Alexandra David-Néel: Auf der Suche nach dem Licht - Antje Windgassen - E-Book
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Alexandra David-Néel: Auf der Suche nach dem Licht E-Book

Antje Windgassen

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Beschreibung

Sie kämpfte für ihre Freiheit: Die Romanbiografie „Alexandra David-Néel: Auf der Suche nach dem Licht“ von Antje Windgassen als eBook bei dotbooks. Darf so ein besonderer Mensch jemals in Vergessenheit geraten? – Im späten 19. Jahrhundert ist das Leben einer Frau strikt vorgezeichnet und führt selten über die engen Grenzen hinaus, die von Männern gesetzt werden. Doch schon als Kind ist Alexandra anders: Sie will die Welt bereisen – und wahre Freiheit erleben. Ein unmöglicher Traum? Alexandras Sehnsucht ist stärker als jede Konvention. Als eine der ersten Frauen studiert sie an der Sorbonne, bietet allen die Stirn, die sich ihr in den Weg stellen … und bricht mit gerade einmal 23 Jahren auf in Richtung Asien. Immer wieder gerät sie in Gefahr, immer wieder droht sie zu scheitern – aber ihre Neugier, ihr Lebenshunger und ihr mutiges Herz lassen sie jede Hürde überwinden! Fesselnd erzählt Antje Windgassens Romanbiografie das Leben der Forscherin Alexandra David-Néel nach: Sie bereiste Birma, Indien, China und Tibet, sie wurde vom Dalai Lama und Gandhi empfangen, erlebte auf jeder einzelnen Reise mehr, als es viele Männer in einem ganzen Leben tun – und ließ kurz vor ihrem 100. Geburtstag noch einmal ihren Pass verlängern, „für alle Fälle“, wie sie augenzwinkernd verriet. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der biografische Roman „Alexandra David-Néel: Auf der Suche nach dem Licht“ von Antje Windgassen erzählt von einer der großen Reisenden des 20. Jahrhunderts – ein Leseabenteuer für die Fans von Caroline Bernard und Michelle Marly. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Darf so ein besonderer Mensch jemals in Vergessenheit geraten? – Im späten 19. Jahrhundert ist das Leben einer Frau strikt vorgezeichnet und führt selten über die engen Grenzen hinaus, die von Männern gesetzt werden. Doch schon als Kind ist Alexandra anders: Sie will die Welt bereisen – und wahre Freiheit erleben. Ein unmöglicher Traum? Alexandras Sehnsucht ist stärker als jede Konvention. Als eine der ersten Frauen studiert sie an der Sorbonne, bietet allen die Stirn, die sich ihr in den Weg stellen … und bricht mit gerade einmal 23 Jahren auf in Richtung Asien. Immer wieder gerät sie in Gefahr, immer wieder droht sie zu scheitern – aber ihre Neugier, ihr Lebenshunger und ihr mutiges Herz lassen sie jede Hürde überwinden!

Fesselnd erzählt Antje Windgassens Romanbiografie das Leben der Forscherin Alexandra David-Néel nach: Sie bereiste Birma, Indien, China und Tibet, sie wurde vom Dalai Lama und Gandhi empfangen, erlebte auf jeder einzelnen Reise mehr, als es viele Männer in einem ganzen Leben tun – und ließ kurz vor ihrem 100. Geburtstag noch einmal ihren Pass verlängern, „für alle Fälle“, wie sie augenzwinkernd verriet.

Über die Autorin:

Die Historikerin Antje Windgassen wurde 1953 in Hamburg geboren. Sie lebt in Schleswig-Holstein und arbeitet als freie Autorin und Journalistin. Es sind die historischen Schicksale und ungewöhnlichen Biografien von Frauen, die ihr besonders am Herzen liegen.

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eBook-Neuausgabe Februar 2017

Copyright © der Originalausgabe 1996 Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von istockphoto/John Foxx sowie eines Bildmotives des Preus Museum, Horten, Norwegen, Reprofotografi Meyer, Elisabeth: Portrett av Alexandra David-Neels, Tibet 1933, NMFF.003380-3-1, wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz by-sa-2.0-de,

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-804-5

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Antje Windgassen

Alexandra David-Néel: Auf der Suche nach dem Licht

Biografischer Roman

dotbooks.

Kapitel 1Kindheit in Saint Mandé

Der Tag ist still und warm, der Himmel blau mit langen Wolkenstreifen, die mit einem Malerpinsel und Wasserfarbe gezogen zu sein scheinen. Die Luft ist voll von der Feuchtigkeit des Frühlings und dem lehmigen Geruch der Erde. Man schreibt das Jahr 1874, und der kleine Ort Saint Mandé, nahe Paris, liegt ruhig und träge im Sonnenlicht.

Fast 60 Jahre ist es nun her, daß Napoleons Truppen hier durchzogen, um bei Montmirail drei Schlachten in nur vier Tagen siegreich gegen die Alliierten zu schlagen. 60 Jahre, in denen sich das Städtchen kaum verändert hat.

