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- Die mitreißend erzählte Geschichte einer entschlossenen Frau, die sich von den Widrigkeiten ihres Daseins nicht unterkriegen lässt. - Eine historisch verbürgte Figur neu interpretiert. - Ein atmosphärisch dichtes, schillerndes Panorama des Spätmittelalters. - Mit wertvollen Zusatzinformationen über das historische Personal, mit ausführlichem Glossar im Anhang. Venedig, im Jahre des Herren 1414. Die siebzehnjährige Dirne Gabriella Cognati lebt im Rotlichtviertel der Stadt. Und obgleich sie schön ist, sogar zu lesen und zu schreiben versteht, kämpft sie täglich ums Überleben. Als sie vor das Hohe Inquisitionsgericht befohlen wird, flieht Gabriella. Mit Sofia und Guilia, ebenfalls Straßenhuren, schließt sie sich einem Händlertreck an und zieht über die Alpen. Ihr Ziel: die Stadt Konstanz, wo derzeit ein Kirchenkonzil stattfindet, wo die Mächtigen Europas zusammentreffen – und wo sich märchenhafte Verdienstmöglichkeiten bieten sollen für eine Hübschlerin. Der Zufall spielt mit, und schon bald steigt Gabriella, die sich fortan "Imperia" nennt, in der Konzilsstadt zur gefragten Kurtisane auf. Zu ihren festen Freiern zählen der römisch-deutsche König Sigismund und der italienische Kardinal Oddo di Colonna, der zum rechtmäßigen Papst gewählt wird. Selbstbewusst mischt sich die kluge wie charmante Geliebte der hohen Herren in die Politik ein, hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Mit Sigismunds Gemahlin, Königin Barbara von Cilli, pflegt sie gar freundschaftlichen Umgang. Nach dem Ende des Konzils bricht Imperia auf in Richtung Rom. Unterwegs bemerkt sie, dass sie ein Kind erwartet. Doch wer ist der Vater: der König oder der neue Papst?
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Seitenzahl: 405
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Das Lächeln der Imperia
Antje Windgassen
Roman
»Rom ist zweimal von den Göttern beschenkt worden –
von Mars stammt das Imperium Romanum, von Venus die Imperia.«
Biosius Palladius alias Biagio Pallai
Imperia lächelte.
Dann wandte sie sich ab – langsam. Und während ihre Blicke über die Stadt und über den Bodensee vor Konstanz schweiften, ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie gehörig beschäftigt war.
Immerhin musste die Statue sich binnen vier Minuten einmal um die eigene Achse drehen, dabei die ein- und ausfahrenden Schiffe grüßen, sich von zahlreichen Touristen bestaunen und fotografieren lassen und zudem die beiden schrumpeligen, splitternackten Zwerge auf ihren weit ausgestreckten Handflächen balancieren.
Wahrhaftig, es war kein leichtes Leben als Wahrzeichen einer Stadt – und sie hatte diese Stellung nun bereits seit vielen Jahren inne. In dieser Zeit war sie bewundert, aber auch verachtet und beleidigt worden. Weiß Gott, sie konnte sich noch sehr gut an das Theater erinnern, das es gegeben hatte, damals, im April 1993, als man sie an der Einfahrt des Konstanzer Hafens aufgestellt hatte
…
Alles begann mit dem alten Molenturm am Kopf des Außenpiers.
Er wurde 1842 errichtet, wobei als Sockel die Pegelmessstation diente, die bereits aus dem Jahre 1816 stammte und damit die älteste in Baden-Württemberg war. 1890 wurde der Molenturm wieder abgerissen – bis auf die Pegelmessstation. Auf ihr wurde nun ein Stahlgestell errichtet, das der Schifffahrt als Bake diente.
Zu Beginn der 1990er-Jahre fingen der Konstanzer Fremdenverkehrsverein, die Bodensee-Schiffsbetriebe und einige Geschäftsleute der Stadt an, darüber nachzudenken, ob man dieses schlichte Seezeichen nicht gegen ein interessanteres und beeindruckenderes Bauwerk austauschen könne. Es sollte von touristischem Reiz sein – so wie die Freiheitsstatue in New York zum Beispiel oder die Christo Redentor-Figur in Rio de Janeiro –, nur eben »ein paar Nummern« kleiner und auf Konstanzer Verhältnisse zugeschnitten. Historisch gesehen war das Konstanzer Konzil, das von 1414
bis 1418 abgehalten wurde, eines der spektakulärsten Ereignisse, das die Stadt in ihrer Geschichte erlebt hatte. Möglicherweise konnte die geplante Statue ja Bezug darauf nehmen? Der römisch-deutsche König Sigismund als »Konzilmacher« wäre vielleicht passend oder der Reformator Jan Hus und sein Mitstreiter Hieronymus von Prag, die beide während des Konzils als Ketzer verbrannt worden waren ...
In Konstanz wurde noch hin und her überlegt, als irgendjemand erzählte, dass irgendwer den Vorsitzenden des Fremdenverkehrsvereins gemeinsam mit dem Bildhauer Peter Lenk am Pegel turm der Hafenmole gesehen habe, beide mit einem Zollstock hantierend. Sofort begann es in der Gerüchteküche zu brodeln, denn immerhin war Peter Lenk in Konstanz kein Unbekannter. Erst vor Kurzem hatte man den von ihm erschaffenen »Konstanzer Triumph bogen« auf dem Mittelstreifen der Straße »Untere Laube« errichtet – mit vier Pfeilern, zu deren Füßen jeweils ein Brunnenbassin arrangiert war. Der »Laube-Brunnen«, wie das Kunstwerk gemeinhin genannt wurde, karikierte das Geschehen auf der verkehrsreichen Straße auf skurrile Weise – und war von Anfang an höchst umstritten. Denn Putten mit Gasmasken, Säuglinge mit Steuerrädern, spuckende Rocker, eine dralle Nackte, die von fetten Erdferkeln mit Menschengesichtern angegeifert wurde, und der historische Kutschenunfall eines Papstes, in Begleitung zweier Huren, schienen nicht jedermanns Humor zu treffen. Die Reaktionen reichten jedenfalls von grandioser Begeisterung bis hin zu unverhohlenem Abscheu – ein Empfinden, das auch die Kirche teilte. Der Brunnen polarisierte, daher hatten sich die Stadtmütter und -väter darauf geeinigt, dass es kein weiteres Kunstwerk Peter Lenks in Konstanz geben sollte. Und nun wurde eben dieser Bildhauer am Pegelturm der Hafenmole gesehen? Den Spekulationen waren Tür und Tor weit geöffnet, und vorsorglich sprachen sich Gemeinderat und Kirche gegenüber dem Oberbürgermeister gegen eine weitere Skandalfigur aus der Werkstatt Peter Lenks aus – ohne zu wissen, was überhaupt geplant war.
Genau diese Ablehnung hatte der Bildhauer vorhergesehen.
Und als der Vorsitzende des Fremdenverkehrsvereins Konstanz an ihn herantrat, um mit ihm über das Projekt im Konstanzer Hafen zu sprechen, willigte Lenk zwar ein, stellte jedoch eine Bedingung: Niemand sollte die noch zu erschaffende Statue zu Gesicht bekommen, bevor sie nicht an Ort und Stelle, nämlich auf dem Pegelturm der Hafeneinfahrt, aufgestellt worden war. Diese Bedingung konnte der Vorsitzende ohne Probleme annehmen.
Schließlich wusste er, dass weder Gemeinderat noch Kirche zu diesem Thema entscheidungsbefugt waren. Der Pegelturm, auf dem die neue Hafenfigur stehen sollte, gehörte nämlich der Deutschen Bundesbahn. Und diese hatte bereits ihr Einverständnis signalisiert. Dennoch setzte sich der Oberbürgermeister mit dem Künstler in Verbindung, um den befürchteten Schaden zu begrenzen. Inständig bat er ihn darum, wenigstens keine nackte Frau als zukünftige Empfangsdame des Konstanzer Hafens aufzustellen.
