Anastasia - das zweite Leben der Zarentochter - Antje Windgassen - E-Book

Anastasia - das zweite Leben der Zarentochter E-Book

Antje Windgassen

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Beschreibung

Bisher ging man davon aus, dass Zar Nikolaj II. und seine gesamte Familie im Juli 1918 von den Bolschewiken ermordet wurden - doch die jüngste Tochter Anastasia hatte das Blutbad überlebt. Die Schwerverletzte floh bis nach Berlin. Da sie sich noch immer verfolgt fühlte, hielt sie ihre Identität streng geheim. Zwei Jahre später wurde sie dennoch erkannt. Doch nun weigerte sich das Haus Romanow, sie als Oberhaupt der Dynastie und Erbin des Zarenvermögens anzuerkennen. Eine Hochstaplerin soll sie sein, so hieß es, und in Wahrheit eine polnische Landarbeiterin …

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Antje Windgassen

Anastasia – das zweite Leben der Zarentochter

Roman

Impressum

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart

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1. Auflage 2018

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © ullstein bild, Großfürstin Anastasia alias Anna Anderson während ihres Aufenthaltes in den USA, 1929

ISBN 978-3-8392-5748-7

Haftungsausschluss

Dieses Buch ist kein historisches Werk, sondern ein Roman, in dem Fakten und Fiktion eine untrennbare Einheit eingehen. So tragen zwar die handelnden Personen ihre historisch richtigen Namen, die individuelle Figurenzeichnung aber und sämtliche Dialoge sind erfunden.

Vorwort

Am 17. Juli 1918 – also vor genau 100 Jahren – wurden Zar Nikolaj II. Alexandrowitsch (50), seine Gemahlin Zarin Alexandra Feodorowna (46), die drei Töchter – Olga (22), Tatjana (21), Maria (19), Thronfolger Alexej (13) und einige persönliche Dienstboten der Zarenfamilie, in Jekaterinburg/Ural von den Bolschewiki ermordet.

Der Kommandeur des Erschießungskommandos, Jakow Jurowski, erklärte damals: »Wir haben etwas Großes vollbracht und die Dynastie ausgelöscht.«

Tatsächlich bedeutete das Massaker das Ende der mehr als 300-jährigen Romanow-Dynastie auf dem russischen Thron.

1613 hatte sie mit Michail Fjodorowitsch ihren Anfang genommen. 1918 fand sie mit Nikolaj II. – dem letzten russischen Zaren – ihr blutiges Ende.

Als er am 1. November 1894 den Thron bestieg, galt er als Hoffnungsträger der Regimekritiker. Doch schon bald stellte sich heraus, dass Nikolaj, wie sein Vater Zar Alexej III. Alexandrowitsch Romanow vor ihm, starr an der Autokratie festhielt und das riesige Reich als Alleinherrscher zu regieren gedachte. Die Forderung nach umfassenden politischen und sozialen Reformen ignorierte er weitgehend.

Nikolaj übersah die Zeichen der Zeit nach politischer Mitbestimmung des Volkes und er übersah die große Not in seinem Reich. Immer deutlicher schlugen ihm und seiner intriganten Hofkamarilla daher Hass und Verachtung entgegen.

Anstatt jedoch längst überfällige Reformen in Angriff zu nehmen, begann Nikolaj der Ablehnung der breiten Masse aus dem Weg zu gehen. Er zog sich mit seiner Familie in die Abgeschiedenheit seiner prächtigen Paläste zurück und verlor auf diese Weise noch mehr den Bezug zu den Problemen der Bevölkerung.

Er wusste es einfach nicht besser. Er hatte es nicht anders gelernt.

Als er das tödliche Attentat auf seinen Großvater, Zar Alexander II., miterlebte, war er zwölf Jahre alt. Aus Sicherheitsgründen hatte die Zarenfamilie nach dem Mordanschlag das festungsartige Schloss Gattschina bezogen, wo Nikolaj – völlig von der Außenwelt abgeschottet – aufwuchs.

Seine schulische Privaterziehung unterstand der Aufsicht des konservativ-klerikalen Juristen Konstantin Pobedonoszew, der großen Einfluss auf das Weltbild des Zarewitsch ausübte – er lehnte den westlichen Liberalismus ab und hob die Notwendigkeit autokratischer Machtentfaltung, legitimiert durch das Gottesgnadentum, stets hervor.

Die Regierungsgewalt eines Zaren – so lernte es der junge Nikolaj – wurde weder durch eine Verfassung noch durch eine gewählte Volksvertretung beschränkt. Er hatte die gesamte Staatsmacht inne. Und Gott, der ihn auf diese Position gehoben hatte, sorgte dafür, dass er die nötige Befähigung für sein Amt erhielt.

Das war die Herrschaftsauffassung Nikolajs, sie stellte er nicht infrage. Menschen, die Kritik an ihm, dem Zaren, übten und an ihm zweifelten, kritisierten seiner Überzeugung nach zugleich Gott und zweifelten an ihm. Und das bedeutete wiederum Blasphemie und durfte auf keinen Fall geduldet werden.

Unterstützt wurde dieses Weltbild von seiner Ehefrau Zarin Alexandra, die ihn in seiner wirklichkeitsfernen Auffassung vehement bestärkte.

Soziale Missstände, die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung, ein verlorener Krieg gegen Japan, die undurchsichtige Stellung des geheimnisvollen Mönchs Rasputin und die verlorenen Schlachten zu Beginn des Ersten Weltkriegs führten schließlich über Hungerrevolten und Generalstreiks zur Februarrevolution 1917 und zur Entmachtung des Zaren.