Noch immer steht die Kirche Notre Dame am südlichen Teil der Straße und sieht wohlwollend auf die Reihen der schiefergedeckten Backsteinhäuser herab, noch immer versammeln sich die Mädchen des Dorfes auf der Gemeindewiese, um das Vieh zu hüten und achtzugeben, daß sich keine Kuh verläuft oder gestohlen wird, und noch immer ergreifen die Hühner und Gänse, unterstützt durch einige freche Spatzen, von der Straße Besitz.

In einem der von Gitterzäunen umschlossenen Gärten steht ein Mädchen und sieht sehnsüchtig auf dieses ungemein anziehende Etwas hinaus – die Straße. Schon häufig hat es versucht, auf die andere Seite des Gitterzaunes zu gelangen, doch jedesmal ist es dabei erwischt worden, und es hat Schelte und Strafe gesetzt. Der Lösung des Rätsels ist es dabei jedoch keinen Schritt näher gekommen: Wohin führt diese Straße? Würde man, wenn man sie immer weiter entlang liefe, am Ende diese Linie berühren können, die die Erwachsenen Horizont nennen und die auf sie eine fast magische Anziehungskraft hat?

»Alexandra! Wo steckt meine kleine Nini nur schon wieder?« Die Stimme des geliebten Vaters lenkt das Kind vorerst von seinem Problem ab, für das es im Augenblick ohnehin keinen Aufschluß zu geben scheint. Suchend sieht es sich um und entdeckt den Vater, der gerade aus dem Hause tritt.

»Hier bin ich, Papa«, ruft es aufgeregt winkend und bemerkt im gleichen Augenblick, daß der Vater nicht allein ist. Sein Freund, der nette Monsieur Hugo, steht bei ihm, und gemeinsam machen es sich die beiden Herren nun auf einer hölzernen Gartenbank in der Sonne bequem.

Rasch läuft Alexandra zu ihnen und klettert auf den Schoß des Dichters.

»Guten Tag, Monsieur. Wie schön, daß Sie uns auch wieder einmal besuchen.«

»Guten Tag, Mademoiselle David«, erwidert Hugo lächelnd den Gruß. »Es ist immer eine Freude, dich zu sehen.«

Seine letzten Worte sind jedoch kaum noch zu verstehen, denn sie gehen im Schreien und Johlen einer Horde Kinder unter, die gerade auf der Straße vorbeilärmt. Aufgeregt laufen sie einer kleinen Kolonne entgegen, die mit ihren blau und rot gestrichenen Wagen ins Dorf gefahren kommt. Fahrende Händler sind es, die über Land ziehen, mal hier, mal dort ihre Buden aufschlagen und mit Hilfe von Gauklern, Feuerfressern und Akrobaten die Kundschaft anlocken. Eine Weile betrachten die drei im Garten schweigend das bunte Szenario auf der Straße, doch dann hat der Dichter eine Frage:

»Warum spielst du eigentlich nie mit den Kindern des Dorfes, Alexandra. Ich sehe dich immer nur allein. Hast du keine Freunde?«

»Die Bäume sind meine Freunde, Monsieur«, erklärt das Kind mit ernster Miene und springt von seinem Schoß. Was es zu sagen hat, ist einfach zu wichtig. Dazu muß es sich schon hinstellen. »Und die Sonnenstrahlen und die Wolken. Das alles ist so schön, daß es Gott sein muß.«

Überrascht blickt Hugo auf das Kind vor ihm, das das bunte Leben außerhalb des Gartens keines Blickes mehr würdigt.

»Was für erstaunliche Ansichten für eine Fünfjährige.«

Louis David nickt stolz.

»Ja, meine kleine Nini ist wirklich ein außergewöhnliches Kind. Gerade gestern hat sie mich gefragt, ob es den Grashalmen weh tut, wenn man über den Rasen geht.«

Victor Hugo lacht anerkennend und beobachtet das kleine Mädchen, das eben im Haus verschwindet und dessen neugieriger Kopf sich schon wieder mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

„In deinem Kinde, lieber Freund, steckt etwas, was hoch hinaus will«, meint Hugo nachdenklich. »Vielleicht höher, als wir beide ahnen.«

O ja, die kleine Alexandra ist wirklich ein ungewöhnliches Kind. Sie ist außerordentlich wissensdurstig und stets bemüht, für alle Fragen eine Lösung zu finden. Auf einige Fragen scheint es jedoch keine Antworten zu geben, und die hängen unmittelbar mit ihrer Mutter zusammen, von der das Mädchen sich nicht geliebt fühlt.

Sicher ist Alexandrine David ihrem einzigen Kind zugetan, sorgt sich und ist bemüht, ihm eine gute Erziehung zukommen zu lassen. Aber Liebe? Nein, das fühlt Alexandra instinktiv, Liebe bringt ihr die Mutter nicht entgegen.

Dabei wäre sie dazu sehr wohl in der Lage gewesen. Hatte sie nicht den kleinen Bruder, der im vergangenen Jahr geboren und ein halbes Jahr später bereits wieder gestorben war, mit ihren Gefühlen fast überschüttet?

Alexandra spürt, daß ihre Mutter sie niemals so geliebt hat wie den kleinen Bruder, ja mehr noch. Sie begreift auch sehr deutlich, daß es keine Liebe ist, die die Eltern verbindet, daß sie zwischen zwei Menschen aufwächst, die sich eigentlich fremd sind.

