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Anneke Claen lebt inzwischen seit vielen Jahren in Kalabrien. Hier hat sie sich eine Familie aufgebaut und ist zur Ruhe gekommen. Doch als ihr Mann stirbt, kann Anneke nichts trösten, außer dem Vorhaben ihre Heimat Hamburg endlich wiederzusehen. Zusammen mit ihrer jüngsten Tochter Catarina macht sich Anneke auf die beschwerliche Reise. Unterwegs treffen sie auf Kaufleute und Wegelagerer - und auch ein Widersacher aus vergangenen Tagen lauert bereits auf Anneke und Catarina.
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Seitenzahl: 390
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Antje Windgassen
Die Hexe von Hamburg und der König der Diebe
Historischer Roman
Alte Wunden Seit dreiundzwanzig Jahren lebt Anneke Claen bereits in Kalabrien – erfüllte Jahre an der Seite ihres Gemahls Don Luigi und ihrer drei Kinder. An Annekes schreckliche Vergangenheit erinnert nichts mehr – außer dem Wiegezertifikat der Stadt Oudewater, mit dem sie einst ihre Unschuld bewiesen hat, einigen verblassten Narben und dem liebevollen Andenken an ihren Jugendfreund Maarten van Aelst. Doch als ihr Mann stirbt, scheint nichts sie trösten zu können. Um ein wenig Abstand zu gewinnen, stimmt Anneke schließlich dem Vorschlag ihrer Kinder zu, ihre alte Heimat Hamburg zu besuchen. Ihre jüngste Tochter Catarina begleitet sie. Bis Lemgo verläuft die Reise ohne Zwischenfälle. Hier, am Kreuzungspunkt wichtiger Handelsrouten, soll der Treck vor der gefährlichen Fahrt durch die Grafschaft Schaumburg verstärkt werden, in welcher der berüchtigte Wegelagerer Christoffer von Tinus sein Unwesen treibt. Doch das größte Hindernis steht ihnen noch bevor: Ein Widersacher aus vergangenen Tagen lauert bereits auf Anneke und Catarina.
Antje Windgassen ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Nach einem 14-jährigen Abstecher ins Nordrhein-Westfälische lebt die Historikerin heute mit ihrer Tochter in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. Seit 1986 schreibt sie vorrangig als freie Autorin und Fachjournalistin für Magazin- und Zeitschriftenverlage. Schwerpunktthemen ihrer bisher publizierten Bücher sind historische Frauenfiguren. Als echtes »Nordlicht« liebt Windgassen das Meer und dann und wann auch eine »steife Brise«. Ein scharfer Ostwind, so behauptet sie, ist wie geschaffen dafür, einem die nötige Standfestigkeit um die Ohren zu pfeifen.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Anastasia – das zweite Leben der Zarentochter (2018)
Die Akte Mata Hari (2017)
Die Zeppelin-Verschwörung (2017)
Die Hexe von Hamburg (2015)
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_a_lady_-_Collectie_Smidt_van_Gelder.jpg
und © Antje Windgassen (historische Karte)
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6022-7
Für meine Tochter Katharina
Man schrieb das Jahr des Herrn 1622. Es war finster in Europa, finster und kalt. Das siebzehnte Jahrhundert brachte den Menschen nicht nur Hungersnöte und Seuchen, sondern auch den Krieg der Kriege, der dreißig lange Jahre währen sollte.
Feldherren wie Wallenstein, Tilly und Schwedenkönig Gustav II. Adolf führten riesige Armeen durch das Land, die, ständig auf der Suche nach Nahrung, wogende Felder zermalmten und nichts als verheerten Boden und erschlagene Bauern zurückließen. Millionen Menschen mussten ihr Leben lassen, unzählige wurden gefoltert, vergewaltigt und vertrieben. Und die Spirale der Gewalt und der Verrohung drehte sich immer schneller.
Eine der wenigen Städte, die bisher von den Schrecken des Krieges unbehelligt blieb, war die Freie Reichs- und Hansestadt Hamburg. Mit vierzigtausend Einwohnern galt sie als die größte Stadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen – und als die reichste. Der Handel blühte, und der Wohlstand war groß.
Um ihn zu schützen, hatten die Hamburger beschlossen, ihre Stadt zur stärksten Festung Deutschlands auszubauen. Sechs Jahre dauerten die Arbeiten unter der Leitung des niederländischen Baumeisters Johan van Valckenburgh bereits an – und noch war ein Ende nicht absehbar.
Auf dieser gigantischen Baustelle – in einem der großen Häuser der Hamburger Deichstraße, die Wohnung, Kontor und Lager unter einem Dach vereinten – lebte die siebzehnjährige Anneke Claen mit ihrer Familie: mit Großvater Ludwig Claen, der das erfolgreiche Handelshaus aufgebaut hatte, Vater Leopold, der die Geschäfte führte, Mutter Elisabeth und den beiden älteren Brüdern Friedrich und Philipp.
Infolge der Explosion einer spanischen Galeone am zweiten Juni 1622 vor dem Dorf Neumühlen, bei der es sich, wie sich herausstellte, um ein Schmugglerschiff handelte, veränderte sich das Leben der angesehenen Familie Claen von Grund auf.
Der leichtlebige und leichtsinnige Philipp, der in die missglückten Schmuggelgeschäfte der Spanier involviert war und durch die Explosion viel Geld verloren hatte, musste nun vor seinen Gläubigern fliehen. Um sich nicht auch noch vor seiner Familie verantworten zu müssen, täuschte er seinen Tod vor und heuerte unter anderem Namen auf einem Handelsschiff an, das ihn in den Mittelmeerraum bringen sollte. Der Segler wurde jedoch von Piraten gekapert, die Ladung geraubt und die Mannschaft, einschließlich Philipp, in die Sklaverei verkauft.
In Hamburg trauerte die Familie Claen um den verlorenen Sohn, ohne zu wissen, dass sie die sterblichen Überreste eines Fremden zu Grabe trug.
Nach der Beisetzung kamen drei der Gläubiger Philipps, die Brüder Stolten, in die Deichstraße und verlangten von seinem Vater das ihnen zustehende Geld. Leopold Claen glaubte jedoch nicht an die kriminellen Geschäfte seines Sohnes, verweigerte die Zahlung und wies den Herren die Tür. Dass er damit seine ganze Familie und vor allem seine Tochter in Gefahr brachte, ahnte er nicht einmal.
Aus Rache zeigten die zwielichtigen Geschäftspartner seines Sohnes Anneke nun als Hexe an.
Ein teuflisches Amulett sollte sie in ihrem Besitz haben und damit alle Menschen in ihrem Umkreis in Gefahr bringen. Tatsächlich kam es in der folgenden Zeit zu mehreren unerklärlichen Todesfällen in der Umgebung Annekes, und alle Toten hatten ein seltsames Brandmal an ihrer Hand.
Als bei der Durchsuchung ihrer Schlafkammer eben jenes dubiose Amulett tatsächlich gefunden wurde, schützte auch die vornehme Herkunft die Claen-Tochter nicht mehr. Sie wurde gefangen gesetzt, in den Kerker geworfen und als Hexe hochnotpeinlich verhört. Allerdings war sie auch unter der Folter nicht bereit, die schrecklichen Verbrechen zu gestehen, die man ihr zur Last legte.
Der junge Holländer Maarten van Aelst, Assistent von Baumeister van Valckenburgh und aufrichtig in Anneke verliebt, setzte nun alles daran, ihre Unschuld zu beweisen. Dafür gab es jedoch nur einen Weg: Er musste das Mädchen aus den Fängen der Gerichtsbarkeit befreien und mit ihr nach Oudewater fliehen, in jene kleine holländische Stadt, die mit kaiserlichem Privileg eine Hexenwaage betrieb. Nur die Wiegeprobe konnte beweisen, dass Anneke keine Hexe war. Und die Stadt Hamburg, dem Kaiser direkt untergeben, musste das Ergebnis dieser Probe anerkennen.
