtmahl, und dann geh dich umkleiden. Wenn deine Mutter dich so liederlich bei Tisch sieht, wird sie verärgert sein.«
Anneke sah an sich herab.
Der Staub auf den Straßen hatte ihre Schuhe und den Saum ihrer Röcke beschmutzt, die gleichfalls hässliche grüne und rote Flecken aufwiesen.
Schnell blickte sie zu Gertrude hinüber.
Hatte sie die Gras- und Erdbeerflecken etwa bemerkt?
Doch die Magd beugte sich gerade über den Kochkessel, in dem eine köstlich duftende Ochsensteertsuppe brodelte, und schenkte ihr im Augenblick keine weitere Aufmerksamkeit.
Bevor sich das wieder änderte, schlüpfte Anneke schnell aus der Küche, zog es jedoch vor, um auch weiterhin unbequemen Fragen zu entgehen, sich zuerst umzukleiden.
Als sie schließlich sauber und adrett, wie es sich für eine Tochter aus gutem Hause geziemte, die Treppe in die Diele hinabstieg, erwies sich schnell, dass ihre Vorsicht durchaus begründet gewesen war.
»Da bist du ja, Anneke!« Vom Fuß der Treppe sah ihr die Mutter entgegen. »Hast du alle Besorgungen erledigt, die ich dir aufgetragen habe?«
Elisabeth Claens Stimme klang weich und leise. Sie pflegte niemals laut zu sprechen, verschaffte sich aber dennoch Gehör.
»Ja, Frau Mutter«, entgegnete Anneke. »Einen vorzüglichen Rinderbraten habe ich kaufen können. Und die Aale sind frisch und fett, wie es sich gehört.«
»Gut, gut.«
Wohlwollend nickte Elisabeth ihrer Tochter zu.
»Und jetzt richtest du den Tisch für das Nachtmahl? Lass dir von Hinnerk bei Wein und Bier helfen, damit wir pünktlich essen können. Ich habe ihn eben noch hinten an der Waage gesehen.«
»Bin schon zur Stell’, bin schon zur Stell’.«
Der stets gut gelaunte Hausknecht hatte die Anweisung vorausgeahnt und setzte bereits zwei Krüge auf den langen Esstisch – einen mit schäumendem Bier und einen mit würzigem rotem Portugieser.
Anneke lächelte ihm zu.
»Du bist fix heute, Hinnerk«, sagte sie, als sie an einen großen Schrank trat, in dem das weiß glasierte Fayenceservice und das schlichte Alltagsbesteck verwahrt wurden.
Der Knecht lachte.
»Ich habe ja auch großen Hunger, Jungfer Anneke. Und je eher die hohen Herrschaften bei Tische sitzen, umso schneller wird mir die Gertrude meinen eigenen Teller füllen. Hauptsache, es gibt heute nicht schon wieder Lachs.«
Sein eben noch lachendes Gesicht nahm plötzlich einen besorgten Ausdruck an.
Anneke lächelte belustigt.
Vor ein paar Jahren hatten die Hamburger Dienstboten beim Rat der Stadt Klage geführt, weil sie stets und ständig von ihren Herrschaften Lachs vorgesetzt bekamen – eine billige Speise, da es großen Überfluss an Lachsen gab.
Der Rat hatte seinerzeit verfügt, dass die Herrschaften ihren Mägden und Knechten nicht häufiger als zweimal wöchentlich Lachs zu essen geben durften. Im Hause Claen hielt man sich streng an diese Verordnung.
»Keine Sorge, Hinnerk. Ich habe vorhin in Gertrudes Küche keinen Lachs gesehen.«
Das Gesicht des Hausknechtes erhellte sich so schnell, wie es sich vorher verdüstert hatte.
»Wenn ihr mich nicht mehr braucht, Jungfer, würde ich gern selbst einen Blick in die Küche tun«, erklärte er augenzwinkernd.
»Ja geh nur, Hinnerk«, lachte Anneke. »Aber lass dich nicht von Gertrude erwischen. Du weißt doch, Pottkieker kann sie gar nicht leiden.«
*
Der Tisch war fertig gedeckt.
Als Anneke Brot und geräucherte Würste auftrug, kamen ihr Vater und ihr Großvater aus dem Kontor. Freundlich nickte Ludwig Claen seiner Enkelin zu.
»Nun, mein Kind. Was wird Gertrude uns heute Feines auftischen?«
Bei allem Respekt für das Oberhaupt ihrer Familie und des erfolgreichen Handelshauses stellte Anneke belustigt fest, dass er ebenso neugierig war wie sein Hausknecht.
»Ich weiß es nicht genau«, entgegnete sie lächelnd, »aber ich habe Ochsensteertsuppe in Madeirawein gerochen und etwas von Stubenküken munkeln hören.«
Ihr Großvater nickte zufrieden und setzte sich auf seinen Stuhl am Kopfende der Tafel.
»Das hört sich vielversprechend an«, meinte er.