Als Louis David die 17 Jahre jüngere Alexandrine Borghmann heiratete, stellte sich schnell heraus, daß diese Ehe nicht »im Himmel« geschlossen worden war. Vielleicht lag es ja einfach nur daran, daß der 39jährige Louis und seine junge Frau zu verschieden waren. Er, der Freidenker, der Sozialist und Freimaurer, der wegen seiner politischen Überzeugung, gemeinsam mit seinem Freund Victor Hugo, nach Belgien ins Exil gehen mußte und sie, die herrschsüchtige und engherzige Kleinbürgerin, deren einzige Sorge darin bestand, mißtrauisch über ihr ererbtes Vermögen zu wachen. Vielleicht konnte dabei wirklich nichts anderes herauskommen als ein liebloses Nebeneinander.

Als Alexandrine nach vierzehnjähriger Ehe endlich schwanger wird, wünscht sie sich sehnlichst einen Sohn, der, davon ist die Katholikin überzeugt, einmal Bischof werden würde. Doch statt dessen bringt sie ein Mädchen zur Welt: Louise Eugenie Alexandrine Marie David. Die unsagbare Enttäuschung hierüber kann Madame David ihr ganzes Leben lang nicht verwinden. Natürlich bleibt die Unzufriedenheit der Mutter der aufgeweckten Alexandrine, die von allen nur Alexandra genannt wird, nicht verborgen, und von dieser Erkenntnis ist es dann auch nicht mehr weit bis zu ihrem Entschluß auszureißen.

Das Mädchen sitzt am Fenster ihres Zimmers und blickt hinaus auf die Straße, von der sie ja immer noch nicht weiß, wohin sie führt.

»Warum, um alles in der Welt, soll ich es nicht herausfinden?« flüstert sie leise vor sich hin. »Maman wird mich gewiß nicht vermissen. Ja, vielleicht wird sie sogar froh sein, sich eine Weile nicht über mich ärgern zu müssen. Schließlich wollte sie mich ohnehin nie haben.«

Damit ist es beschlossene Sache, und Alexandra, das ungewollte Kind, nutzt die nächste Gelegenheit, um aus der lieblosen Umgebung zu fliehen.

Die Familie befindet sich auf einem Sonntagsspaziergang durch den Bois de Vincennes, als Alexandra plötzlich wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Alle glauben noch, sie habe sich hinter einem Baumstamm versteckt, doch die sofort eingeleitete Suche verläuft ergebnislos. »Wir müssen sofort die Gendarmerie informieren«, erklärt der besorgte Vater. Doch Alexandra bleibt trotzdem den ganzen Nachmittag über unauffindbar.

Das kleine Mädchen hingegen genießt die Freiheit in vollen Zügen. Es hat keine Angst allein im Wald von Vincennes. O nein, überhaupt nicht. Mit wachen Augen streift es durch das Gehölz und unterhält sich mit ihren Freunden, den Bäumen und den Blumen. Ihre Freunde werden sie schon beschützen, da ist sie ganz sicher.

Unerschrocken entdeckt Alexandra den Wald, fühlt sich eins mit ihm und der Natur und wünscht sich, ganz alleine auf der Welt zu sein. Ohne Mutter, der sie es doch niemals recht machen kann, und ohne Eltern, die fortwährend miteinander streiten.

Es beginnt bereits zu dämmern, als ein Waldaufseher das Kind entdeckt und auf die nächste Gendarmeriestation bringt. Alexandra wehrt sich ganz entschieden gegen dieses abrupte Ende ihres Abenteuers und weigert sich hartnäckig, ihren Namen anzugeben.

»Es liegt eine Vermißtenanzeige vor«, meint der Gendarm zu dem Waldaufseher. »Die Beschreibung paßt ganz genau.« Er beugt sich zu dem Kind hinunter und sieht ihm streng in die Augen. »Nun sag schon, Mädchen. Du heißt doch Alexandra David, nicht wahr?«

Die Kleine preßt die Lippen zusammen und gibt den Blick trotzig zurück. Dann verschränkt sie die Arme vor der Brust und wendet den Kopf hochmütig ab, auf keinen Fall bereit, sich einschüchtern zu lassen. Der Gendarm richtet sich zornig wieder auf.

»Dein Schweigen nützt dir gar nichts«, schnaubt er. »Die Davids warten in der Schenke am Wegkreuz. Ich werde dich sofort zu ihnen bringen. Dann werden wir ja sehen…«

Wie nicht anders zu erwarten, wird Nini von ihrer Mutter mit Vorwürfen überschüttet, während ihr Vater, der wesentlich mehr Verständnis für den Freiheitsdrang seiner Tochter aufbringt, sie in Schutz nimmt. Ein unvermeidlicher Streit entbrennt, der auch den ganzen Heimweg über anhält. Ängstlich blickt das Kind zu den Eltern auf, nicht begreifend, was an ihrem Ausflug nun so schrecklich Verwerfliches gewesen ist.

