Die Intuitionistin - Colson Whitehead - E-Book
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Die Intuitionistin E-Book

Colson Whitehead

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Beschreibung

Der legendäre Debütroman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead. „Genial und absolut originell.“ New York Times Book Review

Colson Whiteheads funkelnd witziger Debütroman über die erste Schwarze Fahrstuhlinspekteurin New Yorks.
Unter den Prüfern der Aufzüge ist ein Richtungsstreit entbrannt. Es gibt zwei Flügel: die Empiristen, die jede Schraube kontrollieren, und die Intuitionisten, die einen Fahrstuhl betreten und dessen Funktionstüchtigkeit intuitiv erspüren. Zu ihnen gehört auch Lila. Ihre Erfolgsquote ist die höchste, bis ein von ihr abgenommener Fahrstuhl im freien Fall abstürzt. Der Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist ein sprachliches Wunderwerk, das auf völlig neuartige Weise Science-Fiction, Kriminalroman und die Frage nach dem sozialen Aufstieg verbindet.

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Das ist das Cover des Buches »Die Intuitionistin« von Colson Whitehead

Über das Buch

Der legendäre Debütroman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead. »Genial und absolut originell.« New York Times Book ReviewColson Whiteheads funkelnd witziger Debütroman über die erste Schwarze Fahrstuhlinspekteurin New Yorks.Unter den Prüfern der Aufzüge ist ein Richtungsstreit entbrannt. Es gibt zwei Flügel: die Empiristen, die jede Schraube kontrollieren, und die Intuitionisten, die einen Fahrstuhl betreten und dessen Funktionstüchtigkeit intuitiv erspüren. Zu ihnen gehört auch Lila. Ihre Erfolgsquote ist die höchste, bis ein von ihr abgenommener Fahrstuhl im freien Fall abstürzt. Der Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist ein sprachliches Wunderwerk, das auf völlig neuartige Weise Science-Fiction, Kriminalroman und die Frage nach dem sozialen Aufstieg verbindet.

Colson Whitehead

Die Intuitionistin

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Hanser

FÜR MEINE ELTERN

RUNTER

Teil eins

Ist ein neuer Fahrstuhl. Frisch in die Schienen gesetzt. Und er dürfte eigentlich nicht so schnell fallen.

*

Sie weiß nicht, wohin mit den Augen. Die Eingangstür des Gebäudes ist viel zu zerkratzt und zerfurcht, um länger betrachtet zu werden, die Straße hinter ihr so unglaublich leer, als wäre die Stadt geräumt worden und sie die Einzige, die von nichts weiß. In solchen Momenten gibt es das Spiel, das sie auf andere Gedanken bringt. Sie öffnet die Ledermappe, stemmt sie gegen ihre Brust. Je weiter sie in der Zeit zurückgeht, desto schwieriger wird es. Die meisten Inspektoren der letzten zehn Jahre sind noch in der Gilde und leicht zu identifizieren: L. M. T., M. G., B. P., J. W. Die Männer, die 125 Walker Street vor ihr inspiziert haben, findet sie nicht sehr sympathisch. Martin Gruber mampft immer mit offenem Mund und wackelt gern mit dem Glasauge. Big Billy Porter gehört zur alten Garde und ist stolz darauf. Wie oft ist Lila Mae nach getaner Arbeit in die Höhle zurückgekehrt, nur um zu hören, wie Big Billy Porter die Jungs mit Geschichten aus den verflossenen Glanzzeiten der Gilde unterhielt. Obwohl die Kommentare vage bleiben, ahnt jeder, auf wen oder was Big Billy mit seiner heiseren, schleimigen Stimme anspielt. Big Billys Eichentisch ist ein Rebell unter den amtlich aufgereihten Schreibmöbeln der Höhle, er ragt in den Flur, damit sein Besitzer den massigen Leib direkt unter einem Deckenventilator platzieren kann. Er behauptet, rasch zu überhitzen, und an den heißesten Sommertagen geraten seine gekämmten Haare aus der Form, dann rollen sich die Strähnen spiralförmig auf. Ein langsamer Vorgang, und wenn man ihn beobachtet, gleicht das dem Warten auf die nächste Stunde. Irgendwann passiert es dann.