Die Claens pflegten gern und gut zu speisen. Besonders zum Abendessen, der Hauptmahlzeit des Tages und einzigen Gelegenheit, zu der die ganze Familie zusammentraf, ließen sie alles auftischen, was Hamburgs Märkte zu bieten hatten.
Nach und nach trafen auch die anderen ein: Mutter Elisabeth und Annekes ältere Brüder Friedrich und Philipp.
Sobald alle Platz genommen hatten, begannen Gertrude und ihre Gehilfin Hanna die warmen Speisen aufzutragen: die Suppe und die knusprig gebratenen Stubenküken, dazu gebackene Pastinake, Erbsmus, gebratene Eier und zum Nachtisch einen prächtigen »Großen Hans«, ein in einer geschlossenen Form im Wasserbad gegarter Teig aus Mehl, Butter, Eier und Rosinen, der heute zu Ehren Mariä Heimsuchung mit Erdbeeren aufgetischt wurde.
Nachdem Ludwig Claen das Tischgebet gesprochen und dem Herrgott für seine reichen Gaben gedankt hatte, reichte man die wohlgefüllten Schüsseln herum.
Doch plötzlich wurde die Stille, die durch den Genuss der ersten Bissen entstanden war, von einer lauten Kanonensalve zerrissen.
Zunächst erschrocken, dann erstaunt sahen sich die Tischgenossen an.
»Das war doch keine Signalkanone«, stellte Leopold Claen stirnrunzelnd fest.
»Nein«, stimmte sein Sohn Friedrich zu. »Dazu war es zu laut. Aber wer schießt denn den Abschiedsgruß als volle Breitseite?«
Auch Ludwig schüttelte verwundert den Kopf.
»Das ist das eine. Und das andere: Ich wüsste kein Handelsschiff, das heute Abend noch den Hafen …«
Er wurde von einer erneuten Kanonensalve unterbrochen.
»Das kommt nicht vom Hafen«, stellte Leopold fest. »Das könnte vielleicht aus Altona sein oder gar aus Neumühlen …«
Polternd sprang Philipp vom Tisch auf. Er war rot vor Zorn.
»Diese Tölpel!«, knurrte er böse. »Diese verdammten Tölpel!«
»Mäßige dich, Philipp«, rief Elisabeth ihren Sohn sofort zur Ordnung. »Dies ist ein gottgefälliges Haus. Hier wird nicht geflucht.«
Doch Philipp sah seine Mutter nicht einmal an. Wie es schien, war er ganz außer sich und stürmte ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung hinaus auf die Straße.
Als er die Tür hinter sich ins Schloss warf, ertönte die dritte Salve.
»Was sind das nur für Sitten?«, rügte Ludwig vorwurfsvoll.
Die Tischrunde war sich nicht sicher, ob er damit seinen Enkel Philipp oder die Seeleute des Schiffes meinte, die in derart lautstarker Manier den Drei-Salven-Abschiedsgruß, den jedes Schiff, das auf große Fahrt ging, der Stadt gebot, gefeuert hatten.
Sowie der eine als auch die anderen hatten auf jeden Fall despektierlich gehandelt. Da war man sich einig, und darüber musste kein weiteres Wort verloren werden.
Bevor sich die Claens jedoch wieder ihrem Abendessen widmen konnten, geschah es: Eine laute Detonation ließ die Fensterscheiben klirren. Ein roter Schein erhellte den Himmel im Westen und tanzte flackernd auf den vor Schreck versteinerten Gesichtern der Anwesenden.
Einen Augenblick saßen sie starr, dann stürzten alle ans Fenster.
Glocken begannen zu läuten, und ein Ruf pflanzte sich fort: »Es brennt! Es brennt!«
*
»Ich lauf schnell zum Hafen, um in Erfahrung zu bringen, was geschehen ist«, stieß Friedrich hervor.
»Ich komme mit«, ließ sich auch Leopold vernehmen. »Bisher sind keine Flammen zu sehen, also scheint für unser Haus keine unmittelbare Gefahr zu bestehen. Aber vielleicht können wir an anderer Stelle helfen.«
Auch Anneke wollte sich anschließen, wurde von ihrer Mutter jedoch zurückgehalten: »Du weißt doch, dass wir Frauen bei Bränden nicht auf die Straße dürfen.«
Die Jungfer hielt inne und sah Vater und Bruder, die gerade das Haus verließen, enttäuscht hinterdrein.
»Ach ja, die neue Feuerordnung«, meinte sie gedehnt. »Die habe ich ganz vergessen. Aber das ist schließlich kein Wunder, so unsinnig, wie sie abgefasst ist.«
Elisabeth, die sich kein Urteil über den Beschluss des ehrenwerten Hamburger Rates anmaßte, sah ihre Tochter tadelnd an.
»Es ist doch wahr«, ereiferte sich Anneke. »Uns Frauen wird vorgeworfen, nur aus Neugier hinauszulaufen und überall im Weg zu stehen. Als wenn wir nicht gleichfalls helfen könnten.«
»Die Ratsleute werden gewiss ihre Gründe für diese Entscheidung gehabt haben. Punktum«, beendete ihre Mutter die Diskussion.