Als Alexandra endlich, spät in der Nacht, in ihrem Bett liegt, weint sie sich in den Schlaf. Doch die Tränen versiegen schnell, als der Vater ihr am nächsten Tag ein großes Paket überreicht. Rasch wickelt Nini das Geschenk aus und hält einen Atlas in den Händen. Fast ehrfürchtig trägt sie das Buch in ihr Zimmer und öffnet es vorsichtig. Aufgeregt betrachtet sie die Weltkarten, als wären es die schönsten und buntesten Bilderbücher.

»Was ist das für ein Land, Papa?« will sie wissen und zeigt auf einen großen, gelb colorierten Flecken – China. Vermutlich sind es anfangs nur die Form und die Größe dieses Landes, die Alexandra faszinieren, trotzdem zeigt sie von nun an eine deutliche Vorliebe für alles Asiatische.

Um Alexandra von weiteren Alleinunternehmungen abzubringen, beschließen die Eltern, ihr eigensinniges Kind in die Schule zu schicken. Die Kleine ist begeistert. Endlich eine neue Quelle, an der sie ihren Wissensdurst stillen kann. Im »Alphabet de Mademoiselle Lily« fügt sie sich sehr schnell ein, und die Lehrer zeigen sich außerordentlich zufrieden mit ihr, doch eines Tages wird das Ehepaar David zu einem Gespräch in die Schule gebeten.

»Es ist erstaunlich, wie schnell Ihre Tochter lesen gelernt hat«, eröffnet ihnen der Klassenlehrer Alexandras. »Auch mit dem Schreiben macht sie rasche Fortschritte, wenn sie es auch bei der Schönschrift an Sorgfalt mangeln läßt. Beim Zeichnen hingegen zeigt das Kind gar kein Talent. Dafür um so mehr in der Musik. Ihre Tochter hat eine beachtliche musikalische Begabung, die Sie auf jeden Fall fördern sollten.« Monsieur David zögert daraufhin nicht, die ansehnliche Summe von 900 Franc für den Kauf eines Klaviers auszugeben. Ein wunderbares Geschenk. Mit Feuereifer stürzt sich Alexandra auf den Unterricht.

Die Bücher, der Weltatlas und ein Klavier sind dem Kind ein Trost in dem ansonsten freudlosen Leben, und mit Hilfe dieser Dinge bemüht es sich, der häuslichen Disharmonie zumindest im Geiste zu entfliehen.

Aber es gibt noch weitere Lichtblicke. Alexandras Interesse an den asiatischen Ländern wächst, je älter sie wird. Als sie daher zu ihrem sechsten Geburtstag von ihrer Mutter ein Tintenfäßchen aus chinesischem Porzellan geschenkt bekommt, ist sie außer sich vor Freude und hütet dieses Kleinod wie ihren Augapfel. Nach Abschluß des zweiten Schuljahres bringt Alexandra zahlreiche Auszeichnungen nach Hause und erhält zur Belohnung etwas Geld. Sie kauft sich dafür ein chinesisches Schreibkästchen aus schwarzem Lack und bewundert nun mit immer neuem Entzücken ihre asiatischen Schätze. Amüsiert beobachtet Louis David das Verhalten seiner Tochter und stellt schließlich fest:

»Meine kleine Nini mag zwar eine weiße Haut haben, aber ihre Seele ist ganz sicher gelb.«

Louis ahnt nicht, wie recht er mit dieser Entdeckung hat.

Kapitel 2Die Nestflüchterin

»Nach Brüssel sollen wir übersiedeln, meine Liebe?« Fassungslos sieht Louis David seine Frau an. »Aber warum denn nur? Wir haben hier doch alles, was wir brauchen.«

Alexandrine erhebt sich. Sie ist sichtlich aufgebracht und fuchtelt aufgeregt mit den Armen.

»Ich weiß wirklich nicht, was dagegen spricht, Louis? Bin nicht auch ich Ihnen seinerzeit gefolgt, als Sie Ihr belgisches Exil aufgeben und nach Frankreich zurückkehren konnten?« Ihre schrille Stimme dringt bis in den letzten Winkel des Hauses. »Nun, auf Ihren Wunsch haben wir eine Reihe von Jahren hier gelebt, aber jetzt möchte ich zurück in meine Heimat. Immerhin lebt meine Familie in Brüssel, und immerhin ist dort mein Vermögen, von dem, wenn ich Sie daran erinnern darf, schließlich auch Sie leben.«

Louis David zuckt müde mit den Schultern und schweigt. Es hat offensichtlich keinen Zweck, seiner Frau die Umzugsidee ausreden zu wollen. Natürlich nicht, denn der einzige Grund, der für ein Bleiben spricht, ist Alexandras und seine Liebe zu Paris. Ein Argument, das Madame David ohnehin niemals akzeptieren wird.

Louis fügt sich also in das Unvermeidliche. Er ist des ewigen Kampfes gegen seine herrschsüchtige Frau müde. Doch an seiner Stelle beginnt nun Alexandra, sich der Mutter offen zu widersetzen. Sie ist sieben Jahre alt, und den Umzug in die »winzige Hauptstadt«, wie sie Brüssel nennt, kann natürlich auch sie nicht verhindern. Doch da die Übersiedlung für sie mit einem Schulwechsel verbunden ist, beschließt sie, die Gelegenheit zu nutzen, dem tristen Elternhaus wenigstens vorübergehend zu entkommen, indem sie in ein Pensionat eintritt.

