Königin Olga. Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron - Antje Windgassen - E-Book

Königin Olga. Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron E-Book

Antje Windgassen

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Beschreibung

Antje Windgassens Romanbiografie gewährt einen Einblick in das bewegende Leben von Königin Olga von Württemberg: authentisch und voller Gefühl! Als Tochter von Zar Nikolaj I. wächst Olga Romanowa behütet am russischen Zarenhof in St. Petersburg auf. Mit 23 Jahren begegnet die umfassend gebildete, schöne Großfürstin auf Sizilien dem württembergischen Thronfolger. Auch wenn es dynastisch-politische Erwägungen der Familien sind: Olga nimmt Karls Antrag gerne an. Nach der Hochzeit wird das Glück der neuen Kronprinzessin getrübt, als sie von Karls Homosexualität erfährt. Doch die junge Frau zeigt Größe, akzeptiert die "intimen Herzensfreundschaften" ihres Mannes und stürzt sich in ihr sozial-karitatives Engagement: Olga macht sich stark für die Erziehung und Bildung von Mädchen, initiiert Kranken- und Pflegeeinrichtungen und erobert die Herzen der Bevölkerung. Bis heute tragen zahlreiche soziale und medizinische Institutionen ihren Namen. Obwohl aus der Ehe keine leiblichen Kinder hervorgehen: Olgas Verhältnis zu Karl vertieft sich zunehmend, eine innig-liebevolle Freundschaft entsteht. Nach der Thronbesteigung 1864 lenkt das liberale, fürsorgliche Königspaar Württemberg durch politisch schwierige Zeiten. Im Zuge eines Skandals um Karls Beziehung zu einem deutlich jüngeren Amerikaner wächst Olga einmal mehr über sich hinaus. Als sie stirbt, trauert das ganze Land um seine geliebte Königin. Die berührende Geschichte einer klugen, starken Frau und einer besonderen Freundschaft.

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Königin Olga von Württemberg, um 1860

Inhalt

Prolog

Erstes Kapitel

Am Anfang war die Liebe

Zweites Kapitel

Kindheit in St. Petersburg

Drittes Kapitel

Träume der Jugend

Viertes Kapitel

Tiefste Trauer, höchstes Glück

Fünftes Kapitel

Hier kommt die Braut

Sechstes Kapitel

Ein anderes Leben

Siebtes Kapitel

Das Bekenntnis

Achtes Kapitel

Im Auf und Ab des Lebens

Neuntes Kapitel

Stuttgart

wird Heimat

Zehntes Kapitel

Königin von Württemberg

Elftes Kapitel

Glück und Glas

Zwölftes Kapitel

Prüfungen erwarte bis zuletzt

Epilog

Anhang

Quellenhinweise

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Glossar

Seitenliste

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Cover

Antje Windgassen

Königin Olga

Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron

Romanbiografie

Prolog

Schloss Friedrichshafen, im April 1892

Mein Name ist Olga – Großfürstin Olga Nikolajewna Romanowa, und ich wurde am 11. September 1822 im Anitschkow-Palais in St. Petersburg geboren. Väterlicherseits bin ich die Urenkelin von Zarin Katharina II., die man „die Große“ nennt, und die Enkelin von Zar Pawel I., aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp. Mütterlicherseits lautet der Name meines Urgroßvaters König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, und meine Großmutter war die hochgeschätzte Königin Luise. Mein geliebter Vater ist Zar Nikolaj I. Pawlowitsch und meine Mutter Zarin Alexandra Fjodorowna, eine geborene Prinzessin Charlotte von Preußen.

Ich selbst bin die Witwe König Karls von Württemberg, der vor nunmehr sechs Monaten, am 6. Oktober 1891, von uns gegangen ist. Er war der Mensch, der mir auf dieser Welt am nächsten stand, und wir haben einander sehr geliebt – zärtlich, innig, vertrauensvoll – auf unsere Weise.

„Niemand kennt den Tod und niemand weiß, ob er nicht für den Menschen das allergrößte Glück bedeutet.“

Ich erinnere mich dieser Worte, nicht aber, von wem sie stammen. Haben sie etwas Tröstliches? Vielleicht. Wenn ja, spüre ich es nicht. Zu groß, zu dunkel ist die Leere, die Karls Fortgang in mir hinterlassen hat. Sind sie wahrhaftig? Das werden wir Menschen erst erfahren, wenn wir selbst die Schwelle vom Leben zum Tode überschreiten. Bei mir wird es nicht mehr lange währen, bis die Zeit gekommen ist. Ich zähle 69 Jahre und auch meine Tage sind gezählt. Ich spüre, dass es dem Ende zugeht. Wie mich die Kräfte verlassen, wie die Schmerzen in meiner Brust immer unerträglicher werden, die Gesichter meiner ­Ärzte mit jedem Tag besorgter. Bisher können sie meine Krankheit nicht genau benennen. Sie sprechen von meiner angegriffenen Lunge, meinem gebrechlichen Herzen, und es scheint mir, dass das Kraut, das meine Leiden lindern oder gar heilen könnte, noch nicht gewachsen ist.

Um mich abzulenken – von meiner Trauer um Karl und von meinen Schmerzen –, habe ich beschlossen, mein Leben aufzuschreiben. Für mich als Erinnerung, für die Nachwelt vielleicht, insbesondere für ­meine geliebte Tochter Wera Konstantinowna zum Verständnis.

Fröstelnd legte Olga den Federhalter aus der Hand. Es war bereits tiefe Nacht, das Feuer im Kamin nahezu ausgebrannt und somit zu kraftlos, um der Kälte Einhalt gebieten zu können.

Sie zog das wollene Tuch enger um ihre Schultern und erhob sich, um an den Kamin zu treten. Über der nur noch leise glimmen­den Glut rieb sie die kalten Hände, die sich aber nicht wärmen wollten.

Sicher vertrage ich die Kälte nicht mehr so gut wie einst, als ich noch jung, voller Kraft und Leben war, vermutete Olga, richtete sich wieder auf und ging zum Fenster hinüber. Nachdenklich blickte sie hinaus in die dunkle Nacht.

Ein Unwetter tobte über Friedrichshafen. Mit aller Macht jagte der Wind die Wolken über den Himmel, zerrte an den Wipfeln der Bäume und peitschte die Wogen des Bodensees, die mit lautem Getöse ans Ufer rollten.

Olga sah und hörte von alledem nichts. Gedankenverloren beobachtete sie die Regentropfen, die monoton gegen das Fenster prasselten und dann, Tränen gleich, an der Scheibe herabrannen.

„Der Himmel weint“, flüsterte sie und hätte es ihm so gerne gleichgetan. Doch sie wollte sich keine Schwäche erlauben, wollte versuchen, stark zu bleiben.

Olga kehrte zurück zu ihrem Schreibtisch und nahm die Feder wieder auf.

„Leuchtende Tage. Nicht weinen, dass sie vorüber. Lächeln, dass sie gewesen“, schrieb sie.