Alle Inspektoren, die 125 Walker in der Vergangenheit geprüft haben, waren Empiriker. Soweit sie weiß. Wenn sie fünfzehn Jahre in den Protokollen zurückgeht, fehlen ihr Gesichter zu den Initialen. Sie kennt die Initialen aus den Inspektionsunterlagen anderer Fahrstühle in anderen Gebäuden, aber sie ist den betreffenden Leuten nie begegnet. J. M. etwa ist im Protokoll des Fahrstuhls zu finden, den Lila Mae vor einer halben Stunde verlassen hat, und wie ihr nach einer Weile dämmert, hatte E. H. eine Vorliebe für die abgenutzten Führungsschuhe, die nur noch von Pedanten beachtet werden. Das Prüfen von Führungsschuhen interessiert heute niemanden mehr.

Manche der Männer, die sich hinter den Initialen verbergen, sind sicher auf den Fotos zu sehen, die die Wände der Höhle schmücken. Die Frisuren der Männer auf den Fotos entsprechen den damaligen Gilde-Vorschriften, achtbare Frisuren, passend für Männer mit Verantwortungen und Pflichten. Diese Frisuren sind utilitaristische Peinlichkeiten, die Ehre, Treue, Brüderschaft bis in den Tod signalisieren sollen. Der Friseur, zwei Türen von der Gilde entfernt, der, in dem immer Big-Band-Musik läuft, hatte sich darauf spezialisiert. Wird jedenfalls behauptet. Einige jüngere Inspektoren bevorzugen diese Frisur neuerdings wieder. Sie wird »Safety« genannt. Lila Maes Haare sind in der Mitte gescheitelt und umfangen ihr Gesicht wie mit tausend hungrigen Fingern.

Zu dieser Stunde herrscht auf dieser Straße das Secondhand-Grau des Ghetto-Zwielichts, ein matter Quecksilberton. Sie klingelt wieder beim Hausmeister und vernimmt ein dünnes Scheppern. In den zwanzig Jahre alten Akten entdeckt sie einen der Schätze, die den Reiz dieses Spiels ausmachen: Damals inspizierten James Fulton und Frank Chancre 125 Walker im Abstand eines halben Jahres. Aus Lila Maes Perspektive liegt es nahe, diesen Zufall als Amtsübernahme zu deuten. Schwer zu sagen allerdings, warum Fulton sein Büro verließ, um in den Außendienst zurückzukehren. Vor zwanzig Jahren war er Rektor der Akademie und die Zeit, in der er Gebäude abklapperte, bei Hausmeistern klingelte, auf schäbigen, hässlichen Vortreppen wartete, lange vorbei. Dann fällt ihr ein, dass Fulton, um nicht zu vergessen, gelegentlich der Praxis frönte. Fulton, mit dem Mahagonistock ungeduldig an eines der drei Fenster der Eingangstür von 125 Walker pochend. Vielleicht war die Scheibe damals noch intakt. Vielleicht stammen die Sprünge im Glas von ihm. Im Prüfprotokoll steht gegenüber seinen Initialen eine Notiz, die auf ein Problem mit dem Endschalter hinweist, eine 387. Sie erkennt die Handschrift wieder, hat sie in Fultons Zimmer in der Akademie gesehen, in den hohen, klimatisierten, verglasten Holzvitrinen, in denen seine berühmtesten Schriften lagern.