Um sich ganz bewußt noch einen Schritt weiter von der Mutter zu entfernen, hat Alexandra ein protestantisches Pensionat ausgewählt.

»Natürlich weiß ich, daß ich katholisch getauft worden bin, Maman«, erklärt sie trotzig. »Aber ich bin bereit, die Konfession zu wechseln und den protestantischen Glauben meines Vaters anzunehmen.« Alexandrine ist derart entsetzt, daß sie das Mädchen gewähren läßt, doch die Kluft zwischen Mutter und Tochter wird dadurch so groß, daß sich die beiden Damen des Hauses David in Zukunft nur noch mit »Sie« anreden.

Alexandra rückt nun noch näher an den Vater heran, dem sie um so vieles ähnlicher ist und der gleich ihr jede Gelegenheit nutzt, um der traurigen Atmosphäre in der Rue Faider 105, dem neuen Zuhause der Davids, zu entgehen. Vater und Tochter unternehmen lange Spaziergänge durch die Wälder rund um Brüssel und schütten sich gegenseitig ihr Herz aus.

»Wozu hat man eigentlich Eltern«, murrt Nini. »Man wäre sicher glücklicher, wenn man keine hätte.«

Louis David weiß darauf keine Antwort. Die Worte seiner Tochter machen ihn nur noch niedergeschlagener. Ach wie gern hätte er ihr ein harmonisches Elternhaus geschenkt. Wenn die beiden von ihren Spaziergängen heimkehren, zieht sich Alexandra sofort in ihr Zimmer zurück, um in die Welt ihrer Bücher einzutauchen. Kein besonders aufregendes Leben, aber sie fühlt sich in Belgien ohnehin noch nicht zu Hause. Schon allein diese bittere Flüssigkeit – Bier genannt die die Belgier so gerne trinken und für die ihre Mutter schwärmt. Alexandra bekommt davon nicht einen Schluck hinunter. Alexandrine andererseits stellt mit Entsetzen fest, daß ihre Tochter klares Wasser als Getränk bevorzugt.

»Sie trinken Wasser? Sie wollen wohl sterben, meine Tochter«, meint sie tadelnd und zeigt damit einmal mehr, wie verschieden die Welten sind, in denen sie leben.

Überhaupt erstickt die Mutter das Mädchen mit ihren Ermahnungen und Verboten, und in der tristen Atmosphäre des Pensionats und des Elternhauses beginnt Alexandra zu kränkeln, ja, entwickelt sogar eine leichte Anämie und wird schließlich auf Anraten des Hausarztes in die Klosterschule »Du Bois Florie« gesteckt, in der kleine Mädchen siebenmal am Tag mit Essen vollgestopft werden.

Das Kind erholt sich rasch in der Klosterschule und bekommt dort außerdem eine ausgezeichnete Ausbildung, doch ihren Hunger nach geistiger Nahrung können auch die guten Schwestern nicht gänzlich stillen.

Acht Jahre sind ins Land gegangen. Acht Jahre, in denen Alexandra fleißig gelernt und in denen sie ein starkes Interesse für die verschiedensten Glaubensrichtungen an den Tag gelegt hat. Sie ist fest entschlossen, Missionarin zu werden und ihr ganzes Leben einem frommen Werk zu opfern, nur welcher Religion sie selbst angehören will, ist noch nicht entschieden.

»Ich habe eine Legende über den jungen Buddha gelesen, der damals noch ein Prinz war«, erzählt sie eines Tages ihrem Vater. »Er begegnete im Wald einer halbverhungerten Tigerin, der er freiwillig seinen Leib anbot, um ihr das Leben zu retten. Ist das nicht die wunderschönste Geschichte der Welt?«

Es ist ein ungewöhnlich heißer Sommer, und eine schwüle Hitzewelle hält Brüssel umklammert. Mühsam schleppen sich die Menschen durch die Straßen, in denen die von der Sonnenglut flimmernde Luft steht, und gehen ihren Beschäftigungen nach. Wer es sich leisten kann, verläßt die Stadt, um auf dem Lande zumindest ein wenig Erleichterung zu finden. Auch die Familie David rüstet zum Aufbruch an die Nordsee, um ihr Feriendomizil in der Nähe von Ostende aufzuschlagen.

»Sicher, ich freue mich auf den Aufenthalt am Meer«, gesteht Alexandra ihrem Vater und hebt durstig ein Glas mit klarem Wasser an die trockenen Lippen. »Aber schließlich wissen wir aus Erfahrung, daß bei den ewigen Streitereien zwischen Maman und dir auch in diesem Jahr keine rechte Urlaubsstimmung aufkommen wird.«

Louis David muß seiner Tochter recht geben.