Erstes Kapitel

Am Anfang war die Liebe

Die Grand Tour, auch „Cavalierstour“ genannt, war die Bezeichnung für eine obligatorische Reise der Söhne des Adels. Sie stellte den Abschluss der Erziehung dar, sollte der Bildung des Reisenden den „letzten Schliff“ geben und letztlich auch eine Möglichkeit sein, sich einen Überblick zu verschaffen, welche standesgemäßen jungen Damen auf dem europäischen Heiratsmarkt zur Verfügung standen.

Dessen war sich natürlich Großfürst Nikolaj von Russland bewusst, der dritte Sohn von Zar Pawel I. und Zarin Maria Fjodorowna, einer geborenen Prinzessin von Württemberg. Nikolaj zählte achtzehn Jahre, als er zu seiner Grand Tour aufbrach, sein Bruder Michail, der ihn begleiten sollte, war sechzehn.

Die beiden jungen Männer beabsichtigten, bedeutende euro­päische Baudenkmäler und berühmte Landschaften zu besichtigen. Zudem wollten sie Kultur und Sitten fremder Länder kennen­lernen, neue Eindrücke sammeln und ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Besonders Nikolaj war darüber hinaus an den Lektionen französischer und italienischer Fechtmeister interessiert, um ­seine Fähigkeiten im Waffenhandwerk zu vervollkommnen.

Insgesamt gesehen sollte die Reise also das Wissen der zwei Großfürsten erweitern, ihre Manieren verfeinern und zu einer gewissen Weltläufigkeit führen. Dazu gehörte natürlich – selbst wenn darüber nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde – auch die Erlangung einer gewissen Erfahrung in erotischen Dingen. Eine Schauspielerin hier, eine kleine Verkäuferin dort – als Söhne einer der vornehmsten Familien Europas würden die ­Brüder schnell Anschluss finden und schon ihre illustren Namen die Herzen vieler Bürgermädchen höher schlagen lassen.

Voller Neugier auf die Abenteuer – auch die amourösen –, die sie zu erleben hofften, brachen Nikolaj und Michail also zu ihrer Reise auf. Doch dann kam alles ganz anders.

Die erste Station der Brüder war Berlin. Hier hatten sie einen Pflichtbesuch bei König Friedrich Wilhelm III. zu absolvieren, um den sie ihr kaiserlicher Bruder, Zar Alexander I., gebeten hatte. Und die Großfürsten kannten auch den Grund für diese Bitte: Zar Alexander, der mit dem preußischen König befreundet und der vor vier Jahren verstorbenen Königin Luise sehr zugetan gewesen war, wollte die Beziehung zwischen Russland und Preußen gern weiter vertiefen.

„Du musst dich ja nicht sofort entscheiden“, hatte Alexander zu Nikolaj gesagt, „aber schau sie dir wenigstens an, die schöne Prinzessin Charlotte. Eine Heirat zwischen euch beiden wäre ­perfekt – für Russland und für Preußen.“

Nikolaj hatte zu diesem Ansinnen geschwiegen. Als drittgeborener Sohn des verstorbenen Zaren Pawel I. war es mehr als unwahrscheinlich, dass er einmal die Thronfolge antreten musste. Daher glaubte er, das Recht zu haben, seine Zukünftige selbst ­auswählen zu können und sich nicht auf eine arrangierte Ehe ­einlassen zu müssen. Dennoch konnte er die Bitte seines um neunzehn Jahre älteren Bruders, der immerhin auch sein Zar war und der die erheblichen Reisekosten dieser Cavalierstour aus ­seiner Privatschatulle zahlte, natürlich schlecht abschlagen.

In Berlin wurden Nikolaj und Michail auf das Herzlichste willkommen geheißen und überbrachten ihrerseits artig die Grüße ihres Bruders, des Zaren. Man bat die beiden Großfürsten zum Tee, einem Getränk, das nur vier Jahrzehnte zuvor von Friedrich dem Großen verboten worden und nun in Mode gekommen war. In der Hauptsache drehte sich das Gespräch bei Tisch um den bevorstehenden Kongress in Wien, auf dem die europäischen Fürstenhäuser die Grenzen der politischen Landkarte Europas – von Napoleon Bonaparte so gründlich durcheinander gewirbelt – neu festlegen wollten.

Auch Prinzessin Charlotte von Preußen nahm an der Teerunde teil, war allerdings nur schweigende Beobachterin. Unauffällig musterte sie die Brüder, v. a. den älteren, denn natürlich wusste auch sie, dass der russische Zar und ihre Eltern eine Verbindung zwischen Nikolaj und ihr für wünschenswert hielten. Verständlich, dass Charlotte seiner Ankunft mit Spannung entgegenge­sehen hatte.

Und nun saß er ihr gegenüber, ihr möglicher Bräutigam in spe, war plötzlich eine konkrete Erscheinung aus Fleisch und Blut, und zwar eine, die ihr nie gekanntes Herzklopfen verursachte. Auf den ersten Blick war Charlotte von Nikolaj hingerissen. Sein Ruf, der hübscheste Prinz Europas zu sein, war ihm zwar vorausgeeilt, aber nun konnte sie selbst feststellen, dass es sich dabei um keine Schmeichelei handelte. Ohne Zweifel – groß, schlank, blond, mit leuchtenden, blaugrauen Augen – glich er einem wahrhaftigen Märchenprinzen.

Nikolaj war von der Preußenprinzessin überaus beeindruckt, wenn er es auch in diesen Tagen in Berlin noch nicht so recht wahrhaben wollte. Vor ihm lag seine Grand Tour, eine Reise, auf die er sich sehr gefreut hatte und die er nun auf jeden Fall genießen wollte. Da konnte er sich doch nicht mit einer plötzlich auf­flammenden Schwärmerei belasten!

Seine Gefühle machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Sehenswürdigkeiten Roms, die grandiose Schönheit der Alpen, das charmant lockende Lächeln eines Pariser ­Blumenmädchens – das alles ließ Nikolaj völlig kalt. Vor seinem geistigen Auge sah er nur noch Charlotte. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit ihr wuchs mit jedem Tag, den er fern von ihr weilte.

Schließlich traf der junge Großfürst die für ihn einzig ­sinnvolle Entscheidung: Er brach seine Reise ab und fuhr zurück nach ­Berlin. Die enttäuschten Proteste Michails, der noch zu jung war, um die Reise allein fortsetzen zu können, und der ihn natürlich begleiten musste, nahm Nikolaj kaum zur Kenntnis.

In Berlin empfing man die beiden Großfürsten erneut mit offenen Armen und lud sie herzlich ein, eine Weile zu bleiben. So gingen die Brüder mit König Friedrich Wilhelm III. auf die Pirsch, ließen sich die Stadt vom Kronprinzen – ebenfalls ein Friedrich Wilhelm – zeigen und waren auch stets mit von der Partie, wenn es galt, einen Ball oder ein Picknick zu veranstalten.

