Die Hunde fliegen tief - Alek Popov - E-Book

Die Hunde fliegen tief E-Book

Alek Popov

4,5

Beschreibung

Vom Hundeausführer zum Millionär, vom Millionär zum Aussteiger: Zwei Brüder aus Bulgarien suchen ihr Glück in Amerika und finden immerhin die Asche ihres Vaters. EINE SCHWARZE SCHACHTEL VOLL ASCHE, das ist alles, was Ned und Ango, den ungleichen Brüdern aus Bulgarien, von ihrem Vater geblieben ist. 15 Jahre ist es nun her, dass er, ein Mathematiker zwischen Genie und Wahnsinn, als Gastprofessor in Amerika unter rätselhaften Umständen zu Tode gekommen ist. Jeder der beiden Söhne lebt inzwischen sein eigenes Leben, und der Vater ist längst nur mehr ein Gespenst. Bis sich die Wege der Brüder fern der Heimat in New York wieder kreuzen: Ned, der Tunichtgut, hat es bis in die Top-Etagen der Wall Street geschafft, während der smarte Ango im Central Park mit den Hunden reicher Snobs Gassi geht. Doch dann wendet sich das Blatt, und der Geist des Vaters ist plötzlich wieder lebendig. Mehr jedenfalls, als den beiden lieb ist … Alek Popov räumt mit alten Märchen auf: Sein neuer Roman, in Bulgarien wochenlang Top 1 auf den Bestseller-Listen, ist eine Satire auf die Goldgräber im Westen wie im Osten, auf die Glückssehnsucht der Erfolgreichen wie der Underdogs und auf die falschen Bilder, die wir voneinander haben, sobald uns eine Welt trennt. Ost oder West, oben oder unten, tot oder lebendig: Lasst uns Brüder sein! Rasant, witzig und verdammt bissig: Wau!

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Alek Popov

Die Hunde fliegen tief

Roman

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4472-5

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-1492-6

Inhalt

PROLOG

1. NED

2. ANGO

3. NED

4. ANGO

5. NED

6. ANGO

7. NED

8. ANGO

9. NED

10. ANGO

11. NED

12. ANGO

13. NED

14. ANGO

15. NED

16. ANGO

17. NED

18. ANGO

19. NED

20. ANGO

21. NED

22. ANGO

23. NED

24. ANGO

25. NED

26. ANGO

27. NED

28. ANGO

29. NED

30. ANGO

31. NED

32. ANGO

33. DIANE

34. NED

35. ANGO

36. NED

37. ANGO

38. NED

39. ANGO

40. NED

41. ANGO

42. NED

43. ANGO

44. NED

EPILOG

Für die Fertigstellung dieses Buches bin ich vor allem meinem Bruder und meiner Mutter dankbar, die hinter mir gestanden sind, während ich daran arbeitete, besonders aber für das Verständnis und den Großmut, mit dem sie es angenommen haben. Speziellen Dank schulde ich auch KulturKontakt Austria und dem Zentrum für Schriftsteller und Übersetzer auf Rhodos für die Unterstützung und die Gastfreundschaft, die sie mir während dieser Jahre erwiesen haben, wie auch allen Freunden, die mich dazu ermutigt haben, in Augenblicken von Verzweiflung und Ausweglosigkeit nicht aufzugeben.

Der Autor

PROLOG

Ich kann nicht glauben, dass sich mein Vater in der schwarzen Plastikschachtel befinden soll, die uns soeben vom Zollamt zugestellt worden ist. Es kann nicht sein. Die Schachtel steht auf dem Tisch im Wohnzimmer und die Blicke aller ruhen auf ihr. Tiefe Erschütterung! Ich weiß nicht genau, was sie erwartet haben. Es ist eine Schachtel wie jede andere, eine Verpackung. Ich hebe sie an, sie ist richtig schwer. An einer Ecke rieselt ein wenig schwarzer Staub heraus. Die Asche meines Vaters, nehme ich an. Ich wische sie mit dem Finger auf, rieche daran. Ich bin versucht, an meinem Finger zu lecken, merke aber, dass man mich mit wachsender Missbilligung anstarrt. Auf dem Deckel steht in kleinen Buchstaben der Name meines Vaters.

Es könnte auch jeder andere Name sein …

Dann werden plötzlich alle hektisch, eine Tischdecke wird aufgebreitet, ein Bild des Verstorbenen ausgesucht, Blumen werden dazugestellt, Kerzen angezündet, noch ein paar Pralinen und der kleine Hausaltar ist fertig. In der Folge gesellen sich immer neue Gegenstände hinzu: eine Ikone, ein Kreuz, Vaters Bücher, irgendein Diplom, eine Medaille. Meine Großmutter legt Wert darauf, das gesellschaftliche Ansehen meines Vaters zu unterstreichen. Meine Mutter ist geschäftig, scheinbar energisch und auf irgendwelche Nebensächlichkeiten konzentriert, doch in Wahrheit irrt sie im Jenseits umher. Sie versucht, den dichten Nebel zu durchdringen, der die Lebenden von den Toten trennt … Leute kommen zu Besuch; sie betrachten die schwarze Schachtel und schütteln die Köpfe. Alles ist so unerwartet. Gestern noch haben sie miteinander getrunken, heute ist er schon nicht mehr da.

Der Tod meines Vaters ist aus vielerlei Gründen schockierend. Erstens, er war noch sehr jung, kaum fünfzig Jahre alt. Zweitens, er war mit einem brillanten Verstand gesegnet, der für die Wissenschaft nun unwiederbringlich verloren scheint. Drittens, das Unglück geschah am Arsch der Welt, in Amerika, und das lässt uns noch hilfloser zurück. Viertens, niemand weiß genau, wie es passiert ist, was dem Vorfall eine unheilvolle Note gibt und allerlei absurde Gerüchte nährt. Fünftens, solche Ereignisse sind prinzipiell tragisch. Sechstens, wahrscheinlich gibt es noch einen Haufen anderer Gründe, auf die ich im Augenblick überhaupt nicht komme.

Es ist fast ein Jahr her, seit der Kommunismus zusammengebrochen ist.

Ich habe geahnt, dass ihm etwas in der Art zustoßen würde, früher oder später, wenn er so weitermachte … Ich rede von meinem Vater und seiner Trinkerei. Er machte weiter, als ginge es um die Weltmeisterschaft im Saufen, und wir konnten nichts weiter tun, als ihm die Daumen zu drücken. Ich habe keine Ahnung, was er in der restlichen Zeit beweisen wollte. All diese Integrale, Algorithmen und Theoreme, die er auskotzte – ich verstand davon nicht das Geringste. Die exakten Wissenschaften haben mich nie angezogen. Im Gymnasium war ich erschreckend schlecht in Mathematik. Ich kann auch nicht behaupten, dass er mich in besonderem Maße unterstützt hätte, er bedauerte mich vielmehr … Ich bedauerte ihn meinerseits, und zwar dafür, dass er unter einem Zwang stand, sich mit dieser undankbaren Materie zu beschäftigen; weil wir – ich, der ich so schlecht war, und er, der so genial war – uns paradoxerweise in derselben Lage befanden. Es spielt keine Rolle, wie lange eine Gleichung ist, wenn du sie nicht lösen kannst, und während ich nicht im Traum daran dachte, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, war es für ihn eine Frage auf Leben und Tod. Diese verfluchten Integrale sehen aus wie Angelhaken: Hast du erst einmal einen geschluckt, bist du geliefert. Ich frage mich, wer diese Angelruten auswirft, um die Karpfen aus dem Tümpel zu holen, den man Wissenschaft nennt?

Und da ist auch schon mein Bruder: Nedko, eine unförmige Briefträgertasche über die Schulter geworfen. Letztes Jahr ist er an der Aufnahmeprüfung für die Universität gescheitert, und aufgrund irgendeines dämlichen Gesetzes muss er sich jetzt ein halbes Jahr plagen, wenn er neuerlich antreten will. Der Staat sorgt eben dafür, dass sich die jungen Leute nicht ohne Arbeit herumtreiben. Ich habe den Verdacht, dass es nicht lange braucht, bis sich das wieder ändert. Im Moment gibt es allerdings keine Alternative.

Ich sage zu ihm: »Wir haben ein Paket aus Amerika bekommen.«

Nedko blinzelt verdutzt, starrt auf die schwarze Schachtel und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Die Arbeit bei der Post hat ihn zum Zyniker gemacht: Seine Tasche quillt über von Briefen, Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Empfänger nicht so bald erreichen werden, jede Wette. Durch ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen ist Nedko auch für unser Viertel zuständig. Deshalb haben wir die Benachrichtigung über das traurige Paket auch mit zweiwöchiger Verspätung erhalten.

Nedko versucht, sich bei mir einzuschmeicheln, indem er mir die letzte Ausgabe von Ogonek zuschiebt, die progressivste sowjetische Zeitschrift im Moment, in der sich regelmäßig Enthüllungen finden, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Mir ist jetzt freilich nicht nach Pikanterien mit stalinistischer Note. Ich betrachte die Schachtel und denke: Woher zum Teufel soll ich wissen, ob das tatsächlich die Asche meines Vaters ist? Oder nur die irgendeines Herumtreibers? Es ist völlig unmöglich! Ich teile Nedko meinen Verdacht mit, mein Bruder zuckt nur mit den Schultern.