Was Chancre betrifft, so war er damals vermutlich ein junger, aufstrebender Inspektor. Etwas schlanker als heute, noch nicht so viele geplatzte Kapillargefäße auf der Nase. Die marineblauen Zweireiher konnte er sich als Anfänger sicher nicht leisten, aber seither hat sich seine Stellung verändert. Lila Mae hat Chancre vor Augen, die Hände des Hausmeisters mit riesigen Pranken in zaudernder Kameradschaft umschließend. Politiker zu werden dauert lange, aber ein solches Lächeln ist angeboren. Ein solches Lächeln kann man nicht heucheln. Schönes Gebäude hier, Kumpel. Schön, einem Mann zu begegnen, der noch stolz auf seine Arbeit ist. Wenn man solche Orte betritt, weiß man nie, was einen erwartet, ehrlich. Am liebsten würde man sagen: Wie können Menschen nur so leben, aber klar, jeder hat andere Karten gezogen, und jeder muss das Beste aus seinem Blatt machen. Daheim, da … Er bewertete 125 Walker als tipptopp. Hat viel um die Ohren, hat viel um die Ohren.

Der Wind fängt sich in einem finsteren Winkel der Walker Street, saust pfeifend an ihr vorbei. Der Fahrstuhl ist ein Arbo Smooth-Glide, beliebt bei Bauunternehmern in den Jahren, in denen die Nummer 125 erbaut wurde. Lila Mae weiß noch, dass sie an der Akademie in einem Kurs über Fahrstuhl-Marketing erfuhr, dass Arbo Millionen investierte, um im Handel und auf Tagungen für den Smooth-Glide zu werben. Die Firma erkannte als erste die beängstigende Macht des Bikinis. Auf einer Drehplattform, geschmückt mit wehenden rot-weiß-blauen Bannern, fächeln schmale Finger die Luft und locken Käufer an. Jedes Model hat einen makellosen amerikanischen Bauchnabel, und die Luft im alten Tagungssaal ist stickig. Ein Plakat, von der heißblütigen Ablenkung in den Hintergrund gedrängt, erläutert in silberner Schrift die Details von Arbos patentiertem Quarterpoint-Counterweight-System. Ist Ihnen das auch schon mal passiert? Sie haben gerade Ihren neuen Auftrag vollendet und freuen sich wie ein Schneekönig darauf, Ihren Kunden zu beeindrucken. Auf dem Weg nach ganz oben stoppt der Aufzug der Marke X und rührt sich nicht vom Fleck. Mit denen arbeiten Sie nicht mehr zusammen! Sagen Sie Adieu zu den sturen, stickigen Counterweights und Hallo zu Arbos neuem Smooth-Glide-Aufzug. Weltweit sind über zwei Millionen Aufzüge von Arbo im Einsatz. Sie wollen hoch hinaus?

Am Fenster der Tür erscheint ein Kahlkopf, umkränzt von schlaffen, roten Locken. Der Mann schaut Lila Mae aus schmalen Augen an und öffnet die Tür, verbirgt seinen Körper hinter dem grauen Metall. Das Reden überlässt er ihr.

»Lila Mae Watson«, sagt sie. »Ich bin hier, um den Fahrstuhl zu inspizieren.«

Die Lippen des Mannes wölben sich bis zur Nase, und Lila Mae kapiert, dass er noch nie eine Fahrstuhlinspektorin wie sie gesehen hat. Lila Mae hat den Punkt geortet, von dem aus die urbane Verdrossenheit immer weiterwächst. Den Nullpunkt. Er liegt mitten in der City, an einer Straßenecke, tagsüber von geschäftigen, gehetzten Bürgern verstopft und nachts verlassen, von Nutten und verlorenen Lexika-Vertretern einmal abgesehen. Zwei Minuten zu Fuß vom Büro. Mit dieser Stelle als Ausgangspunkt kann sie abschätzen, wie viel Misstrauen, Neugier oder Wut sie bei ihren jeweiligen Inspektionen erleben wird. 125 Walker liegt am Stadtrand, in der Nähe des verschmutzten Flusses, der die Hochhäuser von den Vororten fernhält, ziemlich weit von der Straßenecke entfernt: Der Hausmeister mag sie nicht. »Zeigen Sie mir Ihre Marke«, sagt er, aber Lila Mae greift schon in die Jackentasche. Sie klappt den Ausweis auf und hält ihn dem Mann vor die Nase. Er schaut gar nicht darauf. Hat nur der Wirkung halber gefragt.