Die neu gebildete Übergangsregierung stellte die Zarenfamilie im Alexanderpalast in Zarskoje Selo, etwa 25 Kilometer südlich von St. Petersburg, unter Hausarrest, wo sie zunächst kaum Einschränkungen hinnehmen musste. Ihre Isolation bewirkte allerdings, dass sie nun überhaupt nicht mehr mitbekamen, was in ihrem Reich vor sich ging.

Als die provisorische Regierung die Hauptstadt bedroht sah und verhindern wollte, dass die Zarenfamilie eventuell vom Feind befreit würde, deportierte man sie im August 1917 ins sibirische Tobolsk.

Auch hier waren die Haftbedingungen noch durchaus erträglich, zumal die Romanows ein schlichtes und einfaches Leben schätzten.

Anders als in Zarskoje Selo, wo sie ständig von Bolschewiken angepöbelt wurden, schien in Tobolsk noch die alte Ordnung zu herrschen. Jeden Tag läuteten Kirchenglocken, die Bürger der Ortschaft versammelten sich vor dem Haus und grüßten die Zarenfamilie ehrerbietig und selbst die Wachen verhielten sich höflich.

»Uns geht es gut hier. Wir leben still und friedlich«, notierte der Zar im Dezember 1917 in seinem Tagebuch – und meinte es auch so. Inzwischen hatte er das ruhige, beschauliche Leben in Sibirien durchaus zu schätzen gelernt und war erleichtert, nicht mehr die Riesenlast der Verantwortung auf seinen Schultern tragen zu müssen.

Drei Monate später schätzte seine Gemahlin Alexandra die Situation bereits völlig anders ein: »Das Leben ist Schall und Rauch«, schrieb sie im März 1918 an eine Freundin. »Wir alle bereiten uns auf das Himmelreich vor.«

Was war geschehen?

Tatsächlich hatten in Russland einschneidende Veränderungen stattgefunden. Nach der Oktoberrevolution, mit der die kommunistischen Bolschewisten, unter der Führung von Leo Trotzki und Wladimir Iljitsch Lenin, die Macht an sich gerissen hatten, war ein blutiger und brutal geführter Bürgerkrieg entbrannt. Die »Roten«, wie die kommunistischen Bolschewiki genannt wurden, die für die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung eines Arbeiter- und Bauernstaates standen, kämpften erbittert gegen die »Weißen«, die Zarentreuen, die von gemäßigten Republikanern unterstützt wurden.

Anfang 1918 hatten die Bolschewisten zwar einen Frieden mit Deutschland geschlossen und waren als Kriegsteilnehmer aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden, doch nun weitete der Bürgerkrieg sich immer mehr aus. Überall rückten »weiße« Armeen vor, auch in Sibirien.

Um eine drohende Befreiung der Zarenfamilie zu verhindern, wurden Nikolaj und die Seinen Ende Mai 1918 vom sibirischen Tobolsk nach Jekaterinburg am Ural gebracht, wo die Bolschewisten über eine größere Anhängerschaft verfügten. Hier besaß die Geheimpolizei Tscheka ein »Haus zur besonderen Verwendung«, das von dem Kaufmann Nikolaj Ipatjew beschlagnahmt worden war. Die Ostfassade der geräumigen, an einem Hang erbauten Villa lag an der Straßenseite und war eingeschossig, die Westfassade ging auf einen Garten hinaus und war zweigeschossig.

Das Gebäude wurde nun zu einer Festung ausgebaut: Man errichtete eine doppelte, vier Meter hohe Holzpalisade, hinter der Haus und Grundstück von der Straße aus nicht mehr eingesehen werden konnten, strich sämtliche Fensterscheiben weiß und installierte Maschinengewehre auf dem Dach. Dann wurden die Zarenfamilie und die wenigen Bediensteten, die man ihnen zubilligte – Leibarzt Dr. Jewgeni Botkin, Zofe Anna Demidowa, Koch Iwan Charitonow und Kammerdiener Aloisi Trupp – hier einquartiert.

Im Ipatjew-Haus wurden die Romanows erstmalig als Gefangene behandelt. Sie waren völlig isoliert und Ausgänge in die Stadt waren ihnen untersagt. Nur 30 Minuten vormittags und 30 Minuten nachmittags durften sie täglich im Freien, auf einem kleinen Hof, verbringen. Ihre rationierten Mahlzeiten mussten sie mit ihren Bewachern einnehmen. Sie wurden in einer Gemeinschaftsschüssel serviert. Teller und Besteck gab es nicht.

Die Familie musste mit zwei Schlafräumen vorliebnehmen – einen für den Zaren, seine Frau und den an der Bluterkrankheit leidenden Zarewitsch Alexej – in dem anderen nächtigten die vier Töchter.

Es war untersagt, die Fenster zu öffnen oder die Türen zu den primitiven Toiletten abzuschließen. Zu jeder Zeit – auch wenn die Zarin und ihre Töchter sich des Morgens ankleideten – marschierten Soldaten durch die privaten Räume.

Wegen der ständigen Gegenwart ihrer Bewacher, gewöhnten sich die Romanows an, nur noch Englisch oder Deutsch miteinander zu sprechen. Und wenn die Kinder doch einmal in ihre Muttersprache verfielen, wurden sie von der Zarin sofort zurechtgewiesen: »Sprecht um Gottes willen nicht Russisch«, pflegte Alexandra zu sagen. »Die Roten sind gefährlich. Auf keinen Fall dürfen wir sie darüber informieren, was wir denken, fühlen und planen.«

Trink- und Waschwasser waren rationiert, und die lebenswichtige Medizin für den kranken Zarewitsch, der fast ständig das Bett hüten musste, wurde nur unregelmäßig ausgegeben. An den Sonntagen durfte zwar ein Priester kommen und die Messe lesen, aber es war strengstens verboten, mit ihm zu sprechen.