Das immerhin war der Bildhauer bereit zuzusichern.
Ansonsten war die Ausfertigung der Statue ein großes Geheimnis. Und damit es auch so blieb, mietete Lenk in aller Stille die erforderlichen Räumlichkeiten in Stuttgart an, um die Figur, abgeschirmt vor neugierigen Blicken, erschaffen zu können.
Bei der Planung ließ sich der Bildhauer von einer Erzählung Honoré de Balzacs inspirieren. In der Geschichte ging es um »Die schöne Imperia«, eine Kurtisane, die laut de Balzac zur Zeit des Konzils in Konstanz geweilt hatte und mit ihrem exquisiten Aussehen, ihrem Charme, ihrer Intelligenz und ihrer Kompetenz in Sachen Liebestechniken die höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger für sich einzunehmen wusste:
Imperia war in der ganzen Welt bekannt als die hoffertigste undlaunenhafteste Kokotte, daneben galt sie für die schönste unddafür, dass keine es wie sie verstand, die Kardinäle wie die rauhenLandsknechte und Leuteschinder zu betören und einzuwickeln.
Tapfere Hauptleute, Bogenschützen und große Herren wetteiferten darin, ihr zu Diensten zu sein. Es kostete sie nur ein Wörtlein, jemanden, der ihr Ärgernis bereitet hatte, verschwindenzu lassen; ein kleiner Wink ihrer schönen Augen genügte, umein männermordendes Blutvergießen anzurichten ... Abgesehenvon den Würdenträgern der hohen Geistlichkeit, denen zu Liebedie schöne Imperia ein wenig ihre Launen zügelte, ließ sie allesMännervolk nach ihrer Pfeife tanzen, und trotzdem hingenselbst die Tugendbolde und Frömmlinge an ihr, wie an einerKlette … 1
So weit Honoré de Balzac in seinem Buch »Tolldreiste Geschichten«, in denen die erste Erzählung von der schönen Imperia handelte, die auf dem Konstanzer Konzil sogar dem Papst und dem König die Köpfe verdreht haben soll. Allerdings entsprang diese Hübschlerin nachweislich ausschließlich der Fantasie Balzacs – wobei nicht auszuschließen ist, dass der französische Schrift steller eine berühmte Kurtisane als Vorlage nahm: »Imperia la Divina« – die göttliche Imperia. Sie hatte die Elite Roms zu Beginn des 16. Jahrhunderts in ihren Bann gezogen. Sogar dem berühmten Maler Raffael soll die blonde Schönheit mehrfach Modell gestanden haben – unter anderem für seine Darstellung der Sappho im vatikanischen Palast und für das Gemälde »Triumph der Galatea«.
Die Kurtisane, die Honoré de Balzac 1832 in seiner Erzählung beschrieb, die literarische Imperia also, konnte jedoch auf keinen Fall mit der historischen »La Divina« identisch sein. Denn tatsächlich war diese zur Zeit des Konzils noch nicht einmal geboren, erblickte sie doch erst 1486 das Licht der Welt und hatte in ihrem ganzen Leben nicht einmal einen Fuß in die Stadt Konstanz gesetzt.
Peter Lenks Statue sollte also klar die literarische Imperia darstellen, wobei auch diese einen belegten historischen Kern besaß ...
Im Jahre 1378 hatte das Kardinalskollegium den Neapolitaner Bartolomeo Prignano zum Heiligen Vater gewählt, der den Papstnamen »Urban VI.« annahm. Da man mit seiner Amtsführung jedoch unzufrieden war, wurde noch im gleichen Jahr Clemens VII. zum Gegenpapst gewählt – und damit die Spaltung der Kirche ausgelöst. Auch der Tod Urbans VI. 1389 und das Dahinscheiden Clemens’ VII. 1394 änderten nichts an der vertrackten Situation, da die Kardinäle, die die beiden Päpste umgaben, den jeweiligen Nachfolger aus ihren eigenen Reihen wählten. Und es sollte noch komplizierter werden: 1409 erklärte eine Gruppe von Kardinälen, die sich von den neu gewählten Päpsten Gregor XII. und Benedikt XIII. distanziert hatten, auf dem Konzil von Pisa die zwei Stellvertreter Christi für abgesetzt. An ihrer Stelle wählten sie nun einen dritten Papst: Alexander V. Das Problem lösten sie damit allerdings nicht. Weder Gregor XII. noch Benedikt XIII. dachten daran, diesen neuen Pontifex und ihre eigene Absetzung anzuerkennen. Als zwei Jahre später, im Jahr 1411, Sigismund von Luxemburg zum römisch-deutschen König gewählt wurde, stritten sich daher drei Päpste um die Herrschaft über die Kirche: Gregor XII.
in Rom, Benedikt XIII. in Avignon und Johannes XXIII. in Pisa, dieser der Nachfolger des inzwischen verstorbenen Alexander V.
Aus der »verruchten Zweiheit« hatte sich eine »trinitas non benedicta, sed maledicta«, eine nicht gesegnete, sondern verfluchte Dreifaltigkeit, entwickelt.
König Sigismund begriff sofort, dass die Einigkeit des Heiligen Römischen Reiches durch die Wirren dieses sogenannten »Abendländischen Schismas« massiv bedroht wurde, da die drei Päpste von verschiedenen europäischen Herrschern gestützt wurden, die allesamt ihren eigenen Vorteil aus der chaotischen Situation zu schlagen suchten. Nach Ansicht des Königs konnte nur ein Concilium, eine Zusammenkunft des gesamten Kollegiums der Apostel-Nachfolger also, die gefährliche Konstellation bereinigen. In der Sache wurde man sich sogar schnell einig, denn jeder der drei Heiligen Väter hoffte darauf, die alleinige Macht an sich reißen zu können. Nur was den Tagungsort anging, kam es zu langwierigen Verhandlungen. Straßburg und Basel waren im Gespräch, auch über Kempten im Allgäu wurde beratschlagt – und über Konstanz.
Sigismund stimmte für die Stadt am Bodensee als Austragungsort des Konzils. Zwar gehörten die drei infragekommenden Städte alle zum Reich, aber Konstanz wies weitere Vorteile auf: Es lag zentral, hatte durch seine Handels- und Wasserstraßen eine gute Infrastruktur und war zudem Sitz des Bistums. Unter dem Druck des Königs einigten sich sämtliche Parteien schließlich auf das neutrale Konstanz.
Plötzlich stand die alte, bisher recht beschauliche Stadt am Bodensee im Mittelpunkt des politischen und kirchlichen Interesses ganz Europas. Normalerweise lebten hier etwa sechstausend Menschen. Dazu kamen nun – nicht alle auf einmal, sondern über vier Jahre verteilt – etwa siebzigtausend Konzilsbesucher. Konstanz platzte bald aus allen Nähten. König Sigismund erschien mit einem riesigen Gefolge, das untergebracht werden musste. Auch der Hofstaat Papst Johannes’ XXIII., der als Einziger der drei Päpste das Konzil persönlich besuchte, war äußerst umfangreich.
Zudem reisten dreiunddreißig Kardinäle an, dreihundertsechsundvierzig Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe, alle mit mehr oder minder großen Haushalten. Außerdem kamen mehr als zweitausend weltliche Doktoren nach Konstanz, rund fünfhundertfünfzig Mitglieder der verschiedenen Mönchsorden und – etwa siebenhundert Huren. Diese Zahlen nannte zumindest der zeitgenössische Konstanzer Chronist Ulrich von Richental. Was die Dirnen anging, konnte Richental jedoch nur die in den sogenannten »Hurenhüsern« erfassen. Er relativierte seine Angabe mit den Worten: »ohne die haimlichen, die lass ich bleiben«.
Heutigen Schätzungen zufolge wird die Anzahl der heimischen und angereisten »Hübschlerinnen«, die sich um das Wohlbefinden der weltlichen und geistlichen Elite Europas verdient machten, wohl etwa bei eintausendfünfhundert gelegen haben.
