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Der neue Endzeit-Thriller vom internationalen Bestseller-Autor M. R. Carey: die Vorgeschichte zum erfolgreich verfilmten Zombie-Horror-Roman »The Girl with All The Gifts« (»Die Berufene«). Ein parasitärer Pilz hat unzählige Menschen in »Hungrige« verwandelt, ausgemergelte Zombies, die nach lebendigem Fleisch gieren. In einem zum Labor umgebauten Panzer ist eine kleine Gruppe von Militärs und Wissenschaftlern auf der Suche nach Antworten, unter ihnen der 15-jährige Hochbegabte Steven. Bei einem seiner heimlichen Streifzüge entdeckt er eine Gruppe von Kindern unter den Hungrigen, die sich eigentümlich kontrolliert verhalten. Steven erkennt in den Kindern die einmalige Chance auf ein Heilmittel – doch wie weit wird er gehen, um die Menschheit – oder die, die sich dafür halten – zu retten? »Der würdige Nachfolger für einen der besten Zombie-Romane ever« Tor.com »Ein gruseliger, mitreißender Pageturner darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein« Kirkus Review »M.R. Carey ist eine Klasse für sich.« Daily Mail
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Seitenzahl: 601
M. R. Carey
Die Hungrigen
Roman
Aus dem Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Knaur e-books
Der neue Endzeit-Thriller vom internationalen Bestsellerautor M. R. Carey – die Vorgeschichte zum erfolgreich verfilmten Zombie-Horror-Roman »The Girl with All The Gifts«.
Ein parasitärer Pilz hat unzählige Menschen in »Hungrige« verwandelt, ausgemergelte Zombies, die nach lebendigem Fleisch gieren. In einem zum Labor umgebauten Panzer ist eine kleine Gruppe von Militärs und Wissenschaftlern auf der Suche nach Antworten, unter ihnen der 15-jährige Hochbegabte Steven. Bei einem seiner heimlichen Streifzüge entdeckt er eine Gruppe von Kindern unter den Hungrigen, die sich eigentümlich kontrolliert verhalten. Steven erkennt in den Kindern die einmalige Chance auf ein Heilmittel – doch wie weit wird er gehen, um die Menschheit – oder die, die sich dafür halten – zu retten?
»Der würdige Nachfolger für einen der besten Zombie-Romane ever« Tor.com
»Ein gruseliger, mitreißender Pageturner darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein« Kirkus Review
»M.R. Carey ist eine Klasse für sich.« Daily Mail
Für Camille Gatin und Colm McCarthy – in Dankbarkeit und Liebe.
Teil Eins
Die Verantwortlichkeiten wurden verteilt und die Argumente so oft gedreht und gewendet, bis sie allen zu den Ohren raushingen. Nach ungefähr hundert gescheiterten Versuchen beginnt die Rosalind Franklin ihre Reise nach Norden – von Beacon an der Südküste Englands bis weit hinauf in die schottischen Highlands. Die meisten Leute glauben zwar, dass sie es sowieso nicht so weit schaffen wird, trotzdem bereitet man ihr einen hübschen Abschied mit Marschmusik und bunten Girlanden. Die Menschen bejubeln schon die reine Möglichkeit eines Erfolgs.
Rosie ist ein beeindruckender Anblick, sozusagen ein Leviathan des Festlandes, aber sie ist bei Weitem nicht das größte Gefährt, das je über eine Straße gerollt ist. In den Jahren vor dem Zerfall waren hochwertige Luxuswohnmobile, die Spitzenmodelle unter den rollenden Ferienwohnungen, sechzehn bis siebzehn Meter lang. Rosie ist deutlich kleiner. Geht auch gar nicht anders, denn ihre Plattenpanzerung ist extrem dick und würde sonst die Belastungsgrenzen der Panzerketten sprengen. Um trotzdem eine zwölfköpfige Crew unterbringen zu können, mussten gewisse Annehmlichkeiten geopfert werden. Es gibt nur eine einzige Dusche und nur ein Klo. Für die Nutzung von beidem wurde ein Rotationsplan erstellt, der rigoros befolgt wird. Privatsphäre gibt es nur auf den Betten, die dreistöckig übereinander montiert sind, wie in einem dieser Platzsparhotels in Tokio.
Die Reise gestaltet sich langsam, eine mühsame Pilgerfahrt durch eine Welt, die der Menschheit vor einem guten Jahrzehnt den Rücken gekehrt hat. In einer inspirierenden Ansprache hat Dr. Fournier die Crew mit den Weisen aus dem Morgenland verglichen, die einem Stern folgten. Außer Fournier findet niemand in der Mannschaft dieses Bild besonders plausibel oder ansprechend. Zum einen sind sie zwölf, was wohl eher auf die Apostel passt als auf die Weisen – wenn man unbedingt mit der ganzen Jesuskiste anfangen will. Und einem Stern folgen sie schon gleich gar nicht. Sie folgen einem Weg, den ein anderes Team in einem identischen Panzerfahrzeug vor ungefähr einem Jahr freigeschlagen hat. Einem Weg, der von mürrischen Experten geplant wurde, quer durch sämtliche Landschaftsformen, die auf der Hauptinsel Großbritanniens zu finden sind: Felder und Wiesen, Wälder und Hügel, die Torfmoore von Norfolk und das Heideland von Yorkshire.
All das sieht heute noch ziemlich genauso aus wie früher, findet zumindest Dr. Samrina Khan. Die zurückliegenden Ereignisse – also der Zusammenbruch der weltweiten Zivilisation und die fast vollständige Ausrottung der menschlichen Spezies – haben keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Das überrascht Khan nicht. Geologisch gesehen ist die Ära der menschlichen Vorherrschaft auf der Erde kaum mehr als ein winziges Wassertröpfchen im endlosen Ozean der Zeit; es braucht schon mehr, um in einem Ozean Wellen zu schlagen.
Aber die Städte und Dörfer haben sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie wurden für Menschen erbaut, und ohne Menschen haben sie weder Charakter noch Zweck. Und so haben sie ihr Gedächtnis verloren. Überall sprießen Pflanzen und verleihen den von Menschen geschaffenen Megalithen eine ganz neue, nicht zu identifizierende Form. Schleichend sind Büroblöcke zu Tafelbergen geworden, öffentliche Plätze zu kleinen Wäldchen oder Seen. Der Vergangenheit beraubt, die ihnen früher einmal einen Sinn verliehen hat, haben sie sich einfach ergeben.
Wer allerdings darauf aus ist, kann hier jede Menge andere Geister entdecken. Die Wissenschaftler weichen den Hungrigen aus, wann immer es geht, und nähern sich nur, wenn es absolut notwendig ist. (Also fast immer, wenn der Expeditionsplan neue Probenentnahmen vorsieht.) Ihre militärische Eskorte hat dank ihrer Waffen noch eine dritte Option, die sie mit Nachdruck in Anspruch nimmt.
Niemand hat Spaß an diesen Ausflügen, aber die Marschroute ist eindeutig und schickt sie an jeden Ort, wo sich verwertbare Daten verstecken könnten.
Sieben Wochen nach dem Aufbruch aus Beacon führt sie sie nun nach Luton. Private Sixsmith parkt Rosie mitten auf einem Kreisverkehr auf der A505. Die Stelle ist leicht zu verteidigen und bietet außerdem einen hervorragenden Rundumblick. Von dort aus geht das Exkursionsteam zu Fuß weiter in die Stadt, die noch ungefähr eine halbe Meile entfernt liegt.
Hier haben die Forscher der Charles Darwin, ihre verstorbenen Vorgänger sozusagen, einen Behälter mit Probenkulturen hinterlassen, eingebettet in organisches Material aus der unmittelbaren Umgebung. Der Auftrag des Teams besteht darin, diese Kulturen einzusammeln. Dazu braucht man nur einen Wissenschaftler und eine Eskorte aus zwei Soldaten. Dr. Khan ist dieser Wissenschaftler (sie hat drei Tage in Folge mit Lucien Akimwe die Dienste getauscht, um da auch ganz sicher zu sein). Ihre Eskorte besteht aus Lieutenant McQueen und Private Phillips.
Khan will aus ganz privaten Gründen diesen Ausflug nach Luton machen, und mit jedem Tag wurden diese Gründe dringlicher. Sie hat Angst, ist verunsichert. Sie braucht eine Antwort auf eine ganz bestimmte Frage und hofft, sie in Luton zu finden.
Aus den üblichen Gründen bewegen sie sich nur langsam vorwärts: dichtes Gestrüpp, improvisierte Barrikaden aus herausgebrochenen Ziegeln, Aufregung und Umwege, wann immer sich etwas rührt oder einen Laut von sich gibt. Die Soldaten müssen keinen Gebrauch machen von ihren Waffen, doch sie entdecken mehrmals Grüppchen von Hungrigen in der Ferne und ändern jedes Mal die Route, um das Risiko einer direkten Begegnung zu minimieren. Ihr Schritttempo entspricht dem eines stockenden Leichenzugs, denn obwohl sie jeden Millimeter sichtbarer Haut dick mit Geruchsblocker eingeschmiert haben, ist es möglich, dass die Hungrigen eine zu abrupte Bewegung registrieren und sie als Beute wahrnehmen.
Khan denkt darüber nach, wie merkwürdig sie aussehen müssen, auch wenn hier vermutlich niemand ist, der sie sehen könnte. Die Männer sind beide über eins achtzig groß, und zwischen ihnen die kleine, zarte Frau. Sie reicht ihnen nicht einmal bis zur Schulter, und ihre Oberschenkel sind dünner als die Oberarme der Soldaten. Jeder der beiden könnte sie problemlos tragen – samt Ausrüstung – und würde nicht einmal aus dem Tritt geraten.