Während dieser Wochen lernten Nikolaj und Charlotte einander besser kennen, und die große Sympathie, die beide vom ersten Augenblick an füreinander empfanden, vertiefte sich und wurde immer inniger.

Als es Zeit wurde, nach St. Petersburg zurückzukehren, bat Nikolaj seinen königlichen Gastgeber, kurz vor der Abreise, um ein Gespräch unter vier Augen – und um die Hand seiner Tochter.

Friedrich Wilhelm III. war hoch erfreut und gern bereit, dem Antrag des Großfürsten stattzugeben. Das letzte Wort sollte jedoch Charlotte haben.

Sogleich machte sich Nikolaj auf die Suche nach seiner Angebeteten, die er schließlich im Schlosspark entdeckte. Sie stand dort an einen Baum gelehnt, hatte den Blick zu Boden gerichtet und wirkte traurig und niedergeschlagen. Als sie seinen Schritt hörte, wandte sie sich um und sah ihm traurig entgegen.

„Ist alles bereit für Ihre Abreise morgen früh, Großfürst?“

Es war offensichtlich, dass Charlotte unter der bevorstehenden Trennung litt, und auch Nikolaj zerriss es fast das Herz bei dem Gedanken, der geliebten Frau für Monate Adieu sagen zu müssen. Er holte tief Luft.

„Charlotte, ich möchte Ihnen gerne eine Frage stellen ...“

Der Hochzeitstermin wurde für den 13. Juli 1817 festgesetzt, ­Charlottes 19. Geburtstag. Einen Monat zuvor erreichte sie, in Begleitung ihres Bruders Wilhelm, St. Petersburg. Bevor sie mit ihrem Nikolaj vor den Altar treten konnte, musste die evangelische Prinzessin, so verlangte es das russische Recht, zum orthodoxen Glauben übertreten. Damit verbunden war auch eine Namens­änderung. Und so war es schließlich nicht Prinzessin Charlotte von Preußen, die dem jüngeren Bruder des Zaren ihr Jawort in der Kasaner Kathedrale am Newski-Prospekt gab, sondern Großfürstin Alexandra Fjodorowna.

Am Hochzeitstag regnete es. Doch als das Brautpaar, unter dem Jubel des Volkes, das Gotteshaus verließ, schien sogar Petrus ein Einsehen zu haben. Der Himmel riss auf, und die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten die Kuppel der Kathedrale, die erst wenige Jahre zuvor im Stil des römischen Petersdoms fertiggestellt worden war.

Für einen Augenblick waren die Menschen in den Straßen ganz still, dann ging ein andächtiges Raunen durch die Menge: Es konnte gar nicht anders sein – diese Ehe war vom Himmel gesegnet.

Nach den prunkvollen Hochzeitsfeierlichkeiten bezog das glückliche junge Paar Schloss Peterhof, direkt am Finnischen Meer­busen gelegen. In dem großen, aber dennoch recht schlichten Palast führten Nikolaj und Alexandra für Romanow-Verhältnisse ein eher zurückgezogenes und bescheidenes Leben.

Bereits wenige Wochen nach der Hochzeit stellten die Ärzte bei Alexandra eine Schwangerschaft fest. Am 29. April 1818 schenkte sie einem gesunden Knaben das Leben, der auf den Namen „Alexander“ getauft, im Familienkreis aber nur „Sascha“ genannt wurde. Das zweite Kind war ein Mädchen. Es wurde ein gutes Jahr später geboren, erhielt den Namen „Maria“ und den Kosenamen „Mary“. Wiederum ein Jahr später brachte Großfürstin Alexandra eine Totgeburt zur Welt. Sie litt sehr unter dem Verlust und war nahe daran, schwermütig zu werden, doch die Liebe Nikolajs, ­seine Fürsorge und seine Aufmerksamkeit ließen sie schließlich über den Tod des Kindes hinwegkommen.

Am 11. September 1822 schenkte Alexandra einer weiteren Tochter das Leben. Sie erhielt den Namen „Olga“ – zum einen nach der Schwester Nikolajs, die bereits im Alter von drei Jahren gestorben war, zum anderen nach der heiligen Olga von Kiew, einer russischen Fürstin, die im 10. Jahrhundert gelebt und den christlichen Glauben angenommen hatte.

Die Tauffeierlichkeiten fanden auf dem Witwensitz der Zarenmutter Maria Fjodorowna, dem Pawlowsk-Palast, statt. Sie war die Großmutter der kleinen Olga und zugleich ihre Taufpatin. Als zweiter Taufpate fungierte der preußische König Friedrich Wilhelm III., der zu diesem Ereignis eigens aus Berlin angereist war.

Zar Alexander, der Onkel Olgas, verlieh der kleinen Großfürstin bei ihrer Taufe traditionsgemäß den mit Brillanten besetzten St. Katharinenorden, den einst Peter der Große gestiftet hatte und den jedes neu geborene Mädchen der Romanow’schen Zarenfamilie erhielt.

Wer nicht zur Taufe Olgas erschien, war Konstantin Pawlowitsch, der ältere Bruder Nikolajs. Der 41-Jährige hatte etwa ein halbes Jahr zuvor auf seinen ersten Platz in der Thronfolge verzichtet. Solange Zar Alexander I. keinen leiblichen Erben besaß, war Konstantin der Zarewitsch gewesen, sein Rücktritt daher eine einschneidende Entscheidung für die Dynastie Romanow.

In Alexanders und Konstantins Jugend hatte noch Katharina II. regiert. Als die Zarin älter wurde und mehr und mehr spürte, dass ihre Kräfte schwanden, sorgte sie sich zunehmend um ihre Nachfolge. Zwar konnte sie nicht verhindern, dass ihr Sohn Pawel Petrowitsch, den sie für einen unnützen Menschen hielt, nach ihrem Ableben die Zarenkrone übernahm. Aber sie glaubte fest daran, dass ihr großes und starkes Russland Pawels Regierung überstehen würde, wenn sie für die Zeit danach vernünftige Vorsorge traf. Also begann sie die dynastische Zukunft des Hauses Romanow zu regeln. Dazu gehörte, dass sie ihren erstgeborenen Enkel Alexander, gerade einmal 16-jährig, mit der erst 14-jährigen Prinzessin Luise von Baden vermählte, die nach ihrer Konversion zum orthodoxen Glauben den Namen „Elisabeth Alexejewna“ annahm. Obwohl Alexander zahlreiche Affären hatte, wurde die Ehe recht glücklich. Aus ihr gingen zwei Kinder hervor – zwei Mädchen, die beide kurz nach der Geburt verstarben.

Als Katharinas zweitgeborener Enkel Konstantin sein 16. Lebens­jahr erreichte, beschloss die Zarin, auch ihn zu vermählen.