Ein anderer Zeitgenosse, der Minnesänger, Dichter, Komponist und Diplomat in Diensten des Königs, Oswald von Wolkenstein, der nach eigenen Angaben ein eifriger Besucher der »Hurenhüser« war, erklärte augenzwinkernd:
Willst du im Leid erheitert sein
und ungenetzt beschoren fein,
dann zieh nach Konstanz an den Rhein,
wenn sich die Reise füge.
Darinnen wohnen Fräulein zart,
die grasen einem um den Bart … 2
Von Wolkenstein vermittelte in seinen Versen einen Eindruck des prallen Lebens, das sich neben dem offiziellen Konzilsprogramm in der Stadt abspielte, klagte darüber hinaus jedoch nicht ganz unzweideutig:
Denk ich an den Bodensee,
tut mir gleich der Beutel weh! 3
Der böhmische Reformator Jan Hus schließlich, hielt Hurerei ohnehin für Teufelswerk. Ihm wurde während des Konzils der Prozess gemacht. Als Ketzer verurteilt, wetterte er, bevor er den Flammen übergeben wurde:
Konstanz ist ein einziger Sündenpfuhl.
Alles in allem war die Idee, auf die Pegelmessstation im Hafen der alten Konzilsstadt am Bodensee das Denkmal einer Hure zu stellen, also gar nicht so weit hergeholt. Honoré de Balzac hatte der leiblich-lüsternen Facette des Konstanzer Konzils mit seiner Erzählung der »Schönen Imperia« ein literarisches Denkmal gesetzt – nun sollte darauf ein steinernes folgen.
Endlich war die Imperia fertiggestellt. Peter Lenk hatte sie entworfen, planungstechnisch in Teilstücke zerlegt und erschaffen
– Kopf mit Schellenkappe, Rumpf bis zur Taille, Unterleib mit Oberschenkeln. Nun mussten die aus Beton gegossenen Einzelteile von Stuttgart nach Konstanz und von dort an den Kopf der Hafenmole transportiert werden. Letzteres war jedoch nur über den Seeweg möglich. Da der Konstanzer Gemeinderat sich bereits im Vorfeld geweigert hatte, für den Transport eine städtische Fähre zur Verfügung zu stellen, wurde schließlich ein Fährschiff aus Friedrichshafen geordert. Immerhin war die Bahn Eigentümer des dortigen Fährbetriebs, somit gab es keine Probleme. Zudem konnte der Termin geheim gehalten werden. Die Überfahrt sponserte ein Schweizer Unternehmen mit, wie es heißt, 20.000
Franken – unter der Bedingung, dass das Kunstwerk auch wirklich in Deutschland und nicht versehentlich auf dem Staatsgebiet der Eidgenossen aufgestellt wurde.
Vorsichtshalber führte man den Transport drei Tage vor der offiziellen Einweihung der Skulptur in einer Nacht- und Nebelaktion durch. Zu einer Zeit also, in der die Konstanzer Bürger und die Mitglieder des Gemeinderats, die sich vehement gegen die Statue, obwohl sie sie noch gar nicht kannten, zur Wehr setzten, friedlich und nichts Böses ahnend in ihren Betten lagen und schliefen. Die Nacht selbst war mondlos dunkel und regnerisch, als die Imperia im Licht diverser Scheinwerfer auf der Mole abgeladen, zusammengebaut und montiert wurde. Danach folgte die sorgfältige Verhüllung, bei der nahezu jedes Teilstück einzeln eingepackt wurde.
Drei ganze Tage mussten die Konstanzer darauf warten, ihre neue Hafenstatue in Augenschein nehmen zu können. Die Spannung stieg. Die abenteuerlichsten Vermutungen wurden angestellt, die seltsamsten Spekulationen. Und die verhüllte Figur gab ihr Geheimnis nicht preis. Nur ein Stück steinerner, in Falten gelegter Stoff blitzte unter der Verpackung hervor, aber das konnte alles Mögliche sein – ein Rock, eine Toga, ein Umhang? Die Wahrheit sollte alle Mutmaßungen übertreffen.
Die Einweihung der Imperia erfolgte am 26. April 1993. Es war ein sonniger Tag. Tausende Konstanzer säumten die Ufer, und zahlreiche Schiffe der Bodenseeflotte, vollbesetzt mit Schaulustigen, umlagerten die Hafeneinfahrt. Über allem machte sich erwartungsvolle Volksfeststimmung breit. Und dann wurde die Statue langsam und Stück für Stück mit der Hilfe von Sportstudenten enthüllt.
Ein üppiges Vollweib, mit prächtigen Brüsten und langen Beinen kam zum Vorschein, nur mit einem tief dekolletierten Negligé bekleidet, das in der Taille notdürftig von einem Gürtel gehalten wurde und vorne weit auseinanderklaffte. Was für ein Skandal!
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, trug die Statue auf ihren ausgestreckten Handflächen zwei schrumpelige, splitternackte Zwerge – rechts den römisch-deutschen König und späteren Kaiser Sigismund, unschwer an seiner Krone und dem zweigeteilten Bart zu erkennen, und links den auf dem Konzil gewählten Papst Martin V., der auf seinem Kopf eine Tiara hatte.
Zwar behauptete der Künstler Peter Lenk mehrmals, dass seine Imperia keine Liebesdienerin wäre und die Figuren, die sie auf ihren Händen trug, weder Papst noch König darstellen sollten, sondern allesamt Gaukler wären, die sich die Insignien der Macht widerrechtlich angeeignet hätten – das wäre schließlich unschwer an der Schellenkappe zu erkennen, die die Betondame auf ihrem Kopf trug, aber niemand glaubte ihm. Stattdessen interpretierte man die Statue als steingewordene Botschaft Honoré de Balzacs, der in seiner frivolen ImperiaErzählung behauptet hatte, dass auch die Großen und Mächtigen dieser Welt letztlich durch ihre Gier nach Lust schnell zu manipulierbaren Zwergen werden würden. Das Augenzwinkern aber, das über Balzacs Geschichte lag und von dem Schöpfer der Statue übernommen worden war, übersahen viele der Schaulustigen vollkommen. Ihnen stach nur die provokante Nacktheit der üppigen Kurtisane ins Auge und die greisen Männlein, die sie auf ihren Handflächen trug. Genau darüber zeigten sie sich entsetzt – zumal sie etwas wesentlich »Würdevolleres« erwartet und nicht damit gerechnet hatten, dass ihre schöne Stadt tatsächlich einer »Hübschlerin« ein Denkmal setzte.
Die Einzige, die sich in diesem Tumult ein Lächeln bewahrte, war Imperia selbst. Nun ja, als steinerne Statue konnte sie nicht anders. Der Künstler hatte sie mit einem leichten Schmunzeln erschaffen, und das würde sie bis ans Ende ihrer Tage auf den Lippen tragen. Und doch – hatte sich dieses Lächeln angesichts all der Aufregung nicht ein wenig vertieft? Konnte es sein, dass die große Imperia den Empörten damit etwas sagen wollte? Vielleicht:
»Was wisst ihr denn schon? Ihr habt doch keine Ahnung, wie es in meiner Zeit wirklich zuging – in einer Zeit, in der König und Papst gestandene, machthungrige Männer waren und alles andere als lächerliche Greise.«
Und dann ließ sie, sobald der drehbare Tisch, auf dem sie stand, es ermöglichte, ihren Blick weit gen Süden wandern – dorthin, wo alles begann …
Venedig im September 1414. Im Hafen hob sich ein Wald von Masten gegen den blauen Himmel ab. Große Segelschiffe aus aller Herren Länder lagen vor Anker. Planken knarrten, Taue und Segel seufzten im Wind. Möwen schrien, und die Luft roch nach Salzwasser, Tang und Teer.