Anneke seufzte.
»Dann lauf ich eben nach oben. Vielleicht kann man an der Speicherluke mehr sehen als von hier …«
Eine weitere Detonation, die noch lauter als die erste war und sogar das große Haus erzittern ließ, unterbrach sie. Erschrocken fuhren die beiden Frauen zusammen.
Während Elisabeth und ihr Schwiegervater zurück ans Fenster stürzten, lief Anneke, so schnell ihre Füße zu laufen vermochten, die drei Treppen zum Speicher hinauf. Als sie den großen mit Ballen, Säcken und Fässern vollgestopften Raum atemlos betrat, fand sie Gertrude und die junge Hilfsmagd Hanna bereits vor, die gleich ihr die Idee gehabt hatten, sich von hier oben einen Überblick zu verschaffen.
»Kann man erkennen, was geschehen ist?«
Gertrude schüttelte den Kopf, und Hanna, die sich weit aus der Luke beugte, berichtete: »Nur eine große dunkle Rauchwolke ist zu sehen. Sie ist aber jenseits der Stadtgrenze.«
Anneke blickte der Magd über die Schulter.
»Das Feuer scheint in Altona zu toben oder sogar noch dahinter«, stellte sie erstaunt fest. »Da wundert es mich doch sehr, dass wir die Kanonaden und Detonationen hier so laut hören konnten. Was, um alles in der Welt, mag dort passiert sein?«
Diese Frage ließ sich vom Speicher des Claen’schen Hauses aus nicht klären. Wohl oder übel würde man sich also bis zur Rückkehr von Leopold und Friedrich Claen gedulden müssen, um Genaueres zu erfahren.
Nachdenklich blickte Anneke auf die Rauchwolken im Westen.
»Was sagt die neue Feuerverordnung über Brände, die außerhalb der Stadt wüten? Müssen wir Frauen trotzdem im Haus bleiben?«
Weder Gertrude noch Hanna wussten eine Antwort auf diese knifflige Frage.
Der Ehrentag Joachim Claens
In der Gröningerstraße, ganz in der Nähe der schmucken Katharinenkirche, stand das Englische Haus, aus massivem Backstein erbaut mit prächtiger Fassade und hohem Staffelgiebel. Hamburg hatte es der englischen Kaufmannsgilde zur Verfügung gestellt; daher trug es seinen Namen.
Und eben hier hatte Kurfürst Friedrich von der Pfalz unlängst, als er in Hamburg zu Besuch weilte, ein üppiges Festbankett gegeben.
Natürlich war auch Bürgermeister Vincent Möller unter den geladenen Gästen gewesen, ein Mann, der sich bei Essen und Trinken noch nie als Kostverächter erwiesen hatte. Dieses Mal schien er des Guten jedoch zu viel genossen zu haben, denn Vincent Möller starb an den Folgen dieser ausgedehnten dienstlichen Zecherei.
Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen aber bekanntlich sin Nachtigall. Jedenfalls war der Weg frei für Joachim Claen, der bereits seit sechs Jahren dem Rat der Stadt angehörte, Hamburg erfolgreich bei schwierigen Verhandlungen mit den Dänen und den Holsteinern vertreten hatte und nun zum Bürgermeister gewählt worden war.
Und genau das sollte heute im Hause Ludwig Claens gefeiert werden.
Doch nach dem schrecklichen Unglück vom Vortag schien ein ausgelassenes Fest nicht angemessen, auch wenn die Claens noch immer nicht wussten, was genau geschehen war.
Ein Schiff, das auf der Reede vor Neumühlen gelegen hatte, sollte explodiert sein, hatten Leopold und Friedrich in Erfahrung gebracht. Und viele Tote hätte es dabei gegeben.
Auch wenn man bisher mehr nicht wusste, war das Wenige schon Grund genug, die Feier abzusagen. Doch dann entschied man sich, zumindest das Festmahl abzuhalten, das immerhin seit Tagen vorbereitet wurde.
Essen und trinken musste der Mensch, egal, was sonst auf der Welt geschah.
*
Joachim Claen, seine Frau Margaretha und sein Sohn Erich kamen zur verabredeten Stunde in das Haus an der Deichstraße. Und während die Dienerschaft die Speisen bereitete und die festliche Tafel herrichtete, zogen sich die Herren auf einen Krug Bier ins Kontor zurück und die Damen auf ein Gläschen Likör in die gute Stube des ersten Stocks.
Da Mägde und Knechte alle Hände voll zu tun hatten, übernahm es Anneke, den Herren das Bier aufzutragen. Sie versah diesen Dienst nicht ungern und ließ sich viel Zeit dabei, weil sie insgeheim hoffte, etwas über das gestrige Unglück zu erfahren. Wenn einer über die Geschehnisse Bescheid wusste, dann war es ja wohl der Herr Bürgermeister.
Natürlich konnte Anneke ihren Großonkel nicht selbst um Aufklärung bitten. Als junge unvermählte Frau hatte sie in dieser Herrenrunde sittsam zu schweigen.