In den klaren, kalten Dezembertagen des Jahres 1795, als der Schnee, der das ganze Land wie ein weißes Leinentuch bedeckte, in der Sonne glitzerte, machte sich Fürstin Auguste von Sachsen-Coburg auf den Wege nach St. Petersburg. Sie hatte es wirklich eilig. Ihre drei Töchter hingegen – die 17-jährige Sophia, die 16-jährige Antoinette und die Jüngste, Juliane, gerade einmal 14 Lenze zählend – zeigten sich hingegen für jede Verzögerung dankbar. Obwohl man den Prinzessinnen keinen Grund für diese Reise genannt hatte, waren sie doch klug genug zu erkennen, dass sie am russischen Hofe vorgestellt werden sollten – „zur Ansicht“ gewissermaßen, wie eine Ware, die sich ein Käufer zur Prüfung schicken ließ und, je nach Geschmack, ablehnen oder in Besitz nehmen konnte.

Tatsächlich lagen die jungen Damen mit dieser Einschätzung auch nicht falsch. Zarin Katharina hatte nach den drei Prinzessinnen schicken lassen, weil sie eine geeignete Gemahlin für ihren zweitältesten Enkel Konstantin suchte. Und die Chance wollte sich die resolute Fürstin Auguste auf keinen Fall entgehen lassen. Eine Sachsen-Coburgerin als Gemahlin eines Romanows? Bei Gott, eine bessere Partie konnte man sich wirklich nicht denken.

Die Reise ins ferne Russland, mitten im Winter, war beschwerlich und unbequem und Auguste froh, als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten. So schnell wie möglich ließ sie ihre Töchter umkleiden und frisieren und wartete dann ungeduldig darauf, von der Zarin empfangen zu werden.

Auguste wurde für ihre Mühe belohnt. Tatsächlich entschied sich Katharina für eine ihrer Töchter – allerdings fiel ihre Wahl ausgerechnet auf die Jüngste, auf Juliane. Als das Mädchen erfuhr, dass sie die Auserwählte war und in St. Petersburg bleiben musste, um den zwei Jahre älteren, äußerst finster dreinblickenden und unnahbar wirkenden Konstantin zu heiraten, brach sie verzweifelt in Tränen aus. Auf Knien flehte sie ihre Mutter an, gnädig zu sein und sie wieder mitzunehmen – heim, nach Sachsen-Coburg, zu Vater und Geschwistern, zu allem, was Juliane lieb und teuer war. Doch Auguste konnte der Bitte ihres Kindes nicht nachgeben. Gewiss, auch ihr wäre es lieber gewesen, wenn sich die Zarin für eine der älteren Töchter entschieden hätte, aber nun waren ihr die Hände gebunden.

Die Hochzeit von Konstantin und Juliane wurde am 15. Februar 1796 auf das Prunkvollste in St. Petersburg gefeiert. Allerdings wollten weder das unnahbare Gesicht des Bräutigams noch die verweinten Augen der unglücklichen Braut, die nun den russischen Namen „Anna Fjodorowna“ trug, so recht zu den ausgelassenen Festlichkeiten passen. So reichte die Zarin auch schon früh am Abend ihrer frischgebackenen Enkeltochter die Hand und rief Konstantin herbei, um das junge Paar in das vorbereitete Brautgemach zu führen. Begleitet wurden sie dabei von fünfzehn weiteren Mitgliedern der Zarenfamilie und dem Oberprokuror.

Konstantin und Anna Fjodorowna wären am liebsten vor Scham im Boden versunken. Gewiss, auf das, was in der Hochzeitsnacht zwischen Mann und Frau geschah, waren sie vorbereitet, nicht aber auf diese Prozession, die nun wie selbstverständlich ihr Schlafzimmer betrat. Sie alle schauten zu, wie das junge Paar ausgekleidet wurde und schließlich das breite Brautbett bestieg. Dann ließ man die beiden jungen Menschen endlich allein. Stumm und voller Abneigung sahen sie einander an.

Die Ehe zwischen dem russischen Großfürsten und der Coburger Prinzessin wurde denkbar unglücklich und sollte kinderlos bleiben. Die beiden wussten einander nichts zu sagen, ja, Anna Fjodorowna hatte sogar Angst vor ihrem unbeherrschten, bösar­tigen Gemahl und war stets erleichtert, wenn er den Konstantinpalast, den ihm sein Vater geschenkt hatte, für längere Zeit verließ, um seiner militärischen Karriere nachzugehen.

Am 17. November 1796, etwa ein halbes Jahr nach der Eheschließung von Konstantin und Anna Fjodorowna, starb Zarin Katharina II., und ihr Sohn Pawel bestieg den Thron des Russischen Reiches. Er hatte seine verstorbene Mutter, von der er sich ein Leben lang ungeliebt und gedemütigt fühlte, aus tiefster Seele gehasst. Aus diesem Grund erließ Pawel bereits wenige Tage nach ihrem Tode ein Dekret, in dem er festlegte, dass fortan nur noch männliche Nachkommen zur Thronfolge zugelassen werden durften.

Überhaupt war der junge Zar fast besessen von der Idee, seine Regierung im vollkommenen Gegensatz zu der seiner Mutter zu gestalten. Dazu gehörte auch, dass er die Bündnisse mit Österreich, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und Neapel aufkündigte. Der Adel und zahlreiche Militärs Russlands hielten Pawels Vorgehen für puren Wahnsinn. Die Bündnisse, die sich gegen das revolutionäre Frankreich gerichtet hatten, waren nun durch das Austreten Russlands geschwächt.

Die Proteste verhallten jedoch, der Zar ließ sich nicht beirren und erhielt daraufhin zahlreiche anonyme Morddrohungen. Also beschloss Pawel den Bau der Michailowski-Burg – eines massiven, aus Backsteinen errichteten Hochsicherheitsschlosses mit Wasser­gräben, Geheimgängen, Zugbrücken und zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen. Doch auch die vielfach gesicherte Burg konnte den Zaren nicht schützen. In der Nacht des 24. März 1801 gelang es einer Gruppe von Verschwörern, in den Palast einzudringen. Sie wollten Pawel zwingen, seine Abdankung zu unterzeichnen. Als der Zar sich weigerte, erdrosselten sie ihn mit seiner eigenen Schärpe.

Böse Zungen behaupteten anschließend, dass das Attentat mit Wissen und Einverständnis von Zarewitsch Alexander stattgefunden habe, der sehr wohl die Abdankung seines Vaters befürwor­tete, allerdings nicht seine Ermordung. Ob diese Verdächtigungen der Wahrheit entsprachen, wurde nie geklärt. Fest steht allerdings, dass die Attentäter, zumindest gerüchteweise, namentlich bekannt waren, jedoch niemals verfolgt oder bestraft wurden.