Gabriella Cognati war gern am Hafen, vor allen Dingen hier, am östlichsten Ende der Insel Dorsoduro, genau an der Spitze der Punta della Dogana, der Zollstation. Hier konnte sie die schöne Aussicht genießen und die Ruhe. Während im übrigen Teil des Hafens Mehl und Getreide, Wollstoffe und Leinen, Eisen und Kupfer verladen wurden und ein dichtes Gedränge herrschte, ging es an der Dogana eher beschaulich zu. Ebenda trafen schließlich nur die kostbaren Waren aus Indien und dem Orient ein – Gewürze, Seide, Parfüms, Edelsteine, edle Metalle. Eben alle Handelsgüter, die Venedig zu einer reichen Stadt gemacht hatten.
Gabriella saß auf einem Stapel Kisten, verspeiste hungrig die blauen Beeren einer Weintraube, die sie gerade von einem unbewachten Handkarren gestohlen hatte, und beobachtete die Männer, die eine große Karacke löschten. Sack um Sack schleppten die muskulösen Stauer an Land, Fass um Fass rollte über die Planken, die das stolze Segelschiff mit dem steinernen Kai der Punta della Dogana verbanden. Zu gerne hätte Gabriella gewusst, um welche Kostbarkeiten es sich handelte, die in das prächtige Zollgebäude hinter ihr – ein zinnenbekrönter, festungsähnlicher Bau mit einem Turm – getragen wurden. Doch die Transportbehältnisse waren allesamt fest verschlossen und ließen keine neugierigen Blicke auf ihre Inhalte zu.
Achtlos warf Gabriella den Strunk der leergegessenen Traube in das Wasser des Bacino di San Marco, an dessen Ufer sie saß. Auf der anderen Seite des Beckens lag die Piazza San Marco mit dem Dogenpalast, der Basilica und dem Campanile, dem Glockenturm, der den Seefahrern ein festes Landzeichen bot und in der Nacht durch ein Feuer als Leuchtturm diente. Zu ihrer Linken mündete der Canal Grande in das San Marco-Becken, zu ihrer Rechten der Canale della Giudecca. Ein herrlicher Platz, über dem die Düfte der großen Welt lagen – ein Platz zum Träumen.
Und zum Träumen hatte die siebzehnjährige Dirne weiß Gott nicht oft Gelegenheit. Gabriella lebte und arbeitete im Quartiere di Rialto, dem Rotlichtviertel Venedigs. Sie war eine einfache Straßenhure und für sie jeder Tag ein Kampf um ein karges Auskommen. Ganz im Gegensatz zu den hochangesehenen Kurtisanen der Stadt, die schön und intelligent waren, großzügige Häuser führten, sich kostbar kleideten und erlesen speisen konnten.
Immerhin, auch Gabriella war schön, mit ihren außergewöhnlich hellblonden Haaren, den sanften braunen Augen, ihrem zu einem perfekten Oval geformten Gesicht und einem hinreißenden, üppigen Körper – auch wenn man es unter der ärmlichen, vielfach geflickten Kleidung, die sie trug, nicht gleich erkannte.
Und Gabriella war intelligent, wenn auch nicht gebildet. Zwar beabsichtigten die Eltern, ihr eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, sie starben aber, als das Mädchen fünf Jahre zählte. Danach wuchs sie bei ihrer Großmutter auf, die lediglich dafür sorgte, dass die Enkelin ein wenig zu lesen, schreiben und rechnen verstand
– was schon außergewöhnlich genug war für ein Mädchen ihrer Zeit. Als die alte Frau erkrankte, pflegte Gabriella die Nonna bis zu ihrem letzten Atemzug. Dann war die damals Fünfzehnjährige auf sich allein gestellt. Medizin und Arztrechnungen hatten die letzten Ersparnisse aufgebraucht – Gabriella stand vor dem Nichts.
Seitdem musste sie sich allein durchs Leben bringen, hatte für Bücher und Bildung kein Geld und konnte froh sein, wenn sie sich am Ende eines Tages genug zu essen kaufen konnte.
Vor Kurzem wäre es ihr fast gelungen, im Castelletto Aufnahme zu finden – einem öffentlich geführten Freudenhaus, das unter der Aufsicht der Capi di Sestiere, der Ordnungshüter des Stadtviertels, stand. Dort wären ihr Kost und Logis sicher gewesen, und sie hätte sich nicht mehr vor Überfällen und Vergewaltigungen fürchten müssen. Doch im Castelletto durften nur unbescholtene Dirnen Einzug halten – und gegen Gabriella lag inzwischen eine Anzeige vor, in der man sie der Ketzerei bezichtigte. Sie hatte Hunger gehabt und am heiligen Sonntag einen Freier bedient, was die Kirche streng verbot. Damit wäre sie vom christlichen Glauben abgewichen, hieß es. Und nun musste sie täglich damit rechnen, abgeholt und zu ihrem Vergehen vor dem Hohen Inquisitionsgericht der Stadt Venedig examiniert zu werden. Gabriella ängstigte sich davor. Sie wusste, dass Frauen ihres Standes nur selten Gerechtigkeit widerfuhr, und überlegte bereits, Venedig zu verlassen, hatte aber nicht die geringste Ahnung, wohin sie sich wenden sollte – zumal ihr Geldbeutel vollkommen leer war.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie in diesem Augenblick zwei Stauer, die zögernd auf sie zukamen. Es war nicht das erste Mal, dass man sie von ihrem Lieblingsplatz vertrieb; doch normalerweise wurde sie von den Zöllnern fortgeschickt und nicht von den Hafenarbeitern. Und diese beiden wirkten auch keineswegs unfreundlich, sondern eher unschlüssig. Konnte es sein, dass …?
Mit einem strahlenden Lächeln wandte sich Gabriella den Männern zu und nestelte an ihrem Brusttuch, das sie dabei wie unbeabsichtigt verschob und das die Ansätze ihrer vollen Brüste sehen ließ. Die Stauer grinsten. Bisher waren sie nicht sicher, ob es sich bei dieser üppigen Blondine tatsächlich um die Hure handelte, von der sie hatten reden hören – es gab nicht viele hell haarige Dirnen in der Stadt. Auch die Kennzeichnung als Prostituierte, weiße Bänder auf der linken Schulter, war nicht auszumachen. Doch bei dem einladenden Lächeln, das sie ihnen herüberwarf, verschwanden die Zweifel sogleich.
»Hast du Lust, dir auf die Schnelle ein paar Silbermünzen zu verdienen, Mädchen?«
»Silbermünzen?«, wiederholte Gabriella gedehnt. »Grossi oder Piccoli?«
Die Männer lachten gutmütig. »Wir sind nur einfache Hafenarbeiter. Da können wir schwerlich Grossi anbieten. Aber wenn du es uns so richtig besorgst, geben wir dir gerne zehn Piccoli.
Einverstanden?«
Gabriella überlegte kurz. Es war ein guter Preis, aber sie brauchte dringend neue Schuhe, und allein die sollten acht Piccoli kosten.
»Es kommt darauf an, ob ihr einzeln oder zusammen bedient werden wollt«, führte sie die Verhandlung fort. »Zusammen wäre ich mit zehn Piccoli einverstanden. Aber wenn jeder von euch etwas erleben will, sodass ihm Hören und Sehen vergeht, wäre meine Forderung sieben Piccoli pro Nase.« Sie lächelte verheißungsvoll und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, um den Freiern die ganze Pracht ihrer blonden Locken zu präsentieren.
Die Männer wechselten einen kurzen Blick. Und als der Kleinere der beiden leicht nickte, erklärte der Größere als Sprecher:
»Es ist gut. Also sieben Piccoli.« Seine Stimme klang dabei heiser, und aufgeregt leckte er mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
»Und wo …?«
Zufrieden erhob sich Gabriella von der Kiste. Heute würde sie nicht hungrig ins Bett gehen müssen. Und die dringend benötigten Schuhe würde sie sich auch leisten können.
»Folgt mir«, sagte sie und fügte dann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, hinzu: »Aber bezahlt wird im Voraus. Ich bin gern bereit, unseren Handel auf das Beste zu erfüllen, werde mich aber von euch ganz gewiss nicht übers Ohr hauen lassen.«
Die Stauer murmelten ihre Zustimmung. Eine Stunde später wanderte Gabriella über den Markt von Rialto.