Doch die Reise nach Holland war weit und barg viele Gefahren. Als sie von Wegelagerern überfallen wurden, fand Maarten den Tod. Anneke überlebte schwer verletzt. Durch Zufall wurde sie von den Nonnen eines nahen Klosters gefunden, die sie mit sich nahmen und gesund pflegten.
Letztendlich wurde Anneke von einem eigenwilligen Schicksal in die süditalienische Stadt Strongoli verschlagen.
Was sie nicht wusste: Ihr abenteuerlicher Lebensweg war damit noch lange nicht beendet …
Die Geschichte der »Hexe von Hamburg« beruht auf einer alten Handschrift aus dem siebzehnten Jahrhundert.
»Aufgeschrieben von Philipp Claen, Kaufmann zu Hamburg. Anno Domini Nostri Iesu Christi 1664«, heißt es dort und setzt sich fort: »Alles was ich selbst erlebt habe, im Großen Krieg, mit meinem Geschlecht und Stamm, meinen Eltern, meinen Geschwistern und Freunden.«
Das Original des handschriftlichen Familienbuchs des Philipp Claen ist vermutlich nicht erhalten geblieben, wurde jedoch von einer Frau namens Gretje Petersen im neunzehnten Jahrhundert kopiert. Und eben diese Abschrift fand sich 1923 im Keller eines Gebäudes am Hamburger Holzdamm wieder an, das dem Kloster St. Johannis gehörte und als Mädchenschule und Lehrerinnenseminar genutzt wurde.
Um die alte Handschrift so lange wie möglich zu erhalten, wurde sie sorgfältig verpackt, ging während des Zweiten Weltkrieges jedoch endgültig verloren.
Was blieb, waren mündliche Überlieferungen.
Nach ihnen wurde der erste Teil »Die Hexe von Hamburg« geschrieben.
Mit »Die Hexe von Hamburg und der König der Diebe« folgt nun die Fortsetzung der Geschichte.
Wie ein glutroter Feuerball versank die Sonne langsam am Horizont des Mittelländischen Meeres und färbte den dunstigen Himmel zu einem Gemälde aus roten, orangenen und violetten Tönen. Für eine Weile tauchten die letzten Strahlen der Sonne die nordafrikanischen Küste in purpurnes Licht – die Oase mit ihren zahllosen Olivenbäumen und Palmen, deren Wipfel sich sanft im Winde wiegten, die Wüste, die gleich dahinter begann und die weiße Stadt Tripolis, mit ihren dicht gedrängten, flachen Häusern, den Kuppeln, schlanken Minaretten und die sie vollständig umschließenden, zinnenbewehrten Mauern.
Ein malerisches Bild. Zumindest aus der Ferne.
Wenn man genauer hinschaute, erkannte man allerdings zahlreiche Beschädigungen an Stadtmauer und Gebäuden – Kanonenkugeleinschläge aus Gefechten mit Flotten europäischer Seemächte, die auf Tripolis allesamt nicht gut zu sprechen waren und die Stadt ein Piratennest nannten. Tatsächlich trieben die Barbaresken-Korsaren von hier aus ihr Unwesen – kaperten Handelsschiffe aller Herren Länder und überfielen Ortschaften an den Küsten Italiens, Frankreichs, Spaniens und Portugals. Raub, Sklavenhandel und Lösegelderpressung waren die Haupteinnahmequellen der Korsaren.
So gesehen war Tripolis ein gefährlicher Ort – vor allem für Christenmenschen, die hier nur als Handelsware zählten. Und das Unheilvolle dieser Stätte wurde durch die unaufhörlich kreisenden und kreischenden Möwen, Raben und Geier verstärkt.
Im Hafen der Stadt hob sich ein Wald von Masten gegen den nun in allen Rottönen leuchtenden Himmel ab. Planken knarrten, Taue und Seilrollen stöhnten. In der Luft lag der Geruch von Salzwasser, Tang und Teer.
Eine Flotte schickte sich an auszulaufen – zwölf Schiffe mit hohen Rümpfen und bunten Segeln, die eine leichte Brise auf die Riffe zutrieb – aus dem natürlichen Schutz des Hafens, der den Feinden das Angreifen erschwerte und großen Sturmwellen die zerstörerische Kraft nahm.
Die Steuermänner der Flotte kannten den Weg durch die Klippen jedoch gut und fanden ihn sicher. Und je weiter die Galeonen, Feluken, Karacken und Schebecken aufs offene Meer hinausgelangten, umso mehr blähten sich die bunten Segel, flatterten die blutroten Piratenflaggen, schäumten die Bugwellen auf.
Die Nacht brach nun schnell herein. Eine Weile konnten die Korsaren noch das Leuchtfeuer von Al-Shat ausmachen, dann war es, wie die gesamte nordafrikanische Küste, in der Dunkelheit verschwunden.
Der Wind stand günstig und die Flotte kam gut voran. Wenn das so blieb, würden sie ihr Ziel in zwei Tagen erreicht haben. Und wenn ihr Plan funktionierte, konnten sie in weiteren drei Tagen zurück in Tripolis sein – mit einer ganz besonderen Beute.
*
Francesco Campitelli, Fürst von Strongoli und Graf von Melissa, verstand es zu feiern. Das hatte er bereits etliche Male unter Beweis gestellt. Und auch das diesjährige Ferragosto-Fest bildete keine Ausnahme. Der fünfzehnte August war ein großer Tag für das Königreich Neapel. In vorchristlicher Zeit feierte man zu diesem Datum den Wendepunkt des Sommers. Zur Hochzeit Roms wurde der Sieg des römischen Kaisers Augustus über Marcus Antonius und Kleopatra bejubelt. Und seit der Einführung des Christentums beging man nun zudem das Fest Mariä Himmelfahrt.
Auch im kalabrischen Strongoli war dieser Tag das gesellschaftliche Ereignis des Jahres 1648. Im trutzigen Schloss-Castello des Fürsten, auf dem höchsten Punkt der Stadt erbaut, waren daher auch alle anwesend, die in der Region Rang und Namen besaßen. Der Wein floss in Strömen, die Tische bogen sich unter den herrlichsten Speisen, elegant gekleidete Damen und stattliche Herren drängten durch die Säle – es wurde gelacht, geschwatzt und getanzt.
Auf der Empore im Ballsaal stimmte das Orchester gerade eine Tarantella an. Die Tamburinspieler begannen und schlugen den schnellen Sechsachteltakt. Zwei Akkordeons setzten ein, begleitet von Lauten, Leiern, Mandolinen und Hirtenflöten. Und dann ertönte der knarzende Ton der aus Holz und Ziegenleder gefertigten Sackpfeife, um in einen leidenschaftlichen Dialog mit dem Sänger zu treten, der Geschichten über Land, Liebe und Ehre zum Besten gab.
Die Musik war beschwingt, der Takt mitreißend. Schon fanden sich die ersten Tänzer auf den mit reichen Ornamenten geschmückten Carrara-Marmorfliesen. Sich an den Händen haltend und lange Reihen bildend, tanzten sie den ungestümen Tanz der Tarantella.
Donna Anneke Crisopulli Claen beobachtete die ausgelassenen Menschen. Sie sah bezaubernd aus, an diesem Tag, trug ein blassgelbes Seidenkleid, das wunderbar mit ihren dunklen, lockigen Haaren harmonierte. Das eckige Dekolleté war mit zarten Spitzen eingefasst und der Rock fiel, bedingt durch den mächtigen Hüftwulst, in reichen Falten fast gerade – wie die Mode es vorschrieb – zu Boden.