Aber wie erwartet griff ihr Großvater das Thema auf, sobald sich die Herren niedergesetzt hatten. Und Joachim Claen ließ sich auch nicht lange bitten, sondern begann in aller Ausführlichkeit zu berichten:
»Eine spanische Galeone ist es gewesen, die vor Neumühlen lag und mit voller Ladung nach Malaga segeln wollte. Da man noch auf die Ebbe warten musste, um auszulaufen, wurde ein fröhlicher Umtrunk gehalten – vom Kapitän und seinem Schiffsvolk, aber auch von Händlern, deren Waren die Galeone geladen hatte und ihren Freunden und Bekannten. Während man ausgelassen Abschied feierte, ließ der Kapitän zur allgemeinen Ergötzung alle Kanonen des Schiffes abfeuern …«
»Ja, und sie waren nicht zu überhören«, knurrte Ludwig.
Sein Bruder nickte.
»Das laute Spektakel wird gewiss auch den anwesenden Hamburger Händlern sauer aufgestoßen sein. Doch bevor sie noch Einspruch erheben konnten, wurde bereits die zweite Salve abgeschossen. Und weil aller guten Dinge drei sind, schließlich auch die dritte. Dabei muss dann wohl Feuer ins Pulverfass geraten sein – vermutlich durch eine Unachtsamkeit des betrunkenen Constablers. Und eben das hat die erste Explosion ausgelöst.«
Um sich die Kehle für seinen weiteren Bericht anzufeuchten, griff Joachim nach seinem Bierkrug und nahm einen kräftigen Schluck.
»Herr van Valckenburgh und sein Gehilfe sind gerade eingetroffen«, meldete Gertrude in die Redepause hinein.
Leopold erhob sich sofort und ging den neuen Gästen entgegen.
Anneke zupfte derweil aufgeregt an ihrer Schürze herum, die einige unschöne Bierflecken aufwies. Sollte sie rasch nach oben laufen, um die Schürze zu wechseln, oder das verschmutzte Kleidungsstück einfach ablegen?
So wollte sie Maarten jedenfalls nicht gegenübertreten. Dass er den holländischen Baumeister begleitete, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
Da sie vor der Tür zum Kontor bereits Stimmen hörte, blieb ihr keine Wahl mehr. Rasch nahm sie also die Schürze ab, schlug sie zusammen und legte sie hinter sich auf ein Stehpult.
Und da traten die Herren auch schon ein.
Joachim Claen erhob sich höflich. Auch wenn er der Bürgermeister war, galt der Baumeister, der Herr über die neuen hamburgischen Verteidigungsanlagen, doch ebenfalls als sehr respektable Person.
»Valckenburgh, wie schön, dass Ihr uns die Ehre erweist. Schließlich wissen wir, wie knapp Eure Zeit bemessen ist.«
Die Herren tauschten ihre Höflichkeiten aus und nahmen dann wieder Platz.
»Anneke«, wies der Vater die Tochter an, »bring unseren Gästen Bier. Oder hättet Ihr lieber einen guten Port, Valckenburgh?«
Die Neuankömmlinge entschieden sich für den in Hamburg so beliebten Gerstensaft. Und während die Tochter des Hauses zwei weitere Humpen auf den Tisch stellte, blickte sie unauffällig zu Maarten hinüber.
Wie gut er heute wieder aussah in seinem schwarzen Rock mit dem weißen die Schultern fast vollständig bedeckenden Spitzenkragen.
Als er ihren Blick bemerkte und ihr zulächelte, wich sie seinen Augen jedoch aus und griff hastig nach dem Bierkrug, um den Gästen einzuschenken.
Nein, Vertraulichkeiten wollte sie dem jungen Holländer auf keinen Fall gestatten. Was sollten denn Vater und Großvater von ihr denken? Von dem Herrn Bürgermeister und Herrn van Valckenburgh ganz zu schweigen.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Rede ihres Großonkels, der seinen Bericht wieder aufgenommen hatte:
»Dass der spanische Segler ein Schmugglerschiff war, das unter den deklarierten Waren wie Tuch, Amidam und Messinggeschirr in Fässern verpackte Musketen, viele, mit einem gut erkennbaren böhmischen Punzzeichen versehene Acht-Kilo-Kupferbarren und große Mengen an Schießpulver geladen hatte, wussten zu jener Zeit nur Eingeweihte. Dieses Schießpulver wurde durch die erste Explosion entzündet. Mit schrecklichem Donnerkrachen und feuriger Lohe flog die Galeone in die Luft samt all den feiernden Menschen, die sich darauf befanden. Sogar zwei mit Korn beladene Ewer, die gerade vorbeifuhren, wurden von der Explosion ergriffen und gingen ebenfalls zugrunde. Die Leute, die am Ufer standen, wurden mit verbranntem Getreide überschüttet und von durch die Lüfte wirbelnden Kupferbarren getroffen. Insgesamt hat man bisher 44 Tote gezählt, die teils durch die Explosion zerstückelt, zerrissen oder verbrannt wurden. Und noch heute treiben auf der Elbe abgetrennte Gliedmaßen umher. Sogar in einem nahen Kornfeld fand man ein halbes Bein. In der Hosentasche steckte ein Kontorschlüssel, durch den man herausfand, dass es sich um den angesehenen Kaufmann Franz Denzel handelte, den auch Ihr kennt, wie ich meine«, wandte er sich an Bruder und Neffen.