Der Flur stinkt nach verbrannten Tierfetten und obskuren Soßen, die zu Schlacke verkochen. Die Hälfte der Deckenlampen fehlt oder funktioniert nicht. »Hier hinten«, sagt der Hausmeister. Er scheint zu schmelzen, als er Lila Mae über die vor Schmutz starrenden, sechseckigen, schwarz-weißen Fliesen führt. Sein knollenförmiger Schädel löst sich in die Schultern auf, ergießt sich dann in den breiten Teich aus Oberkörper und Beinen. »Warum ist Jimmy heute nicht da?«, fragt der Hausmeister. »Jimmy ist ein guter Typ.« Lila Mae gibt keine Antwort. Dunkles Öl zieht sich über seine Unterarme und bewölkt das grüne T-Shirt. Oben knallt eine Tür auf, und eine laute, weibliche Stimme bellt etwas in dem beißenden Ton, der der Disziplinierung von Kindern und Haustieren vorbehalten ist.

Die klumpige, körnige Oberfläche der Kabinentür verrät ihr, dass die Hausverwaltung sie ein paar Mal hat streichen lassen, aber die ungewöhnlich breite Arbo-Smooth-Glide-Tür ist trotzdem noch zu erkennen. Arbo griff die Resultate aus den Kindertagen der Fahrgastumfragen auf und stattete das damals neueste Modell mit einer übergroßen Tür aus, um die Illusion von Platz zu erzeugen und die Fahrgäste von den Gefühlen abzulenken, die einen in Fahrstühlen üblicherweise erfassen. Man steht in einer Kiste, die an einem Kabel in einem Schacht hängt. Man schwebt in der Leere. Wenn der Hausmeister die alte Farbe vor dem nächsten Anstrich nicht abkratzt, stört sie irgendwann das Auf- und Zugleiten der Tür. (Gibt natürlich viel Graffiti in diesem Viertel.) Die Türen verkanten sich schon jetzt beim Öffnen. Hier wird ein Verstoß geboren, die Umrisse einer 787 schälen sich aus dem Dunkel. Lila Mae beschließt, dem Hausmeister nichts zu sagen. Ist nicht ihre Sache. »Sie wollen sicher zuerst in den Maschinenraum«, sagt der Hausmeister. Er starrt das ideale Dreieck von Lila Maes Krawattenknoten an, das Muster aus blauen und weinroten Quadraten. Die Krawatte verschwindet in der Nähe ihres Busens, gleitet hinter die Knöpfe ihres dunkelblauen Anzugs.