Alexander bestieg nun als Alexander I. den Zarenthron, während Pawel I. gebührend betrauert wurde – vor allem von seiner Schwiegertochter Anna Fjodorowna, Konstantins Frau. Für sie soll er der einzige Mensch im ganzen Land gewesen sein, der hin und wieder ein freundliches Wort an sie gerichtet hatte. Vielleicht war sein Verlust der berühmte Tropfen, der das Fass für die unglück­liche Gemahlin Großfürst Konstantins zum Überlaufen brachte. Nach Zar Pawels Tod hielt sie nichts mehr in Russland, sie floh aus St. Petersburg und kehrte endlich, nach sechs schrecklichen ­Jahren, in ihre Heimat Sachsen-Coburg zurück. Doch dann stellte sich heraus, dass es noch einen weiteren Grund für ihre Flucht gegeben hatte: Anna Fjodorowna war nämlich in guter Hoffnung und der Vater des ungeborenen Kindes nicht ihr Ehemann, ­sondern Zar Alexander! Diese Ungeheuerlichkeit erfuhren die Romanows aus einem Brief, den Königin Luise 1802 an ihren ­Bruder schrieb: „Anna ist glücklich entbunden, das Kind nach Franken in ein Dorf gebracht worden. Was für ein Schicksal für ein Zaren- und Großfürstinnenkind.“

Zar Alexander und sein Bruder Konstantin gerieten nicht in Streit wegen des unglücklichen Kindes. Sie erwähnten es nicht einmal. Konstantin war es schlichtweg gleichgültig, dass seine Frau ihn mit seinem Bruder betrogen hatte. Er war nur froh, Anna los zu sein, und dachte auch gar nicht daran, sie zur Rückkehr aufzufordern. Während der Großfürst sich als Soldat einen Namen machte, sich in den Schlachten von Austerlitz und Leipzig mit großer Tapferkeit auszeichnete, wartete er nur darauf, dass endlich seine Ehescheidung ausgesprochen wurde. Es dauerte insgesamt neun Jahre, bis Konstantin wieder frei war und sich am 24. Mai 1820 neu vermählen konnte – diesmal mit der Frau, die er über alles liebte und die seit vielen Jahren seine Mätresse war.

Auf Konstantins Bitte hin erhob Zar Alexander die Gräfin ­Grudzi´nska zur Fürstin von Łowicz. Weil die Heirat natürlich trotzdem nicht standesgemäß war, erklärte Konstantin seinen Verzicht auf die Thronfolge. Alexander nahm diese Entscheidung an. Unglücklicherweise legte der Zar den Thronverzicht des Bruders weder schriftlich nieder, noch gab er ihn öffentlich bekannt. Der Einzige, der davon erfuhr, war Nikolaj, den sein kaiserlicher ­Bruder nun statt Konstantins zum Zarewitsch ernannte.

Obwohl Großfürst Nikolaj jetzt Thronfolger war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, tatsächlich einmal die Zarenkrone von seinem Bruder, Alexander I., übernehmen zu müssen. Schließlich war Alexander, obwohl etliche Jahre älter, vollkommen gesund und durchaus noch in der Lage, einen Sohn zu zeugen. Und auch Konstantin konnte seine Meinung noch einmal ändern und seinen Thronverzicht zurücknehmen. Die Gefahr, selbst einmal den Zarenthron besteigen zu müssen, schätzte ­Nikolaj also als gering ein. Und so lebte er weiter in den Tag hinein und verbrachte seine Zeit am liebsten mit seiner geliebten Frau Alexandra und den Kindern.

Sascha, Mary und Olga, im Allgemeinen nur „Olly“ genannt, erlebten zunächst eine behütete, liebevolle Kindheit auf Schloss Peterhof. Olga war noch zu jung, um sich später daran erinnern zu können, aber für Sascha und Mary war Peterhof der herrlichste Ort der Welt, an dem sie, fern von jeder Etikette, unbeschwert spielen, tollen und reiten durften.

Von den Ereignissen in St. Petersburg bekam die Familie in ­dieser Zeit nicht viel mit – weder von der schrecklichen Überschwemmung, die die Stadt 1824 heimsuchte, noch von der großen Veränderung, die Zar Alexander erfuhr. Der einst so liberal eingestellte Zar war misstrauisch gegen alles und jeden geworden. Er führte die Zensur wieder ein, löste die Freimaurerlogen auf und legte über sein großes Reich ein engmaschiges Netz aus Geheimpolizisten.

Im Sommer 1825 erkrankte Zarin Elisabeth Alexejewna. Die Ärzte rieten ihr zu einem ausgedehnten Aufenthalt im Süden des Landes. Alexander beschloss, seine Frau zu begleiten, und Mitte September traten die beiden eine Reise auf die Krim an. Dort befiel den Zaren ein unbekanntes Fieber, das ihm schon nach wenigen Tagen die Kräfte raubte.

Gegen den Rat der Ärzte bestand Zar Alexander darauf, in seine Sommerresidenz nach Taganrog, eine Hafenstadt am Asowschen Meer, gebracht zu werden. Er erreichte das Anwesen mehr tot als lebendig und verstarb dort am 1. Dezember 1825.

Alexanders verzweifelte Witwe Elisabeth betete tagelang an seinem aufgebahrten Leichnam. Dann ließ sie den Toten nach St. Petersburg überführen. Sie selbst fühlte sich nicht stark genug, die Heimreise anzutreten. Erst Anfang Mai 1826 sah sie sich imstande, Taganrog zu verlassen. St. Petersburg sollte sie jedoch niemals wiedersehen. Denn am frühen Morgen des 16. Mai 1826 fand ihre Kammerzofe die Zarenwitwe tot im Bett in einer Herberge. Als Todesursache diagnostizierten die Ärzte Herzversagen. Das russische Volk hingegen war sich einig: Mütterchen Elisabeth Alexejewna hatte den Tod ihres Gemahls nicht verwunden und war an gebrochenem Herzen gestorben.

Für Nikolaj und seine Familie bedeutete der Tod Zar Alexanders I. den baldigen Abschied von Schloss Peterhof mit all seinen ­Freiheiten. Doch nicht nur Sascha, Mary und Olga fiel es schwer, Lebewohl zu sagen. Auch ihre Eltern schieden schweren Herzens. Hier, in der Abgeschiedenheit des Meerbusens, waren Nikolaj und Alexandra glücklich gewesen, hatten sie ihre Liebe leben dürfen, ohne Etikette-Regeln, ohne Intrigen, ohne Anspannungen und ohne Druck von Außenstehenden.

Ihr zukünftiges Leben in St. Petersburg würde ein anderes sein, dessen waren Nikolaj und Alexandra gewiss. Und wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, es zu meiden, hätten sie sie ergriffen. Doch überzeugt von dem Glauben an eine durch göttliche Gnade verliehene und legitimierte Herrschaft, sahen sie es nun als ihre Pflicht an, die Verantwortung für das riesige Russische Reich zu übernehmen.

An diesen letzten Tagen in Peterhof gaben sich Nikolaj und Alexandra zwei Versprechen. Zum einen gelobten sie: Was auch geschehen würde, niemals wollten sie einander oder ihre Kinder vernachlässigen – trotz aller auf sie zukommenden Regierungspflichten sollte die Familie immer das Wichtigste bleiben. Und das zweite Versprechen: Aus eigener Erfahrung wussten sie, wie segensreich eine Ehe sein konnte, die aus Liebe und nicht aus dynastischen Zwängen heraus geschlossen wurde. Daher sollten auch ihre Kinder einmal die Möglichkeit erhalten, aus Liebe zu heiraten.

