11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €
Wieso glauben Sie, dass Sie recht haben? Wir sind alle ein bisschen verrückt. Nicht nur die Menschen, die psychisch krank sind, sondern wir alle sind irrational. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt, warum das so ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Ein neuer Blick auf subjektives Erleben, soziales Bewusstsein und die Wahrnehmung der Welt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Die Illusion der Vernunft
Philipp Sterzer, Jahrgang 1970, studierte Medizin in München und Harvard. 2011 wurde er zum Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Charité in Berlin berufen, 2022 wechselte er an die Universität Basel. Vor allem seine Arbeiten zur Veränderung von Wahrnehmungsprozessen bei Schizophrenie brachten ihm weltweit Anerkennung ein.
Philipp Sterzer beschäftigt sich schon seit Langem mit der Frage, wie Überzeugungen entstehen – als Neurowissenschaftler und als Psychiater. Dabei hat er Erstaunliches herausgefunden: Überzeugungen sind viel weniger rational, als wir bisher geglaubt haben. Unser Gehirn baut Welten, die uns richtig und vernünftig erscheinen. Tatsächlich aber ist unsere Wahrnehmung Fantasie, die mal mehr, mal weniger mit der Welt da draußen übereinstimmt. Überzeugungen implizieren also Irrationalität und manchmal auch Verrücktheit. Dieser neue Blick auf die Vorgänge in unserem Gehirn zwingt uns, das eigene Denken kritisch zu hinterfragen. Denn nur so sind wir offen für ein friedliches Zusammenleben in pluralen Gesellschaften.
Philipp Sterzer
Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
BildnachweisAbb. 2: »Old Man of the Dalles Rock«, © Getty Images / Marcia StraubAbb. 3: Sterzer, P, Rösler, A: 29 Fenster zum Gehirn; © 2013 Arena-VerlagAbb. 4: »Hollow-Face illusion«, © Science Photo Library / David MackAbb. 5: »Light from above«, Wikimedia
© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgUmschlagabbildung: StocksyAutorenfoto: Heidi SchermE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978‑3‑8437-2797-6
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Die Welt in unseren Köpfen
Die unglaubliche Erschaffung der Welt in sieben Tagen
Ein Bild der Welt in unserem Kopf
Von tanzenden Gnomen und Kippfiguren
Sind wir alle verrückt?
I Irrationalität
1 So nah und doch so fern
Das gehackte Smartphone
Die Welt geht unter
Der Dieb ist immer der Schwiegersohn
Der ganz normale Wahnsinn?
Der tiefe Graben
Verrückt – eine Begriffsklärung
Risse in der Gesellschaft
2 Die Rationalitätsillusion
Um welche Überzeugungen geht es hier überhaupt?
Was ist Wahn?
Der trockengelegte Brunnen der absoluten Wahrheit
Rationalität
Die Irrationalität »normaler« Überzeugungen
Wie rational sind wir?
Kognitive Verzerrungen
3 Warum gibt es Schizophrenie?
Schizophrenie − Geschichte einer Diagnose
Ist Schizophrenie eine Krankheit?
Schizophrenieforschung
Wo die Dämonen herkommen − die Rolle der Genetik
Warum es Schizophrenie gibt
Das evolutionäre Paradoxon der Schizophrenie
Genie und Wahnsinn?
Die Kontinuitätshypothese
4 Die Evolution der Irrationalität
Kann Irrationalität adaptiv sein?
Irrationalität als Wurmfortsatz
Fehlermanagement
Schnell und einfach
Positive Effekte positiver Illusionen
Soziale Gründe für Irrationalität
Kommunikation durch Überzeugung
Natürliche Selektion interessiert sich nicht für die Wahrheit
II Die Vorhersagemaschine
5 Wir bauen uns eine Welt
Überzeugungen – eine unsichere Angelegenheit
Der Blick der Außerirdischen
Das umgekehrte Blackbox-Problem
Eine neurowissenschaftliche Perspektive
Eine alternative neurowissenschaftliche Perspektive
Predictive Processing – das Gehirn als Vorhersagemaschine
Predictive Processing – Einblicke in die Hirnforschung
Unsicherheit und das Jonglieren mit Präzisionen
Überzeugungen – die Spitze der Vorhersagenhierarchie?
Überzeugungen – Vorhersagen mit hoher Präzision
Irrationales Predictive Processing
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt
6 Verrückte Welten
Von Menschen, die hohle Gesichter sehen können
Augenbewegungen auf Ballhöhe
Regelmäßigkeit ist die Mutter aller Vorhersagen
Die Erklärungslücke zwischen Neurobiologie und subjektivem Erleben
Ein Lautstärkeregler im Gehirn
Die Folgen des Ungleichgewichts − aberrante Salienz und die Entstehung von Wahn
Von der »Unkorrigierbarkeit« des Wahns
Entlastende Erklärungen
Von oben herab − hierarchisches Predictive Processing
Ein neuer Blick auf die Bestätigungstendenz
Bestätigungstendenzen in der Wahrnehmung und im Denken
Eine Punktwolke und zwei Fantasien
7 Wer ist hier eigentlich krank?
Ist Wahn adaptiv? Paranoia als Rauchmelder und Scherbolzen
Sind Verschwörungstheorien wahnhaft − oder wer ist hier eigentlich krank?
Verschwörungsglaube und Wahn – Gemeinsamkeiten
Verschwörungsglaube und Wahn − Unterschiede (und dann doch noch mal Gemeinsamkeiten)
Was uns empfänglich macht für epistemische Irrationalität – Trait- und State-Faktoren
8 Chancen, Risiken und Nebenwirkungen
Versuch eines Resümees
Sein ist nicht Sollen
Überzeugungen sind Hypothesen
Entstigmatisierung
Bin ich überzeugt?
Epilog
Überzeugungen in Zeiten der Pandemie
Querdenker und Covidioten
Corona als Lehrstück über die Wissenschaft
Deskriptive und normative Überzeugungen
Wir brauchen eine Kultur der Unsicherheitstoleranz
Keine Angst vor dem Backfire-Effekt!
Anhang
Dank
Glossar
Literatur
Social Media
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für Ada, Cosima und Franz
Wie weit genau meine Faszination für das Phänomen zurückreicht, dass Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sein können, die ganz klar und eindeutig falsch sind, kann ich nicht sagen. Aber es ist eine Faszination, die mich schon lange begleitet und die vermutlich dazu beigetragen hat, dass ich schließlich den Beruf eines neurowissenschaftlich forschenden Psychiaters ergriffen habe. Und es ist diese Faszination, die letztlich dazu geführt hat, dass dieses Buch entstanden ist.