Die drei nickten bedrückt.
»Nun«, seufzte Joachim, »seiner Familie bleibt nur, dieses Bein zu Grabe zu tragen. Die Trauer ist groß, aber Gottes Wege sind unergründlich.«
*
Die Tafel war auf das Feinste gedeckt, und das frisch polierte Silbergeschirr glänzte hell im Licht der Kerzen, als Elisabeth die Gäste zu Tische bat. Einige angesehene Kaufleute hatten sich noch eingefunden und sogar vier Ratsherren mit ihren Frauen. Eine vornehme Tischrunde. Nur einer fehlte: Philipp Claen.
»Hast du deinen Bruder gesehen?«, wollte Elisabeth in flüsterndem Tone von ihrer Tochter wissen, doch Anneke konnte nur mit dem Kopf schütteln.
»In seinem Zimmer ist er nicht, da habe ich bereits nachgeschaut.«
Elisabeth war erzürnt.
»Was sich der Junge nur denkt. So eine Respektlosigkeit dem Großonkel gegenüber! Der Vater ist auch schon ganz ungehalten.«
»Ich verstehe es nicht«, gab Anneke leise zurück. »Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er gestern so plötzlich vom Tisch aufgesprungen und aus dem Hause gelaufen ist. Spät am Abend, ich lag schon im Bett, ist er zurückgekehrt. Ich habe ihn in seiner Kammer rumoren hören. Und heute Morgen muss er schon in aller Frühe aufgebrochen sein.«
Elisabeth nickte.
»Auch wenn wir es gewohnt sind von Philipp, dass er seiner eigenen Wege geht, diesmal treibt er es auf die Spitze. Ich hoffe nur, ihm ist nichts zugestoßen.«
Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter wurde jäh unterbrochen, als Martha, die Gattin des Ratsherrn Erich Stoltow, auf sie zutrat und sich über Elisabeths neuen Tafelaufsatz aus Silber begeistert zeigte.
»Eine hervorragende Arbeit, und wie fein sich diese schmückende Blumenranke ausnimmt. Ja wirklich, zu diesem Silberstück kann man Euch nur beglückwünschen.«
Bei Tisch drehten sich die Gespräche zunächst nur um das gestrige Unglück, um die Personen, die das Festmahl abgesagt hatten, weil sie in unmittelbarer Beziehung zu einem der unglücklich Verstorbenen standen, und um Geschichten, die sich im Zusammenhang mit dem schrecklichen Ereignis abgespielt hatten.
»Denken Sie sich nur«, wusste Margaretha Claen zu berichten. »Von allen, die sich an Bord des Schiffes befunden haben, überlebten nur zwei: eine Frau in gesegneten Umständen und ein Bootsknecht. Nach der ersten abgefeuerten Salve wurde es der Frau so übel, dass sie darum bat, an Land gehen zu dürfen. Der Bootsknecht ruderte sie zum Strand hinüber. Und nachdem sie ihre Füße gerade auf das feste Land gesetzt hatte, kam es zur Explosion. Einer der herumfliegenden Kupferbarren hat sie zwar gestreift, doch bis auf den kleinen Kratzer blieb sie ebenso wie ihr Fährmann unverletzt.«
Auch Martha Stoltow wusste eine Geschichte zu erzählen: »Die Witwe Krampen, sie lebt auf dem Brook, hatte ein einziges Kind, eine Tochter, sehr wohlerzogen, von lieblicher Gestalt und bei jedermann wohlgelitten. Sie war einem Hinrich Kräfting versprochen, der als Handlungsdiener bei einem Tuchhändler beschäftigt war. Dieser Kaufmann war auf die Unglücks-Galeone geladen und hieß den Kräfting, mit ihm zu gehen. Der junge Mann wiederum bat nun seine Verlobte, ihn zu begleiten, um sie bei dieser heiteren Gelegenheit seinem Prinzipal vorstellen zu können. Die Jungfer weigerte sich jedoch, konnte allerdings keinen Grund für ihre Ablehnung benennen. Da drang die Mutter in sie und überredete die Tochter mit viel Mühe, mit ihrem Hinrich zu gehen. Das brave Mädchen gehorchte – und ist nun tot. Die Mutter, die es nur gut gemeint hatte, macht sich nun die größten Vorwürfe, bezichtigt sich selbst, die Mörderin ihres Kindes zu sein, und ist vom Gemüt her schwer erkrankt.«
Diese und andere Geschichten waren noch eine Weile Thema bei Tisch. Und als es nichts mehr dazu zu sagen gab, hing man einem anderen Gedanken nach, der gleichfalls alle Hamburger bewegte: der nicht enden wollende Ausbau der Wallanlagen. Und da der Baumeister dieser Arbeit mit am Tische saß, wurde die Gelegenheit genutzt, Fragen zu stellen.