Zweites Kapitel

Kindheit in St. Petersburg

Zu einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen gehört unser Umzug in den Winterpalast in St. Petersburg. Obwohl das Schloss um vieles prächtiger war als unser schlichter Peterhof, weiß ich noch gut, dass ich unser neues Heim von Anfang an nicht leiden konnte. Es war kalt, zugig und in seiner Größe so unübersichtlich, dass es mir lange nicht gelingen wollte, von meinem Zimmer aus in die Gemächer meiner Eltern und wieder zurück zu finden. Das Unglück einer dreijährigen Großfürstin interessierte zu dieser Zeit jedoch kaum jemanden. Dazu war das Chaos viel zu groß, das Onkel Alexanders Tod hinterlassen hatte.

In St. Petersburg und weiten Teilen Russlands verbreitete sich das Gerücht, dass Zar Alexander I. überhaupt nicht gestorben sei, sondern sich freiwillig von der Regentschaft zurückgezogen habe und als Eremit an einem verborgenen Ort lebe – eine Legende, die sich Jahrzehnte lang halten sollte. Etwa 30 Jahre später wollte mein Bruder Sascha als Zar Alexander II. der Geschichte den Nährboden nehmen. Zu diesem Zweck befahl er, die sterblichen Überreste unseres Onkels zu unter­suchen. Der Verstorbene war, ebenso wie seine Gemahlin, in der St. Petersburger Peter-und-Paul-Kathedrale, der Begräbnisstätte des Hauses Romanow, beigesetzt worden. Als man Alexanders Sarg öffnete, war dieser jedoch leer. Das ist eines der Rätsel unserer Dynastie, das bis heute nicht gelöst werden konnte.

Doch zurück zu der schwierigen Situation nach Zar Alexanders mutmaßlichem Tod: Die bedauerliche Tatsache, dass niemand vom Thronverzicht Großfürst Konstantins wusste, ließ meinen Vater un­­sicher werden. Schließlich hielt er es für ratsam, sich nicht einfach zum Zaren ausrufen zu lassen, sondern sich zunächst mit seinem älteren Bruder zu beraten. Also schrieb er Konstantin einen Brief. Der Kurierdienst von St. Petersburg nach Warschau und wieder zurück brauchte jedoch – zumal im Winter – mehrere Wochen. Während ­dieser Zeit befand sich das Russische Reich in der komplizierten Lage, mit dem angeblich noch lebenden Alexander, mit Papa und mit Onkel Konstantin insgesamt drei Zaren zu besitzen, aber keinen Herrscher, der regierte.

Vermutlich war es der Reichsrat, der schließlich die Geduld verlor und Großfürst Konstantin zum Zaren ausrufen ließ, die Garde auf ihn einschwor und den Auftrag erteilte, die ersten Rubel mit seinem Konterfei zu prägen.

Onkel Konstantin war entsetzt, als er davon erfuhr. Der Preis dafür, dass er seine große Liebe hatte heiraten dürfen, war der Thronverzicht gewesen. Er hatte ihn gerne gezahlt, war mit seiner polnischen Fürstin sehr glücklich geworden und dachte gar nicht daran, das Versprechen, das er seinem Bruder und Zaren einst gegeben hatte, zu brechen. Für Konstantin war und blieb mein Vater der rechtmäßige Thronfolger, und daher zögerte er auch nicht, seinen Bruder nun höchstpersönlich zum Zaren zu proklamieren.

Damit hätte die Angelegenheit eigentlich geklärt sein und Papa sich krönen lassen können, wenn sich gewisse Offizierskreise das Durch­einander nicht zunutze gemacht hätten, um eine Revolte anzuzetteln.

Schon auf Peterhof hatten Nikolaj, Alexandra und die Kinder immer nachmittags um vier Uhr gespeist. Dieser Brauch wurde im Winterpalast fortgeführt – auch an diesem denkwürdigen 26. Dezember des Jahres 1825. Es war ein Montag, und wie stets hatte die Dienerschaft die Anweisung, die Mahlzeit der Familie auf keinen Fall zu stören. Dennoch wurden nun Rufe laut. Männer fluchten, schimpften und stampften mit schweren Stiefeln über die kostbaren Marmorfliesen, Teppiche und Parkettböden. Die bedrohlichen Geräusche ertönten aus allen Ecken des Winter­palastes, und die schweren Tritte kamen eindeutig näher.

Als die Tür des kleinen ­Speisesaals aufgerissen wurde und etwa ein Dutzend Männer wie eine wilde Horde hereinströmte, lief Olga ängstlich zu ihrer Mutter. Diese hielt gerade Olgas jüngere, sechs Monate alte Schwester Alexandra, im Allgemeinen nur „Adini“ genannt, auf dem Schoß, legte aber sofort einen Arm schützend um Olga. Indes erhob sich Nikolaj und sah den Eindringlingen unerschrocken entgegen.

„Was wollt ihr?“, fragte er mit eisiger Stimme. „Was fällt euch ein, hier ohne Aufforderung einzutreten und mit eurem ungehobelten Benehmen meine Kinder zu erschrecken?“

Seine Kaltblütigkeit schien auf die Kerle Eindruck zu machen. Sie, die sich in ihren Uniformen als Offiziere der Armee auswiesen und allesamt noch sehr jung waren, warfen Alexandra und den Kindern verunsicherte Blicke zu. Nur ihr Anführer zog nun seinen Säbel und richtete ihn auf den künftigen Zaren.

„Wir sind gekommen, Großfürst Nikolaj Pawlowitsch, um Euch mitzuteilen, dass die Offiziere der Armeen Euch den Treueeid ­verweigern. Wir erkennen nur Großfürst Konstantin als unseren Zaren an, und das auch erst, nachdem das Verschwinden Zar Alexanders aufgeklärt wurde. Außerdem fordern wir die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umwandlung des russischen Zarenreichs in eine Republik, nach dem Vorbild Frankreichs.“

Zu Olgas größtem Erstaunen, begann ihr Vater bei diesen ­Worten zu lachen.

„Ist euch eigentlich selbst bewusst, was ihr für einen Unsinn redet?“, fragte er amüsiert. „Auf der einen Seite erklärt ihr mir, dass ihr mich nicht als Zaren anerkennen wollt, auf der anderen stellt ihr Forderungen an mich, die nicht einmal ein Zar erfüllen könnte. Geht nach Hause, Männer, und überlegt euch, was ihr überhaupt wollt.“

Zornig kniff der Anführer, der den Namen „Sergej Iwanowitsch Murawjow-Apostol“ trug, den Rang eines Oberstleutnants bekleidete und noch immer seinen Säbel in der Hand hielt, seine Augen zusammen.

„Ich kann Euch nur raten, Großfürst, unsere Anliegen ernst zu nehmen“, zischte er böse.