Meine Erziehung war religiös geprägt. Ich wuchs mit den Geschichten aus der Bibel auf, und Religionslehrer und Pfarrer brachten mir bei, dass es wichtig sei, an Gott zu glauben. Folglich sollte man auch die Geschichten glauben, die in der Bibel stehen, denn sie waren ja das Wort Gottes. Doch die Wunder, die im Neuen Testament beschrieben waren, kamen mir komisch vor. Aber okay, Jesus war immerhin der Sohn Gottes. Die Möglichkeit mal vorausgesetzt, dass Gott überhaupt einen menschlichen, von einer Jungfrau geborenen Sohn haben konnte, bot die göttliche Abstammung vielleicht eine Erklärung dafür, dass Jesus Wasser in Wein verwandelte, unheilbar Kranke heilte, über Wasser ging, nach drei Tagen im Grab wieder lebendig wurde und dergleichen mehr. Noch größer aber waren die Herausforderungen, die das Alte Testament für die Vorstellungskraft des einigermaßen fantasiebegabten Jungen bereithielt, der ich den Erzählungen meiner Eltern zufolge war. Da war die Rede von Männern, die das Meer mit einer einzigen Handbewegung trockenlegen konnten, von Frauen, die zu Salzsäulen erstarrten, und von Schiffen, die weibliche und männliche Exemplare aller Tiere der Erde beherbergen konnten. (Alle? Wirklich alle? Was für gigantische Ausmaße dieses Schiff gehabt haben muss, und das vor ein paar Tausend Jahren!) All dies wurde aber noch getoppt von der Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen haben sollte, was sich genauso wenig wie die Geschichte von der Arche Noah mit den Darstellungen in meinen »Piper-Erklär-mir«-Sachbüchern auf einen Nenner bringen ließ.
Meine Eltern zeigten sich in diesen Fragen recht entspannt. Aber sie nahmen meine Bedenken ernst. Sie erklärten mir, dass man die Geschichten aus der Bibel nicht wörtlich nehmen dürfe, sie seien eher bildhaft zu verstehen – als Gleichnisse. Und außerdem seien sie ja schon Tausende von Jahren alt, man habe sich die Dinge damals eben anders vorgestellt. Deshalb müsse man das, was in der Bibel steht, im historischen Kontext sehen.
Einerseits leuchteten mir diese Erklärungen ein, sie entlasteten mich etwas. Andererseits aber weckte die Darstellung meiner Eltern doch Zweifel, denn immerhin handelte es sich bei der Bibel ja um das Wort Gottes, und zwar eines Gottes, der mir vom Pfarrer in der Kirche als allmächtig und allwissend angepriesen wurde. Wieso sollte dieser Gott – so meine kindliche Logik – vor zweitausend Jahren irgendwelche Geschichten erzählt haben, die man heute nicht mehr ernst nehmen kann? Aber gut, ich fand mich damit ab und versuchte, mich von der wortwörtlichen und damit vermutlich viel zu oberflächlichen Lesart der Bibel zu lösen und den tieferen spirituellen Sinn in den Geschichten zu erfassen.
Ich vermutete, dass es vielen Menschen, die christlich erzogen wurden, so ging wie mir, oder zumindest so ähnlich; dass es eben Teil der christlichen Glaubenspraxis war, die tieferen Botschaften und Weisheiten aus Texten herauszulesen, die – vordergründig betrachtet – wie Märchen anmuteten. Umso größer war (und ist auch heute noch) mein Staunen, als ich spätestens als junger Erwachsener feststellen musste, dass es durchaus eine große Zahl von Menschen auf dieser Welt gibt, die die Texte der Bibel und anderer altertümlicher Schriften tatsächlich für bare Münze nehmen. Menschen, die das offensichtliche Märchen – oder meinetwegen auch den Mythos – der Schöpfungsgeschichte allen Ernstes als Tatsachenbericht verstehen und all das, was die Wissenschaft über die Entstehung der Welt zu sagen hat, von schwarzen Löchern bis zur Evolutionstheorie, anscheinend für völligen Humbug halten. Wie stellen diese Leute sich das vor? Wie soll ein Gott in sieben Tagen die ganze Welt erschaffen haben? Und was ist mit der Wissenschaft? Können alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung der Welt und des Lebens auf der Erde schlichtweg falsch sein? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Wissenschaft in diesen Fragen komplett irrt? Oder dass alle Forschenden einer groß angelegten Verschwörung anhängen, deren Ziel es ist, die Menschen für blöd zu verkaufen?
Das ist nur ein Beispiel für ein Phänomen, das in mir schon seit Langem immer wieder entweder Faszination oder tiefe Besorgnis oder beides gleichzeitig auslöst. Es ist das Phänomen, dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ungeachtet der verfügbaren Fakten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, mit unerschütterlicher Gewissheit auf ihren Überzeugungen beharren. Dass mich dieses Phänomen fasziniert, entspringt einer Art ethnologischen Neugier, es macht mich staunen, weckt mein Interesse und das Bedürfnis, es zu verstehen und erklären zu können. Fasziniert kann ich allerdings nur sein, wenn ich dabei die distanzierte Position eines unbeteiligten Beobachters einnehme. Aber, und das ist der Grund für meine Besorgnis, ich bin nun mal nicht unbeteiligt. Erstens, weil auch ich vermutlich Überzeugungen hege, die andere für falsch oder sogar absurd halten, und weil auch ich möglicherweise blind bin für manche Fakten, die gegen meine Überzeugungen sprechen. Und zweitens, weil ich Teil einer sozialen Gemeinschaft bin, die sich einen beschränkten Lebensraum mit begrenzten Ressourcen teilt und versucht, in diesem Lebensraum friedlich miteinander auszukommen.
Wie gut uns das als Gesellschaft gelingt, hängt entscheidend davon ab, welches Bild wir uns von der Wirklichkeit machen. Denn davon hängt wiederum ab, wie wir unser Zusammenleben gestalten: welche Regeln wir aufstellen, wie wir Entscheidungen treffen, die für uns als Gesellschaft, aber auch für jede Einzelne und jeden Einzelnen als Teil dieser Gesellschaft relevant sind. Um gemeinsame Lösungen für eine funktionierende Gesellschaft zu finden, müssen wir uns arrangieren und Kompromisse eingehen, wir müssen kooperieren. Solange wir alle derselben Meinung sind, gibt es kaum Probleme. Schwierig wird es zum einen dann, wenn Mitglieder einer Gemeinschaft unterschiedliche Interessen haben und diese durchsetzen wollen; und zum anderen, wenn sie sich nicht darüber einigen können, was wahr ist und was nicht.
Ob wir davon überzeugt sind, dass der Mensch von Gott erschaffen wurde, oder davon, dass er ein Produkt der Evolution ist, mag für unser Zusammenleben noch relativ unerheblich sein. Soll der eine doch ruhig das eine glauben und die andere etwas anderes, ist ja schließlich auch irgendwie Privatsache. (So könnte man zumindest denken, wenn man nicht um die lange Tradition der Menschheit wüsste, sich wegen Glaubensfragen gegenseitig zu bekriegen.) Aber jenseits vergleichsweise abstrakter Fragen wie der, ob es einen Gott gibt und wie die Welt oder der Mensch entstanden ist, gibt es zahlreiche Themen, die für die konkrete Gestaltung unseres Zusammenlebens im Hier und Jetzt von großer praktischer Bedeutung sind und über die man ganz offensichtlich sehr unterschiedlicher Überzeugung sein kann. Gibt es den Klimawandel, und wenn ja, ist er menschengemacht? Oder handelt es sich bei der Erderwärmung um eine gewöhnliche Temperaturschwankung, wie es sie immer schon gab und über die wir uns nicht weiter beunruhigen müssen, geschweige denn etwas dagegen unternehmen? Hat Bill Gates die Corona-Pandemie eingefädelt, oder waren es verantwortungslose (oder sogar böswillige) chinesische Wissenschaftler? Oder haben Pandemien wie diese ganz andere Ursachen, die mit der Art zusammenhängen, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben, wie hoch die Bevölkerungsdichte mancherorts ist und wie wir Tiere halten?