»Wie lange glaubt Ihr, Valckenburgh, wird es noch dauern, bis die Befestigungen endgültig fertiggestellt sind?«, wollte Leopold Claen wissen.
»Nun, ich denke, dass Ihr Euch noch drei Jahre gedulden müsst«, gab der Holländer zurück. »Diesen Termin hatte ich von Anfang an genannt, und da wir mit den Arbeiten richtig im Zeitplan sind, wird er aller Voraussicht nach auch eingehalten werden können.«
Der Bürgermeister schmunzelte.
»Unser lieber Valckenburgh will uns damit sagen, dass der Festungsbau nicht früher fertig sein wird, egal, wie oft wir fragen.«
»Ganz recht«, nickte der Holländer ernst. »Und er will Euch den Rat geben, zu unserem Herrgott zu beten, dass der Große Krieg Hamburg nicht früher erreichen möge.«
Um das Gesprächsthema nicht wieder in Trauer und Sorge abgleiten zu lassen, warf Elisabeth schnell ein: »Ich werde mich wohl nie dran gewöhnen, dass am Ende der Steinstraße nicht mehr das Steintor steht, sondern dass man erst einen Bogen über die Mühren machen muss, um es zu erreichen.«
Obwohl ihr Ausspruch eigentlich nur eine Ablenkung sein sollte, fühlte Johan van Valckenburgh sich angegriffen:
»Da die Steinstraße direkt auf eine der vorgesehenen Bastionen zuführte, blieb keine andere Wahl, als das Tor zu versetzen«, murmelte er, und es war offensichtlich, dass er es überdrüssig war, diese Erklärung abzugeben.
»Aber natürlich, Herr van Valckenburgh«, beeilte sich Elisabeth zu versichern. »Um das Tor im Falle eines Angriffs schützen und verteidigen zu können, musste es nach Norden …«
Sie hielt inne. Hatte es nicht gerade an der Haustür geklopft? Als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass Gertrude bereits öffnen ging.
Zwei Büttel waren es, die Einlass begehrten. Und einer von ihnen trug einen breitkrempigen Filzhut in der Hand, der mit einer Feder und einer auffällig gestickten Schmuckborte verziert war. Philipps Hut!
Den ganzen Tag über hatte sich bei Elisabeth der Ärger über ihren unpünktlichen Sohn mit der Sorge um ihn abgewechselt. Nun aber, da sie die beiden Büttel sah, glaubte sie fast die eisige Hand zu spüren, die nach ihrem Herzen griff.
Hastig wollte sie von ihrem Stuhl aufspringen, aber ihre Beine schienen ihr den Dienst zu versagen.
Auch ihr Gemahl hatte nun die Ankunft der beiden hamburgischen Ordnungshüter bemerkt und ging ihnen entgegen.
»Mein Name ist Leopold Claen«, erklärte er mit seiner befehlsgewohnten Stimme. »Was ist der Grund für Ihren Besuch?«
»Bitte verzeiht, dass wir Euer Fest stören«, sagte der Büttel, der den Hut in seiner Hand hielt und sich höflich verneigte – auch in Richtung seines obersten Dienstherrn, dem Bürgermeister. »Aber wir müssen uns erkundigen, ob Euch dieser Hut bekannt erscheint.«
Leopold nickte. »Es ist ohne Zweifel der Hut meines Sohnes Philipp. Wo steckt der Nichtsnutz? Was hat er jetzt wieder angerichtet?«
Elisabeth trat nun gleichfalls heran.
»Bitte reden Sie doch. Ist unserem Sohn Übles geschehen?«
»Das wissen wir nicht genau«, entgegnete der Büttel, der bisher das Wort geführt hatte. »Aber es ist ein junger Mann am Elbstrand, unweit des Altonaer Fischmarktes, aufgefunden worden. Sein Kopf ist so böse verletzt, dass sein Gesicht nicht mehr erkennbar ist, und …«
»Ist er – tot?« Elisabeths Stimme klang verzweifelt, als sie den Büttel unterbrach.
»Ja, meine Dame«, nickte dieser. »Wie es scheint, ist auch er ein Opfer der Schiffs-Auffliegung vor Neumühlen geworden. Und da er in seinen Taschen nichts bei sich trägt, was auf seinen Namen und seine Herkunft schließen lässt, wird er wohl nur an seiner Kleidung und eben diesem Hut, der neben ihm lag, zweifelsfrei benannt werden können.«
»Wo ist er jetzt?«, wollte Leopold mit tonloser, aber beherrschter Stimme wissen.