Annekes ernstes Gesicht passte jedoch weder zu der ausgelassenen Stimmung im Saal noch zu ihrem prächtigen Gewand. Sie wirkte besorgt. Dafür sprach auch die Tatsache, dass sie, die sonst so gerne tanzte, heute sogar eine Tarantella ausließ. Ja, mehr noch, um zu verhindern, dass einer der wilden Tänzer sie einfach auf die Tanzfläche zog, beschloss sie, sich zurückzuziehen.
Sie drängte sich durch die im Takt der Musik klatschenden Menschen zur Stirnseite des Saales, verließ ihn durch eine von weinroten Samtportieren eingerahmte Tür und betrat einen hölzernen, mit reichen Schnitzereien geschmückten Balkon.
Das nahezu quadratische Schloss-Castello, mit seinen vier mächtigen Ecktürmen, lag auf einer Spitze des hohen Felsens, auf dem die Stadt Strongoli erbaut worden war. Hier wurde das trutzige Gebäude von drei tiefen Abgründen umgeben und konnte nur durch die Vorderfront betreten werden. Der Balkon, auf der Rückseite liegend, bot daher einen wunderbar weiten Ausblick – über die Hügel der Campagne, bis hinunter zum azurblauen Mittelmeer.
Normalerweise gehörte der Balkon zu Annekes Lieblingsplätzen im Castello des Fürsten. Doch heute konnte sie die Aussicht nicht wie üblich genießen – dafür machte sie sich viel zu große Sorgen.
Vielleicht sehe ich ja Gefahren, wo gar keine sind, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Und vielleicht dramatisiere ich die Situation aufgrund meiner eigenen bösen Erfahrungen viel zu sehr. Dabei muss ich doch eigentlich dankbar für das glückliche Geschick sein, das mir nach all dem Unheil noch zuteilgeworden ist.
Dreiundzwanzig Jahre lebte Anneke inzwischen in der kalabrischen Stadt – erfüllte Jahre an der Seite ihres Gemahls Don Luigi.
Die Hamburgerin war in Kalabrien heimisch geworden, hatte drei gesunden Kindern das Leben geschenkt und sie in einer feudalen Umgebung aufgezogen. Sie lebte mit ihrer Familie in einem prächtigen Haus, musste auf nichts verzichten, bewegte sich in den ersten Kreisen der Stadt und konnte sogar den Fürsten von Strongoli zu ihren Freunden zählen.
An die schrecklichen Erlebnisse ihrer Vergangenheit erinnerte nichts mehr – außer dem Wiegezertifikat der Stadt Oudewater, mit dem sie einst ihre Unschuld bewiesen hatte, einigen verblassten Folternarben an Händen und Füßen und das liebevolle Andenken an ihre Jugendliebe Maarten van Aelst, der sie vor dem Tode erretten wollte und dabei selbst auf entsetzliche Weise ums Leben gekommen war.
Ach ja, und dann gehörte natürlich auch das goldene Amulett zu ihren Erinnerungsstücken, das aussah wie eine böse Teufelsfratze und in Wirklichkeit doch nur die südamerikanische Gottheit Itzamnà darstellte. Luigi hatte das satanisch anmutende Amulett, derentwegen sie der Hexerei bezichtigt worden war, zu einer Kette umarbeiten lassen, die ihr Glück bringen sollte. Doch bisher hatte Anneke sie noch niemals getragen. Eine seltsame Scheu hielt sie davon ab. Glück war ihr dennoch zuteilgeworden. Und im Vergleich zu ihrer abenteuerlichen Vergangenheit erschienen die Probleme heute eigentlich überschaubar:
So weigert sich ihre Älteste, die einundzwanzigjährige Tochter Elisabetta, zu heiraten. Stattdessen setzte sie Himmel und Hölle in Bewegung, um, als vom Gesetz her eigentlich weitgehend rechtlose Frau, Sondergenehmigungen zu erlangen, die es ihr ermöglichten, einmal die Leitung des italienischen Zweiges des Handelshauses Crisopulli & Claen zu übernehmen.
Der neunzehnjährige Sohn Giuseppe hingegen, der die Geschäfte tatsächlich einmal führen sollte, zeigte so gar kein Interesse an dem väterlichen Unternehmen. Er träumte von einer Laufbahn als Kommandant eines Kriegsschiffes, um gegen die Barbaresken, die muslimischen Piraten im Mittelmeer, kämpfen zu können, die seinem Vater und seinem Onkel Philipp einst so übel mitgespielt hatten.
Ja, und dann war da noch Annekes augenblickliches Problem, jenes, welches ihr heute gründlich die Feierstimmung verdorben hatte. Es hing mit ihrer Jüngsten zusammen, der fünfzehnjährigen Catarina, die eine Freundschaft geschlossen hatte, die ihr, der Mutter, großen Kummer bereitete. Donna Bianca war der Name der zweifelhaften Person und sie galt als weise Frau Strongolis.
In der alten Heimat, da war sich Anneke sicher, hätte man diesem Weib längst den Prozess wegen Hexenwerks gemacht. In Kalabrien hingegen waren den Menschen diese Ängste vor dem Unbekannten fremd. Hier wurde Donna Bianca, die sogar der Fürst regelmäßig konsultierte, um sich die Zukunft weissagen und allerlei Salben und Tinkturen anmischen zu lassen, hochgeachtet.
Anneke hingegen war die Frau unheimlich, und eigentlich hatte Catarina ihr versprochen, den Umgang einzuschränken. Doch erst vor einer Stunde hatte sie die beiden zusammen gesehen – im besten Einvernehmen, wie es schien, und …
»Der Tag ist viel zu fröhlich und schön, um so ernst dreinzublicken, Donna mia.«
Anneke blickte auf und direkt in die lachenden Augen ihres Ehemannes, der nun ebenfalls auf den Balkon hinaustrat. Zärtlich griff er nach ihrer Hand und wollte dann besorgt wissen: »Gibt es einen Grund dafür, dass du dich zurückgezogen hast, Cara?«
»Nein, nein«, wehrte Anneke ab. Und als er sie noch immer forschend musterte, versicherte sie: »Es ist wirklich alles gut.«
Luigi schien beruhigt und sah sich aufmerksam um. »Weißt du, wo die Kinder sind? Die Prozession beginnt sich zu sammeln und gleich werden sie die Madonnenfigur aus der Kathedrale holen.«
»Elisabetta und Giuseppe wollten sich um die Pferde kümmern«, entgegnete Anneke. »Wir treffen die beiden an der Bischofskirche. Nur, wo Catarina steckt, weiß ich nicht. Vor etwa einer Stunde habe ich sie in Begleitung von Donna Bianca gesehen.« Der Ton, in dem sie den letzten Satz sagte, machte deutlich, wie sehr sie die Freundschaft ihrer Jüngsten mit der ihr Furcht einflößenden Frau missbilligte. Bei Luigi stieß sie mit ihren Bedenken jedoch wie üblich auf taube Ohren.