Von unseren Antworten auf solche Fragen hängt für uns alle eine Menge ab. Wenn Menschen sich in solchen Fragen nicht einigen können, weil alle unbeirrbar an ihren Überzeugungen festhalten, und wenn daran dringend erforderliche Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit scheitern, dann haben wir allen Grund zur Besorgnis.
Nun liegt natürlich die Vermutung nahe, dass wir Menschen eben gern glauben, was wir glauben wollen, und zwar ganz einfach deswegen, weil wir von Natur aus egoistisch und kurzsichtig sind. Wenn ich durch die Maßnahmen, die notwendig wären, um die Erderwärmung auch nur geringfügig abzubremsen, meinen Wohlstand in Gefahr sehe, dann glaube ich doch lieber mal, dass die Geschichte vom menschengemachten Klimawandel frei erfunden ist. Und wenn ich durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf manche Freiheitsrechte verzichten muss und obendrein ständig zum lästigen Tragen einer medizinischen Maske genötigt werde, dann glaube ich doch lieber mal, dass Corona eine Farce ist, die Bill Gates inszeniert hat, um Kontrolle über die Menschheit zu gewinnen.
Aber so einfach ist es nicht. Wir alle machen uns unser eigenes Bild von der Welt, doch dieses Bild hängt nicht nur von unseren Wünschen und Bedürfnissen ab. Es ist in einem viel fundamentaleren Sinne unser ganz eigenes, individuelles Bild von der Welt, als dass wir uns die Wirklichkeit nur zurechtbiegen würden, wie sie uns gerade passt. Wie wir die Welt um uns herum (und uns selbst in dieser Welt) wahrnehmen und wie wir unsere Wahrnehmungen in ein großes Ganzes, in ein »Big Picture«, einordnen, das ist tatsächlich eine sehr individuelle Angelegenheit.
Unser Bild der Welt entsteht in unserem Kopf, genauer gesagt in unserem Gehirn. Natürlich stehen wir als soziale Wesen untereinander im Austausch, sodass mein Bild der Welt nicht unabhängig ist von Ihrem Bild der Welt. Dadurch, dass wir kommunizieren, aber auch, weil wir alle eine sehr ähnliche genetische Ausstattung und damit auch sehr ähnliche Gehirne haben, gibt es viele Übereinstimmungen in den Bildern, die jede und jeder Einzelne von uns sich von der Welt machen. Dennoch ist es letzten Endes mein Gehirn, das sich einen Reim auf die Daten machen muss, die meine Sinnesorgane ihm zur Verfügung stellen. Es ist mein Gehirn, das mir mein eigenes, individuelles Bild der Welt baut.
Und damit sind wir bei der zweiten Faszination angelangt, die dazu beigetragen hat, dass dieses Buch entstanden ist: der Faszination über die Subjektivität unserer Wahrnehmung und der Frage, wie sie in unseren Gehirnen entsteht.
Von meiner späten Schulzeit bis in die ersten Jahre meines Studiums hinein habe ich einen Großteil meiner Zeit damit verbracht, Musik zu machen. In der Band Mind Games, die für meine Freunde und mich zugleich musikalisches Zuhause und Experimentierlabor war, tüftelten wir eine Zeit lang an Rhythmen herum, die unterschiedliche Wahrnehmungen zuließen. In einem Stück mit dem Titel »Can you See the Dancing Gnomes« konstruierten wir zum Beispiel einen Rhythmus, der entweder als Dreiviertel- oder als Viervierteltakt gehört werden konnte.1 So kam es vor, dass etwa Schlagzeuger und Bassist im Dreivierteltakt spielten, während der Rest der Band im Viervierteltakt dazu improvisierte, und zwar ohne dass sich das in unseren Ohren oder denen der Zuhörer:innen rieb (ob es für sie auch ein musikalischer Genuss war, ist noch mal eine andere Frage; unseren damaligen Perkussionisten jedenfalls veranlasste das Stück zu dem Vorschlag, unseren Bandnamen doch besser in Mind F*ck umzuändern). Wir sprachen damals davon, dass wir gleichzeitig unterschiedliche Rhythmen »fühlten«. Aber mit Gefühlen hatte das eigentlich nichts zu tun. Es war nicht so, dass wir dasselbe hörten und sich das nur unterschiedlich anfühlte. Nein, tatsächlich hörten wir unterschiedliche Dinge. Unsere Gehirne machten aus demselben Material, aus denselben Tönen, unterschiedliche Wahrnehmungen – sie bauten individuell unterschiedliche (akustische) Bilder derselben Welt.
Als ich dann später meine erste Stelle als Arzt und Forscher in der Neurologie der Frankfurter Uniklinik antrat, wurde meine Faszination für derlei Wahrnehmungskuriositäten weiter befeuert. Ich lernte Andreas Kleinschmidt kennen, der sich mit genau dem Thema wissenschaftlich beschäftigte, das mich als jugendlichen Musiker so begeistert hatte: mit bistabiler Wahrnehmung. Das ist der Fachbegriff für das Phänomen, dass ein Reiz (z. B. ein Rhythmus) mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungen vereinbar ist (z. B. Dreiviertel- oder Viervierteltakt) und dass unsere Wahrnehmung von Zeit zu Zeit zwischen zwei stabilen Wahrnehmungszuständen hin- und herspringt (daher bistabil).
Viel bekannter als bistabile Rhythmen sind bistabile visuelle Phänomene, die typischerweise durch Kippfiguren ausgelöst werden, wie sie in Abbildung 1 dargestellt sind.
Abbildung 1: Kippfiguren sind Bilder, die mit zwei unterschiedlichen Interpretationen vereinbar sind, sodass unsere Wahrnehmung bei längerem Betrachten diesen beiden Interpretationen hin und her »kippt«. Klassische Beispiele der Necker-Würfel (links), »Meine Frau und meine Schwiegermutter« (Mitte) oder die Rubin-Vase (rechts).
Ich schloss mich der Arbeitsgruppe von Andreas Kleinschmidt an und nutzte fortan bistabile Wahrnehmungsphänomene, um mit neurowissenschaftlichen Methoden zu erforschen, wie unser Gehirn die Welt in unseren Köpfen konstruiert.2 Denn genau das wird durch bistabile Wahrnehmung so eindrucksvoll spürbar: Unsere Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang, bei dem ein Bild der Außenwelt irgendwie in unser Gehirn hineinprojiziert wird, wie man sich das vielleicht intuitiv vorstellen mag. Nein, das würde nicht funktionieren, denn wer (oder was) würde sich diese Projektion in unserem Gehirn dann ansehen, um daraus eine bewusste Wahrnehmung zu machen? Sitzt in unserem Gehirn eine Art Bewusstseinsgeist, der die Projektion der Außenwelt betrachtet und daraus eine bewusste Wahrnehmung zaubert? So funktioniert das nicht. Und das wird uns buchstäblich vor Augen geführt, wenn wir bistabile Wahrnehmung erleben. Während ich die rechte obere Fläche des Necker-Würfels als seine Vorderfläche wahrnehme, nehmen Sie vielleicht gerade seine linke untere Fläche im Vordergrund wahr. Aus den identischen Daten (der Strichzeichnung eines Würfels) konstruieren zwei Gehirne zum selben Zeitpunkt zwei unterschiedliche Wahrnehmungen (zwei Würfel, die unterschiedlich im Raum orientiert sind).