Sie kaufte ein wenig geräucherten Fisch und Brot, setzte sich auf eine Treppe und verspeiste beides mit Heißhunger. Danach seufzte sie zufrieden. Wie gut es doch tat, einen gefüllten Magen zu haben! Sie packte die Reste ihres Mahles zusammen und setzte ihren Weg fort. Vor dem Stand eines Schuhmachers hielt sie inne.
Sie wusste genau, was sie wollte, denn schon oft hatte sie hier gestanden und die Schuhe, die sie zu kaufen gedachte, längst ausgesucht. Sie waren nicht besonders modisch, wiesen keine langen Schnäbel und keine verzierten Schnallen auf. Aber sie waren solide, aus Rinds- und nicht aus billigem Ziegenleder, und die Ösen, durch die Lederschnüre zum Binden gezogen wurden, waren mit einem Streifen verstärkt.
Gabriella versuchte zu feilschen, aber der Schuhmacher war nicht bereit, seine Ware preiswerter abzugeben. »Es bleibt bei acht Piccoli«, sagte er. »Und damit basta.«
Also zahlte sie die geforderte Summe und machte sich mit ihren neuen Schuhen auf den Heimweg.
Die schmale Gasse, in der das kleine Häuschen ihrer Nonna stand, lag im Schatten der alten Kirche San Giacomo di Rialto. Es besaß nur zwei Räume, und durch das Dach tropfte es bei Regen, aber es war sauber und ein Heim.
Bevor Gabriella die Hütte betrat, klopfte sie zuerst bei der Nachbarin. Die winkte, als sie des jungen Mädchens ansichtig wurde, sogleich ab. »Nein, es ist niemand da gewesen. Die Schergen des Hohen Inquisitionsgerichts haben auch heute nicht nach dir gefragt.« Sie senkte ihre Stimme: »Aber ich verstehe wirklich nicht, worauf du wartest. Wenn sie dich holen, könnte es zu spät sein. Man hat schon Leute wegen geringerer Vergehen eingekerkert.«
»Ich weiß es doch«, nickte Gabriella niedergeschlagen. »Aber wohin soll ich denn gehen, allein und ohne Geld?«
Die alte Frau, die eine Freundin ihrer Nonna gewesen war und sie von klein auf kannte, wusste natürlich um das Problem. Heute hatte sie eine Lösung: »Ein Freund meines Enkels sucht ein Haus in Venedig. Er ist Maurer, hat sein Auskommen und bietet dir zwei Golddukaten für deine Kate. Ich denke, das Angebot solltest du dir nicht entgehen lassen.«
»Ich danke Euch sehr, Signora. Und das Gebot ist wirklich großzügig. Aber gestattet mir, dass ich erst noch darüber nachdenke«, erklärte Gabriella ausweichend. »Es ist keine leichte Entscheidung, sich von dem einzigen Zuhause, dass man besitzt, zu trennen.«
Mitfühlend strich die Nachbarin dem jungen Mädchen über die Wange. »Das verstehe ich sehr gut. Es sind ja auch die Erinnerungen an deine Eltern und deine Großmutter, die du preisgeben würdest. Nur eines solltest du bedenken, Gabriella: Schutz und Geborgenheit bietet dir das Häuschen nicht mehr. Du hast die Aufmerksamkeit des Hohen Inquisitionsgerichtes erregt; und wenn sie dich suchen, dann suchen sie dich hier.«
»Ich weiß«, gab Gabriella traurig zurück. »Aber bisher ist kein Gerichtsdiener erschienen. Was ist, wenn sie mich einfach vergessen haben, wenn niemand mehr kommt, um mich zur Rechenschaft zu ziehen? Dann hätte ich umsonst meine Heimat verlassen, um mich in der Fremde allein durchzuschlagen.«
Die alte Frau kicherte bitter. »Diese Möglichkeit ist so gering, dass du nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden solltest. Die Mühlen der Republik Venedig malen manchmal langsam, aber trefflich klein. Unser neuer Doge, Tommaso Mocenigo, weilt derzeit nicht in der Stadt, weil er den Kampf gegen die Piraterie organisiert. Und sämtliche Gerichte Venedigs sind angewiesen, eingefangene Korsaren vorrangig abzuurteilen. Damit haben die Herren Richter zur Zeit alle Hände voll zu tun. Ein kleines Dirnlein wie du, das aus Hunger einmal vergessen hat, den Sonntag zu heiligen, ist dagegen nicht ganz so wichtig.«
Verwirrt sah Gabriella die Nachbarin an. »Woher wisst Ihr das alles, Signora?«
»Die Sache mit den Piraten meinst du?« Das junge Mädchen nickte.
»Der Mann, der deine Kate kaufen will, hat es erzählt«, erklärte die alte Frau. »Er hat während der Renovierungsarbeiten am Palazzo Arian ein Gespräch zwischen dem Bauherrn und einem Sekretär des Rates mitbekommen.«
Gabriella begriff. »Dann habe ich also den Piraten gewissermaßen zu verdanken, dass ich noch auf freiem Fuß bin?«
Die Nachbarin kicherte abermals, diesmal belustigt. »Das kann man so sagen. Da siehst du mal, wozu diese Seeräuber alles gut sind.«
Die Dirne verabschiedete sich nachdenklich: »Gute Nacht, Signora. Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich werde wohl verkaufen, aber lasst mir noch eine Nacht Zeit, darüber zu schlafen. Morgen werde ich erneut bei Euch vorsprechen.«
Gabriella verließ die Nachbarin und betrat gleich darauf ihre Kate. Sie besaß nur ein kleines, glasloses Fenster, das tagsüber, wenn die Sonne brannte, durch einen Laden geschlossen werden konnte. Dann war die einzige Lichtquelle der Rauchabzug im Dach. Einen großen Vorteil hatte das Häuschen aber dennoch: Es besaß zwei Türen. Während die Eingangstür zur Gasse hinaus führte, gab die Hintertür den Zugang zu einem winzigen Gärtlein frei. Bis zur gegenüberliegenden Hausmauer waren es nur wenige Schritte, aber die Mauer war mit Efeu bewachsen und damit immergrün. Ein alter Oleanderbusch, inmitten von wildem Salbei, und ein grob gezimmertes Bänkchen waren alles, was der kleine Garten aufzuweisen hatte. Dennoch war er für Gabriella ein Refugium, ein ruhiger Rückzugsort. Auf ihn zu verzichten, würde ihr am schwersten fallen. Heute wollte die Friedlichkeit, die der kleine Garten ausstrahlte, jedoch nicht bei Gabriella ankommen.
Die Sorge um ihre Zukunft, die Angst vor dem Inquisitionsgericht, die zwiespältigen Gedanken, die sie beschäftigten, ließen ihr keine Ruhe.
Es wurde langsam kühl, und Gabriella ging zurück ins Haus.
Eigentlich wollte sie sich niederlegen, doch dann hörte sie vor ihrer Tür scharrende Geräusche. Sie wusste sofort, was es war, und verzog das Gesicht. »Nicht schon wieder«, murmelte sie und öffnete die Tür.
Ein junger Mann kniete vor ihrer Schwelle und grub mit einer Schaufel nach …
»Es sollte mich wundern, wenn es dort überhaupt noch Steine zu finden gibt«, meinte Gabriella spöttisch.
Der abendliche Besucher zuckte mit der Schulter. »Ich halte es ja auch für ein Ammenmärchen«, grinste er. »Aber meine Mutter schwört darauf, dass drei Steine aus dem Hauseingang einer Hure schwere Leiden heilen können. In ihrem Auftrag bin ich hier und hoffe, dass Ihr mir nicht zürnt. Ich habe als Ersatz auch Steine vom Strand mitgebracht.« Bei diesen Worten wies er auf ein kleines Häuflein Kiesel, das neben ihm lag.