Es ist schon nach Mittag, als sie den Park Square erreichen – laut den Aufzeichnungen der Darwin ihr heutiges Ziel. Und dann dauert es noch eine ganze Weile, den Behälter mit den Kulturen aufzuspüren. Wie die Vorschriften es vorsehen, haben die Wissenschaftler aus der Darwin ein Areal von knapp zehn Quadratmetern gerodet, um die Proben sichtbar platzieren zu können. Doch seitdem hatte die Vegetation wieder ein Jahr Zeit, um zu wachsen. Der grell orangefarbene Kasten verschwindet nahezu in den dichten, festen Ranken, die aussehen wie Panzersperren. Sie müssen sich den Weg mit Macheten frei schneiden.
Khan kniet sich zwischen die zerhackten Zweige und Ranken, aus denen klebriger Saft quillt, und prüft die Siegel an den Kulturenbehältern. Es sind zehn Stück, alle waren ursprünglich transparent, sind aber nun bläulich grau, da der gesamte Innenraum mit Pilzgeflecht ausgefüllt ist. Was vermutlich bedeutet, dass die Proben wertlos sind, da sie keinerlei Informationen liefern außer dem Offensichtlichen: dass der Feind robust und flexibel und weder beim pH-Wert noch bei Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder irgendeinem anderen verdammten Faktor besonders wählerisch ist.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und das Ziel der Mission ist nicht verhandelbar. Khan verstaut die Boxen in den Taschen an ihrem Gürtel. McQueen und Phillips stehen dicht neben ihr und behalten den stillen Platz im Auge.
Schließlich erhebt sich Khan, bleibt aber stur stehen, als McQueen ihr und Phillips mit einer ruppigen Geste befiehlt, den Rückweg anzutreten.
»Ich muss noch einen kurzen Abstecher machen«, erklärt sie und hofft inständig, dass ihre Stimme nicht verrät, wie nervös sie ist.
Der Lieutenant mustert sie vollkommen gleichgültig. In seinem flachen, breiten Gesicht zeigt sich keinerlei Regung. »Das steht nicht im Protokoll«, erwidert er knapp. Seine Geduld mit ihr ist begrenzt, und er macht sich keine Mühe, diese Tatsache zu verbergen. Khan ist davon überzeugt, dass das (1) daran liegt, dass sie kein Soldat ist und (2) nicht einmal ein Mann. Vielleicht spielt sogar ein gewisser Rassismus mit hinein, egal, wie bizarr und veraltet das in der heutigen Zeit erscheinen mag.
Deshalb hat sie mit dieser Antwort gerechnet und sich bereits eine Erwiderung zurechtgelegt. Sie zieht eine Liste aus ihrem Arbeitsanzug und gibt sie ihm. »Medikamente«, erklärt sie, während er das Blatt auseinanderfaltet und es widerwillig mit zusammengepressten Lippen überfliegt. »Wir sind ganz gut ausgestattet, aber nördlich von Bedford ging eine Menge Bomben runter. Wenn wir unseren Vorrat mit ein paar von diesen Sachen aufstocken, bevor wir in den Brandschatten kommen, würde uns das eine Menge Probleme ersparen.«
Wenn es sein muss, würde Khan auch lügen, aber McQueen fragt gar nicht erst, ob dieser Abstecher offiziell genehmigt wurde. Er geht automatisch davon aus, dass Khan ihre kleine Landpartie nicht ohne direkte Weisung von Dr. Fournier oder dem Colonel verlängern würde. Grundsätzlich keine falsche Annahme.
Also wandern sie noch ein Stückchen weiter bis zum Einkaufszentrum, das dem Mausoleum eines Pharaos in nichts nachsteht. Hinter eingeworfenen Schaufenstern stehen Flatscreenfernseher und Computer wie digitale Götzen. Schaufensterpuppen in mit Pfauenfedern besetztem Zwirn beten sie an oder warten auf ihre Wiederauferstehung.
Ohne all das zu beachten, führt Lieutenant McQueen den Trupp ins erste Zwischengeschoss. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, bleibt er mit entsichertem Sturmgewehr vor der Apotheke stehen, während Khan und Phillips die Firma Boots um ihre kostbare Ware erleichtern.
Khan geht zu den verschreibungspflichtigen Medikamenten und überlässt dem Private die wesentlich einfachere Aufgabe, Verbandsmaterial, Pflaster und Schmerzmittel zu suchen. Trotzdem drängt sie ihm ihre Liste auf, mit dem Argument, dass er sie eher brauchen wird als sie. Sie weiß schließlich auswendig, welche Medikamente zur Neige gehen und was sie hier voraussichtlich finden wird.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Genauso will sie, dass Private Phillips sich darauf konzentriert, ihre grottige Handschrift zu entziffern, während er sich durch die Regalreihen arbeitet. Solange er auf die Liste starrt, kann er sie nicht beobachten. Dann kann sie ungestört ihren geheimen Plan umsetzen – der sie ohne Genehmigung und Wissen der beiden Expeditionskommandanten hierhergeführt hat.
Die verschreibungspflichtigen Medikamente stehen hinter dem Tresen. Khan tritt hinter die Theke und füllt schnell und effizient ihre Tasche. Vor allem Antibiotika steckt sie ein, die in Beacon derart rar sind, dass jedes Rezept von zwei Ärzten und einem Offizier gegengezeichnet werden muss. Auch eine ganze Packung Insulin wandert in ihre Tasche. Paracetamol, Codein, ein paar Antihistamine.
Nachdem die offizielle Einkaufsliste abgearbeitet ist, wird es Zeit für den nächsten Punkt auf der Tagesordnung. Eigentlich hatte sie gehofft, das Gesuchte hier bei den Medikamenten zu finden, aber sie kann nirgendwo eine Spur davon entdecken. Vorsichtig streckt sie den Kopf über den Tresen und sondiert die Lage. Private Phillips befindet sich ungefähr vierzig Meter von ihr entfernt und studiert mit gerunzelter Stirn die Liste, während er langsam durch die Reihen geht.
Khan schleicht mit winzigen Schritten über den Gang. Sie versucht, jedes Geräusch zu vermeiden, und duckt sich so tief hinunter, wie es nur geht. Als sie einen Aufsteller mit Zahnhygieneprodukten erreicht, sucht sie hastig die Regale ringsum ab. Phillips kann jeden Moment fertig werden und sich auf die Suche nach ihr machen.
Die Körperregion, um die es ihr geht, liegt viel tiefer als die Zähne, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund befinden sich die diesbezüglichen Produkte im Regal direkt daneben. Drei Marken stehen zur Auswahl. Vor zehn Jahren, am letzten Tag, als hier irgendetwas ge- oder verkauft wurde, waren sie gerade im Angebot. Welchen Sinn das gehabt haben soll, ist Khan vollkommen schleierhaft, denn diese Produkte sind nur in sehr begrenztem Umfang einsetzbar. Entweder braucht man sie oder eben nicht, und wenn man sie braucht, ist der Preis eher Nebensache. Erleichtert schnappt sie sich eine Packung und stopft sie in ihre Tasche.
Nach kurzem Überlegen nimmt sie noch zwei mehr, von jeder Marke eine. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, und auch luftdicht verpackt verlieren sie vermutlich irgendwann an Wirkung. Da sind drei Versuche definitiv besser als einer.
Als sie den Kopf über das Regal streckt, sieht sie, dass Private Phillips ihr gerade den Rücken zuwendet. Perfektes Timing. Mit einem Schritt steht sie im Gang und stützt sich möglichst gelassen auf den Tresen der Pharmazieabteilung.
»Fertig«, sagt sie dann.
Phillips antwortet nicht. Er betrachtet etwas auf dem Boden.
Khan geht zu ihm hinüber.
Er hat eine Art Nest entdeckt: einen zerknüllten, schmutzigen Schlafsack; einen offenen Rucksack, aus dem mehrere Plastikflaschen und der Griff eines Werkzeugs ragen – wahrscheinlich ein Hammer oder ein großer Schraubenzieher; zwei ordentliche Kleiderstapel, bestehend aus Jeans, Socken, T-Shirts und einigen Pullovern (nichts davon eindeutig weiblich, außer einer Unterhose und einer schwarzen Bluse mit Rüschenärmeln); bestimmt zwei Dutzend leere Konservendosen, ebenfalls ordentlich aufgereiht, vor allem gebackene Bohnen und Suppe; eine Taschenbuchausgabe von Enid Blytons Der Wunschstuhl. Hier liegt kaum Staub, trotzdem sieht man, dass diese Sachen schon lange niemand mehr angerührt hat. Trockene Blätter, die durch irgendein kaputtes Fenster hineingeweht wurden, haben sich daran verfangen, und aus der unteren Hälfte des Schlafsacks kriecht dunkler Moder.
Hier hat jemand gewohnt, denkt Khan. Das Einkaufszentrum muss wie ein ziemlich gutes Versteck gewirkt haben, mit Nahrung, Obdach und einem verlockenden Angebot an Konsumgütern. Aber natürlich war es eine Todesfalle: ein Dutzend Eingänge und nur wenige Plätze, die sich leicht verteidigen ließen. Der hoffnungsfrohe Einsiedler starb wahrscheinlich ganz in der Nähe. Private Phillips mustert gedankenverloren das traurige kleine Lager und kratzt sich mit der Fingerspitze über das stoppelige Kinn.
Dann geht er in die Hocke, legt sein Gewehr ab, greift nach dem Buch und blättert es mit dem Daumen durch. Dabei muss er äußerst behutsam vorgehen, denn der jahrzehntealte Leim ist ausgetrocknet und so brüchig, dass sich bereits die ersten Seiten vom Rücken lösen. Khan staunt. Sie kann nur vermuten, dass Der Wunschstuhl in Phillips’ Kindheit eine Rolle gespielt hat und dass er hier gerade einen halb vergessenen Teil seines Selbst wiederentdeckt.