Aus den verfügbaren Sinnesdaten eine Wahrnehmung zu konstruieren, das ist genau das, was unser Gehirn die ganze Zeit macht, ohne dass uns das bewusst wird. Denn es gelangt dabei meistens zu einer eindeutigen und stabilen Lösung. Dass unser Gehirn unsere Wahrnehmung überhaupt konstruieren muss, liegt daran, dass es keinen direkten Zugang zur Außenwelt hat. Es sitzt in seiner dunklen Knochenhöhle und muss sich einen Reim auf die Signale machen, die es von den Sinnesorganen geliefert bekommt (und die die Welt da draußen alles andere als eindeutig oder vollständig repräsentieren). Unser Gehirn muss im Laufe unserer Entwicklung lernen, durch welche Ereignisse da draußen diese Signale ausgelöst werden. Nur so kann es unsere Wahrnehmungen konstruieren und diese Wahrnehmungen in Theorien einordnen, in Gedanken, Ideen, Ahnungen, Meinungen, Glaubenssätze und Überzeugungen darüber, wie die Welt beschaffen ist und wie die Ereignisse in dieser Welt zusammenhängen.
Mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage, wie unser Gehirn unsere Wahrnehmung konstruiert, wuchs auch mein Interesse an psychischen Erkrankungen, zu deren Symptomen Veränderungen der Wahrnehmung gehören. Erkrankungen, bei denen sich das Bild der Welt, das in den Köpfen der Betroffenen entsteht, von der Wirklichkeit entkoppelt, sodass diese Menschen von anderen als »verrückt« bezeichnet werden. Eine solche Erkrankung ist Schizophrenie. Die Betroffenen verlieren – zumindest aus Sicht der anderen – den Bezug zur Realität. Das zeigt sich in Halluzinationen, also Wahrnehmungen, die nicht der Realität entsprechen. Das zeigt sich auch im Wahn, also in Gedanken und Überzeugungen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ich beschloss, Psychiater zu werden und mich der Frage zu widmen, welche Prozesse in welcher Weise verändert sind, wenn sich das Bild der Welt verselbstständigt, das ein Gehirn sich baut.3
Die Frage nach möglicherweise veränderten Prozessen führte gleich zur nächsten: Wenn dem tatsächlich so wäre, müsste sich dann nicht ein klarer Unterschied ausmachen lassen zwischen der Hirnfunktion von Gesunden und derjenigen von Menschen, die beispielsweise an einem Wahn leiden? Doch je tiefer ich in diese Forschung eintauchte, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass es einen solchen klaren Unterschied möglicherweise gar nicht gibt. Oder besser gesagt: Es gibt wohl Unterschiede, aber es lässt sich keine klare Grenze ziehen zwischen »normalen« und krankhaft veränderten Prozessen im Gehirn. Das ist eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, wenn wir bedenken, dass auch viele Gesunde Überzeugungen hegen, die mit der Realität wenig zu tun haben, die sich aber selbst durch offenkundige Fakten nicht korrigieren lassen. Das trifft im Übrigen nicht nur auf Verschwörungsgläubige oder religiöse Fundamentalist:innen zu, sondern auf uns alle. Selbst Wissenschaftler:innen, deren Job es ja eigentlich ist, auf der Grundlage von Daten und Fakten ein möglichst wahrheitsgetreues Bild der Welt zu zeichnen, sind nicht davor gefeit, sich vor lauter Begeisterung über ihre eigenen Ideen in abwegige Theorien zu verrennen.4 Vielmehr scheint es eine allgemeine und grundlegende Eigenschaft von uns Menschen zu sein, dass wir (oder unsere Gehirne) uns unsere eigenen Welten bauen; dass wir also die Welt nicht nur unterschiedlich wahrnehmen, uns unseren eigenen Reim auf unsere Wahrnehmungen machen und so zu unterschiedlichen Überzeugungen darüber gelangen, was wahr ist und was nicht; sondern dass wir auch dazu neigen, an unseren Überzeugungen mit unerschütterlicher Gewissheit festzuhalten, selbst wenn die Fakten eindeutig dagegensprechen. Entkoppelung von der Realität ist kein Alles-oder-nichts-Phänomen, denn ein Stück weit sind wir alle von der Realität entkoppelt.
So drängt sich die Frage auf, ob wir eigentlich alle mehr oder weniger »verrückt« sind oder ob zumindest diejenigen, die wir als »verrückt« bezeichnen, »normaler« sind, als wir denken. Es drängt sich zudem die Frage auf, warum wir eigentlich mit Gehirnen ausgestattet sind, deren oberste Priorität offenbar nicht die ist, uns ein möglichst realistisches Bild der Welt zu liefern. Wie kann es sein, dass uns die Evolution zu Wesen geformt hat, die in ihrer Einschätzung der Realität oft irren und dann auch noch unerschütterlich und trotz gegenteiliger Fakten an ihren irrigen Überzeugungen festhalten? Und es stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen, dass unsere Überzeugungen oft so unterschiedlich und nicht selten falsch sind und wir dennoch in ihnen oft so festgefahren sind.
Ich glaube, dass wir uns der Beantwortung dieser Fragen nähern können, indem wir untersuchen, wie unsere Überzeugungen in unseren Köpfen entstehen. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Die großen Herausforderungen unserer Zeit wie der Klimawandel, die Corona-Pandemie oder religiös motivierte Kriege5 zwingen uns dazu, unseren Umgang mit unseren eigenen festgefahrenen Überzeugungen und denen anderer zu hinterfragen. Auch wenn das Problem sicher kein neues ist, so scheint es sich doch zuzuspitzen (und selbst wenn der Eindruck der Zuspitzung trügen mag,6 ist das Problem auf jeden Fall ein gravierendes): Unterschiedliche Überzeugungen prallen in einer Weise aufeinander, die einen offenen Austausch, eine Annäherung oder sogar Einigung in vielen Fällen unmöglich macht. Überzeugungen bilden sich in den Echokammern und Filterblasen des Internets heraus, kapseln sich ab, entziehen sich einer offenen Debatte. Die selektive Untermauerung von Meinungen durch (falsche) Fakten ist im sogenannten Post-Truth-Zeitalter7 Standard, die empirische Überprüfung und der ausgewogene Diskurs scheinen immer mehr aus der Mode zu kommen. Vertreter:innen vermeintlich rationaler Überzeugungen erheben sich über jene, die vermeintlich irrationalen Meinungen anhängen, und umgekehrt. So verhärten sich die Fronten, etwa zwischen bildungsbürgerlichen »Gutmenschen« (ich weiß, was richtig ist, weil ich vernünftig und klug bin) und Anhänger:innen populistischer Ideen (ich weiß, was richtig ist, weil ich es eben weiß).8 Florian Illies hat diese Misere so auf den Punkt gebracht: »Es geht nie ums Argument oder den Austausch, sondern immer nur ums Rechthaben, auf 280 Zeichen.«9
Die Situation scheint festgefahren. Statt unsere eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, erklären wir die Anhänger:innen anderer Überzeugungen gern schlichtweg als »verrückt«. Wir teilen Überzeugungen kategorisch ein in »normale« und »verrückte«, rationale und irrationale, gesunde und kranke. Wir alle treffen diese Unterscheidungen, denn sie erscheinen uns intuitiv plausibel: Sie reduzieren Komplexität, sie ordnen, schaffen Struktur. Kurz, diese Unterscheidungen machen es uns leichter, uns in einer unsicheren und chaotisch erscheinenden Welt zu orientieren.