»Wie bist du nur auf den Unsinn gekommen?«

Wie? Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um sich das vorzustellen, aber Nedko hat offenbar überhaupt keine Phantasie. Die Überführung der Leiche aus den USA nach Bulgarien hätte 2000 Dollar gekostet – eine Summe, die wir nie im Leben hätten aufbringen können. Die Versicherungsgesellschaft hat so getan, als ginge sie das alles nichts an. Die Universität zeigte sich knickrig. Die bulgarische Botschaft weigerte sich ebenfalls, für die Repatriierung in die Tasche zu greifen. So blieb als letzter Ausweg nur die Einäscherung. Mein Vater war Atheist, deshalb nahmen wir an, dass er nichts dagegen haben würde. Seine Asche wurde wie ein gewöhnliches Paket befördert.

Ein Paket aus Amerika.

»Das hast du schon gesagt.« Mein Bruder macht ein finsteres Gesicht.

»Es gibt eine Erzählung, die so heißt«, fahre ich fort. »Von Svetoslav Minkov.«

Sie ist in einem Sammelband mit Satiren aus den fünfziger Jahren erschienen und nimmt den Bourgeois und seine Werte aufs Korn. Eine Familie von Spießbürgern hat Verwandtschaft in den Staaten, die regelmäßig Pakete schickt. Die Waren von jenseits des Ozeans rufen unbeschreibliche Begeisterung hervor und geben Anlass zu endlosen Lobgesängen, wie großartig der Westen sei und wie verlottert die heimische Leichtindustrie. Eines Tages jedoch erreicht sie eine ungewöhnliche Sendung: Das Paket enthält eine versiegelte Metallschachtel ohne Aufschrift. Als sie sie öffnen, entdecken sie ein rätselhaftes graues Pulver, wie Staub. Sie setzen sich zusammen und grübeln: Was ist das wohl und wozu mag es gut sein? Schließlich überwindet sich der Vater und schüttet ein Löffelchen davon in seinen Kaffee. Das Pulver wirkt wie ein Tonikum, und sie kommen zu dem Schluss, dass es sich um irgendwelche Vitamine handeln muss. Sie beginnen, es zum Frühstück einzunehmen, und stoßen bald auf eine ganze Menge anderer Anwendungsmöglichkeiten. Als die wundertätige Droge zur Neige geht, beschließen sie, ihren Verwandten zu schreiben, damit sie ihnen davon noch mehr schicken. Doch dann erhalten sie einen Brief; er hätte zusammen mit dem Paket zugestellt werden sollen, doch offenbar war er in die Tasche eines Briefträgers geraten, der mein Bruder hätte sein können … Die Verwandten teilen ihnen darin mit, dass ihre Tante gestorben sei und dass sie ihnen ihre Asche schickten, damit sie in Bulgarien beerdigt werden könne. Damit hört die Familie auf, den Westen über den grünen Klee zu loben.

»Gefinkelt«, sagt mein Bruder.

Wenn ein Flugzeug abstürzt, suchen erst mal alle nach der Black Box. Darin werden Daten über die Navigation, den technischen Zustand der Systeme, die Gespräche der Besatzung, die Anweisungen des Kapitäns und so weiter gespeichert. Dieses Gerät, auch flight recovery genannt, erlaubt einem, die Ereignisse an Bord unmittelbar vor dem Absturz zu rekonstruieren und die Gründe zu verstehen, die dazu geführt haben. Die Black Box, in der mein Vater zurückkehrte, enthält nichts dergleichen: Die Information ist gelöscht, zu Staub zerfallen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn kaum gekannt habe: Ich habe nicht verstanden, womit er sich beschäftigte. Ich habe seine Trinkerei verachtet. Ich habe vor seinem Zorn gezittert. Ich habe mich gefreut, wenn er verreisen musste. Ich hatte Angst, er könnte nicht wiederkehren – und so geschah es dann auch.

Eine Erinnerung erreicht mich aus meinem Gedächtnis wie eine Ansichtskarte aus dem Jenseits. Ein breiter Strand, auf der einen Seite reihen sich Hotels und Palmen aneinander, auf der anderen schwappt der Atlantik ans Ufer, trübe und bedrohlich. Am Himmel schwimmt ein Reklamezeppelin und zieht ein riesiges Transparent mit der Aufschrift »Myrtle Beach« hinter sich her. Wir befinden uns in Amerika, es muss das Jahr 1986 sein. Mein Vater sollte für zwei Semester an der Universität von South Carolina unterrichten und die staatliche Großzügigkeit erlaubte es ihm, seine Familie mitzunehmen. Ich war Student im dritten Semester und interessierte mich lebhaft dafür, ob es nicht Möglichkeiten gab zu bleiben. Des Prinzips wegen, weniger, weil es mir so gut gefiel … Mein Vater war nicht geneigt zu bleiben. Wir unterhalten uns am Strand darüber; es ist das einzige ernsthafte Gespräch, das wir je miteinander geführt haben. Ich kann mich nicht mehr genau an seine Worte erinnern, die Brandung hat den Großteil von ihnen verschluckt. Meine Mutter und mein Bruder gehen in einiger Entfernung vor uns. Verträumt betrachte ich unsere Schatten, die einer neben dem anderen über den Sand wandern. Er ist ein Mannsbild, vollschlank, mit einem großen Kopf und kurz geschnittenem Haar. Sein Gürtel spannt sich über die Mitte seines Bauches, es wirkt komisch. Ich bin hager, habe eine zerzauste, unförmige Frisur. Meine Hosen hängen mir fast in den Kniekehlen, es ist beinahe nicht mehr anständig. Zwei Tagen zuvor habe ich auf MTV jemanden in solchen Hosen gesehen, und ich fand sie sehr chic. Mein Vater versucht mir zu erklären, warum er nicht will, dass wir in Amerika bleiben. Nicht, dass wir nicht könnten, und nicht, dass es ihm nicht auch schon in den Sinn gekommen wäre, aber es gebe Dinge, die wichtiger sind als volle Supermarktregale. Respekt zum Beispiel … Ein Mensch muss an seinem Platz etwas bedeuten, der Immigrant aber bleibt für immer ein Immigrant. Selbst hier, in Amerika. Jetzt akzeptiert man ihn als gleichwertig, aber sobald er beschließen würde zu bleiben, würde sich das ändern. Ich weiß, es ist schwierig zu verstehen, sagt er und legt eine Hand auf meine Schulter. (Oder auch nicht, ich kann mich nicht mehr erinnern.) Seine Argumente erreichen mein Gehirn in tausend Teilen. Eigentlich ist es mir gar nicht so wichtig, ob wir bleiben, Hauptsache, man hat mehr als eine Option, fährt er fort. Die Möglichkeit, nein zu sagen. Ein Immigrant kann nicht nein sagen. Danach spricht er von seinen Studenten in Bulgarien – den »Jungs«, wie er sie nennt. Es wäre nicht dasselbe ohne seine Jungs … Natürlich, er könnte es auf das Regime schieben, und alle würden ihn verstehen. Seine Beziehung zu den Kommunisten sei nie einfach gewesen, aber er habe doch trotz des Regimes alles erreicht, was er ist, und das mache seinen Erfolg doch noch bedeutender. Außerdem, Regimes ändern sich … Ich höre, wie er den Namen eines sowjetischen Leaders sagt, Gorbatschow, aber meine ganze Aufmerksamkeit gilt einem Mädchen mit einem Ring im Bauchnabel. Es ist das erste Mal, dass ich so ein Wunderding sehe. Das Piercing funkelt wie tausend Sterne auf ihrem leicht gewölbten Bäuchlein. Meine Kinnlade kippt mir bis zu den Knien. Ich spüre, wie ich 100 000 Jahre in der Evolution zurückgeworfen werde. Gorbatschow? Perestroika?

Mein Vater bemerkt davon nichts.

Mann, hättest du damals diesen Bauchnabelring gesehen, denke ich, dann wärst du jetzt vielleicht nicht in dieser verfluchten Schachtel. Das Leben besteht nicht nur aus Integralen, Hypotenusen und Wodka. Aber es ist zu spät, um meinem Vater Verstand einzutrichtern. Es ist zu spät, um ihn kennen zu lernen. Nicht einmal mehr ein Bier können wir miteinander trinken! Was vorbei ist, ist vorbei. Er ist in seiner Schachtel, er hat es sich bequem eingerichtet und nichts kümmert ihn mehr. Ich meine – seine Asche. Was seine Seele angeht – keine Ahnung. Vielleicht streift sie durch Amerika, auf einer unsichtbaren Harley, und heult vor Freude.

»Ich bin entkommen! Fuck! Fuck! Fuck!«

Wir aber bleiben zurück – im einen wie im anderen Sinn. Und obendrein weigert sich die Versicherungsgesellschaft, das Geld auszubezahlen. Sie bestehen auf einer DNS-Analyse. Nur – der Leichnam ist bereits eingeäschert. Die Mistkerle haben wohl damit gerechnet, dass wir weit genug weg sind und praktisch nichts unternehmen können. Damit gehen uns zirka 100 000 Dollar durch die Lappen.