Es waren Tage der Hoffnungslosigkeit – Tage der Demütigung und der Schikanen.

Am 27. Juni 1918 übernahm der Tscheka-Offizier Jakow Jurowski das Kommando im Ipatjew-Haus.

»Wir haben den neuen Kommissar gesehen – sein Gesicht ist sehr unangenehm«, notierte die Zarin.

Sehr unangenehm wurde die Situation auch, als Jurowski die Herausgabe der Juwelen verlangte. Die Verfügungsgewalt über Staatsschatz und Kronjuwelen hatte man dem Zaren bereits im Frühjahr 1917 entzogen. Den privaten Schmuck durfte die Familie jedoch behalten – und das war eine ganze Menge. Schließlich gehörten die Romanows bis vor Kurzem zu den reichsten Familien der Welt. Die Bolschewiken wussten von 50 Kisten Reisegepäck, die seinerzeit die Zarenfamilie von Zarskoje Selo nach Tobolsk begleitet hatten – vollgestopft mit Büchern, Kleidung, Geschirr, Kunstgegenständen, Ikonen und Juwelen.

Als sie nach Jekaterinburg deportiert wurden, hatten die Romanows den größten Teil ihrer Habe in Tobolsk zurücklassen müssen. Das Wertvollste, was sie noch besaßen und mit sich tragen konnten, war der Familienschmuck.

»Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit«, hatte Kommandant Jakow Jurowski der Familie erklärt und den Schmuck vor ihren Augen verpackt, versiegelt und in einen Schrank geschlossen. »Schließlich wollen wir die Wachmannschaften nicht zum Diebstahl verleiten.«

Die Romanows nahmen es hin – ihnen blieb keine Wahl. Allerdings hatten sie Jurowski nicht den gesamten Schmuck ausgehändigt, sondern besonders wertvolle Edelsteine zurückbehalten und diese in die Korsetts der Großfürstinnen und in ihre Kissen eingenäht.

Einen außerordentlich exquisiten Stein, den 89 Karat schweren, gelben Schah-Diamanten – ein Geschenk des persischen Herrschers Fath Ali Schah zu Beginn des 19. Jahrhunderts an Zar Nikolaj I. – hatte man noch in Tobolsk in einer schlichten Aigrette auf Alexandras Hut verborgen. Die Hofdame Sophie Karlowna von Buxhoeveden war der Zarin dabei behilflich gewesen. Für eine Fluchtmöglichkeit aus Jekaterinburg und das nötige Reisegeld, um zu ihrem Vater nach Kopenhagen gelangen zu können, hatte sie ihr Wissen jedoch an Jurowski verraten.

Die Romanows waren entsetzt, als sie davon hörten und den kostbaren Stein auch hergeben mussten. Schließlich sollten die Juwelen das dringend benötigte Startkapital für ihr Leben im Exil darstellen. Noch hofften sie darauf, irgendwann freigelassen und nach London abgeschoben zu werden. Und da sie nicht wussten, dass der jüngere Bruder des Zaren, Michail Alexandrowitsch Romanow, der von den Monarchisten als Nachfolger Nikolajs auf dem Zarenthron gehandelt wurde, bereits am 12. Juni von den Bolschewiken ermordet worden war, schien ihre Hoffnung auch nicht unbegründet.

Ursprünglich hatten die Bolschewiki geplant, den abgesetzten Zaren vor ein Gericht zu stellen und in einem großen Schauprozess für seine Verbrechen am russischen Volk zum Tode zu verurteilen – ähnlich wie einst in der französischen Revolution König Ludwig XVI. von Frankreich.

Der Prozess sollte in Moskau, der neuen Hauptstadt Sowjetrusslands, stattfinden. Doch nun, da die »Weißen« stetig auf Jekaterinburg vorrückten und die Befreiung der Zarenfamilie drohte, war Eile geboten. Auf keinen Fall sollten die Romanows den weißen Konterrevolutionären in die Hände fallen, zu ihren Symbolfiguren werden und ihnen die Möglichkeit geben, die gestürzte Staatsmacht wiederherzustellen.

Daher beschlossen Wladimir Iljitsch Lenin und Staatsoberhaupt Jakow Michailowitsch Swerdlow sowie der Rat der Volkskommissare, in den ersten Juliwochen in Moskau, die Zarenfamilie hinzurichten und das Zarentum somit endgültig und mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Jakow Jurowski wurde mit der Erschießung der Familie beauftragt. Er plante die Hinrichtung für die Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918.

Am 16. Juli 1918 notierte Alexandra: »Mit Nicky Karten gespielt. 10 Uhr zu Bett. 15 Grad.«

Die Nachtruhe war nicht von langer Dauer.

1. Kapitel

Ein Käuzchen schrie.

Unheilvoll klang der heisere Ruf des Vogels durch die Nacht.

Anastasia Nikolajewna Romanowa erschauderte, wunderte sich aber zugleich, dass sie davon erwacht war. Normalerweise hatte sie einen tiefen und festen Schlaf. »Um dich herum könnte die Welt untergehen«, pflegte ihre Schwester Olga zu sagen. »Du würdest es nicht mitbekommen.«

Nun, diesmal hatte sie jedoch etwas geweckt, wenn sie auch nicht zu sagen vermochte, was es gewesen war. Vielleicht doch der Schrei des Käuzchens? Immerhin galt er als böses Omen, als Ankündigung für den nahen Tod eines Hausbewohners.

Die 17-Jährige verzog das Gesicht. Dummer Aberglaube, dachte sie, drehte sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen, als sie ein Geräusch vernahm, das sie aufhorchen ließ. Waren das Schritte?