Etwas löst sich aus dem Buch und fällt zu Boden – ein schmaler, blassgoldener Streifen Karton. Ein einziges Wort steht darauf: Rizla.
»Hab ich’s doch gewusst«, jubelt Phillips. Achtlos wirft er das Buch beiseite. Beim Aufprall werden einige Seiten herausgeschleudert und landen wie ein aufgefächertes Kartenspiel neben dem Band. Der Private wendet sich zielstrebig dem Rucksack zu und zieht erst die halb leeren Wasserflaschen heraus, dann das Werkzeug (einen Klauenhammer), bevor er schließlich seine eigentliche Beute entdeckt: ein halb volles Päckchen Marlboro und eine zweite, ungeöffnete Packung. In Beacon ist das besser als Gold, aber so weit kommen diese Dinger sowieso nicht.
Khans Blick fällt auf die verstreuten Buchseiten. Auf einer von ihnen erkennt sie ein Bild von zwei Kindern in einem fliegenden Stuhl. Sie klammern sich an den Armlehnen fest, während sie hoch über den Zinnen eines Schlossturms dahinfliegen. Die Bildunterschrift lautet: »Oh, unser magischer Stuhl könnte uns einfach überallhin bringen!«, rief Peter.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen, Dr. Khan?«, fragt Phillips. Er klingt fröhlich und herzlich. Vermutlich freut er sich schon auf seine Kippen.
»Ja, Gary«, antwortet Khan betont gleichgültig. »Alles, was ich brauche.«
Der Rückweg zu Rosie verläuft zum Glück ereignislos, ist aber wie schon der Hinweg langwierig und ermüdend. Als sie endlich durch die Luftschleuse gehen, ist Khan ziemlich fertig mit der Welt und will sich für den Rest des Tages nur noch auf ihr Feldbett verkriechen. Aber erst mal muss sie John Sealeys Begrüßung über sich ergehen lassen, der sich – unter dem Vorwand einer belanglosen Unterhaltung – versichern will, dass es ihr gut geht. Der junge Stephen Greaves zeigt seine Bedürfnisse weniger offen, aber sie kennt seine Körpersprache gut genug: Er braucht noch mehr Aufmerksamkeit als John, und außerdem muss er – wie immer – mithilfe der Rituale, die sie im Lauf der Jahre entwickelt haben, ihren normalen Status quo wiederherstellen. Begrüßung und ein kurzer Austausch, dessen Bedeutung weniger im Sinn der Worte liegt, sondern hauptsächlich darin, dass sie ausgesprochen werden.
»Arbeit gut gelaufen, Stephen?«
»Nicht schlecht, Dr. Khan, danke der Nachfrage.«
»Gern geschehen.«
»Haben Sie den Spaziergang genossen?«
»Sehr sogar. Das Wetter ist wundervoll. Du solltest dir auch noch ein wenig die Beine vertreten, bevor die Sonne untergeht.«
Nachdem sie es geschafft hat, sich erst von John und dann von Stephen loszueisen, hat sie freie Bahn. Der Colonel ist oben im Cockpit. Die restlichen Crewmitglieder haben ihre eigenen Probleme.
Da Phillips das Klo besetzt, geht Khan in die Dusche. Sie schließt sich ein und zieht sich hastig aus. Obwohl ihr gesamter Körper in Schweiß gebadet ist, verströmt er keinerlei Eigengeruch, nur die bittere Note des G-Blockers. Wäre es anders gewesen, hätte sie das natürlich schon längst herausgefunden.
Nacheinander packt sie die drei Schachteln aus und verstaut die Verpackung in ihren Taschen. Als Nächstes folgen die drei Pappschachteln, möglichst klein zusammengefaltet. In jeder Schachtel befindet sich eine Art Stab aus billigem Plastik. Im Design unterscheiden sie sich leicht, aber jeder hat ungefähr auf halber Höhe ein kleines Fensterchen und an einem Ende eine Verdickung, an der man ihn festhalten soll.
Mit leicht gespreizten Beinen hockt sich Khan in die Duschkabine und tut, was getan werden muss.
Chemie ist eine schnörkellose Sache und nahezu unfehlbar. Anti-HCG Globulin reagiert sehr sensibel mit gewissen menschlichen Hormonen, darunter auch das Hormon Gonadotropin. Richtig aufbereitet, wird es seine Farbe verändern, wenn es mit diesem Hormon in Kontakt kommt.
Und dieses Hormon findet sich im Urin von Frauen. Unter gewissen Umständen.
Nachdem sie bei allen drei Stäben auf das entsprechende Ende gepinkelt hat, wartet sie schweigend ab und behält die drei kleinen Fensterchen im Auge. Ein negatives Ergebnis wäre nicht sonderlich aussagekräftig. Die Proteinschicht auf dem Streifen im Inneren der Stäbe könnte zu stark zersetzt sein, um noch zu reagieren. Ein positives Ergebnis hingegen würde das bedeuten, was es immer bedeutet.
Khan gelingt ein Hattrick.
Die Nachrichten aus den unerforschten Tiefen ihres Körpers lösen gemischte Gefühle in ihr aus: Staunen, Bestürzung, Ungläubigkeit und Elend bilden eine Art Tsunami, auf dem die Hoffnung wie ein kleines Rettungsboot hin und her geschleudert wird.
Sieben Wochen nach Beginn einer auf fünfzehn Monate angelegten Forschungsreise, zehn Jahre nach dem Untergang der Welt und Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt bekommt Dr. Samrina Khan Gewissheit. Sie ist schwanger.
Aber das hier ist nicht Bethlehem, und eine Krippe gibt es auch nicht.
Sie sind zu zwölft, zwei Sechsergruppen.
Das Wissenschaftsteam wird von Dr. Alan Fournier geleitet, dem zivilen Kommandanten der Expedition, der für den Gesamterfolg der Mission verantwortlich ist. Er ist dünn und übermäßig detailversessen und hat die Angewohnheit, sich mitten im Satz zu unterbrechen, um seine Gedanken zu ordnen. Bei einem Vorgesetzten ist das nicht gerade eine gute Eigenschaft, aber fairerweise muss man sagen, dass ihn sowieso niemand als solchen wahrnimmt.
Die Eskorte, bestehend aus Soldaten und Offizieren des Truppenkommandos von Beacon, steht unter dem Befehl von Colonel Isaac Carlisle, auch bekannt als »der Heizer«, da sein Name oft mit dem Einsatz chemischer Brandmittel in Zusammenhang gebracht wird. Er hasst diesen Spitznamen. So wie er jene Mission gehasst hat. Was er von der aktuellen hält, ist nicht bekannt.
Im Wissenschaftsteam gibt es drei Männer und zwei Frauen:
Samrina Khan Epidemiologin
Lucien Akimwe Chemiker
John Sealey Biologe
Elaine Penny Biologin
Stephen Greaves weiß niemand so genau
Die Eskorte besteht ebenfalls aus zwei Frauen und drei Männern:
Lt. Daniel McQueen Scharfschütze und stellvertretender Befehlshaber
Lance-Bombardier Kat Foss Scharfschützin
Private Brendan Lutes Mechaniker
Private Paula Sixsmith Fahrerin
Private Gary Phillips Quartiermeister
Die Führungsgremien von Beacon – also das zivile Komitee und das militärische Oberkommando – haben weder die besten noch die klügsten Köpfe ausgewählt, obwohl man offiziell so getan hat, als wäre genau das passiert. In Wahrheit hat man einen Querschnitt erstellt, der die größtmöglichen Überlebenschancen gewährleisten soll. Oder man hat es zumindest versucht. Natürlich hätte man eine größere Eskorte abstellen und die Expedition mit mehr Fahrzeugen ausrüsten können, aber jeder weitere abkommandierte Soldat hätte eine Schwächung von Beacons eigener Schlagkraft bedeutet. McQueen und Foss, beide mit spezieller Scharfschützenausbildung, sind Elitesoldaten und damit am schwersten zu entbehren. Ihre speziellen Fähigkeiten werden tagtäglich gebraucht, um die Horden von Hungrigen auszudünnen, die sich an den Toren von Beacon sammeln. Bei den Wissenschaftlern sieht das natürlich anders aus, aber auch auf ihrem Gebiet gibt es immer wieder Notfälle, bei denen ihr Wissen gefragt ist. Sie loszuschicken ist Beacons Versprechen auf eine Zukunft. Allerdings wurde dieses Versprechen durch eine dicke Schicht Pragmatismus gefiltert.
Alles in allem stellen zwölf Männer und Frauen in einem großen, schweren Panzerfahrzeug kein besonders großes Risiko für Beacon dar. Sie nehmen eine Menge Hoffnungen und Träume mit auf ihre Reise, aber falls sie zufällig abhandenkommen, ist der Verlust zu verschmerzen.
Und ihnen ist deutlich bewusst, dass sie entbehrlich sind.
Nach sieben Wochen waren sie in Luton. Nach sieben Monaten erreichen sie Schottland.
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, so wie alles andere auch. Die letzten guten Vorzeichen sind schon vor langer Zeit verblasst. Sie haben keinerlei Fortschritte gemacht, keine Entdeckungen. Tausende von Proben wurden eingesammelt und getestet, und es werden noch Tausende kommen, aber inzwischen glaubt keiner von den Wissenschaftlern mehr, dass es noch sonderlich viel Sinn hat. Zum Wohle der anderen behält jeder seine Resignation, seinen Zynismus und seine Verzweiflung für sich.