»Er liegt im Wachhaus am Millerntor«, gab der Büttel zurück. »Ein Leutnant der Bürgerwache hat den Toten gefunden und, weil er den Hut erkannte, dorthin schaffen lassen. Ein Mitglied der Familie Claen muss nun bezeugen, ob es sich bei dem Unglücklichen tatsächlich um einen der Ihren handelt oder nicht.«
Leopold nickte. »Es ist gut. Ich begleite Euch. Wartet, ich hole nur schnell Hut und Mantel.«
»Ich werde ebenfalls mitgehen«, ließ sich Elisabeth vernehmen, doch ihr Mann schüttelte den Kopf.
»Hast du vergessen, dass wir Gäste haben?«
»Nein«, gab sie zurück. »Aber ein jeder von ihnen wird es verstehen. Ich bin schließlich Philipps Mutter.«
»Und ich bin sein Vater. Es wird ausreichen, wenn ich den Toten identifiziere«, erklärte Leopold mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Solange sie verheiratet waren, hatte Elisabeth dieser Stimme gehorcht. Doch heute wollte sie das Wort ihres Mannes nicht gelten lassen.
»Ich gehe mit«, sagte sie entschlossen.
Auch der Büttel versuchte nun, sie zum Bleiben zu bewegen.
»Der Tote sieht wahrhaft grausig aus, meine Dame. Das ist fürwahr kein Anblick für eine Frauensperson.«
»Ich gehe mit«, wiederholte Elisabeth nur. »Ich bin seine Mutter.«
Und dieses Mal duldete ihre Stimme keinen Widerspruch.
*
Nachdem die Eltern und die Büttel gegangen waren, hätte Anneke die Gäste am liebsten aufgefordert, ebenfalls das Haus zu verlassen. Aber das widersprach natürlich der Gastfreundschaft, zumal sich alle Anwesenden offensichtlich bemüßigt fühlten, mit ihrem Großvater, ihrem Bruder und ihr auf die Rückkehr von Mutter und Vater zu warten.
Noch immer stand sie in der Nähe der Tür und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Philipp sollte tot sein? Nein, das war unmöglich. Das konnte gar nicht stimmen. Er war doch stark, gesund und sprühend vor Leben, ein richtiger Draufgänger und …
Maarten trat zu ihr.
»Kommt, Jungfer Anneke«, sagt er leise und mit deutlicher Besorgnis in der Stimme. »Setzt Euch zu uns. Ihr seid bleich wie die Wand und solltet vielleicht zur Stärkung einen Schluck Wein zu Euch nehmen.«
Mit Tränen in den Augen sah sie zu ihm auf.
»Philipp kann nicht der Tote sein, der im Wachhäuschen liegt«, sagte sie. »Er hat das Haus gestern doch nur wenige Minuten vor der Explosion verlassen. In der kurzen Zeit kann er unmöglich bis zum Elbstrand in Altona gekommen sein.«
»Vielleicht hat er ein Pferd genommen«, gab Maarten zu bedenken.
»Ja vielleicht«, stimmte Anneke zu. »Aber auch dann wäre die Zeit zu knapp bemessen gewesen, zumal er in diesem Fall erst zum Stall musste, um sein Pferd zu holen, es zu satteln … Nein, das kann nicht sein. Außerdem habe ich ihn spät am Abend noch in seiner Kammer gehört. Wenn er da tatsächlich schon tot gewesen wäre, wer sollte denn dort rumort haben? Sein … sein Geist vielleicht?«
Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund.
*
Der Büttel hatte nicht übertrieben, der Tote sah tatsächlich schrecklich aus. Anstelle seines Gesichtes fand sich nur noch eine blutige Masse, der Schädel war gespalten und die Haare waren völlig abgesengt. Aber es waren Philipps Stulpenstiefel, die er trug, seine schwarze unter den Knien gebundene Hose, sein Rock und sein Lederkoller. Ohne Zweifel war der Tote exakt gekleidet wie Philipp, als er gestern aus dem Haus gestürmt war.
»Diese Gegenstände haben wir in den Taschen und im Beutel des Mannes gefunden«, sagte einer der Büttel und legte einige Münzen, ein Kartenspiel, eine grün glasierte Tonpfeife und einen ledernen Tabakbeutel auf den roh gezimmerten Tisch des Wachhauses.
Die Tränen liefen Elisabeth über das Gesicht, als sie die Pfeife aufnahm, die sie so oft in den Händen ihres Sohnes gesehen hatte. Neben seinem so außergewöhnlich bestickten Hut war sie stets sein ganzer Stolz gewesen – und vermutlich die einzige grüne Tabakpfeife Hamburgs.
Hilfe suchend sah sie ihren Mann an. Leopold griff tröstend nach ihrem Ellenbogen. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte.