Das ist fünfzehn Jahre her.

1. NED

But there is no need to worry,This is just a vacation,It’s not permanent leaving …

Sun Towns, Animal Collective

Eine dunkle, enge Zelle, ich sitze mit angezogenen Knien. Die Wände sind offenbar nicht besonders dick, allerlei Geräusche erreichen mich durch sie hindurch: Rascheln, Knacken, Hämmern, Vibrationen, Stimmen, Melodien. Als befände ich mich in einem alten Radioapparat, den jemand vergeblich auf einen Sender einzustellen versucht. Ich weiß nicht genau, wann mir das Wort »Zuflucht« in den Sinn gekommen ist, damals oder jetzt, wo ich versuche zu verstehen, was geschehen ist. Ob es nun eine Schachtel ist oder der Bauch des Walfisches, der seinerzeit den heiligen Jonas verschluckt hat, ich bin jedenfalls, so viel ist sicher, drinnen. Ich höre leise Schritte. Jemand klopft an die Wand, nicht grob, ganz vorsichtig, so als wollte er in Erfahrung bringen, ob da jemand ist. »Ich bin hier!« Ich bilde mir ein, das zur Antwort gerufen zu haben, aber niemand kann mich hören. Vielleicht habe ich auch gar nichts geantwortet, weil mir nicht gerade danach ist, lange Erklärungen abzugeben. Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du hier?

Ich schulde niemandem eine Erklärung!

Ein Schaukeln. Was immer es sein mag, scheinbar haben sie meine »Zuflucht« aufgehoben, um mich darin irgendwohin zu tragen. Das Geräusch von sich brechenden Wellen … Ich habe keine Angst. Sie laden mich auf einen Lastwagen um. Der Boden bebt … Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf komme, aber vielleicht schicken sie mich wie ein Päckchen an meine Mutter. Sie weiß nicht, was sich darin befindet, versucht, es zu öffnen, schafft es nicht, gerät in Wut, nimmt eine Schere, stößt sie in den Karton und sticht mir damit genau ins Herz. Ich stelle mir vor, dass nicht ich es bin, der sich im Päckchen befindet, nicht leibhaftig, sondern nur als Puppe. Ich lächle. Ein kleiner Scherz … Aus der Fahrerkabine erreicht mich Musik.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich es nicht eilig. Es ist bequem, trotz der Enge. Die Dunkelheit wirkt beruhigend. Ich habe keine Wünsche, auch keine Bedürfnisse, die sich benennen ließen. Und keine Gedanken an Gott weiß was … Mir ist nicht langweilig, obwohl ich nichts zu tun habe. Ich könnte eine Ewigkeit hier drinnen bleiben. Und vielleicht ist das ja auch die Ewigkeit?

»Pepino, cariño! Las tonterias que me haces hacer! Si nos descubren, los dos estaremos en grandes aprietos!«

Der weiße Kittel entfaltet sich wie eine Blüte. Aus dem Spalt, der sich öffnet, quillt ein voller, goldbrauner Busen mit harten Brustwarzen, der von einem knappen BH im Zaum gehalten wird. Über ihrer Schulter schaut ein bärtiges Gesicht mit einem Wachstuchmützchen für Chirurgen hervor und saugt sich an ihrem nackten Hals fest.

»Eres tan linda, Anastasia!«

Die starken, behaarten Hände gleiten über ihre Taille und beginnen, den Kittel von unten aufzuknöpfen.

»Que diablito eres!«

Die geraden Linien ihrer Schenkel schneiden sich im Dreieck ihres knappen Slips. Seine Hand macht sich darin zu schaffen und dehnt den Stoff ohne jede Rücksicht. Ein Streifen spitzer Borsten zeigt sich darunter und eine kleine indigofarbene Tätowierung.

»Pepino! Se ha parado!!«

Die beiden Hälften des Kittels werden abrupt zusammengezogen.

»Por supuesto que se me ha parado! Siempre se para cuando estas cerca!«

»El tuyo no tonto!« Ihr Finger zeigt auf die Wölbung im Betttuch, die sich unterhalb meines Bauchs gebildet hat. »El suyo! Esta enderezado! Tiene erección!«

Das einzige Wort, das ich verstehe.

Die beiden rennen aus dem Zimmer. Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich starre immer noch auf die idiotische Wölbung unter der Decke und bemühe mich festzustellen, in welcher Beziehung sie zu mir steht. Ist das mein Körper? Ich würde in meiner Panik am liebsten wieder in die »Zuflucht« zurückkehren und den Deckel mit einem Knall hinter mir zuschlagen, aber sie existiert nicht mehr. Ich bin draußen. Ausgeworfen, ausgespuckt, ausgekotzt …

Auf dem Korridor erklingen aufgeregte Stimmen, dann ist es wieder still. Die Tür geht auf, ein kleiner, älterer Mann mit scheckigem, verfilztem Bart betritt das Zimmer. Hinter ihm schleichen sich auf Zehenspitzen noch ein paar andere Silhouetten herein.

»Welcome, Ned!« Seine gelblichen Augen beobachten mich aufmerksam. »Don’t say anything. If you hear me, just nod.«

Was sagt er? … Ich verstehe kein Wort. Ich blinzle dümmlich.

»Wonderful! I am Doctor Goldenthal. You must be worried where you are? You are at Old Creek Hospital. You were unconscious for a long time.«

Er bemüht sich, klar und verständlich zu sprechen, aber das ändert nichts. Ich verstehe lediglich, dass er Goldenthal heißt. Offenbar befinde ich mich in einem Krankenhaus. Seit wann? … Ich spüre, wie mein Bewusstsein, das eben erst erwacht ist, von Panik befallen wird.

»Wo ist mein Bruder?«, röchle ich.

»What?« Er reißt die Augen auf. »What did you say?«

»Maybe something in his native language?«, meldet sich eine Frauenstimme.

»Angel! Mein Bruder Angel …«, stammle ich mit eingerostetem Mundwerk.

»Some angel …«

»He speaks about his brother, Angel«, mischt sich ein Dritter ein. »We must call him!«

»Okay«, nickt der ältere Mann und fasst meine Hand. »Take it easy, man. Angel will come soon. You understand? Angel will come very soon. Don’t worry!«

Mein bestes Stück steht immer noch unter der Bettdecke stramm und inzwischen besteht auch kein Zweifel mehr, dass es ein Teil von mir ist. Sie tun so, als bemerkten sie es gar nicht, dabei sind ihre Augen ausnahmslos darauf gerichtet. Am Ende verplappert sich jemand und lässt eine Bemerkung darüber fallen, zumindest schließe ich das aus den Blicken und dem schmutzigen Kichern, das darauf folgt. Goldenthal unterbricht ihr Lachen mit einer zornigen Replik. Sie verlassen den Raum. Meine Erektion fällt in sich zusammen.

Ich versuche, auch mit den anderen Teilen meines Körpers eine Verbindung herzustellen. Ich lausche auf die Geräusche, die von innen kommen – der langsame, verschlafene Rhythmus des Blutes, der weit entfernte Schlag des Herzens und das träge Blubbern der Gedärme –, aber es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und sie entschwinden. Es wird wieder so still, als wäre ich mit Watte ausgestopft. Auf dem Bildschirm meines Gedächtnisses flammen die dicken, sich verzweigenden Venen der Blitze auf …

»Bruderherz, willkommen!«, erreicht mich eine muntere Stimme.

Während er auf mich zugeht, erkenne ich, wenn auch nur undeutlich, dass in meiner Abwesenheit irgendetwas passiert sein muss. Vielleicht liegt es an seiner Kleidung? Diese helle Hose mit der scharfen Bügelfalte, das blau karierte Hemd und das weiße T-Shirt darunter … Ango, der sich immer so nachlässig gekleidet hatte! Die Haare kurz geschnitten, mit blanken Ohren und rosigen, glatt rasierten Wangen, so als hätte er in den letzten zehn Jahren nichts anderes getrunken als Milch. Seine Nasenlöcher sind frisch enthaart. Aber es ist nicht nur das, seine ganze Ausstrahlung hat sich verändert. Sie ist leuchtender, und irgendwie auch kühler. Er zieht den Stuhl von der Wand heran und setzt sich neben das Kopfende meines Bettes.

»Willkommen! Ich habe immer daran geglaubt, dass du zurückkehren würdest.«

Er nimmt meine Hand. Sein Gesicht ist rot und über seine Schläfen kriechen kleine Rinnsale von Schweiß. Offensichtlich ist er gerannt.

»Du wirst schon wieder. Ganz easy …«

»Bitte?« Ich blinzle.

»Hast du wirklich dein Englisch vergessen? Der Arzt hat mich vorgewarnt. Es sei keine Seltenheit nach einem langen Koma. Aber es gebe Hoffnung, dass es von alleine wiederkommt. Im Extremfall wirst du es wieder lernen. Es ist keine schwierige Sprache …«

»Wie lange?«, unterbreche ich ihn.

Eine Minute verstreicht.