Ihre Route hat sich strikt am Weg der Charles Darwin orientiert, und sie konnten mit einer Ausnahme alle Probencontainer einsammeln. Der eine, den sie ausgelassen haben, befindet sich auf dem Cairngorm-Plateau, knapp unterhalb des Gipfels des Ben Macdhui, und Dr. Fournier selbst hat entschieden, ihn dort zu lassen. Laut seiner Aussage war er nicht bereit, Rosie an den steilen Hängen in Gefahr zu bringen, aber in diesem Satz haben alle stillschweigend Rosie durch meinen Hintern ersetzt. So oder so ist es ein Zeichen dafür, dass er kurz davorsteht, die Segel zu streichen.
Der zivile und der militärische Anführer dieser Mission sind einfach nicht geeignet für ihre Jobs. Sie hassen einander, und sie meiden den Kontakt zur Mannschaft – wohl weil sie die Crew andernfalls zwingen müssten, sich für eine Seite zu entscheiden. So bleibt es meistens an Lieutenant McQueen hängen, den Dienstplan der Eskorte aufzustellen, und an Dr. Khan und Dr. Sealey, die Aufgaben bei den anstehenden Probenanalysen zu verteilen.
Khan kann es nicht mehr verbergen. Eine Zeit lang war ihr Zustand nicht eindeutig belegbar, und sie hätte die Schwangerschaft abstreiten können, wenn sie danach gefragt worden wäre. Diese Zeit ist jetzt vorbei, und sehr bald wird man sie fragen.
Und dann ist da noch Stephen Greaves, dessen Anwesenheit bei vielen Fragen aufwirft. Wer kam eigentlich auf die Idee, ein Kind auf eine solche Mission mitzunehmen? Wann wird Dr. Fournier ihn endlich aus dem Dienstplan streichen, anstatt um seine Unzulänglichkeiten herumzulavieren?
Wann werden sie aufgeben und umkehren?
Wann wird das jemals enden?
Vor allem diese Frage schwebt unausgesprochen im Raum, als der Funk zusammenbricht. Ihre Geräte scheinen intakt zu sein, aber aus Beacon, ihrer Heimat, ihrem Ursprung, ihrer Basis und dem letzten Bezugspunkt, kommt keine Antwort mehr.
Sie sind auf sich allein gestellt.
Teil Zwei
Sie teilen sich in drei Abteilungen auf.
Die Kampfschweine gehen zuerst. Diesen plumpen Ausdruck benutzt nur Lieutenant McQueen. Die drei Privates tun so, als fänden sie ihn lustig, aber Dr. Khan empfindet ihn als beleidigend. Lutes ist der beste Mechaniker, den Beacon zu bieten hat. Sixsmith war vor dem Zerfall Pilotin in der zivilen Luftfahrt und kennt sich mit Flügeln genauso aus wie mit Rädern. Phillips ist gebaut wie eine antike Statue und beherrscht Kartentricks, die selbst dann noch faszinierend sind, wenn er sie zuvor erklärt hat. Keiner von ihnen hat etwas von einem Kampfschwein an sich. Mit schnellen Schritten und wachsamen Pausen marschieren sie über den Hügel. Nach ungefähr fünfzig Metern verkriechen sie sich hinter einem Ginsterbusch, der zwar keinerlei Schutz bietet, aber ihre Umrisse zumindest aus der Entfernung verschwimmen lässt. Eine solche Kleinigkeit kann den Unterschied ausmachen zwischen Leben und Tod.
»Sauber«, verkündet Private Phillips gedämpft. Hier draußen trägt der Schall sehr weit. Es gibt keinen Grund, laut zu rufen, aber eine Menge Gründe, es nicht zu tun.
Solange Colonel Carlisle nicht anwesend ist, hat McQueen das Kommando. Er verständigt sich mit Gesten, hebt den am Ellbogen abgewinkelten Arm nach oben und lässt ihn nach vorne fallen.
Die Geste soll den Wissenschaftlern signalisieren, dass sie die Nächsten sind. Zwei Drittel des Teams zieht los: Dr. Khan, Elaine Penny, Lucien Akimwe und John Sealey. Die beiden übrigen Teammitglieder bleiben der heutigen Arbeit fern: Als Leiter des Wissenschaftsteams und ziviler Leiter der Expedition steht Alan Fournier über solchen Aufgaben. Und Stephen Greaves wurde heute gar nicht auf den Plan gesetzt, da Fournier ihm die Arbeit an einer koordinierten Gruppenaufgabe nicht zutraut, genauso wenig wie der Rest der Crew (Khan einmal ausgenommen).
Khan trifft diese Herabwürdigung tiefer als Stephen selbst, aber eigentlich ist sie dankbar dafür, dass er nicht dabei ist. Er ist wie ein Sohn für sie, nicht biologisch gesehen natürlich, aber auf eine emotionale Art und Weise. Ein Teil von ihr konnte sich bis heute nicht von der Verantwortung befreien, ständig auf ihn aufpassen zu müssen. Außerdem achtet sie, auch wenn sie das nicht einmal John Sealey gegenüber zugeben würde, immer sehr darauf, ihn möglichst von diesen Sortierungsaktionen fernzuhalten, weil die einfach so würdelos und brutal sind. Die Hungrigen mögen ja keine Menschen mehr sein, aber sie sehen immer noch ziemlich so aus. Mitansehen zu müssen, wie sie niedergemäht werden wie trockenes Gras, dreht ihr jedes Mal den Magen um, ganz egal, was ihr Gehirn ihr einflüstert.
Sobald sie den Hügelkamm erreicht, lässt sie sich auf den Hintern sinken und kriecht auf Händen und Füßen den Hang hinunter. (Sehr unwürdig, aber zum jetzigen Zeitpunkt darf sie keinen Sturz mehr riskieren.) Ihr kleiner Passagier tritt auch so ein paarmal kräftig zu, vermutlich, um seinen Protest kundzutun. Kurz bevor sie die Büsche erreicht, registriert sie aus dem Augenwinkel ein paar Hungrige weiter unten am Hang. Man darf sie nur mit Seitenblicken ansehen, so ist es sicherer. Schaut man sie direkt an, löst das einen Angriff aus. Bewegt man sich zu schnell, löst das einen Angriff aus. Schwitzt man so stark, dass der G-Blocker versagt, oder entfleucht einem – Gott bewahre – im Freien ein Furz, folgen sie der chemischen Spur und greifen an.
Aber im Moment ist sie auf der sicheren Seite, flankiert von Phillips und Sixsmith und dem beruhigenden Schutz ihrer Gewehre. Akimwe schlittert direkt hinter ihr über das Gras. Nur mit Mühe kriegt er sein Tempo unter Kontrolle, versetzt ihr aber trotzdem einen leichten Tritt, als er zu ihr aufschließt. Sofort entschuldigt er sich entsetzt. »Tut mir leid, Rina«, murmelt er. »Bitte verzeih mir.«
Khan schüttelt nur den Kopf, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. So zerbrechlich ist sie dann doch nicht. Trotzdem wäre es ihr lieber, wenn er es etwas weniger eilig hätte. Sein Abstieg war mit Sicherheit schnell genug, um von den Hungrigen registriert zu werden, und wenn die sich einmal in Bewegung setzen, gibt es kein Halten mehr. Schon jetzt könnten sie auf dem Weg zu ihnen hinauf sein, mit gesenkten Köpfen und herabhängenden Armen. Dann bringen sie in vollem Lauf und mit einem pervertierten Hechtsprung ihre klaffenden Kiefer in Position. Doch Khan ermahnt sich, dass da nur der Überlebensinstinkt aus ihr spricht. Gäbe es Hinweise auf einen Angriff, würden Phillips, Sixsmith und Lutes bereits schießen, und das gesamte Team würde sich hastig zurückziehen, während ringsum die Hölle losbräche.
Alles in Ordnung. Kann gar nicht anders sein.
Denn nun kommen die beiden Scharfschützen. Ohne erkennbare Eile gehen sie den Hügel hinauf. Ihre von reiner Körperkraft hervorgerufene Grazie sorgt dafür, dass Khan sich dafür schämt, derart dreckig, zerzaust und verängstigt zu sein. Seite an Seite kommen sie über den Hügel, fast so, als würden sie einen kleinen Spaziergang machen. Die überlangen M407-Scharfschützengewehre tragen sie lässig über der Schulter. Die drei Privates halten ihre Waffen immer schussbereit, aber Lieutenant McQueen und Lance-Bombardier Foss prahlen geradezu damit, nicht bereit zu sein, präsentieren stolz ihre leeren Hände. Kat Foss ist fast so groß wie der Lieutenant, eine elegante, schlanke Raubkatze mit kurz geschorenen weißen Haaren, deren Farbe an eine Rauchwolke erinnert. Sie ist die einzige Frau, die Khan je das Gefühl vermittelt hat, ihre eigenen ein Meter siebenundfünfzig wären nicht angemessen.
Sobald er sie erreicht, scheucht McQueen sie mit einem einzigen Wort auf: »Zielobjekte.« Inzwischen gut geschult, strecken die Wissenschaftler die Köpfe über die gelben Blüten. Bestimmt sehen sie aus wie eine Gruppe Hasen.
Selektierung. Jetzt müssen sie, wie bei den alten Griechen, Seelen gegen Federn aufwiegen, falls es in diesem Tal außer ihren eigenen überhaupt noch Seelen gibt. Das ist keine philosophische Spekulation, sondern eine Frage, die Khan tatsächlich unter den Nägeln brennt und ihr schlaflose Nächte bereitet.