»Ich kenne deine Vorbehalte Donna Bianca gegenüber«, sagte er begütigend. »Und ich kann sie sogar verstehen. Du bist mit der Angst vor dem Teufel und seinen auf Besenstielen reitenden Gehilfinnen aufgewachsen. Aber wir hier, in Kalabrien, glauben nicht, dass die magischen Fähigkeiten unserer weisen Frauen, ihre hellseherischen Kräfte und ihr Wissen um die Wirkung von Heilkräutern des Teufels sind. Schließlich ist unser Herrgott noch immer mächtiger als der Fürst der Finsternis und als Einziger in der Lage, diese Fähigkeiten zu vergeben. Donna Bianca ist eine hochgeachtete und respektierte Frau in unserer Stadt. Und daher sehe ich auch keinen Grund, Catarina den Umgang mit ihr zu verbieten.«
Anneke erwiderte nichts darauf. Schließlich kannte sie seine Argumente und schließlich führten sie dieses Streitgespräch nicht zum ersten Mal. Und dennoch – sie hielt dieses Weib für gefährlich. Und das ließ sie sich auch nicht ausreden.
»Ich habe übrigens mit Donna Bianca gesprochen«, fuhr Luigi unbeirrt fort. »Und sie hat mir von erstaunlichen Fähigkeiten Catarinas berichtet. Nicht allein, dass sie die Wirkung von Heilkräutern instinktiv allein erkannt hat, nein, sie verfügt auch über eine gewisse hellseherische Begabung. Und eben diese Fähigkeiten sollten unbedingt vertieft und weiterentwickelt werden.«
Anneke wollte gerade heftig widersprechen, als Luigi erklärte: »Sieh nur, da kommt sie gerade, unsere Catarina. Wie zauberhaft sie aussieht, mit ihren langen dunklen Locken und den strahlend blauen Augen. Genau so hast du ausgesehen, als wir uns kennenlernten. Und wie ihre Mutter wird auch sie einmal eine große Schönheit werden.«
Catarina, die sich suchend umgesehen hatte, entdeckte in diesem Augenblick ihre Eltern durch die geöffnete Balkontür und winkte ihnen lächelnd zu. Entschlossen bahnte sie sich einen Weg durch die feiernden Menschen.
»Ich soll euch von Elisa und Peppe ausrichten, dass unsere Pferde an der Kathedrale bereitstehen. Auch die Madonna ist bereits auf ihrem Karren verladen und wird jetzt mit weißen Rosen geschmückt. In etwa einer halben Stunde wird sich die Prozession in Bewegung setzen.«
*
Die »Pallas Athene« des Fürsten von Strongoli war eines der größten und besten Schiffe, die das Mittelmeer jemals befahren hatten. Sie besaß ein hohes Bug-Deck, mit einem Aufbau für Angriffszwecke. Das Heck mit dem Ruderstand war noch höher und das Mittelschiff auf das Beste gegen feindliche Angriffe befestigt. Da der gesamte Schiffsrumpf mit blattvergoldeten Allegorien zu Ehren König Felipes III. von Spanien, Sizilien und Neapel verziert war, dem die Campitellis seit nunmehr zweiundzwanzig Jahren Fürstentum und Krone verdankten, war das Linienschiff nicht nur wehrhaft, sondern auch prunkvoll zu nennen. Die Pallas Athene war in England erbaut worden, dreiundfünfzig Meter lang und fünfzehn Meter breit. Sie besaß drei rahgetakelte Masten aus amerikanischer Fichte und drei Geschützdecks, aus dem insgesamt hundertzwei Kanonen ihre Rohre streckten. Ein prachtvolles Schiff – der Stolz des Fürsten Francesco und das Flaggschiff Strongolis. Darüber, dass der Bau des Schmuckstücks nur mit der finanziellen Unterstützung Don Luigis möglich gewesen war, redete heute keiner mehr.
Da der Fürst oft und gerne am Hofe von Neapel weilte, kam er nur bisweilen in die Stadt – dann aber immer auf der Pallas Athene. Es war die bequemste Art zu reisen. Zurzeit lag das Schiff im Hafen von Strongoli, war mit Blumen und Lampions geschmückt und in seiner Herrlichkeit nicht zu übersehen.
Als die feierliche, von zahlreichen Musikanten begleitete Prozession aus der Stadt an den Hafen gelangte, ging gerade die Sonne unter. An der Spitze fuhr der von weißen Pferden gezogene Wagen mit der Madonnenfigur. Sie trug das Jesuskind auf dem Arm und – ebenso wie ihr Sohn – einen goldenen Strahlenkranz um den Kopf. Statue, Wagen und Pferde waren mit üppigem Blumenschmuck versehen. Fromme Lieder singend folgten die Strongolesen der Madonna – die Honoratioren zu Pferd, die Alten und Gebrechlichen auf Eselskarren, die meisten zu Fuß.
Als die Prozession den Hafen erreicht hatte, wurde der Wagen mit der Madonna auf den Kai gelenkt und die lebensgroße, schwere Statue mühsam auf ein Schiff verladen. Vor der Hafeneinfahrt warteten indes zahlreiche, mit Blumengirlanden geschmückte Boote, die die Madonna begleiten wollten. Auf ihnen wurden nun die ersten Laternen entzündet.
Und während der Fürst und die anwesenden Spitzen der Gesellschaft die steilen Treppen zu der Ehrenloge hinaufstiegen, die hinter den Zinnen der den Hafen schützenden Mauer aufgebaut worden war, senkte sich langsam die Dunkelheit über Land und Meer.
Auch Don Luigi und seine Familie hatten in luftiger Höhe Platz genommen und konnten vom Kamm der Mauer beobachten, wie das beleuchtete Schiff mit der Marienfigur durch die Hafeneinfahrt auf die offene See hinausglitt.
»Wie wunderbar, wie traumhaft schön«, rief der neben Anneke sitzende Bischof Diotallevi aus und klatschte begeistert in die Hände, als sich die Wasserprozession nun formierte und entlang der Mauer in Bewegung setzte – eine im Licht der Laternen strahlend weiß schimmernde Madonna, umgeben von den leuchtenden Lampions der sie begleitenden Boote.
Alle Augen waren auf das prächtige Schauspiel gerichtet – auch die der Wächter auf den Türmen.
Keiner bemerkte die sich fast lautlos nähernde Gefahr.
Und dann waren sie plötzlich da.
Weil die schweren Ketten, die die Hafeneinfahrt nach der Abenddämmerung vor dem Einlaufen fremder Schiffe schützen sollten, wegen der Prozession noch nicht aufgezogen waren, konnten die schnellen Schiffe mit ihren hohen Rümpfen und den bunten Segeln im Schutze der Dunkelheit ungehindert und unbemerkt in den Hafen Strongolis einlaufen. Schon enterten die ersten Piraten, von den längsseits der Pallas Athene gegangenen Schiffen aus, den stolzen Segler und beförderten die völlig überraschte Mannschaft mit Messern und Dolchen ins Jenseits.
Erst als mehrere Pistolenschüsse fielen, wurden die Teilnehmer der Prozession aufmerksam – doch da war es bereits zu spät. Die Piraten hatten die Besatzung überwältigt. Da sie dieses Mal nicht darauf aus waren, Gefangene zu machen, entledigten sie sich der Männer, indem sie sie einfach – verletzt oder tot – über Bord warfen.
Eine Breitseite, von einem der Piratenschiffe in Richtung Kai abgegeben, vervollständigte das herrschende Chaos.
Die Salve krachte ohrenbetäubend und der Pulvergeruch kitzelte die Prozessionsbesucher in den Nasen. Ungeduldig warteten sie darauf, dass Rauch und Qualm sich legten. Doch als die Sicht wieder frei war, befanden sich die Angreifer bereits auf dem Rückzug. Ihr Freudengeheul war weithin zu hören. Und sie hatten auch allen Grund dazu, da ihnen ein unerhörter Handstreich mit reicher Beute gelungen war. Tatsächlich hatten sie die stolze Pallas Athene, eines der stärksten Linienschiffe seiner Zeit, mit ihrer schlichten Überrumpelungstaktik entführt.