»Ein Jahr, neun Monate und dreizehn Tage.«

Hinter dem Fenster erstreckt sich eine akkurat gemähte Wiese, übersät mit Rasensprengern, deren Geräusch an einen Chor verschnupfter Grillen erinnert. Ihre Strahlen kreuzen einander und sprühen Wasserstaub über den Rasen. Darüber bilden sich häufig Regenbogen. Old Creek ist eine renommierte Klinik in New Rochelle, mit der meine Versicherungsgesellschaft einen Vertrag hat. Ich werde einem intensiven Rehabilitationsprogramm unterzogen. Jeden Tag, morgens und am Nachmittag, mache ich Bewegungsübungen mit einem Kinesiotherapeuten. Das Programm schließt Wasser- und Rückenmassagen ein, was ich sehr schätze. Das Essen, das ich bekomme, wird mehr und immer vielfältiger. Ich erlange meine physische Form schnell wieder zurück. Das kann man von der Sprache schwerlich behaupten, trotz aller Bemühungen von Dr. Ming, der Spezialistin auf dem Gebiet der Wiederherstellung von sprachlichen Fertigkeiten nach schweren Traumata. Die englischen Wörter finden nur langsam in mein Gedächtnis zurück: ungeordnet, planlos, scheu, fremder als je zuvor. Gleichsam mit einem Schlag aus meinem Kopf herausgeschüttelt, sind sie noch immer auf der Suche nach ihren angestammten Plätzen. Ich greife nach einem Wort und erwische ein anderes … Ein endloses, qualvolles Kreuzworträtsel. Aber Dr. Ming gibt nicht auf.

»Verstehst du, was ich sage, Ned?« Sie lächelt unter ihrer dünnen Brille. Das klassische Produkt einer Mischehe: feine asiatische Züge, ein bleicher, matter Teint und eine tadellose Aussprache.

Ich nicke. Verstehen ist kein Problem.

»Aber ich markiere schwer …«, stammle ich.

»Ich nehme an, du meinst ›artikuliere‹?« Sie zieht die Augenbrauen hoch.

»Ja, ja. Ich habe einen Akzent.«

»Denk jetzt nicht an den Akzent! Sprich einfach!«

»Kann ich etwas … etwas Medizinisches fragen?«

»Natürlich, nur zu!«

»Ich möchte mich … schon im Voraus … entschuldigen.«

»Kein Problem, es geht doch um Medizin?«

»Wie lange kann ein Mann … in einer Frau … stehen bleiben?«

»Wie bitte?«

Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.

»Ich bedaure das Akzent …« Ich zeige es mit den Händen. »Wenn Sie Sex haben … und Sie plötzlich …« – ich balle die Faust – »…. und er kann nicht wieder raus.«

»Das nennt man Vaginismus«, informiert sie mich sachlich.

»Genau! Wie lange hält er an?«

»Ein, zwei, drei Minuten …«

»Nicht länger! Und kann es auch die ganze Nacht dauern?«

»Nun, ich bin in diesem Feld der Medizin nicht wirklich kompetent, aber ich habe aus der Erfahrung meiner Kollegen nie von einem solchen Fall gehört. Meiner Meinung nach sind das Legenden, die das unbewusste Entsetzen der Männer vor der Scheide der Frau reflektieren. In Wirklichkeit hingegen zeigt sich Vaginismus bei Tieren öfter. Und bei Tieren hält er auch länger an …«

»Aha, klar«, nicke ich. »Ich bedaure das Akzent …«

»Es ist viel wichtiger, dass die Leute dich verstehen.«

»M-m.« Ich schüttle den Kopf. »Das ist ein Statussymbol.«

Sie bricht in Lachen aus. Meine Sorge scheint ihr vor dem Hintergrund des geführten Gesprächs und meines Allgemeinzustands offenbar unsinnig und fehl am Platz. Ich wünschte, ich könnte ihr klarmachen, wie sehr sie sich täuscht. Der Akzent ist primär! Besonders ab einem bestimmten Niveau. Dann hören die Leute viel mehr auf deinen Akzent als darauf, was du sagst. Ich hatte Tausende von Dollars und unzählige Stunden darauf verschwendet, meinen Akzent zu korrigieren, aber ich erreichte damit nur, dass die Leute nicht mehr erraten konnten, aus welchem Teil der Welt genau ich stammte. Ich verwischte meine Spuren. Und jetzt ist sogar dieser bescheidene Erfolg dahin … Ich stehe wieder am Anfang. In meinem Mund holpern Tischlerwerkzeuge vor sich hin und sie will mir erklären, es sei wichtiger, dass man mich versteht! Ich bin doch kein Verkäufer bei Wal-Mart!

Was hat eigentlich Vaginismus mit all dem zu tun?

Wer bin ich eigentlich?

2. ANGO

54 Meilen bis zum Zielort, informierten die Bildschirme über den Sitzen. Temperatur minus 12 °C, Höhe 3500 Fuß. Auf dem Bildschirm erschien eine Karte der westlichen Hemisphäre. Die Flugbahn unserer Maschine war mit einem weißen Pfeil gekennzeichnet, der in Mitteleuropa aufbrach, über Schottland hinwegzog, den nördlichen Atlantik bei Island überquerte, in Richtung Labrador abbog und in einem spitzen Winkel in die Vereinigten Staaten eindrang wie eine ballistische Rakete. Die Spitze des Pfeils berührte beinahe den Punkt auf der Karte, über dem »New York« stand …

In der Kabine ertönte lustloser Applaus, die Räder hatten soeben die Piste berührt. Ich erinnerte mich an meine erste Ankunft in Amerika. Damals flog ich mit British Airways über Heathrow und der Applaus war um einiges energischer gewesen. Jetzt flog ich über Prag und das Flugzeug war voll mit Osteuropäern. Auch sie klatschten, aber nach alter sozialistischer Tradition fast lautlos.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen; ich hatte die ganze Reise über kein Auge zugetan. Die Gepäckfächer über meinem Kopf sprangen auf, es regnete Taschen, Kleidungsstücke und Tüten. Ich verstand diese Hektik nicht, Amerika würde uns schon nicht davonlaufen. Es würde wie bisher auf der anderen Seite des Atlantiks liegen und noch für mindestens zwanzig Jahre ganze Ströme von ihrem Glück entgegenstrebenden Individuen aufsaugen … Unmerklich war ich eingenickt. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich die Schlange zwischen den Sitzen keinen Meter weiterbewegt. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Gereizte, verschwitzte Menschen mit Taschen zwischen den Füßen begehrten auf.

»Was ist los, warum lässt man uns nicht aussteigen?«

»Meine Damen und Herren, wir haben an Bord ein kleines medizinisches Problem.« Der Pilot klang niedergeschlagen, wie ein Mensch, dessen Pläne fürs Abendessen sich gerade in Luft aufgelöst haben. »Wir bitten Sie um etwas Geduld, bis die Umstände rund um den Vorfall geklärt sind. Wir bedauern die Unannehmlichkeiten.«

Ein kleines medizinisches Problem! Vor dem Hintergrund der jüngsten Attacken mit Anthrax, den Bedrohungen durch Botulismus, Ebola, Malaria und einen Haufen anderer Bazillen, die unter den Dunstabzugshauben der Laboratorien hervorgekrochen waren, schien die Neuigkeit nicht gar so harmlos. Die Reisenden ließen sich mit finsterer Miene auf die Sitze fallen, jeder da, wo er gerade Platz fand, und holten ihre Mobiltelefone hervor. Im vorderen Teil der Maschine tauchten Leute in greller Schutzkleidung und Gasmasken auf.

Na, jetzt hatten wir den Salat!

Schuld an dem Durcheinander war der Rotzbengel, der sich in den letzten Stunden die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Offenbar hatte das die Angst vor einem biologischen Angriff geweckt. Die Crew lief aufgeregt um den Bengel herum: Man maß seinen Puls, hörte ihn ab, nahm Blutproben von der ganzen Familie, Proben aus der Luft … Die Mutter schluchzte. Der Vater, ein Typ aus dem Nahen Osten mit spärlichem Haar, das in Form einer fettigen Tolle auf seinem Schädel klebte, knetete nervös an einer Packung Chips herum. Unter der Oberfläche dieser minimalistischen Geste war das Entsetzen des Normalbürgers erkennbar, der mitten ins Zentrum des globalen Chaos hineinkatapultiert wird. Von Zeit zu Zeit meldete sich der Kapitän des Flugzeugs, um uns zu beruhigen. Die Leute mit den Gasmasken schleppten kleine Köfferchen mit Apparaturen hin und her, aber die Resultate ließen auf sich warten. Wir saßen da und konnten nichts tun, die Hektik hatte einer dumpfen Gleichgültigkeit Platz gemacht.