Das leise Knurren Jemmys, ihres kleinen King Charles Spaniels, der wie gewöhnlich am Fußende ihres Bettes schlief und nun sichernd den Kopf hob, bestätigte ihre Vermutung. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Es bestand kein Zweifel. Es waren Schritte. Sie wirkten bedrohlich und sie kamen näher.

Wer um alles in der Welt geisterte zu dieser Zeit durch das Ipatjew-Haus, dem Gebäude, in dem sie und ihre Familie gefangen gehalten wurden? War es einer ihrer Bewacher – einer dieser Männer, die freien Zugang zu den Räumen der Inhaftierten hatten und mit Vorliebe während der Morgentoilette eintraten, um sie und ihre Schwestern gierig mit ihren Blicken zu verschlingen? Überhaupt, wo steckten Olga, Tatjana und Maria eigentlich?

Angst stieg in ihr auf.

Unwillkürlich zog Anastasia das Laken über die Schultern, so, als könne sie der dünne Stoff schützen. Sie lag mit dem Rücken zur Tür und hätte sich gerne umgedreht, konnte sich aber nicht bewegen, fühlte sich wie gelähmt.

Schließlich stoppten die Schritte vor ihrer Zimmertür. Anastasia hielt den Atem an. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ohne dass sie auch nur einen hätte festhalten können. Deutlich hörte sie nun, wie jemand die Klinke herunterdrückte und langsam die leise knarrende Tür öffnete.

Ihr Puls raste. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Wer auch immer ihr Schlafzimmer betreten hatte, bewegte sich auf sie zu. Das konnte sie zwar nicht sehen, spürte es dafür aber umso deutlicher.

Was sollte sie tun? Sich weiterhin schlafend stellen? Liegen bleiben wie ein Tier auf der Schlachtbank?

Der nächtliche Eindringling musste nun unmittelbar an ihrem Bett stehen. In der Stille hörte sie seinen Atem.

Ich muss etwas tun, befahl sie sich, zögerte kurz, wirbelte dann blitzschnell herum und begann, wie wild nach dem unheimlichen Besucher zu schlagen.

Da ihre Hiebe ins Leere gingen, öffnete sie endlich die Augen und erkannte ihren Widersacher sofort – die große hagere Gestalt, das schmale Gesicht mit den stechenden Augen und dem verfilzten Vollbart. Kein anderer als Jakow Jurowski stand vor ihr.

»Was wollen Sie?«, keuchte Anastasia.

Er antwortete nicht. Doch während er in seine Jackentasche griff, eine Pistole hervorzog und auf sie anlegte, grinste er breit.

Eine Weile schien er sich an ihrer Angst zu weiden, doch dann richtete er die Waffe plötzlich auf den knurrenden und bellenden Jemmy.

Jurowski drückte ab. Ein Schuss peitschte auf. Ihm folgte das schmerzerfüllte Winseln des kleinen Hundes. Anastasia schrie auf. Überall war Blut, warm und klebrig – und das teuflische Lachen Jurowskis.

Es dröhnte noch immer in den Ohren der jüngsten Zarentochter – auch als sie endlich erwachte und begriff, dass sie nur geträumt hatte.

Sie öffnete die Augen und sah in das kleine Gesichtchen Jemmys. Er beugte sich über sie und musterte sie aufmerksam. Offensichtlich hatte er ihre Angst gespürt …

Es war die Nacht auf den 17. Juli 1918.

Ein silberner Halbmond stand am Himmel über Jekaterinburg. Die Stadt zu Füßen des Uralgebirges, die man auch das »Fenster nach Asien« nannte, lag in tiefem Schlaf. Alles schien friedlich und ruhig – ein Eindruck der jedoch trog. Zwar war der Geschützdonner, den man bei Tage in der Ferne hören konnte, seit Einbruch der Dunkelheit verstummt, aber bei Sonnenaufgang würde das Bombardement wieder einsetzen. Das war ebenso gewiss wie die Tatsache, dass das Grollen der Kanonen, das Pfeifen der Granaten, immer näher kam. Ohne Zweifel – die »Weißen«, die Anhänger der Monarchie, befanden sich im Marsch auf Jekaterinburg, um den Zaren Nikolaj II., seine Gemahlin Alexandra, ihre Kinder und Bediensteten zu befreien. Und die »Roten«, die kommunistischen Bolschewiki, die derzeit noch über Jekaterinburg herrschten, schienen nicht in der Lage zu sein, sie davon abzuhalten.

Ein Lastkraftwagen der Marke AMO-F-15 fuhr durch die menschenleeren Straßen der Stadt. Er hatte eindeutig schon bessere Tage erlebt und war ursprünglich einmal rot gewesen. Von der Farbe konnte man aufgrund der zahlreichen Beulen und Schrammen allerdings nicht mehr viel erkennen. Immerhin wiesen zwei rote Fähnchen – eins rechts und eins links am Führerhaus des Eineinhalbtonners befestigt – darauf hin, dass man im Auftrag des Sowjets der Uralgebiete unterwegs war, also in wichtiger Mission.

In der Fahrerkabine saßen zwei Männer – der Fahrzeugführer Askar Bakir, ein kleiner mandeläugiger Kirgise, und Offizier Laons Horvat, der die zehn Soldaten befehligte, die auf der Ladefläche saßen. Sie waren allesamt zu einem Sonderkommando ins Ipatjew-Haus kommandiert worden. Gerade passierten sie die Brücke über den Fluss Isset und bogen in die Straße ein, die den Hügel hinaufführte, auf dessen Spitze die blaugestrichene Christi-Himmelfahrt-Kathedrale stand.