„Aber meine Herren Offiziere“, gab Nikolaj leichthin zurück. Der warnende Unterton in seiner Stimme war allerdings nicht zu überhören. „Ich nehme euch und euren Aufstand sogar außerordentlich ernst. Und ihr könnt gewiss sein, dass ich mir eure Ge­­sichter sehr gut einprägen werde.“

Irgendwie lief das Gespräch ganz und gar nicht so, wie es sich die jugendlichen Rebellen in ihrem Eifer, die Welt zu verändern, vorgestellt hatten. Die Mehrheit von ihnen wirkte eingeschüchtert, nur ihr Anführer fuchtelte noch immer trotzig mit seinem Säbel herum.

„Ihr könnt große Worte machen, Nikolaj Pawlowitsch“, höhnte er. „Aber traut Ihr Euch auch, uns hinaus auf den Senatsplatz zu begleiten und den aufmarschierten Armeen gegenüberzutreten? General Miloradowitsch ist bereits von uns erschossen worden. Ihr könntet der Nächste sein.“

Nikolaj musterte ihn, und unter seinem eisigen Blick wurde selbst der Rädelsführer kleinlaut. So viel Kaltblütigkeit hatte er dem Großfürsten nicht zugetraut. Doch Nikolaj war selbst erstaunt über den Mut, den er hier und jetzt aufbrachte. Er hatte keine Übung darin, gefährliche Situationen zu meistern, aber ­seine Überzeugung, dass es der Herrgott selbst war, der ihn als nächsten Zaren Russlands vorgesehen hatte, ließ ihn nun ruhig und selbstbewusst werden. Ohne seine Stimme zu erheben, aber mit der ganzen Autorität seiner Position, wies er den Eindring­lingen nun die Tür.

„Hinaus. Aber sofort!“

Die Männer gehorchten, ohne zu zögern.

Als sie den Raum verlassen hatten, wandte sich Nikolaj an ­seine Frau: „Ich fürchte, dass ich die Situation ein für alle Mal klären muss“, sagte er. „Sorg’ dich nicht um mich, Liebes. Wir sind alle in Gottes Hand. Er wird uns schützen.“

Auch Nikolaj verließ nun den kleinen Speisesaal und ging mit festen Schritten den langen Korridor entlang, dem Ausgang des Winterpalastes entgegen.

Geistesgegenwärtig winkte Alexandra seinem Leibdiener: „Schnell. Den Offiziersmantel.“ Der Bedienstete hastete davon, während seine Herrin ihrem Gemahl hinterherblickte.

Ich habe es mit angesehen, dachte Alexandra aufgeregt. Mit eigenen Augen habe ich beobachten können, wie in den letzten Minuten aus dem Großfürsten Nikolaj Pawlowitsch Romanow der Zar wurde: Nikolaj von Russland, Selbstherrscher aller Reußen.

Sie war unglaublich stolz auf ihn.

Als Nikolaj den Winterpalast verließ und zum Senatsplatz hinüber schritt, war dieser schwarz vor Menschen: aufgebrachte Soldaten und neugierige, sensationsheischende Zivilisten.

Der Großfürst bestieg ein Pferd und gab ruhig und ohne Hast den Regimentern, die treu zur Krone hielten, Befehl zum Aufmarsch. Dann wandte er sich den Menschen zu, die von den aufständischen Offizieren aufgestachelt waren und lauthals nach Konstantin riefen.

„Schenkt den Rebellen keinen Glauben. Mein Bruder ist aus eigenem Wunsch zurückgetreten. Ich, Nikolaj Romanow, bin euer rechtmäßiger Herrscher. Und nun geht nach Hause, Leute. Hier ist es zu gefährlich. Jeden Augenblick kann es zum Kampf kommen.“

Die Menschen hörten Nikolaj zwar zu, reagierten aber nicht. Anstatt auseinanderzugehen, blieben sie stumm und finster dreinblickend stehen. Über Stunden standen sich die Gegner so gegenüber, lauernd, kampfbereit und unversöhnlich.

Die Wintertage in Russland waren kurz. Schon bald würde die Sonne untergehen und die Dämmerung einsetzen, an diesem 26. Dezember 1825. Bevor es dazu kommen konnte, schritt Nikolaj jedoch zur Tat und befahl der zarentreuen Artillerie, den Aufstand zu beenden. Als die ersten Schüsse fielen, geriet die Menschenmenge in Panik und lief auseinander. Die aufständischen Regimenter boten den Angreifern nur kurz die Stirn, dann flohen auch sie.

Nikolaj wies seine Kavallerie an, hinterherzusetzen und die Anführer des Aufstandes gefangen zu nehmen. Dann wendete er sein Pferd und ritt hoch aufgerichtet zurück zum Winterpalast. Er zitterte, vor Erschöpfung und Angst. Stand in diesem Augenblick vielleicht ein Scharfschütze hinter einer Hausecke und hatte sein Gewehr auf ihn angelegt? Nur mühsam widerstand er dem Impuls, sich umzusehen und damit seine Schwäche zuzugeben. Stärke und Überlegenheit musste er zeigen – und seinen Sieg genießen. Immerhin hatte er die Revolte gegen das Zarenhaus, die man später den „Dekabristen-Aufstand“ nennen würde, erfolgreich niedergeschlagen. Wie viele Opfer zu beklagen waren, wusste niemand, und es interessierte auch nicht. Sie waren, befand Nikolaj, nötig gewesen. Und es würden weitere folgen, denn die Gefahr war noch nicht gebannt. Seine Aufgabe würde es sein, die Revolte vollständig auszumerzen und die Rädelsführer gnadenlos zu bestrafen.

Endlich hatte Nikolaj den Winterpalast erreicht. Er sprang aus dem Sattel, warf die Zügel einem livrierten Diener zu und betrat das Schloss durch das Hauptportal. Ohne sich aufzuhalten, eine Stärkung einzunehmen oder seine Familie zu sehen, ging er in sein Kabinett, um das, was er als seine Plicht ansah, sofort in Angriff zu nehmen. Zunächst studierte er die Rapporte seiner Offiziere, dann gab er den Befehl, die festgenommenen Rebellen in den Winterpalast bringen zu lassen. Noch in der gleichen Nacht begann er, die Inhaftierten persönlich zu verhören – dass Nikolaj damit den ersten schweren Fehler seiner Regierung beging, erkannte er nicht.

Die Mehrzahl der ihm vorgeführten Männer entstammte Adelsfamilien. Sie waren jung, hatten soziale und liberale Ideen, Ideale, an die sie glaubten, über die sie bisher nur in Geheim­bünden diskutiert hatten. Ihnen ging es nicht um Nikolaj oder Konstantin. Sie hatten den Eid auf den neuen Zaren verweigert, um gegen das autokratische Regime zu protestieren, gegen Leibeigenschaft, Willkür und Zensur. Sie wollten nicht das Zarentum abschaffen, aber die Alleinherrschaft. Sie wollten ein Parlament, das die Regierung des Zaren überwachte und Entscheidungen notfalls korrigieren konnte. Das wiederum konnte Nikolaj nicht zulassen.