Gabriella musste unwillkürlich lachen. »Seid Ihr sicher, dass die Steinchen gleichfalls ihre Wirkung tun, wenn man sie einem Kranken auf die Brust legt?«
Der Fremde schmunzelte. »Wenn die Kiesel nur lange genug vor Eurer Tür liegen – warum nicht? Auf jeden Fall werden sie gewährleisten, dass Ihr auch weiterhin einen festen Tritt habt und bei Regen nicht im Schlamm versinkt.«
Gabriella kicherte. »Das ist wirklich vorausschauend von Euch gedacht. Ich danke dafür, wünsche Euch Glück beim Auffinden und danach eine gute Nacht.«
Amüsiert trat sie zurück ins Haus. Es war schon erstaunlich, was für Hirngespinste in den Köpfen einiger Menschen herumspukten.
Durch den kleinen Vorfall war ihre Müdigkeit verflogen. Sollte sie noch einmal auf die Straße gehen? Vielleicht ließ sich da draußen ja doch ein Freier finden. Schließlich würde jeder Piccolo mehr in ihrem Beutel ihr, wenn sie tatsächlich fortmusste, ein wenig mehr Sicherheit geben. Kurzentschlossen griff Gabriella nach ihrem Umhang, prüfte, ob sich die weißen Bänder am richtigen Fleck befanden, legte ihn um und verließ das Haus. Der Steinesucher war bereits verschwunden, hatte aber ihren Eingangsbereich ordentlich hinterlassen.
Es war nur ein kurzer Weg bis zu dem streng reglementierten Aufenthaltsbereich zwischen dem Campo delle Beccarie und dem Campo San Cassiano, der den Huren Venedigs zugeteilt war. Die Capi hatten strikte Anweisung, sorgfältig darauf zu achten, dass die venezianischen Dirnen auch tatsächlich nur hier ihrem Gewerbe nachgingen.
Als Gabriella das Gassengewirr verließ, schlug die Turmuhr von San Giacomo di Rialto zur zehnten Stunde. Es war Ende September. Der Herbst schickte bereits seine Vorboten, und die Tage wurden spürbar kürzer. Sogar die sonst so belebte Einkaufsstraße Rugadei Oresi, in der die Fischhändler ansässig waren, lag schon im Dunkeln. Gabriella machte es nichts aus. Sie war es gewohnt, zu später Stunde durch die Straßen Venedigs zu wandern.
Es war nebelig und begann nun auch noch zu regnen – feiner, bis auf die Haut dringender Nieselregen. Sie zog die Kapuze ihres Umhangs auf und schritt eiliger aus. Die Nacht war ungewöhnlich dunkel und verschluckte fast die Lichter, die die Händler in ihre Fenster gestellt hatten.
Da, ein Geräusch! Waren das nicht Schritte? Gabriella sah sich um, doch ihre Augen, obwohl bereits an die Dunkelheit gewöhnt, konnten weit und breit nichts erkennen. Wenig später überquerte sie die Ruga Vecchia und erreichte die Ruga di Spezieri, in der die Gewürzhändler bei Tage ihre duftenden Waren aus dem Orient feilboten. In der Ferne konnte sie bereits den von Kienspänen erhellten Campo delle Beccarie sehen. Dort befanden sich das Gebäude des Fischmarktes und die Geschäfte der Metzger. Zudem markierte der Platz den Anfang des Rotlichtviertels.
Plötzlich hörte sie die Schritte wieder. Sie waren nun direkt hinter ihr. Als sie sich umwandte, erhielt sie einen schweren Schlag an die Schläfe. Sie schrie laut auf und sank zu Boden. Der Mann, der sich über sie beugte, roch nach Wein und war offensichtlich sehr betrunken. Lallend beschimpfte er sie: »Du dreckige Hure. Du gerissenes kleines Miststück. Dich will ich lehren …
Nie wieder wirst du einen Kunden betrügen.« Bei jeder Anschuldigung drosch er mit den Fäusten auf sie ein.
Gabriella wusste nicht, wie ihr geschah. Unwillkürlich nahm sie die Arme hoch, um ihren Kopf zu schützen. Sie hatte keine Ahnung, was der Mann von ihr wollte. Vermutlich handelte es sich um eine Verwechslung, und er war einer anderen Dirne auf den Leim gegangen. Laut um Hilfe zu rufen, traute Gabriella sich jedoch nicht. Noch befand sie sich außerhalb des genehmigten Hurenbereichs. Und wenn ein Capo ihre Rufe hörte, würde er sie zwar vor dem rasenden Mann beschützen, ihren Namen aber auch zur Meldung bringen. Und das war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte.
Unterdessen fuhr der Freier mit seinen Beschimpfungen fort.
Er hatte sich erhoben und war nun zu Fußtritten übergegangen.
Da er jedoch selbst unsicher auf den Beinen stand und torkelte, traf er sie nicht immer.
Ich muss hier fort, war das Einzige, was Gabriella denken konnte.
Sonst bringt mich dieser Verrückte um!
Mühsam gelang es ihr aufzustehen, doch bevor sie davonlaufen konnte, schlug der Mann ihr erneut mit der Faust ins Gesicht. Das Letzte, was sie noch mitbekam, waren zwei junge Frauen, die auf sie zugelaufen kamen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Angreifer fort. Eine der beiden Frauen
– offensichtlich Huren wie sie selbst – wischte Gabriella das Blut aus dem Gesicht.
»Ah, da bist du ja wieder. Erheb dich. Wir müssen auf den Campo, bevor wir auffallen und Gefahr laufen, mit den lästigen Fragen eines Capo behelligt zu werden.«
Die beiden Frauen halfen der verletzten Gabriella auf die Füße, nahmen sie in die Mitte, hakten sie unter und eilten mit ihr die letzten Schritte zum Campo delle Beccarie.
»Wo ist er? Was wollte er von mir?«, keuchte Gabriella, noch immer ein wenig benommen.
»Das wissen wir auch nicht«, antwortete die eine Hure, deren lange schwarze Locken aufgesteckt waren. Und die zweite, die einen dicken geflochtenen Zopf trug, entgegnete: »Der Kerl war voll wie ein Sack. Er konnte keine vernünftigen Antworten mehr auf unsere Fragen geben. Doch nachdem wir ihn ein wenig beruhigt hatten, war er über seine Tat, glaube ich, selbst erschrocken.
Dir war die Kapuze vom Kopf gerutscht, und er kam nicht umhin, dein helles Haar zu bemerken. Er murmelte nur noch etwas von einer Verwechslung und verschwand in der Dunkelheit. Zuvor warf er jedoch das hier auf die Straße.« Bei diesen Worten drückte die junge Frau Gabriella einige Münzen in die Hand. »Vermutlich sind sie als Entschädigung für dich gedacht.«
Die Dirne mit den aufgesteckten Haaren grinste breit. »Es sind neun Piccoli. Geld genug, um uns, als Dank für unsere Hilfe, bei Antonio zu einer heißen Suppe einzuladen, meinst du nicht? Das wird uns allen dreien guttun.«
Gabriella nickte erschöpft. Zwar schmerzte sie jeder Knochen im Leibe, und sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt etwas zu sich nehmen konnte, ließ sich von den beiden Huren aber ohne Widerspruch zu besagtem Antonio führen. Er war der Inhaber einer Taverne, direkt am Campo delle Beccarie und somit nur wenige Schritte entfernt.
Es waren nicht mehr viele Gäste anwesend, und ein freier Tisch war schnell gefunden. Als der Wirt herbeikam, bestellte die Dirne mit dem Zopf, ohne lange zu fragen, drei Minestrone und drei Becher roten Weines. Der Wein und ein Holzteller mit etwas Brot wurden sofort serviert. Hungrig griffen die beiden Huren zu und bissen herzhaft in das Brot, während Gabriella ihren Anteil zerbröckelte und sich vorsichtig eine Krume in den Mund schob.
Irgendwie fühlten sich zwei ihrer Schneidezähne locker an, und die aufgeplatzte Lippe darüber brannte.
Mühsam sagte sie: »Ich bin euch zu größtem Dank verpflichtet.