Die Männer in dem Führerhaus wechselten nur wenige Worte und hingen ansonsten schweigend ihren Gedanken nach. Warum hatte Genosse Jurowski sie angefordert? Welche Befehle würden sie erwarten? Sollte die Zarenfamilie evakuiert und an einen anderen sichereren Ort gebracht werden? Oder sollten sie am Ende tatsächlich das Erschießungskommando für den Zaren bilden? Immerhin, in der bolschewistischen Gerüchteküche brodelte es heftig. Seitdem die »Weißen« Jekaterinburg immer näher kamen, hielt man es für nicht unwahrscheinlich, dass Nikolaj ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt und hingerichtet werden sollte.

Endlich hatten sie das Ipatjew-Haus erreicht.

Der Kirgise stoppte den Lkw vor dem Tor, dem einzigen Durchlass der hohen Palisade.

»Kehrst du gleich wieder um?«, wollte Horvat von dem Fahrer wissen?

Bakir schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich habe Befehl zu warten – worauf auch immer. Jurowski wird mir weitere Anweisungen geben, hieß es.«

Horvat nickte und streckte ohne ein weiteres Wort die Hand aus. Der Kirgise verstand die stumme Aufforderung und reichte dem Offizier seinen Einsatzbefehl, der die Papiere, samt seiner eigenen an den Wachhabenden weitergab, der bereits neben dem Lkw wartete.

Die Kontrolle erfolgte ungewohnt zügig.

Schon erhielten sie ihre Einsatzpapiere zurück, während der Wachhabende seinen Kameraden ein Zeichen gab, das Tor zu öffnen. Nachlässig salutierte er.

»Kommandant Jurowski erwartet euch bereits, Genossen.«

Bakir steuerte den Lkw durch das Tor, fuhr um die imposante Villa herum und hielt vor dem Hintereingang, durch den man das Untergeschoss des, an einen Hang erbauten Ipatjew-Hauses betreten konnte.

Einer der zahlreichen Wachen, die in und um das Gebäude herum postiert waren, stand an der geöffneten Tür und winkte sie ungeduldig heran. Bakir ließ den Motor laufen, stieg aus dem Führerhaus und ging, gemeinsam mit Horvat, auf die Wache zu. Diese schüttelte jedoch den Kopf.

»Jurowski will euch alle sprechen. Auch die da.« Er wies auf die Soldaten, die noch immer auf der Ladefläche saßen.

Horvat gab seinem Trupp ein Zeichen und die Männer sprangen von der Pritsche.

Allesamt wurden sie nun in das Büro Jakow Michailowitsch Jurowskis geführt, der hinter einem großen und mit Papieren überladenen Schreibtisch saß und jedem einzelnen ernst entgegensah.

»Setzt euch, Genossen«, sagte er und wies auf die Stühle an den u-förmig aufgestellten Tischen, auf denen mehrere Wodkaflaschen standen. »Nehmt erst einmal einen kräftigen Begrüßungsschluck.«

Das musste man den Soldaten nicht zweimal sagen. Dass keine Gläser bereit standen, störte sie herzlich wenig. Sie ließen einfach die Flaschen kreisen. Nur Horvat und Bakir beteiligten sich nicht an dem Umtrunk, sondern musterten Jurowski aufmerksam. Sicher würde er gleich das große Geheimnis lüften, derentwegen man sie zu dieser mitternächtlichen Stunde hierher befohlen hatte.

Und tatsächlich ließen Jurowskis Erklärungen nicht lange auf sich warten. »Dass die Weißgardisten sich im Anmarsch auf Jekaterinburg befinden, ist inzwischen allgemein bekannt«, begann er mit finsterer Miene. »Dass sie die Stadt bereits eingekesselt haben, hat sich hingegen noch nicht herumgesprochen. Daher steht zu befürchten, dass die von uns gefangen gehaltene Zarenfamilie von ihnen befreit und als lebendige Symbole ihres Kampfes gegen die Sowjetmacht benutzt werden könnten. Ursprünglich hatten wir geplant, die Romanows zu evakuieren, also an einen anderen sichereren Ort zu bringen. Den Plan mussten wir jedoch fallenlassen. Er ist nun, da sämtliche Straßen von den Weißen kontrolliert werden, zu gefährlich geworden. Daher haben unser hochgeschätzter Genosse Lenin und der Rat der Volkskommissare in Moskau nun entschieden, die Familie zu exekutieren …«

Überrascht sahen die Männer ihn an. Und es war Horvat, der die Frage stellte, die allen auf den Lippen brannte:

»Die ganze Familie? Etwa auch die Kinder?«

Jurowski nickte. »Ja, auch die Kinder. Wir werden keine halben Sachen mehr machen, sondern uns des Problems ein für alle Mal entledigen. Das Haus Romanow muss mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Nur damit können wir vermeiden, dass die Kämpfe nicht in ein paar Jahren wieder einsetzen, weil irgendein Romanow Anspruch auf den Zarenthron erhebt. Und auch die Bediensteten, die die Gefangenschaft freiwillig mit den hohen Herrschaften teilen, müssen liquidiert werden. Um sie ist es nicht schade. Immerhin sind sie überzeugte Monarchisten und werden unserem Arbeiter- und Bauernstaat ohnehin nicht von Nutzen sein. Außerdem wären sie, würden wir sie laufen lassen, nur unbequeme Zeugen. Auf Befehl Moskaus werden wir den Tod der ganzen Familie vorerst geheim halten und nur die Hinrichtung des Bürgers Nikolaj Romanow verkünden. Das bedeutet natürlich, dass ihr alle strengstes Stillschweigen über das bewahren müsst, was sich hier heute Nacht ereignen wird. Wer sich nicht daran hält, kann gewiss sein, dass die Tscheka ihn aufspürt und er sich ganz schnell in einem Gulag auf der anderen Seite des Polarkreises wiederfindet. Habt ihr das verstanden?«

Die Männer wirkten eingeschüchtert, nickten jedoch.