Aber auf welcher Grundlage und mit welcher Berechtigung können wir solche dichotomen Unterscheidungen treffen, die eine gemeinsame Schnittmenge unmöglich machen? Ich werde argumentieren, dass eine einfache Einordnung von Überzeugungen in dichotome Kategorien wie »normal« und »verrückt« weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. Zudem bringt diese Dichotomisierung Risiken mit sich. Sie verhindert den konstruktiven Dialog und birgt die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung. Sie führt zur Ausgrenzung Andersdenkender, Andersglaubender, Andersliebender, kurz: zu einer Ausgrenzung all jener, die eine von einer Person oder Gruppe zur Norm erhobene Sichtweise nicht teilen. Nicht zuletzt befördert sie die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen. Die dichotome Kategorisierung von Überzeugungen mag vieles einfacher erscheinen lassen, was sie aber erschwert, ist das Zusammenleben in der Gesellschaft.
So stellt sich die Frage nach Alternativen. Eine einfache Antwort auf diese Frage wird es nicht geben, aber wir können uns möglichen Antworten nähern, wenn wir verstehen, welche Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung von Überzeugungen zugrunde liegen und welche Funktionen sie für uns erfüllen. Die Perspektive, die ich in diesem Buch anbieten möchte, ist eine neurowissenschaftlich geprägte. Ich ziehe aktuelle Theorien und empirische Befunde der Hirnforschung für den Versuch heran, die zugrunde liegenden Mechanismen und Funktionen von Überzeugungen zu erklären. Meine Perspektive ist aber keineswegs eine rein neurowissenschaftliche, denn sie nimmt auch Philosophie, Evolutionstheorie, Genetik, Sozial- und Kognitionspsychologie und nicht zuletzt die Psychiatrie in den Blick. Die Kernthese ist dabei, dass Überzeugungen, wie »normal« oder »verrückt« sie uns auch erscheinen mögen, immer nur Hypothesen sein können. Diese Hypothesen sind oft von großem Nutzen für uns, denn sie ermöglichen es uns, Vorhersagen über die Ereignisse in der Welt zu machen, und erleichtern es uns, auf diese Ereignisse zu reagieren. Aber Hypothesen sind eben nur Hypothesen, also zunächst noch unbewiesene Annahmen, was bedeutet, dass sie sich auch jederzeit als unzutreffend herausstellen können.
Psychologisch und auch evolutionstheoretisch mögen das Bedürfnis nach einfachen Gewissheiten und eine Neigung zum beharrlichen Festhalten an Überzeugungen erklärbar sein. Das Verständnis von Überzeugungen als Hypothesen und damit die Akzeptanz der Unmöglichkeit absoluter Gewissheiten aber sind eine wichtige Voraussetzung für ein kritisches Hinterfragen eigener Überzeugungen, für eine offene Haltung gegenüber anderen Standpunkten und damit für ein kooperatives und friedliches Zusammenleben in pluralen Gesellschaften. Meine Hoffnung ist, dass die neurowissenschaftlich geprägte Perspektive, die dieses Buch zu eröffnen versucht, einen Beitrag dazu leistet.
Vier Uhr morgens, Notaufnahme einer großen Berliner Klinik. John M. sucht Hilfe, seit drei Tagen leidet er unter Schlaflosigkeit. Er ist 26 Jahre alt und wurde in Sunderland geboren, einer Kleinstadt in Nordengland. Vor zwei Monaten ist John von London nach Berlin gezogen, um hier sein Glück zu suchen. Sein nordenglischer Akzent ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, vor allem, wenn er vor Aufregung anfängt, schnell zu sprechen, wird es für das ungeübte Ohr schwierig. Aufregen müsse er sich zurzeit oft und manchmal auch heftig, sagt er, denn sein Smartphone sei gehackt worden, und da verstehe er keinen Spaß. Er lebe vom Schreiben, zumindest versuche er das, und wenn andere seine Ideen klauten, sei das sein Ruin. Was er denn schreibe? So dies und das, vor allem journalistisch. Er sei ständig auf der Suche nach guten Geschichten, die er an Online- oder Printmedien verkaufen könne. Gerade sei er auf einer heißen Fährte, eine Art Verschwörung, Stichwort »Russenmafia«, mehr könne er logischerweise nicht verraten. Ob die Geschichte etwas damit zu tun habe, dass sein Handy gehackt wurde? Ja klar, gerade das sei es ja, was ihn im Moment so nervös mache. Wie es ihm sonst so gehe, ganz neu hier in Berlin, ohne Deutsch zu sprechen? Das sei schon alles okay, fast alle sprächen ja perfekt Englisch hier. Und Freunde? Auch kein Problem, er sei kein »social animal«, habe aber schon ein paar Bekanntschaften, auch einen ganz guten Freund, den er noch aus London kenne. Finanziell stehe er halt unter Druck, denn auch wenn das Leben in Berlin superbillig sei, sein Erspartes würde nicht mehr lange reichen. Die Wohnung sei günstig, aber dafür liege sie auch an einer großen Straße im Erdgeschoss, nicht gerade Bestlage. Und auch nicht wirklich sicher.
Jetzt aber noch mal zum gehackten Smartphone: Woher weiß er denn, dass es gehackt wurde? Haha, die Frage würden ihm alle stellen, keiner glaube ihm. Aber die Sache sei doch völlig klar. Vor ein paar Wochen habe er zum ersten Mal eine dieser E-Mails erhalten, in einem Englisch verfasst, das eindeutig auf eine osteuropäische Herkunft des Verfassers schließen lasse, am ehesten Russland. Und dann eben diese versteckten Anspielungen auf seine Recherchen. Das sei aber nicht alles. Seither kämen immer wieder Spam-Mails, teilweise auch in kyrillischer Schrift, die er immer sofort lösche. Dann habe er vor drei Tagen eine SMS ohne Text bekommen, Absender unbekannt, und am selben Tag einen Anruf, bei dem sich niemand meldete, Rufnummer unterdrückt, nur ein Schnaufen sei vernehmbar gewesen. Gestern sei sein Telefon unvermittelt abgestürzt, einfach Blackout, das habe es noch nie gegeben.