»Ich weiß«, erklärt er achselzuckend. »Vermutlich wird es einmal mehr darauf hinauslaufen, daß deine Mutter und ich abwechselnd nach Ostende fahren, um entweder Einkäufe oder Besuche zu machen.« Doch dann lächelt er belustigt und zwinkert der Tochter aufmunternd zu. »Das kann dir aber nur recht sein, nicht wahr? Immerhin kommst du dadurch zwangsläufig in den Genuß größerer Freiheiten.«

Nachdenklich erwidert Alexandra den Blick des Vaters, und plötzlich kommt ihr eine Idee. Vielleicht sollte sie wirklich die Gelegenheit nutzen, um einen kleinen Ausflug auf eigene Faust zu unternehmen? Vorsichtshalber steckt sie ihr Erspartes ein.

Tatsächlich gelingt es Nini, wenige Tage nach der Ankunft in dem Anwesen bei Ostende, ein wenig Proviant, Kleidung und das Geld in ein Bündel zu schnüren und unbeobachtet aus dem Hause zu schlüpfen.

Mit eiligen Schritten läuft sie an den Strand und geht dann die Küste entlang, in Richtung holländische Grenze. Als sie weit genug gewandert ist, um vor einer Entdeckung sicher sein zu können, hält sie inne und sieht sich vorsichtig um. Allein steht sie am menschenleeren Strand und kann endlich die Last ihres ganzen beengenden und freudlosen Lebens abschütteln. Was für ein köstliches Gefühl.

»Frei!« ruft sie auf die ruhige See hinaus. »Ich bin endlich frei!«

Um dieses berauschende Gefühl möglichst lange genießen zu können, lebt Alexandra so sparsam es eben geht. Da der Ausflug natürlich nur solange dauern kann, wie ihre beschränkten finanziellen Mittel reichen, gönnt sie sich nur trockenes Brot und ißt dazu Früchte, die sie am Wegrand pflücken kann. Sie geht zu Fuß und das nicht nur, weil es das billigste, sondern auch das beste Verkehrsmittel ist, wenn man ein Land wirklich kennenlernen will. Und genau das will Alexandra. Sie kann sich gar nicht satt sehen an all dem Neuen. So erreicht sie schließlich Holland und schifft sich von dort nach England ein.

Als sie endlich nach Ostende zurückkehrt, erwarten sie die schärfsten Vorwürfe der Mutter: »Ist Ihnen eigentlich bewußt, Alexandra, wie groß die Schande ist, die Sie über uns alle gebracht haben? Für ein tugendhaftes junges Mädchen ist es undenkbar, allein zu reisen. Wenn das in Brüssel bekannt wird… Nicht auszudenken. Ihr Vater und ich werden uns eine empfindliche Bestrafung für Sie ausdenken müssen.«

Alexandra zuckt nur mit den Schultern.

»Was immer Sie mir antun wollen, diesen Ausflug werde ich niemals bereuen«, entgegnet sie gleichmütig und zieht sich auf ihr Zimmer zurück.

Auch Louis kann über das Vorhaben seiner Frau nur den Kopf schütteln.

»Alexandra bestrafen? Das dürfte schwierig werden«, erklärt er spöttisch, ja fast schadenfroh, und hat recht damit.

Über eine drohende gesellschaftliche Ächtung würde seine Tochter sich nur lustig machen. Auch eine körperliche Bestrafung wäre sinnlos. Schon seit einiger Zeit übt sich Alexandra im Fasten und kasteit ihren Körper nach Anleitungen, die sie in den Biographien heiliger Asketen gefunden hat. Auf Komfort legt sie auch keinen Wert, so zieht sie zum Beispiel den harten Fußboden jedem Bett zum Schlafen vor. Außerdem ist das Mädchen nicht im geringsten eitel. Kleider und Putz sagen Alexandra überhaupt nichts, und sie steht ihnen gleichgültig gegenüber. Was für eine Strafe bleibt also übrig?

»Der Geist«, erklärt Alexandra ihrer fassungslosen Mutter, »muß den Körper bezwingen und ein williges und widerstandsfähiges Instrument aus ihm machen, dessen er sich in jeder Situation bedienen kann.« Alexandrine ist ratlos und sucht verzweifelt nach einem geeigneten Mittel, ihre ungebärdige Tochter unter Kontrolle zu bekommen. Doch es scheint keines mehr zu geben, zumal Alexandra nicht länger bereit ist, sich von überholten Konventionen unterdrücken zu lassen.

»Warum soll ich nicht reisen?« fragt sie verständnislos. »Ich finde das Verhalten der Leute, die sich an einen Ort klammern wie die Austern an ihre Bank, merkwürdig und unbegreiflich. Es gibt doch so viel zu sehen auf dieser Welt.«

Unter diesen Umständen ist es sicher nicht verwunderlich, daß die nächste Eskapade nicht lange auf sich warten läßt. Alexandra ist 17, als sie erneut fortläuft. Diesmal ist sie besser vorbereitet und verkleidet sich als Dame, mit Schleierhut und Ehering am Finger, um Italien zu entdecken. So aufgeputzt steigt sie in Brüssel in den Zug, der sie in die Schweiz bringt. Von dort macht sie sich zu Fuß auf den Weg, den St. Gotthard zu überqueren und die norditalienischen Seen zu besichtigen. Einfach so, weil es für sie nichts Aufregenderes gibt, als herauszufinden, was hinter der Straße liegt, die zum Horizont führt.