»Ja, bei dem Toten handelt es sich um Philipp Claen, unseren Sohn«, sagte er dann mit bemüht fester Stimme. »Es besteht kein Zweifel.«
*
Das stattliche Haus in der Deichstraße wurde nun zum Trauerhaus. Alle Spiegel waren verhängt, denn wenn ein Toter sich spiegelt, so hieß es, folgt ein weiterer Todesfall. Alle Uhren waren angehalten, weil der Tote das Zeitliche verlassen hatte und seine Ruhe finden sollte. Alles Wasser in Becken, Eimern und Krügen war ausgegossen, damit die Seele nicht durch das Wasser gehen konnte. Und aus dem gleichen Grund hatte man auch alle Feuer gelöscht. Um die Totenruhe nicht zu stören, waren alle Arbeiten eingestellt worden. Niemand im Haus durfte waschen oder kochen, und die notwendigen Mahlzeiten brachten, wie es Brauch war, die Nachbarn ins Trauerhaus.
Der Raum, in dem Philipp aufgebahrt wurde, war in warmes Kerzenlicht getaucht und duftete zudem sacht nach Veilchen. Der Tote lag friedlich da, war fein und ordentlich angezogen. Über sein geschundenes Gesicht war ein weißes Leinentuch gebreitet. Friedrich, Vater Leopold und Großvater Ludwig – drei Generationen Claen-Männer – hielten die Totenwache.
Am nächsten Tag kamen die Familie, Freunde und Nachbarn, um Philipp die letzte Ehre zu erweisen und Abschied zu nehmen.
Anneke war eine der Letzten, die den Raum betrat. Leise kam sie näher, legte eine weiße Margerite, die sie in der Neustadt gepflückt hatte, auf die Brust ihres Bruders und setzte sich dann auf einen Stuhl neben seinem Lager.
Wie weiß seine Hände sind, dachte sie, und welche Ruhe sein Körper ausstrahlt, so, als wolle er mich beruhigen, mir sagen, dass alles gut wird, dass ich nicht weinen soll und dass er mich liebt.
Stumm hielt Anneke in Gedanken Zwiesprache mit ihrem Bruder und verabschiedete sich von ihm.
Doch plötzlich begriff sie, das es das letzte Mal sein würde, dass sie ihn sah, dass sie ihn berühren, über seine Hände streichen konnte. Die Endgültigkeit des Abschieds wurde ihr erst jetzt so richtig bewusst. Leise begann sie zu weinen.
Als Elisabeth den Raum betrat und die Tochter so vorfand, legte sie tröstend den Arm um die zuckenden Schultern des Mädchens.
Sie war jetzt sehr gefasst.
»Der Heiland hat gesagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben«, sagte sie leise und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Philipp ist nun in einer besseren Welt, in der es keinen Krieg gibt, keine Krankheit, keine Armut und keinen Hunger. Wir sollten nicht traurig sein, sondern uns vielmehr für ihn freuen. Sola fide, sola gratia, solus Christus.«
Philipp Claen wurde noch am gleichen Tage auf dem Kirchhof beigesetzt. Die Trauerrede hielt Magister Hardkopf, der Hauptpastor von St. Nikolai zu Hamburg. Er schilderte den Verstorbenen als lebenslustigen jungen Menschen, der stets Heiterkeit und Frohsinn verbreitet hatte.
Darüber, dass Philipp Claen ein leichtsinniger junger Mann war, ohne jede Strebsamkeit, der seine Zeit am liebsten mit süßem Nichtstun verbrachte und allerlei Flausen im Kopf hatte, verlor der Magister kein Wort.
Schließlich sollte man über Tote nichts Schlechtes reden, sondern sie in Frieden ruhen lassen.
*
Fast lautlos tauchte der große Schatten aus dem Nebel auf – ein hoher Schiffsrumpf, graue Segel, weit ausgestreckte Rahen. Gleitend zog die Dreimast-Karacke, an deren Bug der Name »Nuestra Señora« prangte,
dem offenen Meer entgegen. Leise knarrten Stagen und Ruder. Als der Handelssegler die Insel Neuwerk passierte, sprang der auffrischende Wind auf West um und jagte die niedrig liegenden Nebelfetzen gegen das Festland davon. Vor dem Bug spritzten nun die Wasser hoch, und in das Brausen des Windes und das Klatschen der Wellen mischte sich der kreischende Schrei der Möwen, die aufs Meer niederstießen. Das bisher stille Wasser der Nordsee begann sich zu kräuseln, und aus der Trichtermündung der Elbe schoben sich, nun deutlich erkennbar, die hellen Fluten des Stromes in das offene graugrüne Meer.
Philipp Claen stand an der Reling und blickte zurück: Die Insel Neuwerk mit ihrem mächtigen Wehrturm, das letzte Stückchen Hamburg, verschwand langsam am Horizont. Ein wenig wehmütig war ihm schon zumute, zumal er wusste, dass er niemals zurückkehren konnte.
Mit seinem vorgetäuschten Tod hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Die Brüder Stolten
Im Jahre 1429 lebte in Pinneberg der junge holsteinische Graf Otto aus dem Hause Schauenburg. Er war ein freundlicher Nachbar von Hamburg, und da er des Öfteren in seiner Vogtei Ottensen nach dem Rechten sehen musste, kam er hin und wieder auch in die Hansestadt herüber geritten. Dann saß er mit dem Bürgermeister und den Ratsherren im Ratskeller und ließ es sich bei einem guten Tropfen wohl sein.