John ist sehr angespannt, als er das erzählt, er schwitzt, muss mehrmals aufstehen und im Raum umhergehen. Warum ihm das niemand glaube, verdammt noch mal! Sein alter Freund aus London habe gesagt, er sei verrückt, seine Story sei doch völlig harmlos und er solle einfach mal wieder einen Joint durchziehen, sich entspannen, auf den Boden der Tatsachen zurückkommen. Apropos Joint: Ob er regelmäßig kiffe? Nein, früher mal ab und zu, in den letzten Wochen gar nicht. Er sei nicht so der Drogentyp, eher Biertrinker. In den letzten Tagen habe er abends ein paar Bier getrunken, zum Runterkommen. Er wolle jetzt auch nicht mehr groß weiterreden, sei total kaputt und brauche jetzt erst mal ein starkes Schlafmittel. Einfach mal wieder richtig schlafen, das sei im Moment sein einziger Wunsch.
Der Psychiater, der mit John in der Notaufnahme spricht, kann da ganz gut mitgehen. Bei ihm blinken zwar einerseits die psychiatrischen Alarmleuchten auf: Klingt nach Verfolgungswahn, typische Konstellation: neues Umfeld, schwierige Lebenssituation, Stress. Vielleicht eine akute psychotische Störung, stressinduziert. Oder sogar eine beginnende Schizophrenie? Andererseits kann das natürlich auch alles so sein, wie John sagt. Handys können gehackt werden, und wenn man für eine Story über die Russenmafia in Berlin recherchiert, muss man natürlich mit allem rechnen.
Er bietet John sicherheitshalber eine stationäre Aufnahme in die psychiatrische Klinik an, zur »Krisenintervention und weiteren Diagnostik«. Einfach mal zur Ruhe kommen, Gespräche führen und so weiter. Davon will John jedoch nichts wissen, und da der Psychiater ohnehin ambivalent ist (man will ja auch nicht gleich alles und jeden pathologisieren), schreibt er ihm ein Schlafmittel auf und notiert »bei Persistenz der Beschwerden oder Verschlechterung Wiedervorstellung empfohlen«.
Eine Woche später ist John wieder da: Die Beschwerden bestehen nach wie vor, sie haben sich sogar verschlimmert. Er schlafe weiterhin kaum, habe Angstzustände, traue sich nicht mehr auf die Straße. Er sei sich sicher, über sein Handy gefilmt worden zu sein, alle möglichen Websites hielten Botschaften für ihn bereit, man habe vermutlich sogar irgendwie Zugriff auf seine Gedanken, was absurd sei, aber wer wisse schon, was die für Methoden haben. Er habe schon an Suizid gedacht, so verzweifelt sei er, aber das sei ja »Bullshit«, er werde sich von denen nicht unterkriegen lassen. Immerhin ist er diesmal verzweifelt genug, das erneute Angebot einer stationären Behandlung in der Psychiatrie anzunehmen.
Die behandelnde Psychiaterin ist sich relativ sicher. Die Geschichte, die John erzählt, könnte zwar durchaus einen wahren Kern haben, doch die Sache mit dem Zugriff auf die Gedanken sei eindeutig als Ichstörung einzuordnen. Sie diagnostiziert eine akute psychotische Störung. Das findet John kompletten »Bullshit«, man glaube ihm wohl nicht, wolle ihn für verrückt erklären, aber okay, das angebotene Neuroleptikum könne er ja mal probieren.
Nach einer Woche geht es ihm etwas besser, und er verlässt die Klinik auf eigenen Wunsch. Das Angebot einer Weiterbehandlung in der Ambulanz der Klinik nimmt er dankend an. Er taucht einmal dort auf, sagt, es gehe ihm wieder gut, alles okay – und erscheint nie wieder. Ein Jahr später erreicht das behandelnde Team über Angehörige von John M. die Nachricht, er sei am S-Bahnhof Friedrichstraße von einem Zug überrollt worden. Es gebe keine Hinweise auf Fremdeinwirkung, auch keinen Abschiedsbrief. Ob sein Handy tatsächlich von der Russenmafia gehackt wurde, werden wir nie erfahren.
Helen S. ist 49 Jahre alt und lebt in New York. Sie ist Professorin für Mikrobiologie, halbwegs glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Helen steht mitten im Leben, eine erfolgreiche Frau auf dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Karriere. Eines Morgens ertastet sie beim Duschen eine Verhärtung in ihrer linken Brust. Sie weiß, was das bedeuten kann, und macht sofort einen Termin bei ihrem Gynäkologen. Alles geht ganz schnell, innerhalb weniger Tage steht die Diagnose fest: Brustkrebs. Sie wird bald operiert, danach soll sie eine Chemotherapie erhalten. Die Nebenwirkungen sind ihr bekannt, sie hat auch mal Medizin studiert. Haarausfall, Übelkeit, Erbrechen, sie wüsste es lieber nicht so genau.
Vor ihrer ersten Chemotherapie erhält sie ein starkes Mittel gegen Erbrechen und dazu Dexamethason, ein kortisonartiges Präparat, das die Wirkung des Antibrechmittels unterstützen soll. Auf dem Weg nach Hause überlegt sie sich kurz, ein Taxi zu nehmen, entscheidet sich dann aber doch für die Subway. Es sind ja nur ein paar Stationen mit dem A-Train und sie will sich nicht so anstellen, ihr Leben trotz der Krebsdiagnose möglichst ganz normal weiterführen.
Als sie im Zug sitzt, merkt sie, dass sich mit einem Mal etwas verändert. Sie fühlt sich etwas schwummrig, aber das ist es nicht. Was sich verändert, ist die Welt um sie herum. Das Licht im Zug ist anders als sonst, und die Menschen um sie herum sehen so seltsam aus, irgendwie auffällig, verdächtig. Ihr ist nicht ganz klar, warum, aber sie spürt, wie ein Bedrohungsgefühl in ihr aufsteigt. Alle anderen scheinen etwas zu wissen, was sie nicht weiß, sie sieht es ihnen an, auch wenn sie versuchen, es zu verbergen. Die Fahrgeräusche des Zuges werden immer lauter, haben plötzlich so einen deutlichen Rhythmus, und das Wackeln und Rütteln des Zuges ist heftiger als sonst.
Natürlich denkt Helen als Wissenschaftlerin daran, dass ihr Gehirn ihr gerade einen Streich spielen könnte. Sehr naheliegend, dass diese Veränderung ihres Erlebens, ihrer Wahrnehmung der Umwelt und ihrer Gefühle, durch eine Veränderung ihrer Hirnfunktion zustande kommt. Eine Nebenwirkung der Medikamente? Kurz meldet sich auch der Gedanke an ihre Krebserkrankung zu Wort. Hirnmetastasen? Aber bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken kann, wird sie von der Heftigkeit ihres eigenen Erlebens eingeholt. Sie ist sich jetzt sicher, dass gerade etwas ganz Schlimmes passiert, eine Katastrophe entsetzlichen Ausmaßes, ein zweites 9/11, mindestens. Sie verfällt nicht in Panik, ihr Herzschlag ist etwas beschleunigt, aber ansonsten ist sie ganz ruhig. Gelassen blickt sie dem nahenden Ende entgegen, ihrem Ende, vielleicht dem Ende dieser Stadt oder sogar der Welt.