Leider findet die Reise, zumindest für Alexandras Geschmack, auch diesmal ein viel zu frühes Ende. Denn als die finanziellen Mittel aufgebraucht sind, gibt es nur noch den einen Ausweg: ein Telegramm an die Eltern mit der Bitte, sie abzuholen.

Alexandrine besteigt den nächsten Zug, um ihre aufsässige Tochter in Gewahrsam zu nehmen. Unnötig zu betonen, daß die Stimmung zwischen Mutter und Tochter immer frostiger wird, und so beeilt sich Alexandra nach ihrer Rückkehr, ins Kloster zurückzukehren, um ihre Erziehung zu vervollständigen.

Kapitel 3Der Weg ins Leben

Im Sommer 1886 verläßt Alexandra das Kloster Du Bois Florie, das ihr zehn Jahre lang mehr Heim gewesen ist als das eigene Elternhaus. Sie hat dort viel gelernt, eine ausgezeichnete Erziehung genossen und die unentbehrlichen Manieren beigebracht bekommen, die aus ihr eine wohlerzogene Tochter machen sollten. Eine Angelegenheit, die Alexandra allerdings weniger interessiert, denn Wohlerzogenheit im Sinne des Zeitgeistes hält sie für überflüssig.

Sie befindet sich in ihrem 18. Lebensjahr und ist zu einer interessanten Erscheinung herangewachsen. Relativ klein von Gestalt, sie mißt gerade 1,56 m, hat sie doch eine schmale Taille und einen geschmeidigen Gang. Ihr dunkles, lockiges Haar hat einen wundervollen Glanz, dem das Sonnenlicht einen rötlichen Schimmer verleiht, und ihre grauen Augen werden von langen, ebenfalls dunklen Wimpern umrahmt. Doch Alexandra ist nicht nur attraktiv, sie hat auch Charme und Witz, und ihr perlendes Lachen wirkt unbedingt ansteckend.

»Es ist an der Zeit, daß wir das Mädchen offiziell in die Gesellschaft einführen«, stellt Madame David fest und Louis nickt. Ausnahmsweise ist er einmal der gleichen Meinung wie seine Gattin.

»Wir sollten sie zum Debütantinnenball melden, der nächsten Monat am belgischen Hof arrangiert wird«, schlägt er vor. Alexandrine stimmt, allerdings mit besorgter Miene, zu. Es ist immer ein Risiko, mit ihrer exzentrischen Tochter in die Öffentlichkeit zu gehen.

Schließlich weiß man nie im voraus, was Alexandra sich wieder einfallen lassen wird. Und seit ihren Alleinunternehmungen, die sich natürlich in Brüssel herumgesprochen haben, ist ihr Ruf ohnehin nicht gerade der beste.

Nun, das Debüt der Mademoiselle David wird tatsächlich, wie könnte es anders sein, zu einem einzigen Debakel. Der Hofknicks, den sie vor dem König und der Königin von Belgien ausführt, gelingt zwar tadellos, doch während des Balles, der auf die offizielle Vorstellung folgt, verteilt sie einen Korb nach dem anderen und fällt damit bereits unangenehm auf. »Diese oberflächlichen Ballgespräche langweilen mich unendlich«, gesteht sie ihrem Vater. »Ich weiß wirklich nicht, wie irgendjemand das ertragen kann.« Bei der ersten Gelegenheit verschwindet Alexandra nach gewohnter Manier und schlüpft durch die großen Terrassentüren hinaus in den Park. Eine kleine graue Katze läuft ihr über den Weg, und sie beugt sich nieder, um sie aufzunehmen. Liebevoll streicht sie ihr über das seidige Fell.

»Deine Begleitung ist mir tausendmal lieber als die ganze illustre Hofgesellschaft«, raunt sie dem Kätzchen zu und setzt sich mit dem wohlig schnurrenden Tier unter einen Baum, um mit ihm zu spielen. Stunden später und nach langem Suchen findet Madame David ihre Tochter draußen im Park. Schlafend liegt sie, in ihrer kostbaren Ballrobe, unter einem Baum und hält eine kleine, gleichfalls schlafende Katze im Arm.

Was für ein Skandal!

Doch auch die nächste Überraschung, die Alexandra ihren leidgeprüften Eltern bereitet, läßt nicht lange auf sich warten. Bereits einige Tage später stürzt sie aufgeregt in den Salon, in dem Alexandrine im Kreise ihrer Freundinnen beim Tee sitzt, und erklärt, ohne Rücksicht auf den hohen Besuch:

»Maman. Die Naturwissenschaften begeistern mich ebenso wie Philosophie und Religion. Ich möchte darum Medizin studieren. Was halten Sie davon?«

Ein ungläubiges Raunen setzt ein, und die entsetzte Alexandrine schämt sich unsagbar. Trotzdem ist ihre Antwort unmißverständlich:

»Sie sind verrückt, mein Kind«, erklärt sie kopfschüttelnd. »Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Arzt wollen Sie werden? Du lieber Himmel. Die Männer verstehen schon nichts davon und erst eine Frau…!« Enttäuscht zieht Alexandra sich zurück. Einmal mehr fühlt sie sich von ihrer mittlerweile 54jährigen Mutter nicht verstanden. Wieder sucht sie Zuflucht bei ihren Büchern und der Musik. Sie kennt alle Lieder, die gerade in Mode sind. Da ist zum Beispiel ein Chanson von Jean Richepin, das sie häufig auf dem Piano spielt und den Text dabei leise vor sich hin singt.