Ohne euer mutiges Eingreifen hätte dieser Bastard mich vermutlich totgeschlagen.«
»Schon möglich«, antwortete die Dirne mit dem Zopf und seufzte schwer. »Außerhalb des Hurendistrikts sind wir bei Nacht wie Freiwild für die Kerle. Das ist auch einer der Gründe …« Sie unterbrach sich, weil der Wirt in diesem Augenblick die Suppe auftischte.
Aus den hölzernen Schüsseln dampfte und duftete es außerordentlich appetitlich. Für die nächsten Minuten blieb es still am Tisch. Auch Gabriella hatte ihren Hunger wiedergefunden und aß voller Behagen ihre Minestrone, die so dick und cremig war, dass der Holzlöffel förmlich darin stehen blieb. Als alle drei ihre Schüsseln geleert hatten, lächelten sie einander zufrieden an.
»Das hat wahrlich gutgetan«, stellte Gabriella fest. »Es war eine gute Idee von euch, hier einzukehren – obwohl mich die übrigen Gäste schon sehr befremdlich mustern.« Sie sah ihren Begleiterinnen nun offen ins Gesicht. »Sehe ich wirklich so schlimm aus?«
»Ziemlich geschwollen und hübsch bunt«, meinte die Dirne mit den aufgesteckten Haaren. »Aber das geht vorbei, und gebrochen scheint zumindest nichts zu sein. Arbeiten wirst du für ein paar Tage allerdings nicht können«, grinste sie. »Die Freier, denen du schöne Augen machtest, würden schleunigst das Weite suchen.«
Die Verletzte verzog den schmerzenden Mund. »Ohne euch zwei wäre es wahrlich noch schlimmer gekommen. Ach, übrigens, ich heiße Gabriella, und es ist mir eine große Freude, euch kennenzulernen.« Sie hob ihren Becher.
Die beiden Dirnen taten es ihr gleich.
»Ich heiße Sofia«, sagte die mit den aufgesteckten Haaren.
»Und meine Freundin hier hört auf den Namen ›Giulia‹. Wir haben dich schon öfter gesehen. Durch dein blondes Haar bist du im Viertel bekannt wie ein bunter Hund. Leider werden wir nicht viel Zeit haben, unsere Bekanntschaft zu vertiefen. Giulia und ich planen nämlich, Venedig schon bald zu verlassen.«
»Tatsächlich?«, vergewisserte sich Gabriella. »Aber warum denn nur? Natürlich seid auch ihr mir nicht vollkommen fremd, und ich glaube zu wissen, dass ihr beide einen Platz im Castelletto habt. Oder irre ich mich?«
»Nein, das stimmt schon«, entgegnete Sofia gedehnt. »Aber ein Ort der Freude ist das auch nicht gerade. Gewiss, man ist dort sicher und muss sich nicht von einem betrunkenen Freier verprügeln lassen. Aber dieser Schutz will auch teuer bezahlt werden.
Wir müssen Miete und Kostgeld berappen, dann hält der Hausmeister seine Hand auf und natürlich die Capi. Was übrig bleibt, ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.«
»Und darum haben wir uns entschieden«, fuhr Giulia fort,
»Venedig den Rücken zu kehren. Wir haben von einem Ort erzählen gehört, der Konstanz heißt. Dort findet zur Zeit ein Konzil statt, wo sich viele mächtige und reiche Männer treffen und wo die örtlichen Huren gar nicht alle Freier bedienen können. Da gibt es viel Geld zu holen.«
»Der einzige Nachteil ist«, ergänzte Sofia, »dass Konstanz auf der anderen Seite der hohen Berge liegt, die man ›Alpen‹ nennt.
Es ist eine weite und beschwerliche Reise dorthin. Doch wir haben uns bereits erkundigt. Von Verona aus ziehen viele Wagenzüge mit Händlern in den Norden. Bei ihnen kann man eine Reisebeteiligung erstehen. Das ist zwar nicht gerade billig, aber dafür hat man die Möglichkeit, in den drei Wochen, die die Fernfahrt dauert, zu arbeiten. Die Händler haben Geld, sind die Zeit über ohne Frauengesellschaft und sollen sich, wie es heißt, sehr spendabel für ein wenig Abwechslung zeigen.«
Interessiert hatte Gabriella den Ausführungen der beiden Dirnen gelauscht. »Aber wenn die Reise so lang und mühevoll ist, lohnt sich der Aufwand dann überhaupt? Ich meine, wie lange währt so ein Konzil – ein paar Wochen vielleicht, Monate allenfalls.
Und was wollt ihr danach anfangen? Nach Venedig zurückkehren?«
»Um ›das Danach‹ müssen wir uns, wohlhabend wie wir dann sind, keine Sorgen mehr machen«, gab Sofia großspurig zurück.
Gabriella machte große Augen. »So viel Geld gibt es dort zu verdienen? Seid ihr sicher?«
»Aber gewiss doch«, grinste Giulia anzüglich. »Wenn man ein bisschen hübsch ist und sein Handwerk beherrscht, dann schon.«
Gabriella nickte nachdenklich. Wäre dieses Konzil in der fernen Stadt Konstanz vielleicht auch eine Lösung ihrer Probleme?
Laut fragte sie: »Wann gedenkt ihr aufzubrechen?«
Bevor Sofia antwortete, sah sie Giulia fragend an. Die nickte leicht und murmelte: »Ich denke, wir können ihr vertrauen.«
»Nun gut.« Sofia strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatte. »Dazu musst du wissen«, sagte sie mit gesenkter Stimme zu Gabriella, »dass wir dem Castelletto für zwei Jahre im Wort stehen und erst die Hälfte der Zeit vergangen ist. Aus diesem Grund dürfen wir Venedig eigentlich nicht unerlaubt verlassen. Wir haben darum für unsere Abreise den Tag gewählt, an dem unser neuer Doge, Tommaso Mocenigo, vereidigt wird. Zu diesem Anlass müssen, wie du gewiss weißt, die Vorbestraften, zwielichtiges Gesindel und alle Huren Venedig verlassen. Schließlich soll die Stadt rein und aufrichtig sein. Man wird uns also des Morgens mit einem Küstensegler zum Festland, nach Mestre, bringen und am Abend wieder zurück. Auf eben diese Rückreise werden wir jedoch verzichten und statt dessen weiter nach Verona wandern. Der Weg ist lang, und wir werden gewiss drei oder vier Tage dafür benötigen – es sei denn, wir haben Glück und treffen unterwegs auf einen Bauern oder einen Kaufmann, der uns auf seinem Fuhrwerk ein Stück mitfahren lässt. In Verona sammeln sich die Händler, um in einer möglichst großen Gruppe nach Norden und über die Berge zu fahren. Und einem dieser Trosse werden wir uns anschließen.«
Gabriella hatte aufmerksam zugehört. »Und wisst ihr, wie viel man für eine Reisebeteiligung zahlen muss?«
Giulia lachte. »Du bist ganz schön neugierig. Warum willst du das alles …« Sie unterbrach sich und verstand: »Spielst du am Ende mit dem Gedanken, uns zu begleiten?«
Gabriella zögerte mit einer Antwort. Doch dann beschloss sie, Aufrichtigkeit mit Aufrichtigkeit zu begegnen. Leise erzählte sie von der ihr drohenden Vorladung vor das Hohe Inquisitionsgericht. »Ihr wisst selbst, dass man es bei Dirnen wie uns mit der Gerechtigkeit nicht so genau nimmt«, fuhr sie fort. »Und ja, darum könnte diese Reise auch für mich eine Lösung sein – wenn ihr denn einverstanden wärt, dass ich mich euch anschließe.«
»Aber natürlich!«, antworteten die beiden Huren, ohne zu zögern. »Vorausgesetzt natürlich, du hast genug Geld. Vier Grossi wird es kosten, bis Konstanz zu kommen. Darin ist alles enthalten, Verpflegung und Übernachtung eingeschlossen. Und wie gesagt, das Geld kann man sich zurückholen, wenn man ausreichend freundlich zu den Händlern ist. Aber zunächst muss man die Summe natürlich auf den Tisch legen. Für uns haben wir das Geld schon beisammen. Wie steht es mit dir? Aushelfen können wir dir nämlich nicht.«
Gabriella wehrte ab. »Oh nein, das würde ich auch niemals erwarten. Ich könnte mein kleines Häuschen verkaufen, das ich von meiner Großmutter geerbt habe. Es gibt auch bereits einen Interessenten, der mir einen guten Preis zahlen will. Bisher habe ich gezögert. Zwar weiß ich, dass es gewiss klüger ist, Venedig zu verlassen, aber die Entscheidung, alles aufzugeben, das mir lieb und teuer ist, fällt mir schon schwer. Außerdem hatte ich bislang keinen Plan, wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Doch nun denke ich, dass eine Reise nach Konstanz auch für mich nicht die schlechteste Lösung ist. Wann wird denn die Vereidigung des Dogen erfolgen?«
Sofia zuckte mit den Schultern. »In etwa einer Woche, denke ich. Die Vorbereitungen zu dem Festakt sind bereits alle getroffen.