Wie ferngesteuert steigt sie bei der nächsten Station aus, eine Station zu früh, aber sie will jetzt doch wissen, was hier los ist, auch wenn sie in ihr eigenes Verderben rennt. Auf dem Bahnsteig scheint alles wie immer. Keine Hektik, keine Anzeichen einer Massenpanik. Erstaunlich, wie ruhig die Leute in dieser Situation bleiben. Typisch New Yorker. Helen geht die Treppen hoch auf die Straße, Central Park West, Ecke 96. Straße. Auch hier ist alles ruhig und entspannt. Ein goldener Oktobertag, strahlend blauer Himmel, der Central Park leuchtet im bunten Herbstgewand, der Geruch frischer Pretzels weht von der anderen Straßenseite herüber. Alles normal. Sie traut dem Frieden immer noch nicht, diese Hypernormalität, das kann doch alles nicht echt sein. Aber was sonst? Helen setzt sich in Bewegung Richtung Süden, will den restlichen Weg zu Fuß gehen. Langsam verflüchtigt sich das Bedrohungsgefühl, und es sickert die Erkenntnis durch, dass tatsächlich alles normal ist, dass die Katastrophe, von der sie gerade noch so felsenfest überzeugt war, nicht eintritt. Was war da gerade los? Ist sie verrückt geworden?
Helen hält sich für einen hundertprozentig rationalen Menschen, ist Wissenschaftlerin durch und durch. Menschen, die an übernatürliche Mächte, Verschwörungstheorien oder sonstigen, wie sie sagt, »irrationalen Quatsch« glauben, kann sie nicht ganz ernst nehmen. Wenn sie an etwas »glaubt«, dann an die Prinzipien der Aufklärung und die Erkenntnisse der Wissenschaft. Natürlich hat sie auch Emotionen und Gefühle, schöne und weniger schöne, aber das sind eben Reaktionsmuster ihres Gehirns, die – evolutionstheoretisch betrachtet – ihre Überlebens- und Reproduktionschancen erhöhen. Natürlich hat sie Glücksgefühle, wenn sie ihre über alles geliebten Kinder beim selbstvergessenen Spielen beobachtet, wenn sie schönen Sex hat oder wenn sie Mozart hört. Aber all das lässt sich biologisch erklären, und wenn ihr jemand mit irgendeinem göttlichen Prinzip daherkommt, kann sie nur müde lächeln.
Was aber war da gerade los, als sie im A-Train saß und plötzlich felsenfest davon überzeugt war, dass eine Katastrophe passieren würde? Ihre rationalen Erklärungsversuche waren machtlos, als sich die Welt um sie herum mit einem Mal veränderte, alles so anders wirkte, so auffällig, so fremd. Die Überzeugung, dass hier gerade eine Katastrophe passiert, drängte sich auf. In dem Moment war das für sie Realität, sie musste daran glauben.
Helen erinnert sich an die Psychiatrievorlesungen, die sie während des Medizinstudiums in Yale gehört hat, und an die Patienten mit Schizophrenie, mit denen sie in einem Praktikum zu tun hatte. So muss sich Wahn anfühlen: Man ist fest von einer Sache überzeugt, meist von einer schrecklichen, bedrohlichen, und alle rationalen Argumente erscheinen völlig irrelevant. Nur dass das dann anhält und sich unverrückbar im Kopf festsetzt, statt sich beim Anblick der herbstlichen Normalität an der Upper West Side wieder zu verflüchtigen, so wie das bei ihr gerade der Fall war. Gut, sagt sie sich, ich bin nicht verrückt geworden. Aber ich war gerade kurz verrückt.
Zu Hause angekommen, ruft sie einen guten Freund an, Psychiater und Neurowissenschaftler an der Columbia University. Er ist überhaupt nicht überrascht von ihrer Geschichte, sondern hat sofort eine plausible und sehr rationale Erklärung parat. Es sei keineswegs das erste Mal, dass jemand nach der Gabe von Dexamethason psychotisch geworden sei. Das sei die pharmakologische Nachahmung eines massiven Stresszustandes, das Gehirn werde in eine Art Habtachtstellung versetzt, die Wahrnehmung könne sich verändern, man nehme Bedrohungen wahr, wo keine sind, werde paranoid, manchmal könnten sogar Halluzinationen auftreten. Gut, dass das gleich wieder vorbei gewesen sei, aber sie solle ihrem Onkologen einen schönen Gruß ausrichten, er solle in Zukunft bitte etwas vorsichtiger sein mit dem Zeug. Ein MRT des Gehirns solle man sicherheitshalber auch noch mal machen, um Hirnmetastasen auszuschließen. Helen dankt ihrem Freund für die erklärenden, wenn auch nicht gerade beruhigenden Worte und legt auf. Sie kann es nicht fassen: Eine Überdosis Stresshormon, und ich, der rationalste Mensch der Welt, werde einfach mal kurz verrückt. Wirklich verrückt!
Margarete G. ist 73 Jahre alt und das, was man als eine »rüstige ältere Dame« bezeichnen könnte. Sie lebt allein in einer Altbauwohnung im Frankfurter Nordend. Seit ein paar Monaten ist sie bei einer Nervenärztin an der Konstabler Wache in Behandlung. In der Uniklinik am anderen Mainufer, an die sie ihre Hausärztin wegen zunehmender Schusseligkeit überwiesen hatte, war ihr damals eine »leichte kognitive Störung« attestiert worden. Diskrete Merkfähigkeitsstörungen, ansonsten aber keine weiteren Auffälligkeiten. Ein MRT des Kopfes ergab eine »grenzwertige Hirnvolumenminderung, noch altersentsprechend«. Ob sich eine Demenz entwickle, könne man noch nicht mit Sicherheit sagen, so die Psychiater:innen der Uniklinik, man müsse die Sache erst mal beobachten.
Zu ihrer neuen Nervenärztin hat Margarete G. Vertrauen gefasst, denn sie nimmt sich Zeit, ist sorgfältig und kann gut zuhören. Bei ihrem vierten Termin in der Praxis zeigt sich Margarete G. sichtlich beunruhigt. Ihr Schwiegersohn Michael habe sie in letzter Zeit wiederholt beklaut. Es sei ihr gleich komisch vorgekommen, dass er sie in den letzten Monaten öfter als sonst besucht habe, manchmal sogar ganz allein, ohne seine Frau Claudia, Margarete G.s älteste Tochter. Da sie Claudia für Notfälle ihren Wohnungsschlüssel gegeben habe, sei es auch ein Leichtes für ihren Schwiegersohn, in die Wohnung zu kommen, wenn sie nicht da sei. Vor einigen Wochen sei ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass nach ihrer Rückkehr vom Friedhof Sachen in der Küche nicht mehr am selben Ort gewesen seien. Dann sei ein 50-Euro-Schein aus ihrem Sekretär verschwunden. Sie habe diese Ereignisse erst ihrer Schusseligkeit zugeschrieben, aber jetzt fehlten plötzlich auch einige Teile vom Tafelsilber. Margarete G. ist aufgebracht, lässt sich kaum beruhigen. Die Polizei habe sie nicht eingeschaltet, es sei ja peinlich, so etwas in der eigenen Familie.