Jurowski schien zufrieden. »Gut. Dann wollen wir auch keine Zeit mehr verlieren. In dem Zimmer, neben diesem, soll die Exekution stattfinden. Räumt bitte alle Möbel hinaus, bis es leer ist. Dann erwartet ihr mich wieder hier und seid dabei unbedingt leise, damit so wenige Leute wie möglich von eurer Anwesenheit erfahren.«

Der Tschekist erhob sich und ging zur Tür.

»Wenn alles bereit ist, gehe ich persönlich hinauf, um die Romanows zu wecken und sie mit einer plausiblen Erklärung in den vorbereiteten Raum zu führen. Sie werden mir ruhig folgen und keinerlei Verdacht schöpfen – bis ihr eintretet und das Feuer eröffnet. Auf diese Weise ersparen wir uns das Jammern und Klagen der Delinquenten – und natürlich ihr Flehen um Gnade.«

Jurowski wollte sich bereits entfernen, hielt aber noch einmal inne: »Ach ja, eins noch: Sollte einer von euch ein Problem damit haben, auf Frauen und Kinder zu schießen, soll er es jetzt sagen. Ich weiß, sowas ist nicht jedermanns Sache, und ich versichere euch, dass dadurch niemandem Nachteile entstehen werden. Ich möchte lediglich auf alles vorbereitet sein.«

Zwei Hände hoben sich zögernd.

Jurowski nickte und hielt Wort. Er äußerte weder Vorwürfe noch machte er sich über die Zartbesaiteten lustig. Sachlich gab er seine Befehle, tauschte die Männer aus und schickte sie, samt Fahrer Bakir, zum Lkw hinaus.

»Ihr werdet dort warten, bis wir unsere Arbeit getan haben und uns dann beim Abtransport der Leichen unterstützen. Die sterblichen Überreste der Romanows müssen so schnell und so spurlos wie möglich verschwinden. Morgen werdet ihr dann alle Jekaterinburg verlassen und auf andere Stützpunkte versetzt werden. Wenn die ›Weißen‹ die Stadt einnehmen, – und das wird ohne Zweifel über kurz oder lang zumindest vorübergehend der Fall sein – dürfen sie hier keine Zeugen mehr finden, die über die Geschehnisse dieser Nacht Auskunft geben könnten.«

Ein Stockwerk höher setzte sich Anastasia schweißnass in ihrem Bett auf. Ihr Nachthemd fühlte sich feucht an, die langen blonden Haare klebten an ihrem Kopf und ihr Atem ging schwer.

Schon seit Tagen wurde die 17-jährige Großfürstin von dem gleichen, schrecklichen Traum heimgesucht und fragte sich nun unwillkürlich nach dem Warum. Eigentlich glaubte sie nicht an prophetische Visionen, die im Schlaf übermittelt wurden – aber in diesem Fall … Immerhin wiederholte sich der Traum Nacht für Nacht. Hatte dies am Ende doch etwas zu bedeuten?

So ein Unsinn, wies sie sich selbst zurecht. Wahrscheinlich war es nur eine Art Schlafstörung, die entweder auf die ekelhafte Kohlsuppe, die es zum Nachtmahl gegeben hatte und die schon etwas sauer und zudem sehr versalzen geschmeckt hatte, zurückzuführen war oder einfach auf die heiße stickige Luft, die im Zimmer vorherrschte. Langsam beruhigte sie sich wieder und streichelte zärtlich Jemmys seidiges Fell. Dabei blickte sie zu ihren Schwestern hinüber. Durch die weißgetünchte Fensterscheibe gelangte nur spärliches Mondlicht. Daher konnte sie die Lager von Olga, Tatjana und Maria nur schemenhaft erkennen. Doch ihre ruhigen Atemzüge ließen darauf schließen, dass alle drei tief und fest schliefen. Auch die Eltern, Zar Nikolaj II. und Zarin Alexandra, die gemeinsam mit dem kleinen Bruder Alexej im Nebenzimmer untergebracht waren, hatten sich schon früh am Abend zur Ruhe begeben. Nur sie allein war jetzt hellwach, verspürte Hunger, quälenden Durst und eine merkwürdige Unruhe. An erneutes Einschlafen war jedenfalls nicht zu denken.

Anastasia nahm Jemmy auf und setzte ihn auf seinen angestammten Platz am Fußende des Bettes. Müde legte er sich nieder, rollte sich zusammen und schlief sofort wieder ein. Beneidenswert.

Liebevoll blickte die junge Großfürstin auf das schwarz-weiße Fellbündel. Was für ein wunderbarer Freund dieses kleine Hündchen doch war. Im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte er ihre Angst gespürt und versucht, sie zu trösten. Um nichts auf der Welt würde sie den kleinen Kerl missen mögen – auch wenn es täglich schwerer wurde, Nahrung für ihn zu beschaffen. Essen und Trinken waren für die Gefangenen nämlich streng rationiert.

Da Anastasia sich in dem feuchten Hemd denkbar unwohl fühlte, beschloss sie schnell ein frisches anzuziehen. Sie schwang die Beine aus dem Bett und angelte mit ihren nackten Füßen nach den Filzpantoffeln. Als sie hineinschlüpfte und die rauen Fasern auf ihrer Haut spürte, verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Vor einem Jahr waren ihre Hausschuhe noch aus Samt gewesen, weich, kuschelig und reich bestickt.

Leise, um ihre Schwestern nicht zu wecken, ging sie zum Schrank und holte ein sauberes Nachtgewand heraus. Nachdem sie es gewechselt hatte, wollte sie eigentlich zurück ins Bett, hielt aber inne, als sie am Fenster vorbeikam.