Nun wird nur noch auf den durchlauchtigsten Mocenigo gewartet, der derzeit nicht in Venedig weilt. Wie es heißt, soll er jedoch bereits in wenigen Tagen eintreffen.«
Gabriella plante ihre Reise sorgfältig. Der Verkauf des Häuschens erfolgte problemlos. Sie bekam das Geld ausgezahlt, durfte sogar noch einige Tage in der Kate wohnen bleiben – bis zu ihrer Abreise, von der sie selbst ihrer alten Nachbarin nichts erzählte.
Die Sorge, dass das Hohe Inquisitionsgericht sie doch noch zu ihrem Prozess abholen würde, steigerte sich mit jedem Tag. Gabriella lebte daher sehr zurückgezogen. Auf keinen Fall wollte sie auffallen. Arbeiten konnte sie ohnehin nicht, da die Verletzungen nur langsam abheilten. Sie verließ das Haus lediglich zum Einkaufen. Ein neues Kleid erstand sie und einen wollenen Umhang mit Kapuze, der gut wärmte und den man des Nachts als Zudecke nutzen konnte. Gewiss würde es in den Bergen schon recht kühl werden. Den Großteil ihres Geldes nähte sie sorgfältig in den Saum dieses Umhangs ein. Die vier Grossi, die sie benötigte, um die Passage über die Alpen zu zahlen, wurden in einer geheimen Tasche des Kleides verborgen, die sie selbst anfertigte. In ihren Geldbeutel, den sie wie üblich am Gürtel trug, wanderten lediglich ein paar Piccoli für den täglichen Bedarf.
Einen Tag vor der feierlichen Vereidigung des Dogen packte Gabriella ihr Bündel. Viel war es nicht, was sie mitnehmen wollte
– zum einen, weil es bequemer war, mit leichtem Gepäck zu reisen, zum anderen, weil ein großes Bündel am Ende aufgefallen wäre –, schließlich befand sie sich auf der Flucht vor der Obrigkeit.
Ein Brustband, ein Unterkleid aus Leinen, ihr altes, sorgsam geflicktes Kleid, eine Gugel und zwei Paar noch von ihrer Nonna gestrickte Strümpfe, das war alles, was Gabriella einpackte. Nur der schwere Umhang ließ sich nicht im Bündel unterbringen. Ihn zu tragen, würde bei dem milden Wetter aber auffallen, also rollte sie ihn kurzerhand zusammen und versah ihn mit einem Gurt. So würde sie ihn, ebenso wie den ledernen Trinkschlauch, über der Schulter mit sich führen können. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit ihrem Gepäck, das letzlich doch zu umfangreich für die wenigen Stunden war, die sie aus Venedig verbannt wurden, keine 35
Aufmerksamkeit erregte. Ein wenig Mundvorrat – Brot, Speck und Käse – würde sie am nächsten Morgen kaufen.
Als alles beisammen war, setzte Gabriella sich ein letztes Mal in ihr Gärtlein. Der Abschied schmerzte, Tränen brannten in ihren Augen, doch sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab.
Venedig, »la Serenissima«, hatte sich für diesen Festtag besonders glanzvoll herausgeputzt. Farbenprächtige Tuchbahnen hingen aus Fenstern und von Balkonen, und die Türme und Giebel waren mit Fahnen und Bannern geschmückt. In den Straßen der Stadt feierten die Menschen schon seit Sonnenaufgang. Auf der Piazza San Marco wurde bereits Aufstellung zur feierlichen Prozession genommen. Und an der Mole vor der Löwensäule lag der goldglitzernde Bucintoro bereit, das doppelstöckige Ruderschiff, das den Dogen zu seiner traditionellen »Vermählung mit dem Meer« am Lido vorbei in die offene Adria bringen sollte.
Die Vereidigung eines neuen Dogen, die Promissione Ducale, enthielt nicht nur den Treueschwur zur Republik Venedig, sondern zugleich eine Reihe von Versprechungen: aufrecht und unparteiisch zu regieren und zu beschließen, die Geheimnisse des Staates zu wahren, keinen direkten Briefwechsel mit ausländischen Fürsten zu führen oder sich nicht in die Wahl des Patriarchen von Venedig einzumischen.
Da die feierliche Promissione Ducale nicht durch die Anwesenheit anrüchiger Venezianer gestört werden durfte, mussten die betroffenen Personen in dieser Zeit das Zentrum der Stadt verlassen und wurden auf das Festland gebracht. Zu den schimpflichen Personen gehörten unter anderem die Huren, die sich am Tag der Vereidigung morgens, in aller Frühe, an der Mole des Stadtteils Santa Croce einfanden, um mit Barken fortgeschafft zu werden. Der Hafendamm war auch der Treffpunkt der drei Dirnen Gabriella, Sofia und Giulia, die beabsichtigten, Venedig nicht nur vorübergehend, sondern für immer zu verlassen.
Die eintägige Ausquartierung der Verfemten verlief ohne Zwischenfälle. Doch während die Huren, ihre Kuppler und andere Sünder sich rund um den Kai am Canal Salso in Mestre niederließen, um auf ihre Rückführung zu warten, wanderten Gabriella, Sofia und Giulia die hohe, zinnenbewehrte Stadtmauer entlang.
Das erste Tor wollten sie nehmen, um auf die Landstraße nach Padova zu gelangen. Doch noch wussten sie nicht, ob die Wachen sie einfach, ohne Fragen zu stellen, passieren lassen würden.
»Hast du eine Kopfbedeckung?« Fragend sah Sofia die neben ihr gehende Gabriella an. »Wir sollten, wenn wir das Tor passieren, so wenig wie möglich auffallen; und du weißt ja, eine Frau ohne Haube oder Schleier gilt als liederlich und würde nur die Aufmerksamkeit der Wächter erregen.«
»Ich habe meine Gugel«, entgegnete Gabriella. »Die wird ja wohl ausreichen.«
Sofia schüttelte den Kopf. »Für eine Gugel ist es viel zu warm.
Daher würde auch sie auffallen. Eine schlichte Leinenhaube wäre am besten. Ich habe eine, aber die benötige ich natürlich selbst.«
Prüfend sah sie die Straße entlang, doch es wäre gewiss zu viel des Zufalls gewesen, wenn sich ausgerechnet in der ruhigen Gasse an der Stadtmauer das Nasenschild eines Schneiders oder Hutmachers aufgetan hätte. Überhaupt schien es hier nur einen Händler zu geben – einen Riemer, der gerade seinen Verkaufskarren vor seine Werkstatt zog und Sofia damit auf eine ganz andere Idee brachte.
»Ich besitze auch nur eine einzige Haube«, ließ sich Giulia nun vernehmen. »Aber ich habe zudem einen Schleier in meinem Bündel. Weißt du ihn zu winden?«
Gabriella schüttelte den Kopf. »Ich habe nie einen Schleier getragen. Schließlich ist er nur verheirateten Frauen vorbehalten.
Ich weiß gar nicht, ob Dirnen, wie wir es sind, sich überhaupt verschleiern dürfen.«
Giulia lachte. »Ich glaube nicht. Aber wer A sagt, muss auch B