Sie lässt den Blick durch das Tal wandern. Eine atemberaubende Aussicht. Der Himmel ist gesprenkelt, immer wieder hat die Sonne freie Bahn, bevor sie hinter vereinzelten Kumuluswolken verschwindet. Ein Tag, an dem die Möglichkeit von Regen dafür sorgt, dass man die grellen Strahlen umso mehr genießt, wenn sie einen streifen. Dunkle Wolkenschatten gleiten über die baumbestandenen Hänge und lassen es so aussehen, als wäre man unter Wasser. Weiter unten erstrecken sich hellgrüne Wiesen bis zum Seeufer, und trotz der Hetzjagd am Himmel ist die Oberfläche des Loch glatt wie ein Spiegel.
Überall in dem breiten Tal stehen vereinzelte Hungrige herum, unabhängig vom Terrain. Ihre Arme hängen schlaff herab, die Köpfe sind merkwürdig abgeknickt. Viele stehen bis zu den Waden oder Knien in Dornbüschen, Schlamm, Pfützen oder Seewasser. Sie tragen zerschlissene Kleidung, deren ausgeblichene Farben durch getrocknetes Blut ein neues Muster bekommen haben. Eigentlich sehen sie aus wie Schlafwandler, die jederzeit aufwachen können.
Und genau das sind sie auch, denkt Khan. Nur dass sie nie wieder aufwachen werden. Der menschliche Verstand, der früher diese Körper bewohnt hat, wird auf ewig weiterschlafen. Wenn sie die Augen aufschlagen, blickt etwas vollkommen anderes hinaus in die Welt.
»Zwei dort drüben«, sagt Elaine. »Vor dem großen Felsen. Jede Menge Grau dran.«
»Und noch einer.« Langsam und vorsichtig hebt Sealey die Hand und zeigt die Richtung an. »Selber Vektor, weiter unten am Hang. Freies Schussfeld.«
Khan muss sich ein Lächeln verkneifen – Vektor, Schussfeld. So reden McQueen und Foss. John will unbedingt bei den coolen Kids mitspielen, aber egal, was er tut oder sagt, er wird immer ein Nerd sein und kein todbringender Schütze. Irgendwie ist es rührend, wie eifrig er es versucht, obwohl er eigentlich so ein sanfter Mensch ist.
»Mir sind alle drei recht«, sagt sie, und auch Akimwe nickt. »Viel Arbeitsmaterial«, stimmt er zu.
Die Scharfschützen knien sich hin und bauen ihre Waffen auf – ohne ein Wort oder eine überflüssige Bewegung. Die anderen schweigen ebenfalls. Dieser Moment hat für die beiden eine ganz eigene Magie, und sie alle wissen, dass die dazugehörigen Rituale und Gepflogenheiten nicht gestört werden dürfen. Khan hat oft das Gefühl, dass sie die Einzige im Team ist, die dieser entspannten und ungehemmten Einstellung zum Töten skeptisch gegenübersteht. Vielleicht ist sie ja ein Sonderfall, wenn es darum geht, routinemäßig Blut zu vergießen.
Eine Heuchlerin ist sie ganz sicher. Wenn Foss und McQueen ihre Arbeit erledigt haben, wird sie losgehen und den auserwählten Opfern das eine oder andere abschneiden. Andere Mittel, selbe Praxis. Sie hat kein Recht, sich in diesen grünen Hügeln moralisch überlegen zu fühlen. Vor allem nicht, wenn sie daran denkt, was sie bei ihrer Rückkehr am Ende der Exkursion erwartet.
Es wird schon keine spanische Inquisition werden. Definitiv falsch gedacht, denn am Ende kommt die doch immer.
»Warum gibt es so weit draußen so viele von denen?«, überlegt Penny leise. »Hier ist es doch total abgelegen.« Die Verwunderung verändert den Ausdruck auf ihrem mit Sommersprossen übersäten Gesicht. Sie lässt sich von allen Teammitgliedern ihre Gefühlslage am deutlichsten anmerken. Abgesehen von Stephen – der hat überhaupt keine Abwehrmechanismen. Er ist unfähig, sich zu verstellen.
»Schau dir ihre Overalls an«, erklärt Akimwe. »Die meisten von ihnen haben in der Wasserprüfanlage am oberen Ende des Loch gearbeitet. Wahrscheinlich wurden sie alle zur selben Zeit infiziert.«
Khan will gar nicht daran denken, wie das vonstattengegangen sein könnte. Ein Hungriger findet einen Zugang zu dem großen Betonbunker, beißt den ersten Menschen, auf den er trifft, gibt die Infektion weiter. Sofort gehören die beiden zum selben Team und wandern durch die Korridore, immer der Duftspur folgend, die sie zu frischer Beute führt – beißen, infizieren, rekrutieren. Eine tödliche Kettenreaktion, die erst endete, als niemand mehr im Gebäude war. Niemand ohne das Pathogen im Körper. Niemand mit einem menschlichen Bewusstsein.
»Vom Ufer aus«, sagt McQueen. »Du zuerst.«
Foss hat sich bäuchlings auf dem Gras ausgestreckt und drückt die Wange an den gepolsterten Schaft ihres Gewehrs, das Auge dicht am Zielfernrohr. Würde sie stehen und nicht liegen, sähe es aus wie die Eröffnungsposition eines heißen Tangos.
Sie drückt den Abzug durch. Eine sanfte Bewegung, weder hastig noch abrupt. Das Gewehr – dessen Schalldämpfer selbst bei einem Hengst noch Penisneid hervorrufen würde – gibt ein Geräusch von sich, das an das Ausspucken eines Kirschkerns erinnert.
Eine halbe Sekunde später kippt unten im Tal eine der drei Gestalten, die sie ausgewählt haben, seitlich um, da ihr rechtes Knie zerfetzt wird. Dann landet sie kopfüber im See. Wo sie gerade noch stand, hängt kurz ein rotbrauner Sprühnebel in der Luft.
Mit kurzer Verzögerung dringt das Platschen des Wassers zu ihnen herüber, kaum lauter als ein Flüstern. Die Hungrigen, die dem Gefallenen am nächsten sind, wenden sich dem Geräusch und der Bewegung zu, aber keiner der Stimuli ist stark genug, um sie vom passiven in den aktiven Zustand zu versetzen.
McQueen ist als Nächster dran. Er schießt aus einer knienden Haltung heraus und nutzt zur zusätzlichen Stabilisierung das aufmontierte Zweibein seiner Waffe. Ein Schuss, und sein Ziel wird rücklings von den Füßen gerissen. Die Kugel hat mittig das Becken durchschlagen und das Ziel effektiv bewegungsunfähig gemacht. Reglos bleibt es liegen und zuckt nicht einmal. Nur der Kopf bewegt sich, die Augen rollen herum, als suchten sie nach dem Ursprung des Schusses.
Foss erledigt den dritten und letzten Auserwählten, dann wechseln die Scharfschützen die Magazine, um das direkte Umfeld der Gefallenen zu säubern.
Damit wollen sie vor allem verhindern, dass es zu einer Stampede kommt. Wenn die Hungrigen losrennen – und wenn einer rennt, rennen sie alle –, zertrampeln sie dabei die selektierten Exemplare, von denen die Gewebeproben genommen werden sollen. Es wäre sinnlos, aus der breiigen Fleisch- und Knochenmasse, die danach noch übrig wäre, Proben zu entnehmen. Deshalb stehen heute maximalinvasive Hohlspitzgeschosse auf dem Programm, kurz MIH genannt. Diese Flechetgeschosse platzen im Körperinneren auf und zermatschen alles, was ihnen in den Weg kommt. Jeder Schuss ist tödlich. Doch McQueen scheint das vergessen zu haben, denn er zielt jedes Mal auf den Kopf. Und jedes Mal trifft er.
Mann und Frau arbeiten in einem schnellen Rhythmus, ziehen den Verschluss zurück, um die leere Hülse auszuwerfen, und rammen ihn wieder an seinen Platz, während der andere zielt und feuert. Wenn sie das Magazin wechseln (jedes enthält nur fünf Schuss, damit die sensible Balance der Gewehre nicht beeinträchtigt wird), entsteht kaum eine Pause in diesem konzertierten Gemetzel.
Nach zwei Minuten ist der Bereich rund um die drei auserwählten Hungrigen frei. Damit ist das, was im Team als Feinräumung bezeichnet wird, abgeschlossen. Als Nächstes folgt die Großräumung, die erledigen die Kampfschweine mit ihren vollautomatischen FN-SCAR-Sturmgewehren. Die drei Privates heben die Waffen und zielen, soweit das nötig ist.
»Entsichern«, befiehlt McQueen. »Auf mein Zeichen.« Er hebt die Hand. Warten. Warum tut er das?, fragt sich Khan. Will er den Wind prüfen, oder was? Aber das ergibt gar keinen Sinn. Sie haben alle G-Blocker aufgetragen, um das Sammelsurium natürlicher Ausdünstungen zu unterdrücken, das ihre Körper verströmen, und sie haben sich zusätzlich noch gegen den Wind positioniert, um kein Risiko einzugehen. Entweder ist diese lang gezogene Pause ein Aspekt des Tötungshandwerks, den ein Laie nicht versteht, oder es handelt sich um reine Melodramatik.
Der Moment zieht sich in die Länge. »Okay«, sagt der Lieutenant endlich. »Lasst uns –«
Doch er wird von einem anderen Kommando unterbrochen. Laut und deutlich befiehlt eine Stimme: »Feuer einstellen.«
Es ist Carlisle, der Colonel. Er steht mitten auf dem Hügelkamm, gut sichtbar von allen Seiten. Während sie auf das Geschehen im Tal konzentriert waren, hat er sich ihnen von hinten genähert und alles beobachtet.
Was McQueen offensichtlich überhaupt nicht passt. Er bläht die Wange auf, als hätte er etwas im Mund, was er am liebsten ausspucken würde.