»Kanonen klar zum Gefecht«, donnerte der Kommandeur der Wachmannschaft. Und brüllte dann: »Feuer!«
Doch die Kugeln verfehlten die Piratenschiffe – die Feinde waren bereits außerhalb ihrer Reichweite. Mit der Pallas Athene im Schlepp segelte die Flotte davon.
Im Hafenwasser schwamm die Besatzung des Linienschiffs. Viele der Männer hatten den hinterhältigen Angriff nicht überlebt und konnten nur noch mit durchgeschnittenen Kehlen und aufgeschlitzten Bäuchen aus dem dunklen Wasser geborgen werden. Diejenigen, die mit leichteren Verletzungen davongekommen waren, stiegen fluchend an Land. Unter ihnen der Kapitän der Pallas Athene. Seine Schulter schmerzte und aus einer klaffenden Wunde am Kopf rann Blut über sein Gesicht. Die Korsaren hatten ihn im Handgemenge mit den Kolben ihrer Musketen geschlagen, um ihn kampfunfähig zu machen. Er stöhnte leise.
»Sie hatten es nur auf das Schiff abgesehen«, murmelte er tonlos. »Die Pallas Athene zu ihrer Prise zu machen – das war das einzige Ziel ihres hinterhältigen Überfalls. Es ist meine unverzeihliche Schuld. Ich war nicht wachsam …«
Ächzend brach er zusammen.
*
Die Menschen waren wie gelähmt. Was für eine Schmach! Die Piraten hatten ihr schönstes und wehrhaftestes Schiff mitten aus ihrem gut gesicherten Hafen entführt. Das hätte einfach nicht geschehen dürfen. Im ganzen Mittelmeerraum würde man sich über die tölpelhaften Strongolesen lustig machen.
Wer für den unerhörten Handstreich verantwortlich war, konnte recht schnell ermittelt werden. Eilig ausgesandte Spione entdeckten die Pallas Athene bereits wenige Tage später im Hafen von Tripolis. Dort lag sie – in ihrer ganzen Pracht – Strongoli zum Hohn und zudem zur ständigen Bedrohung.
»Wir dürfen eines nicht vergessen«, mahnte Fürst Francesco während einer hastig zusammengerufenen Ratsbesprechung. »Mit der Handvoll Zwölf-Pfünder-Kanonen, mit denen die Schiffe der Tripolis-Korsaren in der Regel ausgestattet sind, konnten sie unserer Hafenmauer bisher nichts anhaben. Die Pallas Athene hingegen ist mit Zweiunddreißig-Pfündern ausgestattet. Und zwar mit hundertzwei Stück an der Zahl. Damit sind die Banditen in der Lage, unseren Hafen in Schutt und Asche zu legen. Wir werden unsere Mauern unbedingt sofort verstärken müssen.«
Einer der Ratsherren stimmte ihm zu und gab zudem zu bedenken: »Die Entwicklung ist nun einmal nicht aufzuhalten. Als die Hafenmauern vor rund vierhundert Jahren erbaut wurden, gab es noch Katapulte und keine Kanonen. Wir müssen uns anpassen. Eine Verstärkung der Hafenbefestigungen wäre über kurz oder lang ohnehin auf uns zugekommen.«
Die Männer in der Runde gaben ihm, wenn auch zögernd, recht. Vor allem die Großgrundbesitzer und Kaufleute, die den Hafen dringend benötigten und den Löwenanteil der Kosten würden übernehmen müssen, waren nicht gern bereit, sich überzeugen zu lassen.
Don Luigi Crisopulli meldete sich zu Wort. »Habt Ihr mal wieder Angst um Eure Geldbörsen?«, grinste er. »Nun, ich denke, dass wir alle begreifen müssen, dass es Notwendigkeiten gibt, die sich nicht umgehen lassen. Wir brauchen den Hafen, das steht fest. Gäbe es ihn nicht, müssten wir unsere Waren und Erzeugnisse auf dem Landwege nach Crotone bringen und sie von dort aus verschiffen. Das wäre auf Dauer gleichfalls eine kostspielige Angelegenheit – und eine unbequeme dazu.«
Mit diesen Worten hatte er natürlich recht. Das war allen Anwesenden bewusst. Umso aufmerksamer lauschten sie Don Luigi, als er fortfuhr: »Die Verstärkung unserer Hafenbefestigung ist schon lange überfällig. Daran besteht kein Zweifel. Unabhängig davon möchte ich aber etwas anderes mit Euch besprechen, meine Freunde: Ich denke, wir sind uns einig, dass die Entführung der Pallas Athene nicht nur eine Gefahr für unseren Hafen darstellt, sondern auch eine große Demütigung bedeutet, die wir nicht ungesühnt hinnehmen sollten.«
Erstaunt sahen die Männer auf. Und Fürst Francesco Campitelli wollte wissen: »Verstehe ich Euch richtig, Crisopulli? Ihr wollt gegen die Korsaren von Tripolis ins Feld ziehen, um die Pallas Athene zurückzuerobern?«
Bedauernd schüttelte Luigi den Kopf. »Nein, ich denke da an keinen offenen Krieg. Ich fürchte, dafür würden unsere Chancen denkbar schlecht stehen. Wir sind nicht stark genug, um gegen die Piraten – dazu noch in ihrer eigenen gut bewehrten Stadt – antreten zu können.«
Ratlos blickte der Fürst ihn an. »Dann verstehe ich Eure Worte nicht. Erklärt Euch.«
Luigi ließ sich nicht lange bitten. »Es war ein hinterhältiger Plan, mit dem die Korsaren uns überlistet haben. Und ich denke, wir sollten es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen. Damit können wir die Pallas Athene sicher nicht zurückerobern, aber unser Ziel könnte sein, sie zu versenken. Dann würde auch der Feind sie nicht nutzen können – weder gegen uns noch gegen andere.«
Der Fürst war eindeutig bestürzt. »Ihr wollt ein Schiff wie die Pallas Athene – zerstören?«
Luigi nickte. »Ich weiß, es wäre ein Jammer und ein großer Verlust. Aber ich würde dieses stolze Schiff lieber auf dem Grund des Meeres sehen als mit geöffneten Stückpforten vor unserem Hafen.«
Es war eindeutig. Mit seinen Worten hatte Don Luigi den Ehrgeiz und die Fantasie der Strongolesen erweckt. Keiner von ihnen war bereit, die Schande auf sich sitzen zu lassen. Und wenn es auch eine grausame Verschwendung war, ein Schiff wie die Pallas Athene zu zerstören, war es doch die einzig machbare Methode der Rache.
Wochenlang beratschlagten die Männer der Stadt, verfassten Pläne und verwarfen sie wieder. Eines Tages einigten sie sich endlich auf eine Idee, die durchführbar schien. Sorgfältig bereiteten sie sich auf die Verwirklichung vor, übten das lautlose Entern eines Schiffes in der Dunkelheit und den Umgang mit Schwarzpulver.
Auch Don Luigi beteiligte sich an den Vorbereitungen und war fest entschlossen, an dem Rachefeldzug teilzunehmen. Für ihn war es eine Frage der Ehre. Außerdem ließ er ohnehin keine sich bietende Gelegenheit ungenutzt, gegen die Korsaren zu kämpfen, die ihn einst gefangen nahmen und in die Sklaverei nach Konstantinopel verkauft hatten.
Anneke hingegen war über sein Vorhaben entsetzt. Unter Tränen flehte sie ihn an, nicht zu gehen, das gefährliche Abenteuer Jüngeren zu überlassen. Doch Luigi lachte sie nur aus.