Die Nervenärztin macht ein paar Tests: Die Merkfähigkeit der Patientin ist leicht eingeschränkt, aber Gedächtnis und Orientierung sind ansonsten regelrecht, es gibt keine weiteren Hinweise auf kognitive Einschränkungen. Dennoch, es wäre nicht das erste Mal, dass ein Patient mit beginnender Demenz paranoide Gedanken entwickelt. Akuten Handlungsbedarf sieht die Ärztin gleichwohl nicht, sie bittet Margarete G., in zwei Wochen wiederzukommen, am besten in Begleitung ihrer Tochter, um auch deren Einschätzung der Lage zu erfragen.
Zwei Wochen später kommt Margarete G. wie vereinbart mit ihrer Tochter Claudia in die Praxis. Obwohl es in der Zwischenzeit keine weiteren verdächtigen Ereignisse gegeben habe, zeigt sich Margarete G. deutlich verunsichert. Sie sagt, sie habe Angst in der Wohnung, kontrolliere ständig, ob noch alles da sei, und traue sich nicht mehr für längere Zeit aus dem Haus. Ihre Tochter hält das alles für Hirngespinste und ist sichtlich verärgert darüber, dass ihre Mutter ihrem Mann so etwas überhaupt zutraut. Sie mache sich aber auch Sorgen über den Gesundheitszustand ihrer Mutter; sie sei noch zerstreuter geworden, habe neulich sogar einen anderen Arzttermin verpasst. Die Nervenärztin erwägt eine Klinikeinweisung zur diagnostischen Abklärung, Verdacht auf wahnhafte Störung bei beginnender Demenz. Unmöglich, sagt Margarete G., sie könne in dieser Situation nicht so lange von zu Hause wegbleiben. Sie gegen ihren Willen in der Klinik unterzubringen, sei allerdings unverhältnismäßig, überlegt die Nervenärztin. Sie schlägt die Verordnung einer psychiatrischen Hauskrankenpflege vor: Dreimal pro Woche solle ein Pflegedienst zur Unterstützung vorbeikommen. Margarete G. lässt sich widerwillig darauf ein.
Zwei Monate später eskaliert die Situation, wieder ist Geld aus der Schublade verschwunden. Margarete G. wendet sich nun doch an die Polizei und zeigt ihren Schwiegersohn an. Tochter Claudia ist empört und drängt auf eine Einweisung in die Klinik, denn ihre Mutter sei nun endgültig verrückt geworden. Als die Nervenärztin sich weiter zögerlich zeigt, macht die Tochter von ihrem Recht als Vorsorgebevollmächtigte Gebrauch und veranlasst die Unterbringung nach dem Betreuungsgesetz.
Die Ärzt:innen der gerontopsychiatrischen Station der Uniklinik dokumentieren im Aufnahmebefund eine deutliche Angespanntheit und Gereiztheit der Patientin. Sie sei im Kontakt misstrauisch und es gebe neben einer leichten Merkfähigkeitsstörung Hinweise auf einen paranoiden Wahn mit deutlich ausgeprägter »Wahndynamik«, was bedeutet, dass Margarete G. sich gedanklich ständig mit der vermeintlichen Diebstahlgeschichte beschäftigt und sich aufregt, wenn die Sprache auf ihren Schwiegersohn kommt. Ärztlicherseits wird die niedrig dosierte Gabe eines Neuroleptikums empfohlen, damit sich Margarete G. »besser von der Sache distanzieren« könne, sprich, sich nicht so aufrege.
Noch bevor Margarete G. das Medikament zum ersten Mal einnimmt, gibt es interessante Neuigkeiten von der Polizei. Man habe den Schwiegersohn vernommen, und dieser sei geständig gewesen. Er habe zugegeben, Geld und Tafelsilber entwendet zu haben, um damit Spielschulden zu begleichen. Die gerichtliche Unterbringung von Margarete G. in der Psychiatrie wird kurze Zeit später aufgehoben. In den Entlassungspapieren der Klinik wird ein »im Vergleich zur Voruntersuchung unveränderter Befund« dokumentiert, von einer wahnhaften Störung ist allerdings nicht mehr die Rede. Auch von der Verordnung des Neuroleptikums wurde abgesehen. Gegenüber ihrer Nervenärztin sagt Margarete G. lediglich, man habe die Sache in der Familie geklärt.
Die drei Geschichten von John M., Helen S. und Margarete G. beruhen auf Fällen aus meiner Tätigkeit als Psychiater und Neurologe. Sie haben sich so oder so ähnlich ereignet, allerdings habe ich nicht nur die Namen geändert, sondern auch einige Details und die Beschreibungen so stark verfremdet, dass die realen Personen nicht erkannt werden können. Wenn ich bei Vorträgen vor Psychiatriekolleg:innen das Publikum frage, ob jemand schon mal einen Fall erlebt habe, bei dem die Unterscheidung zwischen Wahn und Realität schwierig oder unmöglich war, ernte ich von allen Seiten zustimmendes Nicken. Immer wieder hat man als Psychiater:in mit Fällen wie dem des John M. zu tun, mit Geschichten, die natürlich wahr sein könnten, aber in einigen Details oder auch nur durch die Art, wie sie erzählt werden, irgendwie »verrückt« klingen. Auch bei John M. können wir uns – selbst nach dem tragischen Ausgang, den seine Geschichte genommen hat – nicht sicher sein. Hat er sich das Leben im Gefühl der Ausweglosigkeit eines schweren Verfolgungswahns genommen? Oder war er aufgrund einer anhaltenden realen Bedrohung so verzweifelt, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste? Und wie war das mit der Fremdeinwirkung? Die russische Mafia verfügt doch sicher über Methoden, einen Mord wie Selbstmord aussehen zu lassen … Oder gibt es zumindest einen wahren Kern in seiner Geschichte? Wurde sein Handy tatsächlich gehackt, aber die Sache war im Grunde harmlos, und er hat sie nur wahnhaft10 verarbeitet? Oder war es genau umgekehrt? Die Wahrheit werden wir vermutlich nicht mehr erfahren.
Helen S. hat die Wahrheit über die von ihr befürchtete Katastrophe recht schnell herausgefunden. Nachdem ihre Befürchtung durch die Realität des friedlichen sonnigen Oktobertages widerlegt worden war und sie später auch eine medizinisch plausible Erklärung gefunden hatte, konnte sie ihr Erlebnis als eine kurzfristige Störung ihrer Hirnfunktion durch eine Medikamentengabe einordnen. Was blieb, war die Verstörung darüber, wie real sich dieser Wahnsinn angefühlt hatte, und vor allem darüber, dass das ausgerechnet ihr passieren konnte, die doch normalerweise alles Irrationale für groben Unfug hält. Ihr, die sich bei dem, was sie für richtig oder falsch hält, immer an den harten, überprüfbaren Fakten orientiert. Aber was sind die harten Fakten, wenn es darum geht, eine Situation wie in der Subway einzuordnen?