»Bitte um Erlaubnis, offen sprechen zu dürfen, Sir.«
Der Colonel erteilt sie nicht, verweigert sie ihm aber auch nicht. Er ignoriert die Bitte einfach. »Waffen runter«, befiehlt er den drei Soldaten, die noch immer in den Ginsterbüschen hocken. »Abwarten und beobachten.«
McQueen versucht es noch einmal. »Sir, die Einsatzbestimmungen fordern die vollständige Säuberung des –«
Er unterbricht sich, als er sieht, was alle anderen inzwischen auch bemerkt haben. Auf einem Hügel ungefähr dreihundert Meter entfernt von ihnen ist, prachtvoll wie auf einem Wappen, ein Hirsch erschienen. Ein riesiges Tier, gewaltig wie der Zorn Gottes. Für einen Moment bleibt es reglos auf dem Hügelkamm stehen. Etwas Schöneres hat Khan in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen, zumindest ist sie in diesem Augenblick fest davon überzeugt. Fassungslos bestaunen sie den Hirschen und werden so zu Touristen degradiert, denen der König des Waldes einen kleinen Platz in seinem vollen Terminkalender eingeräumt hat, und kurz bei ihnen vorbeischaut und sie daran erinnert, wie klein sie doch in Wahrheit sind.
Dann läuft er den Abhang hinunter. Khan weiß, was gleich passieren wird. Aber sie kann den Blick einfach nicht abwenden.
Der Hirsch ahnt nichts von der drohenden Gefahr. Nichts rührt sich, alles ist still. Der leichte Wind lässt ein paar Kleidungsstücke flattern, und die kleinen Wellen des Sees brechen sich an den vor Kurzem Niedergeschossenen. Hier gibt es nichts zu sehen, nichts Alarmierendes.
Das Tier befindet sich schon mitten unter den Hungrigen, als die ersten von ihnen anfangen, sich zu bewegen. Ruckartig heben sie die Köpfe und drehen sich, um Entfernung und Geschwindigkeit abzuschätzen. Dann laufen sie los.
Ohne jede Vorwarnung findet sich der Hirsch im Zentrum eines Massenansturms wieder.
Er verfällt in Galopp, doch das wird ihm nicht helfen, denn er kann nirgendwohin, sämtliche Fluchtwege sind bereits blockiert. Als sie noch auf das ganze Tal verteilt waren, schienen es nur wenige Hungrige zu sein, aber bei Gott, kaum ertönt die Essensglocke, drängen sie sich schon zusammen! Aus sämtlichen Ecken kommen sie angerannt, die Rücken gekrümmt, die Köpfe vorgestreckt. Jetzt geben sie auch Geräusche von sich: Ihre Kiefer mahlen, ihre Füße trommeln auf die Erde, und immer wieder ertönt ein dumpfer, brutaler Schlag, wenn sich zwei von ihnen in ihrer Hast gegenseitig umstoßen und den Hügel hinunterrollen.
Der erste von ihnen erreicht das Tier und vergräbt die Zähne in seiner Flanke. Der zweite schnappt sich die Kehle. Danach lassen sie sich nicht mehr zählen, man kann kaum noch etwas erkennen. Der Hirsch verschwindet unter einem Berg menschlicher Körper (oder postmenschlicher, korrigiert sich Khan in Gedanken). Nur sehr gedämpft dringt das Aufprallgeräusch seines fallenden Körpers zu ihnen herüber.
Die Hungrigen fressen, zucken mit den Köpfen, verkeilen die Kiefer, reißen mit schnellen, krampfartigen Bewegungen heraus, was sie an Fleischfetzen erwischen können. Das Ganze ähnelt einer riesigen Darmbewegung, einer kollektiven Welle, die sie alle erfasst.
Khan begreift nun, warum der Colonel den Feuerbefehl ausgesetzt hat. Sämtliche Hungrige – außer ihren drei Auserwählten – haben den Teil des Tals verlassen. Nichts steht mehr zwischen den Wissenschaftlern und dem, was die Scharfschützen für sie geerntet haben.
Die Scharfschützen bleiben oben auf dem Hügel und sorgen für Deckung, während die Wissenschaftler ins Tal hinuntergehen. Begleitet werden sie von den Kampfschweinen, die ihre Waffen nun über der Schulter tragen und die Fangschlingen bereithalten. Ihnen bleibt nur wenig Zeit, und jeder hat seine Aufgabe.
Weshalb jetzt auch Khan ein Probenentnahmeset zur Hand nimmt, obwohl sie eigentlich als Epidemiologin angeheuert wurde. Aber hier gibt es nur ein wesentliches Unterscheidungskriterium: Menschen mit Waffen und Menschen mit Doktortiteln.
Drei Hungrige. Drei Objekte mit einem Gehirn, einer Wirbelsäule, Haut und verschiedenen inneren Organen. Vier Wissenschaftler, alle mit einem Entnahmeset, das Platz bietet für maximal vierundzwanzig unterschiedliche Proben. Spaß in Tüten.
Die Soldaten handhaben ihre Fangschlingen mit geübter Leichtigkeit. Das Gerät wurde eigentlich für den Umgang mit Tieren konzipiert: eine ausziehbare und stufenlos verstellbare Metallstange mit einer Schlinge an einem Ende. Letztere besteht aus einem mit Ballonseide umwickelten Stahlseil. Man wirft sie über den Hals – oder verfügbare Gliedmaßen – eines Hungrigen und benutzt sie dann als Fixierpunkt. Normalerweise hält sie Hals und Arme des Zielobjekts fest, sodass der gesamte Oberkörper bewegungsunfähig gemacht wird. Der Hungrige kann sich so zwar winden und in gewissem Maße um sich schlagen, aber solange man ihm nicht die Hand in den Mund schiebt, wird man nicht gebissen.
Es ist nicht immer einfach, das im Hinterkopf zu behalten. Diese Hungrigen wurden schon vor Jahren infiziert. Das Cordyceps-Pathogen ist die ganze Zeit über in ihren Körpern gewachsen und hat inzwischen sogar schon auf der Hautoberfläche ein dichtes Netz aus grauem Pilzgewebe gebildet. Das ist vollkommen ungefährlich, denn der Übertragungsweg ist auf Körperflüssigkeiten begrenzt, also Blut und Speichel. Aber ein tief sitzender Instinkt sorgt jedes Mal dafür, dass Khan den direkten Kontakt mit dem von grauem Pelz bewachsenen, fleckig bleichen Fleisch vermeiden will.
Was aber nicht geht. Jede Sekunde zählt. Ist das Objekt erst gesichert, wird jeder der Wissenschaftler zu einem hochspezialisierten Metzger. John Sealey setzt mit absoluter Konzentration die Knochensäge ein. Akimwe wird zum Herrn über die Rückenmarksflüssigkeit, indem er eine Spritze in den fünften Lendenwirbel rammt, ohne diesen dabei zu zerbrechen. Penny kümmert sich um den Bewuchs der Epidermis. Bei dieser Aufgabe muss sie immer wieder wie das Schiffchen eines Webstuhls zwischen den beiden Männern hindurchtauchen, um ihren kleinen Plastikspatel zum Einsatz zu bringen.
Und Khan?
Khan schneidet das Gehirn raus.
Das Gehirn ist das Filetstück, auch wenn es ganz und gar nicht so aussieht. Es ähnelt eher einem verschimmelten Käse, vertrocknet und auf ein Drittel seiner normalen Größe geschrumpft, dazu noch mit spinnwebartigem Pilzgeflecht überzogen. Sie nimmt nicht alles mit. Eine Momentaufnahme der Ausbreitung und Dichte des Myzels reicht aus, und die bekommt sie durch eine einfache Biopsie.
Sobald John also die Schädeldecke aufklappt, treibt Khan ihren acht Zentimeter langen Biopsiestanzer diagonal durch den Corpus Callosum bis in das befallene und halb zersetzte Gewebe darunter.
An ihrem Gürtel hängen mehrere Stahlbehälter. Die gefüllten Stanzer passen so nahtlos hinein, dass sie quasi schon vakuumversiegelt sind, bevor sie den Deckel aufschraubt.
»Alles klar«, sagt sie schnell.
»Ich bin fertig«, erwidert Akimwe.
»Gebt mir noch einen Moment«, murmelt Penny. Immer wieder streicht sie mit dem Spatel über die Schulter des zuckenden Hungrigen, als wäre er ein Stück Butter, das frisch aus dem Kühlschrank kommt. »Okay«, sagt sie endlich und überführt den grauen Flaum sorgfältig in ihr letztes Probenglas. »Fertig.«
John Sealey gibt McQueen das Okay-Zeichen, indem er mit Daumen und Zeigefinger ein O formt. Wieder einmal versucht er, die Gesten des Lieutenants zu übernehmen, was einerseits rührend ist, andererseits aber vollkommen sinnlos. McQueen nimmt ihn kaum wahr.
Und da Carlisle nun hier ist, ist der Colonel der ranghöchste Offizier und nicht McQueen. »Alles fertig, Colonel«, sagt Khan. Dem Colonel bringt sie aufrichtigen Respekt entgegen – noch verstärkt durch eine persönliche Schuld, sodass es schwierig ist, dieses Gefühl genau einzuordnen. McQueen hingegen löst in ihr, obwohl er sie tagtäglich am Leben erhält, eher eine unangenehme Mischung aus Scheu und leiser Abneigung aus. Er ist sehr, sehr gut in dem, was er tut. Aber was er tut, ist etwas, mit dem sie sich nicht hundertprozentig anfreunden kann.