Ich hatte meinen Fuß nicht mehr auf amerikanischen Boden gesetzt, seit das mit meinem Vater passiert war. (Interessant. Ich sage: »das mit meinem Vater«, statt: »er ist gestorben«, »er ist verstorben«, »er ist von uns gegangen«. So als sei von etwas Unanständigem die Rede …) Mein Wunsch, nach Amerika zu reisen, platzte damals wie eine Kaugummiblase, die meine frühen Träume von Emigration mit einem klebrigen rosa Stempel versiegelte. Es vergingen Jahre, bis ich wieder daran dachte. Und trotzdem, es war, als wäre mir dieser Teil der Welt weiterhin stillschweigend verboten. Das Verbot galt offensichtlich nicht für meinen Bruder, vielleicht weil er den Tod unseres Vaters als finale Tatsache akzeptiert hatte. Nedko brach einige Monate nach dem tragischen Vorfall auf, um in den Staaten zu studieren. Er machte seinen MBA und blieb dort, wenn wir einmal von den Ferien absehen. Später kam er dann überhaupt nicht mehr. Jetzt arbeitete er an der Wall Street, und ich nehme an, er hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Eigentlich waren wir in gewisser Weise beide geblieben: er in Amerika, ich in Bulgarien. Nicht, dass ich mich beklagen wollte, so war das eben. Niemand hatte mich zurückgehalten, es war meine Entscheidung.

Ich hatte mein Anglistikstudium abgeschlossen und hatte ein Angebot, an der Universität zu bleiben, doch ich zog es vor, unter die Geschäftemacher zu gehen. So waren die Zeiten. Hinz und Kunz gründeten Firmen, kauften, verkauften … Zu Beginn der neunziger Jahre schien das Verlagswesen eine wahre Goldgrube zu sein. Hunger nach Lesestoff. Die Menschen hatten noch Geld, sie kauften alles, was sie in die Finger bekamen. Wir machten eine geerbte Immobilie zu Geld: Die Hälfte ging für das Studium meines Bruders drauf, die andere investierte ich in mein Geschäft. Ich gab ein Dutzend gar nicht mal so übler Krimis heraus, es regnete Geld in Scheinen, ich kaufte mir einen gebrauchten Opel und heiratete jung. Aber das Klima wechselte und das Geschäft ging zum Teufel. Und wie es zum Teufel ging! Ich verlegte immer noch das eine oder andere Buch, gerade so viel, um die Fassade aufrechtzuerhalten, aber ich wusste schon, dass daraus nichts mehr werden würde. Ich hatte längst die Schnauze voll, mich um den Vertrieb zu kümmern, zu den Druckereien zu rennen und irgendwelchen Typen hinterherzujagen, um meine jämmerlichen Einkünfte einzutreiben. Ich besserte mein Budget auf, indem ich für andere Verlage übersetzte; hauptsächlich Thriller und phantastische Literatur, zum Spaß. Mit dem familiären Klima stand es auch nicht gerade zum Besten. Meine Frau und ich passten einfach nicht zueinander, obwohl wir immerhin schon ein Jahr zusammen gewesen waren, bevor wir uns verlobten (was für ein Wort!), und unsere Vermählung war eine feierliche Angelegenheit – in einer Kirche mit illustren Gästen und einem Versprechen, »bis dass der Tod uns scheidet«. Als wäre dadurch die ganze Sache gleich von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Rolle, in die wir uns zwängten, war die eines glücklichen jungen Paares aus einem Katalog mit Matratzenwerbung. Am Ende hatte das Genre das letzte Wort. Alltag bis zum Geht-nicht-mehr, der Sex mit rückläufiger Tendenz. Sie war Künstlerin, verdiente ihre Brötchen aber in einer Werbeagentur, wo man sie, weiß der Geier warum, immer nur Wiener Würstchen malen ließ. Sie versuchte, Buchumschläge zu entwerfen, aber es wollte nicht klappen. Die Wiener Würstchen dagegen gingen ihr gut von der Hand. Auf irgendeiner internationalen Ausstellung gewann sie sogar einen Preis damit, worauf man sie nach Italien einlud. »Ich möchte mich scheiden lassen« – ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wer von uns beiden das sagte, aber der andere hatte keine Einwände. Wir hatten keine Kinder, wir hatten nichts zu teilen – außer dem Opel, dessen Reifen jemand geklaut hatte. Sie schenkte ihn mir. Dann verreiste sie. Jetzt malt sie höchstwahrscheinlich Salami, freilich für viel mehr Geld.

Überhaupt versuchte zu der Zeit jeder, das Land nach Möglichkeit zu verlassen, wie Ratten das sinkende Schiff. Der Großteil meiner Freunde wanderte nach Irland, Spanien und Deutschland aus, manche sogar nach Portugal, wo es selbst die Portugiesen kaum hielt. Am Ende kam es so weit, dass sogar meine Mutter sich aufmachte. Sie war nach zwanzig langen Jahren in der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften mit einer famosen Rente von ungefähr 100 Euro in den Ruhestand getreten und zog bis nach Wales, um irgendeinen Opa zu pflegen. Eine ehemalige Kollegin, die ein regelrechtes Netzwerk zur Betreuung älterer Menschen im Vereinigten Königreich aufgebaut hatte, hatte das eingefädelt. Seit drei Jahren war sie nun dort, in einem Städtchen, dessen Namen ich immer wieder vergesse und das bekannt ist für seine wunderschöne Natur und die keltischen Denkmäler, die in der Umgebung verstreut liegen. Ich werde so lange bleiben, sagte sie, wie es geht. Sie schickte mir nach dem Fiasko mit den kleinen Pinguinen sogar Geld. Ich hatte noch nie ein gutes Händchen für Kinderliteratur, aber ich ließ mich von einem Agenten überzeugen, dass diese Pinguine in Europa jetzt der letzte Schrei wären. Zehn Bilderserien, allein die Rechte kamen mich ziemlich teuer, ganz zu schweigen von den Herstellungskosten. Ich druckte zehntausend und verkaufte gerade einmal ein paar hundert. So endete meine Karriere als Verleger. Wohin ich mich auch wandte, nur Staub, einfältige Menschen, Straßenhunde und Sackgassen …

Damals fragte ich mich zum ersten Mal: Warum mache ich mich eigentlich nicht auch vom Acker? Im Ernst, nicht so wie die Hälfte meiner bulgarischen Landsleute, deren Pläne immer wieder zerplatzen wie die Reifen ihrer Autos, mit denen sie über die zahllosen Schlaglöcher der heimischen Straßen holpern. Ich brauchte fast ein Jahr, um mich durchzuringen. Vielleicht weil ich trotz allem nicht Hunger litt? Ich hatte ein Dach über dem Kopf, wenn ich Lust auf Sex hatte, ergab sich immer etwas, wenn ich Lust hatte, einen zu trinken, blieb ich nicht auf dem Trockenen sitzen, und dann belog ich mich auch selbst, dass es doch eigentlich gar nicht so schlimm sei. Aber es war mir auch klar, dass dieser Weg immer weiter nach unten führte, bis zum unvermeidlichen charakterlichen und physischen Verfall. Dabei war ich noch keine vierzig, das Leben lag vor mir.

So sagt man jedenfalls.

Nun gut, ich nahm an der Lotterie teil, zusammen mit einer guten Million anderer heimischer Kartoffeln, die einen fetteren Boden suchten! Ich glaubte nicht, dass dabei etwas herauskommen würde, vor allem in Anbetracht der Erfahrungen meines Bruders, der wie ein Verrückter Briefe geschrieben und verschickt hatte, bis am Ende seine Firma die Formalitäten für ihn regelte. Aber natürlich ist Lotto ein Nationalsport in Bulgarien. Mach mit und schau, ob es klappt. Wenn es dann klappt, gerät freilich alles durcheinander. Ein gebieterischer Imperativ fegt dein ganzes bisheriges Leben hinfort: »Mann, du bist auserwählt!« Das ist etwas anderes, als wenn man dir einfach eine Million vor die Füße wirft (wie Schweinen das Futter) und sagt: »Los, lebe!« Die Vorbestimmung mischt sich ein. Du bekommst eine Chance, eine Tür öffnet sich und ob du eintrittst, hängt ganz allein von dir ab. Jeder hat ein Recht auf Glück, und schon gibt es kein Zurück mehr. Leistest du dem Ruf von Uncle Sam nicht Folge, wirst du es bis ins Grab bereuen. Das Geschwür des Zweifels wird tief in dir bohren, selbst wenn es dir sonst an nichts fehlt. Wenn aber, Gott bewahre, dein Leben einen schlechten Weg nimmt, dann wirst du dir wegen der verpassten Chance ewig die Haare raufen. Der Umgang mit der heimischen Wirklichkeit, gestern noch Routine und unausweichlich, gewinnt auf einmal tragische Dimensionen. Der Pechvogel hat sich selbst hineingeritten, wird es in deinem Kopf widerhallen wie das Echo vom Einschlagen eines Nagels: Du hast dich selbst hineingeritten!

Mein Bruder reiste ununterbrochen wegen irgendwelcher Projekte durch die Gegend, weshalb seine Wohnung den größten Teil des Jahres über leer stand. Es war also kein Problem, für die erste Zeit unterzukommen. Wenn es mir überhaupt gelänge, hier rauszukommen, versteht sich …

Die Filtersysteme und die Klimaanlage waren ausgeschaltet, um der Ausbreitung der vermeintlichen Seuche vorzubeugen. Die Luft im Flugzeug war heiß und schwer, gesättigt vom Geruch körperlicher Ausdünstungen. Ein Teil der Passagiere presste sich Taschentücher ins Gesicht. Lucky you! Wenn sich dir die Tore endlich öffnen, die Greencard im leeren Hosensack und die Hand, bildlich gesprochen, auf Amerikas voller Tasche, dann zerlegt irgendein hinterhältiger Virus deine Zellwände, um dich daran zu erinnern, dass die Lotterie des Lebens mit dem Programm, das den Strom der Emigranten etwas durchmischen soll, rein gar nichts zu tun hat.