»Noch bin ich kräftig und behände genug, um mich an einem derartigen Ausflug zu beteiligen. Und an diesem muss ich einfach teilnehmen. Bitte hab dafür Verständnis. Falls es dich aber beruhigt, bin ich gern bereit zu versprechen, dass es das letzte Mal sein wird. Und immerhin lasse ich dir Giuseppe hier, der für sein Leben gern mitkommen würde. Wenn ich gehe, muss er mich hier aber vertreten. Schließlich sind wir mitten in der Ernte. Da können wir unmöglich vier Hände entbehren.«
Anneke war nicht wirklich getröstet, sah aber ein, dass sie ihren Gemahl nicht würde umstimmen können. Und ja, natürlich war sie ein wenig beruhigt, dass wenigstens ihr Sohn daheim und damit in Sicherheit blieb. Nur eines wusste sie jetzt schon: Während der Abwesenheit ihres Ehemannes würde sie ganz gewiss keine ruhige Minute haben.
Und sie war nicht die Einzige, die sich gegen Don Luigis Teilnahme an dem gefahrvollen Abenteuer aussprach. Während Tochter Elisabetta den Vater voll und ganz verstehen konnte und Sohn Giuseppe ihn glühend beneidete, war auch Catarina zutiefst beunruhigt über das Vorhaben ihres Vaters. Alles Bitten und Flehen, alle Tränen und Warnungen waren jedoch vergebens. Luigi hatte sich entschlossen, an dem von ihm angeregten Unternehmen teilzunehmen. Und dabei blieb es.
*
An einem Abend Ende September glitten zwei kleine Segelschiffe gemächlich in die Bucht von Tripolis. Noch ahnten die Piraten nicht, dass sich ihnen mit diesen beiden unscheinbaren Kähnen ein Rachekommando der Strongolesen näherte. Sie rechneten auch nicht mit einer Vergeltung. Was konnte die kleine Armee der Stadt schon gegen sie ausrichten? Also fühlten sie sich völlig sicher in ihrem durch Riffe geschützten Hafen und hatten nicht einmal Sonderwachen eingeteilt. Nur die üblichen kleinen Feluken, wendige, mit zwei Masten und Ruderbänken versehene Küstenfahrzeuge, patrouillierten in der Bucht, um Neuankömmlinge nach ihrem Begehr zu befragen. Ihre Kapitäne entschieden darüber, wer die Erlaubnis erhielt, in den inneren Hafen segeln zu dürfen, und wer nicht.
Die zwanzig Männer auf den ankommenden Segelschiffen hatten sich gut auf ihr Vorhaben vorbereitet und sich freiwillig zu dem tollkühnen Einsatz gemeldet. Mit ein bisschen Glück würde ihr Plan gelingen, in der Nacht unerkannt in den Hafen der Stadt einzudringen und unter den drohenden Küstenbatterien die Pallas Athene in Brand zu setzen. Weitaus schwieriger würde es werden, anschließend heil zu entkommen. Aber das stand auf einem anderen Blatt.
Die Serene, die als Fluchtschiff vorgesehen war, blieb schon bald in der weiten Bucht vor Tripolis zurück, während die Kyrenaika – eine gekaperte algerische Karavelle, unter dem Kommando eines ortskundigen Mannes aus Tunis – weitersegelte. Sie erreichte den Kanal zwischen den felsigen Riffen bei anbrechender Dunkelheit. Eine Piraten-Feluke kam längsseits und verlangte Auskunft. Der Lotse antwortete belustigt lachend: »Ihr solltet mich aber wirklich langsam kennen, Ihr Halsabschneider. Ich komme doch regelmäßig aus Sfax herübergesegelt, um in Tripolis Oliven für unsere Pressen zu laden.«
Die Begründung klang plausibel. Alle Welt wusste schließlich, dass Händler aus Sfax ständig und überall Oliven aufkauften, um daraus Öl in einer hervorragenden Qualität herzustellen, das sie dann in den gesamten Mittelmeerraum exportierten. Unbehelligt ließen die Korsaren das Schiff passieren.
Und während der Mann aus Tunis sicher den Weg durch die Riffe fand, hielten die Strongolesen vorsichtig und in Deckung bleibend Ausschau nach der Pallas Athene.
Schon bald hatten sie das große Linienschiff entdeckt. Seine unverkennbaren Umrisse zeichneten sich selbst im Grau der Dämmerung deutlich ab. Wie erwartet lag die Pallas Athene an einem Kai im inneren Hafen. Sie schien völlig unbeschädigt und wies nur einen Schönheitsfehler auf: die flatternde Tripolis-Fahne am Großmast. Eine Handvoll Piraten bewachte das Schiff, dessen Stückpforten in Alarmbereitschaft geöffnet waren.
»Das scheint aber auch schon die einzige Vorsichtsmaßnahme zu sein«, raunte Fürst Francesco.
Einer seiner Kumpane entgegnete geringschätzig grinsend: »Was will man erwarten? Es sind Korsaren. Vielleicht haben sie es einfach vergessen, die Stückpforten wieder zu schließen, oder die Mechanik nicht begriffen.«
Die Männer lachten unterdrückt, bis der Tunesier ihnen Schweigen gebot. Er hatte inzwischen den Kanal zwischen den Riffen passiert und hielt auf die Pallas Athene zu. Prompt kam eine zweite Feluke heran, die den Führer der Kyrenaika energisch aufforderte, sich von dem Linienschiff fernzuhalten.
Der Tunesier zeigte eiserne Nerven: »Wir haben unterwegs den Anker verloren und müssen irgendwo anlegen. Der Riesenkahn hier versperrt uns aber den Zugang zum Kai. Können wir an ihm festmachen?«
Nach einigem Hin und Her kam die Erlaubnis für das Manöver – ein weiterer Beweis dafür, dass die Tripolesen völlig sorglos waren.
Bevor die Kyrenaika jedoch ihre Taue zur Pallas Athene hinüberwerfen konnte, drehte nun der Wind und trieb die Karavelle fort.
»Schnell, bevor sie es sich anders überlegen«, befahl Luigi. »Bringt ein Beiboot zu Wasser, das ein Tau übernimmt und zu der Pallas Athene hinüberrudert.«
Eilig folgten die Männer seiner Anordnung. Und siehe da: Die Wache auf dem Linienschiff zeigte sich hilfsbereit und ließ gleichfalls ein Boot zu Wasser, um den Oliveneinkäufern entgegenzukommen. Dann übernahmen sie das Tau, ruderten zur Pallas Athene zurück und zogen die Kyrenaika längsseits.
Als die Piraten nun jedoch die Männer in europäischer Kleidung bemerkten, schöpften sie Verdacht. »Alarm«, brüllten sie und binnen Sekunden erscholl der Warnruf »Überfall!« durch den Hafen.
Jetzt konnten nur noch Kaltblütigkeit und Schnelligkeit helfen. Rasch enterten die Strongolesen die Pallas Athene und streckten die wachenden Piraten mit Dolchen und Säbeln nieder. Um die Sprengladungen und Brandsätze anzubringen, brauchten sie zusätzliche kostbare Minuten. Endlich konnten sie jedoch, bei brennenden Zündschnüren, inmitten von Feuer, Pulverdampf und Qualm, das Schiff verlassen und hastig zurück auf die Kyrenaika springen.
Über ihnen brach nun die Hölle los. Die starken Küstenbatterien feuerten. Dröhnend rollte ihr Donner durch die dunkle Bucht. Geschützblitze zuckten auf und ließen drohend die Silhouette der Stadt erkennen. Eine Kugel traf die Kyrenaika und zerschmetterte einen ihrer beiden Masten. Er knickte um wie ein Streichholz.