»Rückzug«, befiehlt Carlisle. »In einer Reihe, schön geordnet.«
Er ruft, und sie kommen. Die ganze Zeit über hat er sich nicht die Mühe gemacht, Deckung zu suchen oder auch nur den Kopf einzuziehen. Er behält einfach die Hungrigen am Fuße des Hügels im Auge, die noch immer die Überreste des Hirsches verschlingen. Aber auch wenn er selbst noch so viele Risiken eingeht, bei anderen ist er vorsichtig. Ruhig und geordnet führt er sie zurück, die Wissenschaftler mit ihrer hart erkämpften Beute in der Mitte eines schützenden Spaliers mit nach außen gerichteten Waffen. Wie eine empfindliche Blüte in einem Nest aus Dornen.
Als sie den Hügelkamm erreichen, blickt Elaine Penny noch einmal ins Tal zurück und runzelt verwirrt die Stirn.
»Was ist?«, fragt Khan.
»Das war merkwürdig«, antwortet Penny. »Ich dachte, ich hätte …« Sie zeigt nach unten. »Da waren Kinder.«
»Hungrige?«
»Nein. Ich weiß nicht.«
»Na ja, wer sollte da unten schon sein? Schrottwühler wissen es besser, als sich da herumzutreiben.«
Wieder runzelt Penny die Stirn, dann zuckt sie mit den Schultern. »Schätze schon.«
Auf dem Rückweg zu Rosie findet sich Khan plötzlich an der Seite des Colonels wieder. Sie bilden das Ende der Kolonne, denn trotz eines Gehstocks kommt er mit seinem humpelnden Gang nicht besonders schnell voran. Sein hagerer Körper, der von Dutzenden Schlachten zu einem sturmerprobten Monolithen geformt wurde, überragt sie so weit, dass sie ihm kaum bis zur Schulter reicht. Mit seinem kantigen Kinn, der an einen Schiffsbug erinnernden Nase und dem kahlen Schädel, auf dem nur noch ein kurzer, grauer Haarkranz wächst, wirkt er nicht weniger beeindruckend als der Hirsch. Ein so nostalgisch wirkender Anblick, dass es schon fast komisch ist. Als er sich zu ihr umdreht, verlagert er kurz den Griff um seinen (ebenso zeitlosen) gedrechselten Gehstock.
Sie kennen sich schon lange – viel länger als die gut zweihundert Tage, die diese Expedition nun schon dauert –, weshalb er ihr deutlich ansieht, dass sie nicht glücklich ist. Doch was den Grund dafür angeht, liegt er falsch. »Sie müssen sich wegen Dr. Fournier keine Gedanken machen, Rina«, sagt er. Und als sie nicht reagiert, fügt er hinzu: »Sie haben gegen die Regeln verstoßen, und das darf er einfach nicht ignorieren. Aber er kann Sie ja schlecht von der Expedition ausschließen, und da er die Angelegenheit zurzeit nicht nach Beacon übermitteln kann, stehen ihm keine anderen Maßnahmen zur Verfügung.«
Khan weiß das alles. Sie freut sich nicht besonders auf das anstehende Gespräch, aber Angst hat sie deswegen auch nicht. Das ist etwas, das sie einfach schnell hinter sich bringen will. Doch der Colonel hat das »Verbotene Thema« erwähnt. Jetzt grübelt sie automatisch über die Funkstille und die möglichen Gründe dafür nach, und solche Gedanken enden schnell in einer Abwärtsspirale, aus der man sich zügig befreien muss, wenn man nicht am Ende hart aufschlagen und sich in üblen Existenzängsten verlieren will.
Inzwischen haben sie ein Wäldchen erreicht, und die Soldaten rücken enger zusammen. Die Sicht zwischen den Bäumen ist schlecht. Hier könnte aus jeder Richtung ein Hungriger heranstürmen. Und da der Wind aufgefrischt hat, können sie sich nicht einmal auf ihr Gehör verlassen: Das Rauschen der Bäume klingt wie das weit entfernte Gebrüll aus einem voll besetzten Fußballstadion. Khan dringt der Duft von Wildblumen in die Nase, unterlegt mit dem Geruch von Verwesung. Die Welt hat ihre hässlichen Wunden mit ein wenig Parfum besprüht.
Colonel Carlisle erkennt, dass er den Punkt nicht getroffen hat. Er versucht es noch einmal.
»Sie denken, das war grausam«, stellt er fest. »Was ich gerade getan habe. Den Hirsch zu benutzen, um die Hungrigen wegzulocken.«
»Nein«, widerspricht Khan. Aber das stimmt nicht. Sie fand es abstoßend, und so etwas passt nicht in das Bild, das sie vom Colonel hat. »Ich hatte nur mit etwas anderem gerechnet, das ist alles.« Eine halbe Lüge. »Es war überraschend.«
»Mir ging es dabei um Verschwendung, Rina.«
»Ja, der Gedanke kam mir auch.«
»Aber Sie meinen damit den Hirsch. Ich beziehe mich auf die Munition.«
»Die Munition?«
»In Beacon haben wir ein ganzes Lagerhaus voller Munition, die bei Expeditionen zusammengetragen wurde. Das reicht für Jahre. Zehn Jahre, würde ich schätzen, vielleicht länger. Aber niemand stellt neue her. Zumindest keine so akkurate. Jede Kugel in diesen Magazinen, jedes Geschoss, das die Soldaten abfeuern, ist ein Produkt präzisester Handwerkskunst aus einem schwindenden Bestand.« Der Colonel wackelt mit der ausgestreckten Hand, um eine kippende Balance anzudeuten. »Jeder einzelne Schuss beeinflusst die Überlebenschancen unserer Spezies. Werden unsere Kinder mit Lanzen kämpfen müssen? Mit Pfeil und Bogen? Angespitzten Stöcken? Schon mit einer Schusswaffe ist es nicht einfach, einen Hungrigen aufzuhalten. Meistens scheint ihnen gar nicht bewusst zu sein, dass sie tot sind. Falls Sie als Expertin das nicht anders sehen.«
Mit einem kurzen Lächeln lässt er sie wissen, dass Letzteres als Scherz gemeint war, nicht als Provokation. Die Caldwell-Doktrin, laut der das Bewusstsein bereits bei der Infektion stirbt, ist in Beacon allgemein anerkannt, konnte aber nie zufriedenstellend belegt werden. Eine alternative Hypothese, die zwar schrecklich, aber durchaus plausibel ist, geht davon aus, dass bei den Hungrigen eine Art Locked-in-Syndrom eintritt. Dass ihr Bewusstsein zwar intakt ist, sie aber nicht in der Lage sind, ihren eigenen Körper zu steuern, da das Pathogen, das sich in ihrem Nervensystem eingenistet hat, das Bewusstsein sozusagen umgeht. Wie fühlt sich das wohl an? Die Seele späht zwischen den grauen Spinnwebvorhängen hinaus, während der Körper, den sie bisher als Hülle getragen hat, seine Freiheit feiert, indem er sich wahllosen Gewaltorgien hingibt.
Khan glaubt felsenfest an die Zukunft – also daran, dass es eine geben wird –, aber manchmal versetzt die Gegenwart ihr einen lähmenden Schlag in den Magen. Früher lebte sie in einer Welt, in der die Dinge einen gewissen Sinn ergaben, eine gewisse Beständigkeit hatten. Aber die Menschheit hat diese Welt irgendwie verlegt, und nun kann sie niemand mehr finden oder wiederaufbauen. Entropie breitet sich aus. Auch in ihrem eigenen Leben.
Der Colonel hat ihr versichert, dass sie nichts zu befürchten hat, aber als Mitglied des Wissenschaftsteams untersteht sie dem zivilen Kommandanten, nicht dem militärischen. Und bei Dr. Fournier weiß man sowieso nie, in welchen Wind er sein Fähnchen hängen wird. Meist weiß er es nicht einmal selbst.
Inzwischen haben sie die Außengrenze ihres Lagers erreicht. Carlisle befiehlt McQueen, die Bewegungssensoren zu deaktivieren. Der Lieutenant folgt der Anweisung mithilfe seines Walkie-Talkies. (Dass der intern genutzte Kanal noch funktioniert, beweist, dass kein mechanischer Defekt vorliegt und die Funkstille mit Beacon andere Ursachen haben muss.) Zwischen den Ginsterbüschen und den wild wuchernden Dornenranken verbergen sich drei gut versteckte Sensoren. Die knochenbrechenden Fallen auf Kniehöhe und die Stacheldrahthindernisse hingegen sind gut sichtbar aufgestellt. Wenn Hungrige einmal Fahrt aufgenommen haben, rennen sie ohne Umweg auf ihre Beute zu, es ist also vollkommen unnötig, hier auf Tarnung zu setzen.
Das Team kann jetzt die Straße sehen. Im Lauf der Jahre haben Pflanzen den schäbigen Betonstreifen langsam, aber sicher aufgesprengt, als sie sich einen Weg aus dem Erdreich bahnten. Gute fünfundzwanzig Meter davon haben die Soldaten und Wissenschaftler in gemeinsamer Schwerstarbeit geräumt, indem sie mit Macheten auf das Dornengestrüpp und die Distelwucherungen eingeschlagen haben. Die Rosalind Franklin steht in der Mitte dieser freien Fläche wie eine gepanzerte Henne, die darauf wartet, dass ihre Küken heimkehren.