Ich stellte mir vor, wie ich die nächsten Monate unter Quarantäne in einem geheimen Lager außerhalb der Grenzen der USA verbringen würde, hinter Zäunen mit Stacheldraht, der unter Strom steht. Unter dem Vorwand, uns helfen zu wollen, führt die CIA-Abteilung für biologische Kriegsführung Experimente an einem Teil der Festgehaltenen aus den rückständigen Ländern durch. Mein Körper ist übersät mit Geschwüren und ich krepiere unter schrecklichen Qualen. Ein Opfer des internationalen Terrorismus. Soweit mir bekannt ist, zahlen die Versicherungen auch in solchen Fällen nicht. Man verbrennt meine Überreste auf die Schnelle, um alle Spuren zu verwischen, und eines schönen Tages bekommt Nedko meine Asche in einer schwarzen Plastikschachtel zugestellt, so eine, in der auch mein Vater zurückkehrte …

Welcome to America, ol’ boy!

3. NED

Lange Zeit dachte ich, ich sei glücklich. Und wenn schon nicht glücklich, dann zumindest zufrieden. Objektiv betrachtet fehlt es mir an nichts. Offiziell findet man mich in der Rubrik: erfolgreiche Bulgaren außer Landes, EBAL. Inoffiziell liegen die Dinge allerdings ein wenig anders: Glücklich bin ich definitiv nicht, und auch nicht sonderlich zufrieden. Mir bleibt der Trost, dass ich ein EBAL bin. Was leider nicht reicht. Zum Leben braucht man etwas mehr als den Neid der BVIL, der beschissenen Versager im Lande.

Und genau das fehlt mir.

Das alles ist mir nicht neu, ich habe aber bisher meinen Kopf halsstarrig in den Sand gesteckt. Ich habe mich bemüht, die Situation positiv zu sehen, wie man es mir an der Universität beigebracht hatte. Wenn dein Gehalt Jahr für Jahr um zehn Prozent steigt, fällt das auch nicht sonderlich schwer. Du steigst in der Hierarchie auf, du lernst neue Dinge, du reist. Bis die Dinge eines Tages beginnen, sich zu wiederholen, wie die Reiserouten. Die verschwenderischen Abendessen auf Kosten der Firma machen dir nicht mehr halb so viel Spaß wie zuvor, auch nicht die luxuriösen Hotels, auch nicht die Flüge erster Klasse. Unmerklich, aber unumkehrbar wirst du reif für die Wahrheit.

Du bist an den Plafond deiner Möglichkeiten gestoßen.

Dieser Plafond ist durchsichtig wie ein Glasboden. Du siehst die Leute, die über dir spazieren gehen, du hörst sogar das Knarzen ihrer 2000-Dollar-Schuhe, glotzt ihren Frauen unter die Röcke, so viel du willst, aber du kannst nicht zu ihnen hinauf. Ich mache mir keine Illusionen mehr: Die Leiter, auf der ich stehe, endet unter ihren Schuhsohlen. Wenn du das mit fünfzig kapierst, ist es wohl schon egal.

»Fühlen Sie sich richtig erfolgreich?«

Die Frage stammt von einer bulgarischen Journalistin, die für eine große heimische Tageszeitung eine Serie von Reportagen macht, die dem Phänomen EBAL gewidmet ist. Ich habe keine Ahnung, wie sie an meine Koordinaten gekommen ist. Sie erwähnt den Namen eines alten Bekannten, der vor zwei Jahren zurückgekehrt ist, um ein großes Tier zu werden. Insgeheim macht sie wohl Jagd auf einen vor Einsamkeit verrückt gewordenen Bürozombie, um ihn an die Kette zu legen und ihm den Ring überzustreifen. Ich werde es nicht sein, obwohl – übel ist sie nicht.

»Erfolg«, tue ich gestelzt, »Erfolg ist etwas Relatives. Es gibt verschiedene Stufen von Erfolg. Und andere solche …«

Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal keine Gehaltserhöhung bekommen. Eigentlich hat man mich, wenn ich ehrlich sein soll, sogar um ein halbes Prozent beschnitten. Das sind zwar nur lausige 1500 Dollar jährlich, aber wichtiger ist die Haltung, die darin zum Ausdruck kommt. Natürlich bin ich nicht der einzige Geschädigte. Der Großteil der ranghöheren Angestellten der Firma hat abgespeckte Gehaltsschecks erhalten. Die offizielle Erklärung ist, dass wir overpaid seien. Und natürlich die verschlechterte wirtschaftliche Konjunktur. Geschenkt. Ich verstehe allerdings nicht, wie das halbe Prozent von meinem Gehalt einer Firma mit einem Umsatz von zwei Milliarden Dollar pro Jahr helfen könnte. Das ist wohl nur eine Prüfung. Ob der Zorn und die Enttäuschung mit uns durchgehen? Ob jemand die Tür hinter sich zuschlägt? Nichts dergleichen geschieht. Wir gehen mit sauren Mienen herum, fluchen durch die Zähne und sind eigentlich verdammt glücklich, dass man uns nicht entlassen hat, meine Wenigkeit eingeschlossen. Die trüben Fluten der Arbeitslosigkeit steigen mit jedem Tag, der vergeht. Niemand ist bereit, sich in sie zu stürzen, nur um seine Selbstachtung zu wahren.

Yuppie – das klingt stolz, aber nur, solange du deine Miete bezahlen kannst …

Leider ist es schon zu spät, um meinem Bruder zu erklären, dass gerade jetzt nicht der günstigste Zeitpunkt ist, um nach Amerika zu kommen. Jede Andeutung in diese Richtung würde er als Versuch missverstehen, mich vor meinen verwandtschaftlichen Verpflichtungen zu drücken. Angel, oder Ango, wie ihn alle nennen, hat eine Greencard in der Lotterie gewonnen. Er hat gespielt – und gewonnen. Auch ich habe teilgenommen, aber mit mir hatte es das Glück nicht so gut gemeint. Wie dem auch sei: Ango Boy muss hier zumindest einige Monate im Jahr herumhängen, andernfalls riskiert er, dass er seinen Status wieder verliert. An und für sich regelt eine Greencard alleine noch nichts, aber sie verfallen zu lassen, wäre unsinnig.

Ango Boy will ebenfalls ein EBAL werden und ich kann es ihm nicht verdenken. Grundsätzlich teilen sich die Bulgaren in drei große Kategorien: EBAL, BVIL, von denen schon die Rede war, und DBÄ – die diebischen bulgarischen Ärsche, die in der Praxis das Vorhandensein der ersten beiden voraussetzen. Jeder Versuch, irgendwelche Untergruppen oder Zwischenkategorien zu errichten, riecht für mich nach Opportunismus, der darauf abzielt, die Grenzen zwischen den Dingen zu verwischen. Eine Frage drängt sich freilich auf: Gibt es denn keine erfolglosen Bulgaren außer Landes? Ich persönlich kenne keinen. Alle prahlen damit, dass sie Erfolg haben, sehr viel Erfolg – sie schöpfen aus dem Vollen und trinken direkt aus den Quellen des Paradieses –, die anderen kehren mucksmäuschenstill nach Bulgarien zurück und werden wieder zu BVIL. Demzufolge gibt es auch keine erfolgreichen Bulgaren in Bulgarien. Wenn du ihren Geschichten Glauben schenkst, dann balancieren sogar jene, die sich scheinbaren Wohlergehens erfreuen, eigentlich am Rande der Armut, ihr Alltag besteht aus Unsicherheit und Stolperfallen, und die Zukunft – Zukunft gibt es nicht. Wer wirklich erfolgreich ist, hält sich für gewöhnlich nicht lange auf und geht ins Ausland, um die Reihen der EBAL zu erweitern. Diejenigen, die trotzdem bleiben, erweisen sich oft als ganz ordinäre DBÄ.

Die Ankunft meines Bruders erfüllt mich mit Freude und mit Unruhe. Ich lebe schon seit drei Jahren ganz alleine, und es ist langsam genug. Auf der anderen Seite ist es gar nicht so übel und ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Die meisten meiner Freunde haben längst geheiratet, einige sind sogar schon wieder geschieden und zum zweiten Mal verheiratet, andere leben mit ihren Freundinnen zusammen … Kein Grund zur Eile! Frauen sind Blutsauger. Mit einer Frau zusammenzuleben, nur weil es sich so gehört, ist ein sicheres Rezept für Kopfschmerzen. Deshalb vermeide ich es auch, nach Bulgarien zu fahren. Wenn sie merken, dass du ein EBAL bist, in good shape and free, dann drehen sie durch. Sie stürzen sich von allen Seiten auf dich, sie stellen ihre Ware aus, versuchen, dich zu umgarnen, dich zu verstricken, lauern darauf, dass du einen falschen Schritt machst, und – hopp – streifen sie dir das Joch über, unter dem Siegesgebrüll einer ganzen Schar von BVIL, die mit hölzernen Weinflaschen um dich herumspringen und Handtücher über ihren Köpfen schwenken wie Indianer über dem gestürzten Kadaver eines edlen Hirsches.