Dennoch gelang die Flucht. Minuten später hatten sie die wartende, unbeschädigte Serene erreicht und sprangen an Bord.
Hinter ihnen konnten sie die lichterloh brennende Pallas Athene erkennen, die sich gerade von ihren Leinen löste. Dann folgte die ohrenbetäubende Explosion, der das stolze Linienschiff nicht standhalten konnte. Es versank – langsam, aber ohne Zweifel.
Die Strongolesen jubelten. Das scheinbar Unmögliche war gelungen.
Eilig wollten sie nun mit der Serene davonsegeln, als sie das Fehlen eines Mannes bemerkten: Don Luigi.
Sie fanden ihn auf der Kyrenaika. Die Kugel, die den Mast zerstört hatte, musste auch ihn gestreift haben. Er war schwer verletzt und blutete stark.
»Tragt ihn herüber«, befahl Fürst Francesco. »Aber eilt Euch. Unsere Verfolger sind uns dicht auf den Fersen.«
Der Boden war hart und steinig, und Christoffer stellte bald fest, dass er eine Spitzhacke benötigen würde, um ein Grab auszuheben, das tief genug war. Bevor er sich jedoch umwenden konnte, um das Gewünschte zu holen, reichte Jakob ihm das Werkzeug bereits an.
»Bist du wirklich sicher, dass wir Großvater hier begraben sollen?« wollte der junge Mann zweifelnd wissen. »Ein Christenmensch gehört doch in geweihte Erde.«
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, murmelte Christoffer: »Du weißt, dass Heinrich es so gewünscht hat. Hier oben wollte er liegen, auf dem Hüggel, wo er so viele Jahre seines Lebens verbracht hat.«
Jakob war dennoch nicht überzeugt. »Vielleicht hätte er ja auch lieber seinen Frieden mit Gott und den Menschen gemacht«, gab er zu bedenken.
»Vielleicht«, erwiderte Christoffer. »Aber davon hat er nichts gesagt. Indem wir ihn hier zur Ruhe betten, erfüllen wir lediglich seinen letzten Wunsch. Und das sind wir ihm schuldig.«
Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Alles, was zu hören war, waren das Rauschen des Windes, der über den Höhenzug strich und das Geräusch der Spitzhacke. Gelegentlich traf sie auf einen Stein, so hart, dass die Funken flogen.
Jakob strich die langen dunklen Haare zurück und ergriff die Schaufel, um die gelockerte Erde aufzunehmen. Er war nicht davon überzeugt, dass das, was sie hier taten, richtig war. Aber er musste Christoffer natürlich recht geben und den letzten Wunsch des Verstorbenen respektieren.
Schweigend hoben die beiden Männer das Grab nun gemeinsam aus. Dann legten sie den Toten, der in ein grobes Leinentuch gewickelt war, in die Grube.
Leise sprach Jakob ein Gebet – bekannte Verse, die leicht über die Lippen kamen und ihm seit der Kinderzeit geläufig waren.
Christoffer kannte die Worte ebenfalls, wenn er auch nicht wusste, wer sie ihm einmal beigebracht hatte. Tonlos bewegte er den Mund.
Danach schaufelten sie das Grab zu. In tiefer Trauer, denn der Verstorbene hatte beiden sehr nahegestanden.
Für Christoffer war Heinrich Cappel wie ein Vater gewesen – wenn auch nicht der leibliche. Vor vielen Jahren hatte er ihn schwer verletzt im Wald gefunden, mitgenommen und gesund gepflegt. Und da der Findling sich weder an seinen Namen noch an seine Herkunft erinnern konnte, hatte Heinrich ihn Christoffer genannt und an Sohnes statt angenommen. Dann brachte er, der seinen Lebensunterhalt als Köhler verdiente, dem etwa zwanzigjährigen jungen Mann alles bei, was er selbst über das Köhlerhandwerk wusste.
Jakob war damals noch ein kleiner Junge gewesen, der in den Wirren des Großen Krieges, den man später einmal den Dreißigjährigen nennen würde, Vater und Mutter verloren hatte und nun von seinem Großvater aufgezogen wurde.
Viele Jahre hatten sie hier, gemeinsam auf dem Höhenzug Hüggel gelebt und gearbeitet – in aller Einfachheit, aber ohne Not. Ihre selbst erbaute Hütte bot ihnen ein solides Dach über dem Kopf, eine nahe Quelle frisches Wasser, eine Feuerstelle Wärme im Winter und der Wald mit Beeren, Wurzeln und allerlei Wild die benötigte Nahrung.
Es war ein hartes, aber friedliches Leben gewesen. Der Krieg hatte sie in ihrer Abgeschiedenheit nie erreicht und sie hatten einander immer gut verstanden. Nur was jetzt werden würde, jetzt, da Heinrich nicht mehr war, wussten beide noch nicht.
Als die Grube vollends gefüllt war, schichteten sie Steine zu einem Grabmal darauf. Oben hinein steckten sie ein aus einem Lederband und zwei Zweigen gebundenes Kreuz. Müde betrachteten sie ihr Werk und empfanden tatsächlich so etwas wie Befriedigung.
»Heinrich würde es gefallen«, sagte Christoffer und sammelte die Werkzeuge zusammen.
Jakob nickte schweigend und blieb noch für einen Augenblick allein am Grab des Großvaters stehen. Dann folgte er Christoffer in die Hütte. Dieser deckte bereits den Tisch für das Abendessen – Speck und Brot und einen Tee aus gesammelten Kräutern.
»Setz dich«, sagte der Ältere und nahm selbst auf einem der rohgezimmerten Hocker Platz. »Ich habe einen Entschluss gefasst, und wir müssen miteinander reden.«
Jakob gehorchte. Doch anstatt wie üblich hungrig nach den Speisen zu greifen, sah er Christoffer beunruhigt an. »Was gibt es?«
Nachdenklich erwiderte dieser den Blick. »Du bist dreiundzwanzig Jahre alt«, begann er dann zögernd. »Ich um die vierzig. So genau weiß man das ja nicht. Trotz des großen Altersunterschieds zwischen uns habe ich dich immer als kleinen Bruder angesehen. Und auch wenn du schon alt genug für deine eigenen Entscheidungen bist, fühle ich mich für dich verantwortlich – jetzt, wo Heinrich tot ist.«
»Das ist gut.« Jakob war sichtlich erleichtert. »Ich hatte schon Sorge, dass du verschwinden und mich hier allein auf dem Hüggel sitzen lassen willst.«
»Nein«, wehrte Christoffer ab. »Natürlich nicht. Wir werden beide gehen.«
Die Antwort gefiel Jakob ganz und gar nicht. Er wollte diesen Platz, an dem er aufgewachsen war, nicht verlassen. Hier fühlte er sich daheim und sicher. Nur ungern hatte er den Großvater hin und wieder auf den Markt nach Hasbergen begleitet, um die von ihnen hergestellte Holzkohle zu verkaufen und die Dinge zu besorgen, die sie selbst benötigten – wie Mehl, Schuhe und Kleidung. Der Trubel im Dorf, die vielen Menschen auf dem Platz, auf dem der Markt abgehalten wurde, verwirrten ihn immer. Stets war er froh, als sie sich wieder auf den Heimweg machen konnten. Und nun sollte er sein Zuhause ganz verlassen?
»Ich will nicht fort von hier«, erklärte er entschieden.