Ach, wie sehr sie sich wünschte, es einfach öffnen und frische, kühle Nachtluft hereinlassen zu können. Da die Bolschewiken jedoch jeden Kontakt zur Außenwelt unterbinden wollten, hatten sie eines Tages einfach alle Fenster fest versiegelt. An ein Lüften war daher nicht zu denken.

Vom Hof hörte sie Stimmengewirr. Vermutlich unterhielten sich einige Wachen, sprachen jedoch zu leise, als dass sie etwas hätte verstehen können. Von der Ankunft des Lkw hatte sie nichts mitbekommen. Als Bakir das Fahrzeug auf den Hof gesteuert hatte, war Anastasia noch viel zu sehr mit sich und ihrem mysteriösen Albtraum beschäftigt gewesen. Das anhaltende Dieselgetucker des laufenden Motors hatte sie anschließend zwar wahrgenommen, sich aber nichts dabei gedacht. Zu oft hörten sie oben, in ihrem Gefängnis, Motorengeräusche an- und abfahrender Fahrzeuge – wenn auch normalerweise nicht in den Nachtstunden. Die 17-Jährige schöpfte dennoch keinen Verdacht, bemerkte nur, dass die Maschine jetzt endlich ausgestellt wurde.

Alles war ruhig, auch die leisen Stimmen der Wachen verstummt, als in die Stille hinein plötzlich der unheilvolle Schrei eines Käuzchens erklang.

Anastasia zuckte zusammen. Hatte ihr Traum nicht genau damit begonnen? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Und in diesem Moment war sie überzeugt davon, dass Traum und Käuzchenruf ein Zeichen waren, ein böses Omen für etwas Schreckliches, das sich ereignen würde.

Auch Jemmy hatte wieder seinen Kopf erhoben und schien zu lauschen. Dass er ihn wieder niederlegte, beruhigte Anastasia ein wenig.

Und dann horchte sie auf.

In die Stille hinein begannen die Glocken der nahen Christi-Himmelfahrt-Kathedrale zu läuten. Tief und feierlich legte sich ihr Klang über die schlafende Stadt. Sie verkündeten die Zeit – aber Anastasia meinte in diesem Augenblick die Stimme Gottes zu hören. »Ich bin da«, schien sie zu sagen. »Fürchte dich nicht.«

Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mädchens. Aber natürlich. Wie hatte sie es auch nur eine Sekunde lang vergessen können? Sie waren alle in Gottes Hand. Er ist der Herr. Auf ihn und seinen Schutz konnten sie vertrauen.

Zwölfmal ertönte der Uhrschlag – Mitternacht. Höchste Zeit, zurück ins Bett zu gehen. Doch nun, da sie sich ein wenig getröstet fühlte, spürte Anastasia wieder ihren quälenden Durst. Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an.

Sie ging zum Waschtisch hinüber, aber der Wasserkrug war leer.

Ob Dr. Botkin noch ein wenig Tee übrig hatte? Der Leibarzt der Zarenfamilie war stets lange wach und vermutlich der einzige der Gefangenen, der zu dieser Zeit noch nicht schlief.

Schnell legte sich Anastasia ein großes Wolltuch um die Schultern, verließ leise das Schlafzimmer und trat auf den kleinen dunklen Korridor hinaus. Sofort erkannte sie, an dem schmalen Lichtstreifen, der unter der Tür zu Botkins Kammer schimmerte, dass der Arzt tatsächlich noch wach zu sein schien.

Leise klopfte Anastasia, hörte gleich darauf einen Stuhl rücken. Dann wurde geöffnet.

»Kaiserliche Hoheit. Ist Ihnen nicht wohl?« Erstaunt sah der Leibarzt sie an. Obwohl keiner ihrer Bewacher in der Nähe war, sprach er Englisch. Zarin Alexandra bestand darauf. Sie hielt es für zu gefährlich, sich in einer Sprache zu unterhalten, die die Bolschewiken verstanden. Und auch Anastasia antwortete gewohnheitsmäßig in derselben Sprache.

»Doch, doch. Es geht mir gut«, beruhigte sie ihn und lächelte schelmisch. »Ich habe nur Durst und bin auf der Suche nach einer frischen Eislimonade.«

Er erwiderte ihr Lächeln. »Darf ich mich Ihnen anschließen? Das wäre jetzt wirklich eine schöne Erfrischung. Dabei weiß ich nicht einmal mehr, wann ich die letzte getrunken habe. Das muss in Zarskoje Selo gewesen sein …« Er seufzte wehmütig und fuhr dann fort: »Mit Eislimonade kann ich leider nicht dienen. Aber wenn Sie mit einem Schlückchen kalten Schwarztee vorliebnehmen wollen, Kaiserliche Hoheit? Davon könnte ich Ihnen anbieten.«

Anastasia strahlte den hochgewachsenen Mann an, der ihrer Familie schon so viele Jahre treu diente und sie sogar freiwillig in die Gefangenschaft begleitet hatte.

»Das hört sich wunderbar an, Doktor. Vielen Dank.«

Zufrieden inspizierte Jurowski das leere Zimmer mit der gewölbten Decke und der mondänen Streifentapete.

Der knapp 20 Quadratmeter große Raum würde, nun, da die Soldaten auf seinen Befehl das gesamte Mobiliar entfernt hatten, für seine Zwecke geräumig genug sein.

»Tragt noch die Teppiche hinaus«, befahl er. »Sie sehen kostbar aus. Es wäre unnütze Verschwendung, sie durch Blutflecken zu ruinieren.«

Die Männer kamen dem Befehl des Kommandanten sofort nach. Anschließend trafen sie in seinem Büro wieder zusammen.