No thanks!

Manche, versteht sich, kehren nur deshalb nach Bulgarien zurück, um das Magazin leer zu ballern. Aber nicht ich! Nicht wegen eines Ficks! Ich kann es in Amerika haben, wann immer ich will. a) Es gibt bezahlten Sex. b) Die Büros von Midtown quellen über vor ehrgeizigen, einsamen Schoßhündchen mit polyvalenten Vaginen. All das ergießt sich Freitag nach Büroschluss auf die Straßen und es ist nicht schwierig, eine davon abzustauben und ein geregeltes Geschlechtsleben zu führen. Unter der Voraussetzung, dass sie nicht bei dir zu Hause schlafen. Wenn sie erst einmal über Nacht bleiben, ist es aus! Die Körper der Frauen sondern ein Gift ab, das die Männer von ihnen abhängig macht, behauptete meine Ex-Freundin Beatrix. Wir haben uns vor drei Jahren getrennt. »Getrennt« ist eigentlich etwas viel gesagt, weil wir nie mehr als eine Woche zusammen verbracht haben. Sie lebte in Toronto. Wir lernten einander bei einem Managerkurs in Florida kennen, wo ein gewisser Dr. Kandzeburo Oe uns in die Geheimnisse des Six Sigma Way einführte – eine für die damalige Zeit avantgardistische Methode zur Extrapolation des Gewinns. Beatrix gefiel mir wohl, und das auch nicht zu knapp, und so kam sie von Zeit zu Zeit auf einen Sprung nach New York, wo sie, versteht sich, »über Nacht« bei mir blieb. Später ließ sie auf einmal alles stehen und liegen und ging nach Südamerika. Sie versuchte, mich zu überreden, mit ihr zu gehen, weil sie sich irgendeiner Kommune in der Flussebene des Amazonas anschließen wollte. Wieso nicht – ich brauchte ja nur alles das zurücklassen, was ich erreicht hatte, um unter die Wilden zu gehen. Beatrix wollte das einfach nicht verstehen. Zu jener Zeit glaubte ich noch, dass ich genügend Kohle scheffeln könnte, um mich problemlos mit fünfundvierzig zur Ruhe zu setzen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.

»Vergiss es«, wischte sie meine Idee mit einer Handbewegung weg, »daraus wird nichts.« Und sie schulterte ihren riesigen Rucksack, an dessen unterem Ende ein kleines, glänzendes Töpfchen baumelte … Manchmal fehlt sie mir. Eigentlich immer öfter. Das Gift ihres kompakten, bleichen Körpers mit den spitzen Brüsten ist offenbar tief in mich eingedrungen.

Angos Zugang zu Frauen unterscheidet sich wesentlich von dem meinen, und genau das macht mir Sorgen. Er gehört zu den Menschen, die nichts dagegen haben, wenn Frauen dableiben. Er wollte schon früh heiraten, immer war irgendein Wesen weiblichen Geschlechts um ihn herum. Ich habe den leisen Verdacht, dass das hier nicht anders sein wird. Er wird eine Frau ins Haus holen! Ich stelle mir vor, wie ich von einer Dienstreise zurückkomme und sehen muss, wie sie auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Ihre Brüste schauen unter der Decke hervor, auf der Schulter hat sie ein behaartes Monster tätowiert, das aussieht wie Eddy von Iron Maiden. Sie zieht bei uns ein. Mein Bruder kocht. Wir essen gemeinsam. Wir schlafen gemeinsam. Die Frau bringt eine Freundin mit. Wir tauschen die Frauen. Es stellt sich heraus, dass die eine HIV-positiv ist. Das Spülbecken quillt vor dreckigen Tellern und Gläsern über. Ein Kind wird geboren. Mein Konto ist im roten Bereich. Ich schneide mir in aller Ruhe im Keller die Venen auf, zusammengerollt zwischen der Waschmaschine und dem Trockner, und ich starre auf mein dünnes HIV-positives Blut, das in den Abguss fließt und dabei einen kleinen Wirbel bildet. Meine Asche kommt in Sofia an, in einer dieser schwarzen Plastikschachteln, in der auch mein Vater zurückkehrte …

4. ANGO

»Du hast Haare in der Nase.«

»Bitte?« Ich senkte instinktiv den Kopf.

»Du hast Haare in der Nase!« Er fixierte mich mit starrem Blick.

Mein Bruder ist ganze sechs Jahre jünger als ich, aber er sieht nicht sonderlich viel jünger aus. Er ist adrett gekleidet, riecht nach teurem Eau de Cologne. Sein Haar ist glatt nach hinten gekämmt und seine Ohren liegen eng an seinen Schädel angeschmiegt; das war nicht immer so. Er hat nichts mehr mit jenem Nedko mit der Briefträgertasche gemein. Ned ist ein Mensch, auf den man sich verlassen kann.

»Jeder Mensch hat Haare in der Nase.«

»Aber deine quellen hervor.«

Unverschämter Bastard! Fällt dir zur Begrüßung nichts Besseres ein? Nach vier Jahren! Ich berührte instinktiv meine Nase und ertastete ein dünnes Büschel Haare.

»Na und, was soll’s.«

»Wenn du vor hast, dich zu integrieren, musst du sie entfernen …«

»Wenn’s daran liegt?«

»Hängt davon ab. Manchmal ist der erste Eindruck der wichtigste.«

»Mach dir keine Sorgen«, ich schenkte mir noch Bier ein, »ich werde schon zurechtkommen.«

»Glück ist eine Sache. Image eine andere.«

Wir saßen in einem indischen Restaurant in der Columbus Avenue, nicht weit von der Höhle meines Bruders. Die Straße spaltete das schartige Relief New Yorks wie eine Landebahn und verlor sich im violett eingefärbten Himmel. Die Sonne war schon längst untergegangen, aber die Stadt strahlte immer noch Hitze ab. Ich war vor sechs Stunden gelandet, die Hälfte davon habe ich wegen des Verdachts einer Epidemie an Bord des Flugzeugs verbracht. Nach Abschluss aller Tests hat man offenbar beschlossen, dass wir für die Sicherheit der USA doch keine allzu große Bedrohung darstellten, und ließ uns aussteigen. Inzwischen hatte mein Bruder am Flughafen herumgehangen und noch eine Chance bekommen, der Tatsache meiner Ankunft aus allen möglichen Perspektiven einen Sinn zu geben. Was mich angeht, das Geschehene war ein Omen … Es gab tatsächlich eine Seuche an Bord, aber ihr Ausgangspunkt war nicht der Rotzbengel, der Virus hatte sich in mir eingenistet. Viel schrecklicher als Milzbrand oder die Beulenpest, mit Mikroskopen und auf dem Weg chemischer Reaktionen nicht aufzuspüren: der Virus des Niedergangs!

»Nun, jetzt wo du schon einmal da bist, was hast du denn vor?«

Ich hatte die ganze Reise über kein Auge zugetan, mein Körper sehnte sich nach Schlaf, aber die Zeitverschiebung hielt mich wach.

»Ich habe ein Vorstellungsgespräch. Am Dienstag«, sagte ich mit einem Anflug von Stolz.

Bevor ich abgereist war, hatte ich Kontakt mit einer Vermittlungsagentur aufgenommen, die für Emigranten mit gültigen Papieren Arbeit in den USA suchte. Sie hatten mir einige Vorstellungsgespräche vermittelt.

»Was für Arbeit?«, zeigte sich mein Bruder interessiert.

»Supervisor in einem McDonald’s.«

»Irgendwo muss man ja anfangen«, kommentierte Nedko taktisch klug. Ned, wie man ihn hier nannte …

Ich tunkte etwas Sauce mit dem Fladenbrot auf und Biss ab. Danach leerte ich flink den Rest Bier. Meine Zunge zischte, als wäre sie glühende Kohle.

»Du hast business experience«, fügte mein Bruder hinzu, »und das wird hier geschätzt.«

Er betrachtete mich konzentriert, so als suchte er noch nach weiteren Defekten in meinem Gesicht.

»Zum Teufel mit dieser experience! Ich muss ein neues Kapitel aufschlagen. Noch ein Bier!« Ich winkte dem Kellner.

Das Mantra der Verlierer: Ein neues Kapitel aufschlagen, bei null anfangen, ein neuer Mensch werden. Unmerklich hatte ich begonnen, es zu wiederholen.