Ihre? Immer wieder ertappt sich Khan dabei, wie sie in weiblicher Form an Rosie denkt, und jedes Mal ärgert sie sich darüber. Aber allein der Name dieses mit Panzerplatten versehenen olivgrünen Monsters zwingt einem diese Logik auf. Außerdem ruft er die Erinnerung an die stille Entschlossenheit mancher Wissenschaftler wach, die zwar die Welt verändert haben, aber nie mit glitzernden Preisen geehrt wurden. Doch Name hin oder her – im Prinzip ist Rosie das, was dabei herauskommen würde, wenn ein Sattelschlepper in Liebe zu einem Kampfpanzer entbrennt. Ihr vorderes Ende ziert ein V-förmiger Rammbock aus Stahl, der dieselbe Funktion erfüllen soll wie die Kuhfänger an alten Dampflokomotiven. Auf dem Dach ist ein breiter Geschützturm angebracht, der neben der üblichen Artillerie auch einen Flammenwerfer beherbergt. Zentimeterdicke Stahlplatten schützen die Seiten, und unter ihrem Bauch ziehen sich breite, schwarze Panzerketten entlang. In dieser Welt nach dem großen Sündenfall gibt es so gut wie nichts, was sie nicht überrollen, abfackeln oder in die Luft sprengen könnte.
Aber im Moment ist Rosie vor allem ihr Basislager; die kriegerische Seite versteckt sie hinter einer heimeligen Aura. Die Luftschleuse an der seitlichen Einstiegsluke ist voll entfaltet, und auch die ausfahrbaren Erweiterungselemente sind aktiviert, sodass der Innenraum sich fast um das Doppelte verbreitert hat. Durch Stützfüße wird Rosie immun gegen Druck von außen, egal, aus welcher Richtung und egal, bei welchem Tempo. Sie könnte selbst einem Hurrikan standhalten, oder – was die Sache wohl eher trifft – einem Massenansturm. Tausende von Hungrigen, die sich in einer endlosen Flutwelle aus Biomasse gegen ihre Flanken werfen, würden bloß zurückprallen und abebben.
Sie sind bereits zurückgeprallt und abgeebbt.
McQueen geht um die Luftschleuse herum und tippt gereizt auf das Zahlenfeld. Bereits beim zweiten Versuch gelingt es ihm, den Tages-Code korrekt einzugeben. Inzwischen ist die Luftschleuse für alle einfach nur noch lästig. Wie eine übergroße Duschkabine hängt sie an der Tür im Mittelsektor des Gefährts; sie wirkt instabil, besteht aber aus einem extrem robusten Kunststoffpolymer. Laut Vorschrift muss sie herausgefahren sein, wann immer ein Team das Fahrzeug verlässt, aber eigentlich ist sie total sinnlos. Heutzutage fürchtet sich niemand mehr davor, dass unbekannte Toxine oder Keime in Rosies Innenraum gelangen könnten. Was das Hungrigen-Pathogen ist und wie es sich verbreitet, weiß man, die Infektionswege sind bekannt. Die Luftschleuse soll eine Gefahr abwehren, die gar nicht existiert. Sie ist kaum mehr als eine schwache Geste, wie ein mahnender Zeigefinger im Angesicht der Apokalypse.
Außerdem haben nur sechs Menschen darin Platz, sodass sie zwei Rotationszyklen durchlaufen müssen, bis alle drin sind. Die Wissenschaftler mit den Gewebeproben gehen zuerst. Immerhin war das Sinn und Zweck der ganzen Aktion. Die Soldaten warten mit schussbereiten Waffen draußen ab, bis sich die Tür wieder öffnet und sie an der Reihe sind.
Auch im Inneren von Rosie bleiben die alten Demarkationslinien erhalten. Die Wissenschaftler ziehen sich in den Laborbereich zurück, der sich an Rosies Heck befindet. Die Soldaten gehen in die Mannschaftsquartiere im vorderen Bereich. Ein bisschen wie bei einem verkrampften Schulball, bei dem die Jungen und Mädchen an verschiedenen Enden der Tanzfläche stehen und niemand sich traut, seine Ecke zu verlassen. Allerdings wäre die Tanzfläche bei dieser Analogie der Mittelsektor, in dem sich nur die Luftschleuse und die Zugangsleiter zum Geschützturm befinden.
Khan stellt ihre Probenbehälter in die Kühlkammer. Lange werden sie dort nicht bleiben, aber bei der anstehenden Vorbereitungs-, Sektions-, Einfärbe- und Objektträgerbestückungsarbeit wird sie nicht dabei sein. Ihre Anwesenheit wird an anderer Stelle verlangt.
Sie muss sich der Inquisition stellen.
Carlisle ist in den Maschinenraum gegangen, der sich noch hinter dem Labor befindet. Gemäß dem Handbuch, das für den Colonel alltagsbestimmende Realität ist, muss er sofort nach seiner Rückkehr aus dem Feld mit dem zivilen Kommandanten Rücksprache halten. Und Dr. Fournier hat den Maschinenraum, der kaum mehr ist als eine klaustrophobisch enge Kammer, zu seinem Büro erklärt.
Khan hat Carlisle einmal gefragt, wie er das aushält. Dieser Mann hat ganze Brigaden kommandiert, und nun muss er bei einem neurotischen kleinen Sesselpupser Meldung machen, sich ihm manchmal sogar unterordnen. Inwiefern soll das sinnvoll sein? Besonders jetzt, da das Funkgerät vorne im Cockpit verstummt ist und sie sich alle ständig fragen, ob Beacon vielleicht gefallen und ihr Auftrag genauso dem Tode geweiht ist wie die gesamte Welt. Carlisle hat ihr mit einem Scherz geantwortet, um sich nicht direkt äußern zu müssen. An die Pointe kann sich Khan nicht mehr erinnern, es war irgendetwas von wegen »die Befehlskette ist nicht wirklich eine Kette«. Aber genau das ist sie. Zumindest wenn die Mächtigen sie mit einem Vorhängeschloss versehen.
John Sealey starrt immer wieder nervös zu ihr herüber, aber mehr kann er nicht tun, solange die anderen zusehen. Und sie sehen sehr genau zu. Nach über einem halben Jahr hier draußen gibt es einfach nicht mehr sonderlich viele Gesprächsthemen. Für die Wissenschaftler ist Khan ein spannendes Rätsel, bei den Soldaten vermutlich der Anlass für jede Menge Zoten. Damit kann sie leben. Sie hat schon Schlimmeres überlebt.
Im Moment spukt etwas ganz anderes in ihrem Hinterkopf herum, und sie ist kurz davor, den Gedanken zu fassen zu bekommen, als der Colonel wieder auftaucht.
»Rina? Dr. Fournier will Sie sehen.«
Und wie er das will.
»Eigentlich haben wir hier gerade ziemlich viel zu tun«, antwortet Khan. »Wir müssen die neuen Proben aufbereiten. Das muss schnell erfolgen. Wäre es vielleicht möglich, dass ich etwas später komme?«
Carlisle schüttelt den Kopf. »Jetzt gleich, bitte. Es wird nicht lange dauern, Dr. Khan.«
Dr. Khan. So förmlich also. Doch damit will er sie nicht abkanzeln, lediglich vorwarnen: Bleib wachsam, lass dir nicht zu tief in die Karten schauen. Du hast immer noch einiges zu verlieren.
Und dem kann sie nicht widersprechen.
Bei ihrer ersten Begegnung konnte Samrina Khan Colonel Carlisle auf den Tod nicht ausstehen. Heute schämt sie sich dafür, nicht zuletzt deshalb, weil in Liebesfilmen anfängliche Abneigung oft ein klarer Hinweis auf die folgende Romanze ist. Aber für sie kommt der Colonel genauso wenig als Liebhaber infrage wie ihr eigener Vater – und wenn sie so darüber nachdenkt, hat er in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit ihrem Dad: Er ist streng, macht sich seine eigene Gefühlswelt nicht bewusst und folgt einem unerbittlichen Ehrenkodex.
Aber bei ihrer ersten Begegnung erinnerte er sie eher an Taz, den sich ewig drehenden tasmanischen Teufel aus den alten Warner-Zeichentrickfilmen, der nur aus blinder Wut zu bestehen schien.
Sie war in London, im Zentrum für Synthetische Biologie am Imperial College. Dort arbeitete sie an einem epidemiologischen Modell der Hungrigen-Infektion, mit dem die Regierung die Ausbreitung mit einer Genauigkeit von über neunzig Prozent würde vorhersagen können. Die Welt war ihr bereits weit voraus und im Zerfall begriffen.
Das Bollwerk Amerika stand noch, gerade so, zumindest gab es noch Übertragungen. Das meiste davon waren allerdings vollmundige Verlautbarungen zur Standfestigkeit der Zentralregierung, die wieder einmal den Ort gewechselt hatte. Nun operierte sie von einer Basis irgendwo im Sangre de Cristo-Gebirge im Süden von Colorado aus. In einer Höhe von dreitausendvierhundert Metern, bei guter, frischer Bergluft! Doch von der Südhalbkugel gab es keinerlei Lebenszeichen mehr, und Europa wurde von Osten nach Westen aufgerollt wie ein billiger Teppich. Der Kanaltunnel war mit siebzigtausend Tonnen Zement aufgefüllt worden, was nach wirklich viel klang, aber dann doch zu wenig war. Und zu spät kam.
Die Hungrigen waren einfach da. Überall gleichzeitig. Wo auch immer man sie aussperren wollte, waren sie bereits drin.
Khan hatte immer geglaubt, London wäre die letzte Bastion. Ein Rückzug verlief schließlich vom Burghof bis zur Hügelburg bis ins Allerheiligste. Deshalb kam die Anordnung zur Evakuierung der Stadt für sie vollkommen überraschend. Anscheinend war das Allerheiligste nun Codename Beacon, ein abgeschottetes Lager an der Südküste, irgendwo zwischen Dover und Brighton. Sämtliche verbliebenen Regierungsorgane wurden dorthin verlegt, und das mit sofortiger Wirkung. Vermutlich war so ein Lager leichter zu verteidigen als eine Stadt von ungefähr tausendfünfhundert Quadratkilometern, die noch dazu von neun größeren Autobahnen umgeben war.