Jurowski gab nun die Waffen aus, die in einer Kiste auf seinem Schreibtisch bereitlagen. Und während er für sich selbst einen Colt und eine langläufige Mauserpistole wählte und die dazugehörigen Munitionsstreifen in die Tasche steckte, teilte er jedem Mann des Sonderkommandos eine Person zu, für deren Erschießung er zuständig war.

»Den Zaren werde ich selbst übernehmen«, erklärte er. »Mein Schuss auf ihn, der mit Sicherheit tödlich sein wird, ist das Zeichen für euch, gleichfalls das Feuer zu eröffnen. Zielt sorgfältig – am besten auf ihre Herzen. Dann haben wir die Sache am schnellsten hinter uns.«

Seine Waffen waren inzwischen geladen. Er steckte den Colt in die Tasche und schob die Mauser unter seine schwarze Lederjacke.

»Gibt es noch Fragen?«

Die Männer des Erschießungskommandos schüttelten die Köpfe. Wegen des reichlich genossenen Wodkas fühlten sie sich alle ein wenig benebelt, wussten aber dennoch, was sie zu tun hatten.

Jurowski nickte zufrieden. »Dann gehe ich jetzt hinauf«, sagte er, verließ den Raum und wandte sich der Treppe zu.

Durstig trank Anastasia den Becher leer – bis auf den letzten Tropfen. Dann reichte sie Dr. Botkin das Gefäß zurück.

»Ich danke Ihnen vielmals. Sie haben mir wirklich …«

Sie unterbrach sich, als sie Schritte auf der Treppe vernahm und sofort wieder an ihren Traum erinnert wurde. Aus schreckgeweiteten Augen sah sie den Leibarzt an.

Auch Botkin hatte die Schritte gehört und lauschte angestrengt, wie sie näher kamen. Schon hielten sie vor der Tür inne, die den Gefängnisbereich der Zarenfamilie vom Rest des Ipatjew-Hauses trennte. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss.

Anastasia zitterte am ganzen Körper und konnte, als sie den nun eintretenden Jurowski erkannte, nur mit Mühe einen entsetzten Aufschrei unterdrücken.

Dabei hatte der sonst immer so finster dreinblickende Kommandant im Augenblick so gar nichts Furchterregendes an sich. Ja, er lächelte sogar entschuldigend.

»Bitte verzeihen Sie die späte Störung«, sagte er leise, so, als nähme er Rücksicht auf die Schlafenden. »Aber die Weißgardisten liegen unmittelbar vor Jekaterinburg und es kann noch in dieser Nacht zu Kämpfen kommen. Aus diesem Grund halten wir es für angebracht, die Bürger Romanow in die unteren Räume zu verlegen. Dort sind sie vor verirrten Kugeln sicher, falls es in den Straßen zu Schießereien kommen sollte. Bitte wecken Sie die Familie. Ich komme gleich wieder, um sie abzuholen.«

Dr. Botkin nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Und als Jurowski sich entfernt hatte, lächelte er der jungen Großfürstin beruhigend zu.

»Mit ein wenig Glück sind wir, noch bevor der Tag anbricht, frei. Wenn die Weißen schon vor Jekaterinburg liegen, werden sie sich so kurz vorm Ziel gewiss nicht mehr aufhalten lassen. Abgesehen davon muss ich diesem Fiesling Jurowski ausnahmsweise recht geben. Wir alle werden im Untergeschoss besser aufgehoben sein. Geben Sie Ihren Schwestern Bescheid, Kaiserliche Hoheit? Ich werde mich um Ihre Eltern, den Zarewitsch und die Dienerschaft kümmern.«

Anastasia nickte bereitwillig und verschwand.

Dr. Jewgeni Botkin hingegen weckte die Zofe Anna Demidowa, den Koch Iwan Charitonow und den Kammerdiener Aloisi Trupp. Bevor er jedoch in das Schlafzimmer des Zarenpaares hinüberging, beendete er hastig das Schreiben, mit dem er beschäftigt gewesen war, als die durstige Großfürstin an seine Tür geklopft hatte. Der Brief war an seine Familie gerichtet – der letzte, wie sich erweisen sollte. Er würde seine Empfänger niemals erreichen.

Wenig später trafen die Gefangenen im Zimmer des Zarenpaares zusammen und beratschlagten, wie mit der Situation umzugehen sei.

»Müssen wir uns überhaupt ankleiden?«, wollte Maria gähnend auf Russisch wissen. »Schließlich bleiben wir im Haus und steigen lediglich eine Treppe hinab.«

Zarin Alexandra richtete sich stöhnend in ihrem Bett auf. Ihr Ischias plagte sie – ein Problem, das sie seit vielen Jahren kannte und sie schon früher, in guten Zeiten, tagelang an eine bequeme Chaiselongue gefesselt hatte. Natürlich wusste sie, dass Jurowski keine Rücksicht auf ihr Befinden nehmen würde und sie trotz ihrer Schmerzen das Bett verlassen musste. Tapfer biss sie die Zähne zusammen und fand, ungeachtet ihrer Qualen, noch die Kraft, ihre 19-jährige Tochter auf Englisch zurechtzuweisen: »Hör um Gottes willen auf, Russisch zu sprechen. Und natürlich müssen wir uns korrekt ankleiden, Maria. Was für eine dumme Frage. Wir wissen doch gar nicht, was wir dort unten vorfinden. Oder glaubst du wirklich diese Leute« – ihre ganze Geringschätzigkeit für ihre Bewacher lag in diesem Wort – »haben uns im Souterrain Betten aufgeschlagen, damit wir die Nacht ungestört beenden können?«

Die Zarentochter zuckte verschlafen mit den Schultern. Tatsächlich hatte sie etwas Ähnliches angenommen. Aber so müde wie sie war, würde sie auch auf einem Stuhl weiterschlafen können.

Begütigend schaltete sich nun der Zar ein.