Ned lebte fünf Minuten vom Central Park entfernt in einem alten Stadthaus aus roten Backsteinen. Die Wohnung, für die er ein wenig mehr als 2000 Dollar monatlich hinblätterte, befand sich im vierten Stock. Das steile Treppenhaus war mit einem dicken, braunen Teppichboden ausgelegt, der die verschiedensten Flüssigkeiten aufgesaugt hatte. Man fällt jedenfalls weich, wenn man im Suff der Länge nach hinfällt … Die Klimaanlage lief auf vollen Touren, eine angenehme Kühle wehte mir entgegen. Die Wohnung bestand aus einem riesigen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einem Bad. Die Möblierung war dürftig, aber funktional, im Stil der siebziger Jahre. Ein rötliches Parkett, ein Teppich mit großen Quadraten, einige Poster mit Klassikern des abstrakten Expressionismus. Am einen Ende des Wohnzimmers befand sich eine herrliche Bar aus Holz, durchdrungen vom Aroma von Whiskey und Tabak, und dahinter eine kleine Küchenzeile.

Ich würde hier wohnen, bis ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Wie lange konnte das dauern? … Mein Bruder tauchte aus dem Bad auf, bis über beide Ohren grinsend, und wedelte mit einem seltsamen Gerät herum, einem Hybrid aus Vibrator und Rasierapparat.

»Was ist das?« Mich überkam eine böse Vorahnung.

»Ein Geschenk! Ein sehr nützlicher Apparat …«, versicherte er mir, während er die Kappe von dem metallischen Endstück abnahm. »Für die Nasenhaare. Bitte sehr!«

CONAIR. Spitzennasenhaartrimmer mit einzigartigem Rotationskopf.

»Du willst mich wohl erniedrigen, was? Von Anfang an!« Ich war am Kochen. »Schieb dir das schwule Dingsbums doch sonst wohin!«

»Ich habe es nicht verwendet. Ich zupfe sie mir aus. Aber ich fürchte, dass dir das noch weniger gefallen wird …« Er drückte auf den Knopf und hielt das Gerät an mein Gesicht. Der Kopf vibrierte, die kleinen Klingen zischten zwischen den Öffnungen. Instinktiv hielt ich seine Hand zurück. »Easy, Alter! Du wirst dich daran gewöhnen, bis es dir irgendwann sogar gefällt.«

»Verschwinde!«, knurrte ich.

Ich goss mir demonstrativ ganze drei Finger hoch Whiskey aus seinen Vorräten ein und knallte mich vor den Fernseher. Ich begann, die Kanäle durchzuzappen. Ich landete bei irgendeiner Show: Zwei Männer mit Schaum vor dem Mund hatten eine Aussprache, zwischen den beiden zwei Gorillas, jederzeit bereit, sie zu trennen. Der Moderator beobachtete sie mit ungesunder Neugier, und das Publikum heulte: »Jerry, Jerry! …«

»Wer ist Jerry?«, fragte ich.

»Jerry Springer«, erklärte Ned. »Die coolste Show in Amerika …«

Die Männer sind Brüder. Der eine vögelt die Freundin des anderen, während der zehn Stunden am Tag schuftet. »Warum tust du mir das an, ich liebe sie!?« – »Weil ich dich hasse! Du hältst dich für etwas Besseres!« Die Frau jammert, dass sie sich vernachlässigt fühlt. Das Publikum: »Buuuuh!« Jerry: »Und stört es dich denn gar nicht, dass du es mit seinem Bruder machst?« – »Na, er hat wenigstens eine Seele …«

»Er zahlt ihnen sicher einen Haufen Kohle, damit sie sich zum Deppen machen?«, fragte ich beiläufig.

»Tut er, mit Sicherheit …«, nickte Ned.

»Du hast nicht zufällig eine Freundin?«

»Nur einen Bruder …«, kicherte Ned.

»Warte.« Ich schaute mich um. »Hast du wirklich keine Freundin?«

»Ich habe keine feste Freundin. Im Moment nicht.«

»Aber du triffst dich mit Frauen, oder?«

»Immer noch …« Er gähnte.

Es war Sonntag und mein Bruder musste am nächsten Morgen um halb acht nach Detroit fliegen. Ich blieb noch eine Weile vor der Glotze sitzen, nachdem ich die Lautstärke runtergedreht hatte. Auf der Bühne ein Ehepaar. Der Mann bekennt, dass er einen Transvestiten als Geliebte hat … »Jerry! Jerry!«, jault das Publikum.

Diese Sache würde wohl in meinem verfluchten kleinen Bulgarien nicht funktionieren. Wenn du dich dort im Fernsehen zum Affen machst und in aller Öffentlichkeit erklärst, dass du die Freundin deines Bruders hinter seinem Rücken vögelst, bist du mit deinem Leben fertig. Hier haust du einfach ab. Du nimmst ein paar Tausender und verschwindest in der Anonymität, aus der du zuvor hervorgekrochen bist.

Sei ein Niemand, und du kannst alles machen.

Jerry Springer bringt die bittere Wahrheit über die menschliche Natur medienwirksam auf den Punkt und appelliert dabei noch an traditionelle Werte. Der Vorspann der Show sagt alles: Eine mit Mülleimern verstopfte kleine Straße, die ins Nirgendwo führt. Vor diesem Hintergrund eine liebenswürdige Einladung: »Du bist eine Prostituierte und hast etwas zu erzählen? Dann ruf uns an …« Ich nahm noch einige Schlucke direkt aus der Flasche, klappte das Sofa im Wohnzimmer auf und legte mich schlafen.

5. NED

Ich zupfe mir die aus meiner Nase sprießenden Härchen aus. Mit einer Pinzette, der größeren Präzision wegen. Die Zeiten, in denen ich mich zugeknöpft in Anzug und Krawatte in die Arbeit gestürzt habe, liegen längst hinter mir. Ich könnte mir inzwischen einen legereren Stil erlauben. Man erzeugt auf diese Weise eine Atmosphäre, die als team friendly gilt, eine besonders populäre Idee im mittleren Management. Nach diesen vielen Jahren kommt es mir allerdings so vor, als wäre mir der verfluchte Anzug zur inneren Haltung geworden, als wäre er mit mir verwachsen, so wie Militärs ihre Uniformen tragen wie eine zweite Haut. Selbst wenn ich an den Strand gehe, habe ich einen Anzug an. Ich bin sicher, dass die Bosse Bescheid wissen und jede Bestrebung zur Liberalisierung des korporativen Dresscodes mit tiefer Ironie beobachten …

Der zylindrische Turm mit den Headquarters von Silvertape liegt in einer der endlosen Vorstädte von Detroit. Die Wache winkt mir lässig zu. Die übrigen drei sind schon da: Melissa, die Garnele, der hinterlistige Vajapee und Dexter, der dämlicher ist als Bierrettich. Alle drei arbeiten in der Niederlassung der Firma in Chicago. Ich treffe sie auf einem Haufen um einen Computer herum versammelt. Sie wirken aufgeregt und schuldbewusst, so als hätten sie sich im Internet ein Gang-bang-Video angeschaut.

»Na, seid ihr bereit?«

»Yes, sir!«

»Dann wollen wir ihnen mal zeigen, was wir können.«

Der Saal füllt sich allmählich mit Leuten, die Bosse von Silvertape nehmen ihre Plätze in der ersten Reihe ein. Ich habe es schon Hunderte Male gemacht, und trotzdem bin ich ein wenig angespannt. Am meisten beunruhigt mich, dass die Technik versagen könnte, wie es im entscheidenden Moment nicht selten passiert. Meiner Meinung nach generieren menschliche Gehirne ein Feld oder irgendwelche Wellen, die die Technik stören. Also, cool bleiben, das erspart einem unnötige Unannehmlichkeiten. Mein Team wuselt geschäftig um mich herum.

Ich stehe vor dem grell erleuchteten Bildschirm hinter einem schmalen Pult aus Glas und Metall. Das korporative Auditorium in Grau-schwarz folgt hypnotisiert der roten Spitze meines Laserpointers. Die Dias wechseln mit einem satten Klick. Tabellen, Schemata und Diagramme reihen sich aneinander. Ich spiele Gott: Ich rationalisiere, verschiebe Abteilungen, vereinheitliche ganze Strukturen. Die Präsentation ist die Krönung meiner wochenlangen Arbeit. Ich leite ein kleines Team von drei Mitarbeitern – flinke, hinterlistige Streber. Wir optimieren die Marketingstruktur von Silvertape, dem größten Produzenten von selbstklebender Folie in Nordamerika und world wide. Die Angestellten hassen uns ganz unverhohlen, aber sie haben auch Angst. Weitreichende Rationalisierungsmaßnahmen zeichnen sich ab und ich denke, dass sie uns genau deshalb haben kommen lassen. Das Business braucht Transmission. Und wenn Bob und Joe ihren Job verlieren, braucht es Schuldige. Warum also nicht den bösen weißen Mann mit dem osteuropäischen Akzent.

»Ich komme von weit her und bleibe nur für kurze Zeit« – das Motto des Beraters.

Klick-klick, Fensterchen öffnen sich, Diagramme erscheinen, bunte Überschriften huschen über den Schirm, irgendwelche Männchen springen herum … Ob ich es mit der Animation nicht ein wenig übertrieben habe? In der ersten Reihe findet die Show offenbar Anklang. Ich predige das Credo der Marktwirtschaft mit Inbrunst. Von Zeit zu Zeit streue ich einen sorgfältig abgestimmten Witz ein.