Über Berg und Talzieht im sanften Pferdetrabdie Karawane!

Sie zieht im Traum – wohin?

Wohin bläst der Wind den Sand?

Vorwärts, immer vorwärtsStrebend nach der Ferne!

Traurig läßt Alexandra die Hände auf den Tasten. »Strebend nach der Ferne«, flüstert sie sehnsüchtig und träumt mit offenen Augen davon, wie auch sie der Karawane folgt, um unendliche Weiten zu erforschen.

Im Geiste sieht sie eine unberührte Landschaft vor sich, karg, aber unermeßlich schön in ihrer Reinheit. Pferde traben über das Land, Pferde, auf denen Reiter sitzen, die alle einem Ziel entgegenstreben: dem klaren Licht am Horizont. Ein unendlich helles und strahlendes Licht ist es, das jedes Leben zu erhellen verspricht und als einziges den Durst der Fernwehs zu stillen vermag…

»Alexandra! A l e x a n d r a, so hören Sie doch!«

Nini fährt zusammen und kehrt nur langsam in die Realität zurück. Die Mutter, deren Eintreten sie noch nicht einmal bemerkt hat, steht neben ihr und sieht sie gereizt an.

»Ich denke, wir sollten uns einmal über Ihre Zukunft unterhalten, mein Kind.«

Alexandra verzieht das Gesicht. Wieder eines dieser sinnlosen Gespräche, denkt sie gequält und ist sicher, daß sich ihre Vorstellungen über die Zukunft in keiner Weise mit denen der Mutter decken.

»Diese Tagträume müssen nun ein Ende haben«, erklärt die Mutter bestimmt. »Damit läßt sich kein einziger Franc verdienen. Und da wir die Hoffnung auf eine standesgemäße Heirat ja wohl aufgeben können…«

»Ja, ja. Ich weiß«, unterbricht die Tochter sie gleichgültig und wiederholt, was die Mutter ihr schon unzählige Male gepredigt hat: »Kein Mann möchte eine Frau heiraten, die immer wieder ausreißt und sich auch ansonsten durch ihr Verhalten zum Gespött der Leute gemacht hat.«

»… habe ich mich entschieden«, fährt die Mutter unbeirrt fort, »Sie zu einem Tuchhändler in die Lehre zu geben.«

Entsetzt sieht Alexandra sie an.

»Zu einem Tuchhändler…?«

Madame David nickt entschlossen.

»Es wird Zeit, daß Sie in geordnete Verhältnisse kommen, mein Kind. Darum werden Sie ab morgen in einem Textilgeschäft arbeiten, an dem ich finanziell beteiligt bin.«

»Aber das kann…« Alexandra will widersprechen, will sich nicht kampflos in dieses triste Schicksal fügen, doch die Mutter winkt ab.

»Wir brauchen überhaupt nicht zu diskutieren. Es ist schon alles arrangiert.«

Alexandra ist empört und fühlt sich eingesperrt in diesem kleinen, muffigen Tuchladen, in dem sie nun also hinter dem Verkaufstresen steht und sich ansonsten alle Mühe gibt, ihren Lehrherrn zur Verzweiflung zu bringen. Es gibt einen Ausspruch des Laienpredigers Pierre Valdo, der deutlich ihre Einstellung zur Vergänglichkeit alles Irdischen und in erster Linie zur materialistischen Natur der Mutter widerspiegelt:

»Die Welt ist ein Stück fauliges Fleisch, und wer sich daranmacht, ist ein Hund.«

Als Alexandra eines Tages diesen Satz fein säuberlich auf Pappe schreibt und im Laden, für alle Kunden lesbar, an die Wand heftet, hat der Tuchhändler endgültig genug.

»Sie können Ihre Tochter in die Lehre geben, wem Sie wollen, Madame David«, erklärt er unmißverständlich. »Aber bei allem Respekt, mein Geschäft betritt sie nie wieder.«

Alexandra ist zufrieden. Sie mag wohl eine Fehlbesetzung in der Rolle der wohlerzogenen Mademoiselle im heiratsfähigen Alter sein, aber zur Verkäuferin eignet sie sich – nachgewiesenermaßen – mindestens genausowenig. Viel lieber wendet sie sich wieder ihren Büchern zu, ihrer Musik und ihren Studien der griechischen Philosophie und der Weltreligionen.

Von nun an lebt Alexandra noch zurückgezogener als vorher. Sie liest viel, ißt wenig, trinkt ausschließlich Wasser und trägt, da sie kein bißchen eitel ist, meist dasselbe Kleid. Gleichaltrige Freunde hat sie keine, doch gelegentlich besucht sie einen Jugendfreund ihres Vaters, den alternden Anarchisten und Gelehrten Elisée Reclus.