»Wir werden ja nicht für immer gehen«, beruhigte Christoffer den Jüngeren. »Aber als Heinrich starb, galten seine letzten Worte dir. ›Bring den Jungen zu Christoph nach Schiplage‹, hat er gesagt. Und genau das werde ich tun. Ich denke, es ist an der Zeit, nach deinen Wurzeln zu suchen, und wahrscheinlich werden wir dort deine Familie finden. Du möchtest doch sicher auch gern wissen, woher du stammst. Ich zumindest würde es wissen wollen und dem nachgehen, wenn ich einen Anhaltspunkt zum Suchen hätte. Bei dir wissen wir wenigstens, wohin wir uns wenden müssen: nach Schiplage – einem Ort, der nur zwei Tagesmärsche entfernt sein soll.«
»Und danach kehren wir wieder auf den Hüggel zurück?«, vergewisserte sich Jakob vorsichtshalber.
Christoffer lachte. »Wer weiß? Vielleicht willst du dann ja überhaupt nicht mehr hier oben leben, sondern lieber bei deinen Leuten.«
Jakob schüttelte energisch den Kopf. »Ganz gewiss nicht. Aber du hast recht. Es wäre schön zu wissen, ob es noch eine Familie gibt, aus der ich stamme. Und warum Heinrich seine Heimat überhaupt verlassen hat und mit mir auf den Hüggel gegangen ist.«
Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und aß. Dann wollte Jakob wissen: »Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern, aus deiner Vergangenheit? Ich meine, du warst doch kein Kind mehr, als Heinrich dich im Wald gefunden hat. Du musst ungefähr so alt gewesen sein wie ich heute. Und dann weiß man doch, woher man stammt.«
Christoffer zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Erinnerung an mein Leben vor dem Hüggel. Wenn ich in meinem Gedächtnis forsche – und das tue ich hin und wieder –, ist das Erste, woran ich mich erinnern kann, dass ich hier, in dieser Hütte, aufgewacht bin. Ich muss wohl schwer verletzt gewesen sein, als Heinrich mich fand.« Unwillkürlich griff er sich an den Hals, an dem eine deutliche Narbe von der Verwundung zeugte. »Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht, aber vielleicht hat das Ereignis, das zu dieser Verletzung geführt hat, auch mein Erinnerungsvermögen getrübt. Ich habe keine Ahnung.«
»Leider kann ich dir auch nicht helfen«, bedauerte Jakob. »Ich war noch zu klein und weiß nicht, was sich damals ereignet hat. Für mich bist du schon immer hier gewesen. An eine Zeit ohne dich kann ich mich nicht entsinnen. Und eigentlich waren es doch gute Jahre, die wir hier oben zusammen verlebt haben. Du hast dich doch auch immer wohlgefühlt. Oder etwa nicht?«
»Oh, das habe ich auch«, erklärte Christoffer entschieden. »Sehr sogar. Außerdem war ich Heinrich stets dankbar, dass er mich gerettet, gesund gepflegt und aufgenommen hat. Aber es ist dennoch ein befremdliches Gefühl, wenn die Hälfte deines Lebens im Dunkeln liegt. Vielleicht habe ich ja Eltern, die sich um mich sorgen. Oder Geschwister. Vielleicht sogar eine Ehefrau und Kinder. Es ist schon quälend, gar nichts zu wissen.«
Jakob verstand ihn, obwohl sich sein eigenes Bedürfnis, nach seinen Angehörigen zu suchen, in Grenzen hielt. Christoffer war seine Familie und der Hüggel seine Heimat. Mehr wollte und brauchte er nicht.
Trotz Jakobs Vorbehalten brachen die Männer am nächsten Tag in aller Frühe auf, verließen ihre Kate auf dem Hüggel und wanderten zunächst nach Hasbergen. Dort erfragten sie den Weg in den Ort Schiplage, der etwa zwanzig Meilen entfernt liegen sollte.
Zwanzig Meilen – zwei stramme Tagesmärsche.
Auf der langen Wanderung blieb Christoffer einsilbig und hing seinen Gedanken nach, die er noch nicht mit Jakob zu teilen bereit war, um in dem Jüngeren keine falschen Erwartungen und Hoffnungen zu wecken.
Doch er ging fest davon aus, dass dieser Christoph, zu dem er Jakob bringen sollte, ein Familienmitglied Heinrichs sein musste. Gewiss nicht der Vater – denn in Anbetracht der Tatsache, dass Heinrich um die siebzig Jahre alt geworden war, hätte dieser ja schon etwa neunzig Jahre zählen müssen – und so alt wurden die Menschen nicht in dieser Zeit. Aber vielleicht handelte es sich um einen Bruder, oder gar um einen Sohn. Immerhin schien Heinrich ihn nach diesem Mann benannt zu haben, denn die Ähnlichkeit zwischen den Namen Christoph und Christoffer war gewiss nicht zufällig.
Missmutig lief Jakob neben seinem Begleiter her. Die Stille zwischen ihnen ärgerte ihn und er langweilte sich. Als sie an einer gackernden Hühnerschar vorbeikamen, hatte er jedoch eine Idee.
»Was hältst du davon, wenn wir uns auf dem Rückweg ein paar Hennen und einen Hahn für den Hüggel zulegen? Es wäre doch schön, täglich frische Eier zu haben.«
»Wir werden sehen.«
»Großvater war ja stets dagegen, Viehzeug anzuschaffen. Ich weiß eigentlich gar nicht warum. Aber nun, da er nicht mehr ist … Jetzt können wir das entscheiden. Nicht wahr?«
»Ja.«
»Und eine Kuh wäre auch schön. Dann hätten wir Milch und könnten vielleicht sogar Butter herstellen. Was meinst du?«
»Wir werden sehen.«
»Vielleicht können wir ja sogar ein wenig Kohl anpflanzen und Erbsen und Bohnen. Man müsste nur ein Feld anlegen – nicht einmal sehr groß. Ich würde es jedenfalls gern versuchen. Das Saatgut dafür kann ja eigentlich nicht die Welt kosten. Wie würdest du das finden?«
Christoffer sah den Jüngeren gereizt von der Seite an. »Wir können ja gleich die Köhlerei an den Nagel hängen und eine Landwirtschaft aufmachen. Ist es das, was du willst?«
»Nein, natürlich nicht«, wehrte Jakob ab. »Ich möchte schon Köhler bleiben. Aber wenn wir unseren Küchenzettel durch Eier, Butter und Gemüse ein wenig erweitern könnten, wäre das doch eine feine Sache. Denkst du das nicht auch?«
Statt einer Antwort zuckte Christoffer nur gleichgültig mit den Schultern. Doch Jakob bemerkte es kaum. Viel zu sehr war er von seinen Plänen begeistert. Und dann lachte er plötzlich.
»Du, ich habe eine grandiose Idee. Heinrich hat uns doch ein wenig Geld hinterlassen. Könnten wir dafür nicht ein Pferd kaufen? Es könnte beim Pflügen des Feldes helfen und beim Tragen der Holzkohle an Marktagen.«
»Nun ist es aber gut«, fuhr Christoffer ihn mürrisch an. »Spar dir deine Puste. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Was ist nur los mit dir?«, wollte Jakob erstaunt wissen. »Deine schlechte Laune ist ja kaum zu ertragen.«
Die Antwort auf diese Frage blieb Christoffer schuldig.
Am Abend des zweiten Tages erreichten sie Schiplage.
Um das Geld für ein Gasthaus zu sparen, bereiteten sie sich am Ortsrand ein Lager unter freiem Himmel, verzehrten die mitgebrachten Lebensmittel und legten sich dann zum Schlafen nieder.
»Gute Nacht«, meinte Christoffer versöhnlich. »Unser Frühstück werden wir uns morgen in einem Gasthaus auftischen lassen. Einverstanden? Und dort können wir dann auch gleich nach Christoph Cappel fragen. So ein Wirt kennt doch die Menschen aus seinem Flecken. Vielleicht haben wir ja Glück.«