Überzeugt davon, allein von Gott auf den Zarenthron gesetzt zu werden, empfand Nikolaj die Aufständischen als Gotteslästerer. Und dementsprechend ging er mit ihnen um. Um ihre Aussagen so umfassend wie möglich zu bekommen, schreckte er selbst vor Folter und Misshandlung nicht zurück. Als das bekannt wurde, begannen sich die Adelsfamilien, deren Söhne und Neffen vom neuen Zaren malträtiert wurden, zu beschweren. Es kam zu einem tiefen Riss zwischen Nikolaj und den höchsten Familien des ­Landes, einem Riss, der den Beginn seiner Regierungszeit nicht einfacher machte.

Nikolaj, völlig durchdrungen vom Gottesgnadentum, scherte sich nicht darum und rief völlig übereilt im Juni 1826 ein Militärgericht zusammen, das die Schuld von mehr als 500 „Dekabristen“, wie die Revolutionäre genannt wurden, feststellen sollte. Das Gericht verurteilte fünf Verschwörer zum Tode, die übrigen zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien. Die Urteile erschütterten das ganze Reich.

Olga und ihre Geschwister bekamen von alledem nichts mit. Im Winter und Frühjahr, während der Zeit der Verhöre, führte man die Zarenkinder durch lange Korridore zweimal täglich zu ihren Eltern. Die Begegnungen waren nur kurz, hastig, dann wurden die Kleinen wieder fortgeschickt. Sie litten sehr unter der Situation und fühlten sich aus dem Leben ihrer Eltern vertrieben, das sie noch vor Kurzem tagtäglich mit ihnen geteilt hatten.

Gewissermaßen als Ausgleich erlaubte das Zarenpaar seinen Kindern, an den Krönungsfeierlichkeiten in Moskau teilzunehmen.

Obwohl Peter der Große die Hauptstadt seines Reiches nach St. Petersburg verlegt hatte, wurden die Zarenkrönungen auch weiterhin im Kreml vollzogen. Und Nikolaj hatte es eilig, sich ­krönen zu lassen. Er wusste sehr genau: Erst durch diesen ­feier­lichen, heiligen Akt würde er wirklich Zar von Russland ­werden. Für das russische Volk war nicht nur das Privileg der Geburt die wichtigste Voraussetzung für das Herrscheramt, ­sondern vor allem auch die Salbung in der Mariä-Entschlafens-­Kathedrale des ­Moskauer Kremls. Nur der, dem Gott erlaubte, sich in dieser Kathedrale eigenhändig die Krone des Zarenreiches aufs Haupt zu setzen und sich selbst das Abendmahl zu reichen, war von Gottes Gnaden ihr „Väterchen Russland“, ihr Zar und Herrscher, und ­keine Menschenhand könnte ihm jemals ein Leid antun.

So wurden die Vorbereitungen in größter Eile betrieben. Die Reichsinsignien, der Krönungsmäntel und die Kronjuwelen mussten aus der Schatzkammer der Peter-und-Paul-Festung geholt und sorgfältig verpackt werden. Ein langer und prächtiger Tross wurde zusammengestellt, der alles mit sich führte, was es brauchte, um dem neuen Zarenpaar die lange Reise von St. Petersburg nach Moskau so angenehm wie möglich zu machen. Als alles fertig­gestellt war, brachen Nikolaj und Alexandra Anfang August 1826 in Richtung Moskau auf, um die letzten Vorbereitungen vor Ort treffen zu können.

Etwa zwei Wochen später gingen meine Geschwister und ich auf ­Reisen. Unsere Eltern hatten uns unter den Schutz General Wassilij Alexejewitsch Perowskijs gestellt, der uns sicher bis Moskau geleiten sollte. Neun Tage benötigten wir für die Strecke. Ich war damals vier Jahre alt, und meine Erinnerungen an die Reise bestehen aus einer bunten Mischung aufregender Bilder.

Wir nutzten keine Chausseen, sondern nur versteckte Knüppelwege. Das hatte der General meinen Eltern fest versprechen müssen, denn natürlich sollte unsere Reise geheim bleiben und kein Aufsehen ­erregen. Die Gefahr, dass sich immer noch versprengte Dekabristen herum­trieben, war einfach zu groß.

Unsere Reisestationen waren unter anderem Nowgorod, mit seinem alten Kloster, Tarjok, wo die Spitzenklöppler ansässig waren und eine junge Frau namens Pojarekij ausgezeichnete Koteletts zu braten verstand, Wischnij Woletschek und Twer. Dann hatten wir endlich ­Moskau erreicht. Beim Anblick der dunkelroten backsteinernen Kreml-Mauern schlug mein Herz höher. In diesem Augenblick empfand ich zum ersten Mal einen Hauch von dem, was Heimat bedeutete – Russland, Vaterland.

Etwa 14 Jahre war es nun her, dass der Kreml erhebliche Zerstörungen davongetragen hatte. Napoleon Bonaparte, der Moskau während seines Russlandfeldzugs zeitweilig besetzt hielt und, als er den Rückzug antreten musste, auf Rache sann, hatte versucht, den Kreml in die Luft zu sprengen. Aufgrund des starken Regens und des erbitterten Widerstands der Moskauer gelang sein Vorhaben aber nicht. Es war nur ­vereinzelt zu Explosionen gekommen, bei denen mehrere Türme beschädigt wurden. Aber der Kreml, das Herz Russlands, blieb bestehen. Ich erinnere mich, dass die Wiederaufbauarbeiten bei unserem Eintreffen noch andauerten.

Meine Eltern hielten mich für noch zu klein, um an ihrer Krönung in der Kathedrale teilzunehmen. Das Einzige, was ich daher von der ­großen Feier mitbekam, fand im Granowitaja-Palast statt. Unter einem Baldachin standen die prächtigen Throne, auf denen meine Eltern Platz nahmen. Der Thron meines Vaters, der sogenannte „Diamantenthron“, war ein Geschenk aus Armenien und dicht besetzt mit Perlen und Edelsteinen. Der Thron meiner ­Mutter war aus purem Gold ge­­­fertigt und mit Rubinen, Türkisen und Perlen geschmückt. Fast an­­däch­tig betrachtete ich meinen Vater und meine Mutter, die von hohen Würdenträgern bedient wurden. Die Krönungsgäste und die Mitglieder des Diplomatischen Corps brachten, mit einem Sektglas in der Hand, ihren Gruß dar und entfernten sich dann wieder rückwärtsschreitend. Ich erkannte bunt schimmernde Gewänder fremdartiger Frauen, die, wie ich später erfuhr, Tatarinnen waren, hochgewachsene stolze Zirkassierinnen und Kirgisinnen aus den endlosen Steppen. Dies alles war neu für mich, fremd und aufregend – ein Wunderland, das um den Kreml mit seinen goldenen Kuppeln einen leuchtend bunten Schein wob.