Lila Mae antwortet nicht. Sie lehnt an der Rückwand des Fahrstuhls und lauscht. 125 Walker ist nur zwölf Stockwerke hoch, und die Vibration nimmt während der langsamen Fahrt kaum ab, sie gleitet durch das ölige Rund der Umlenkrolle, strömt durch die Kabel nach unten, umgeht die Getriebeaufhängung und packt die Kabine. Lila Mae kann sie im Rücken spüren. Über ihr, im dunklen Schacht, hört sie das Klicken der Türautomatik, dann schließt sich die Tür, nur kurz durch die Farbschicht behindert. Standard bei Arbo-Fahrstühlen sind drei spiralförmige Puffer von Gemco. Fünf Meter unter ihr warten sie wie Stalagmiten. »Zwölfter Stock«, befiehlt Lila Mae dem Hausmeister. Sie hätte den Knopf mit geschlossenen Augen drücken können, versucht aber, sich auf die Vibrationen zu konzentrieren, die ihren Rücken massieren. Sie sieht sie schon fast vor sich. Die Vibrationen des Fahrstuhls werden vor ihrem geistigen Auge zu einem meerblauen Kegel. Der Kugelschreiber liegt in ihrer Hand, ihr Griff lockert sich. Er könnte fallen. Sie blendet das Atemgeräusch des Hausmeisters aus, ein dumpfes Rasseln, das kurz vor dem Ausatmen zum Pfeifen wird. Das ist Krach. Der Fahrstuhl bewegt sich. Der Fahrstuhl steigt im Schacht auf, nähert sich dem Brummen im Maschinenraum, und auch dies verwandelt Lila Mae in ein Bild. Der Aufstieg ist eine rote Spitze, die um den blauen Kegel kreist, der schwankt und seine Größe verdoppelt, als der Fahrstuhl aufzusteigen beginnt. Die Formen und ihre Bewegungen sind nicht willkürlich. Jeder hat seine eigenen hilfreichen Geister. Kommt darauf an, wie das Gehirn funktioniert. Lila Mae hat es seit eh und je mit geometrischen Formen. Als der Fahrstuhl den fünften Stock erreicht, rollt ein orangefarbenes Achteck in den Rahmen des Bildes, das sie vor Augen hat. Es hüpft auf und ab, kommt der aufwärts kreisenden roten Spitze in die Quere. Im achten Stock tauchen Würfel und Parallelogramme auf, geben sich aber mit halbherzigen kleinen Hüpfern zufrieden und stören den Ablauf nicht, im Gegensatz zu dem schelmischen, orangefarbenen Achteck. Das Achteck schießt in den Vordergrund, giert nach Aufmerksamkeit. Sie weiß, was das bedeutet. Das Triumvirat spiralförmiger Puffer entfernt sich weiter von ihr, liegt zehn Stockwerke tiefer, am staubigen, dunklen Grund des Schachts. Unnötig, noch höher zu fahren. Kurz bevor sie die Augen öffnet, versucht sie, sich die Miene des Hausmeisters vorzustellen. Sie schafft es nicht ganz, von dem eigenartigen Aufwölben seiner Lippen abgesehen, aber das zählt nicht, denn das hat sie schon bemerkt, als er unten die Tür geöffnet hat. Die Augen des Hausmeisters sind zwei schwarze Striche, die sich unmerklich in das Gewirr seines rätselhaften Blinzelns zurückziehen. Er schürzt die Lippen so stark, dass sie von seinen Nasenlöchern aufgesogen zu werden scheinen. »Ich muss einen defekten Übergeschwindigkeitsregler melden«, sagt Lila Mae. Die Tür gleitet langsam auf, und hier oben, dicht beim Maschinenraum, klingt das verhaltene Vibrieren des Motors kraftvoll und satt.

»Aber Sie haben es ja nicht mal angeschaut«, sagt der Hausmeister. »Sie haben es nicht mal angeschaut.« Er ist verwirrt, rote Punkte sprenkeln seine rosigen Wangen.

»Ich muss einen defekten Übergeschwindigkeitsregler melden«, wiederholt Lila Mae. Sie entfernt die winzigen Schrauben der Glasscheibe, hinten links im Aufzug. Auf einer Seite ihres Schraubenziehers steht: Eigentum der Fahrstuhlinspektionsbehörde. »Er lässt etwa alle sechs Meter nach«, fügt Lila Mae hinzu, als sie das Wartungsblatt unter der Scheibe hervorzieht. »Wenn Sie wollen, hole ich mein Handbuch aus dem Auto, dann können Sie selbst einen Blick auf die Vorschriften werfen.«

»Keine Lust, in das verfluchte Buch zu gucken«, sagt der Hausmeister. Er streicht mit den Daumen aufgeregt über die Finger, während sie auf dem Zettel unterschreibt und die Scheibe wieder einsetzt. »Ich weiß ja, was drinsteht. Ich will nur, dass Sie sich das verdammte Ding selbst ansehen. Läuft prima. Sie waren nicht mal oben.«

»Trotzdem«, sagt Lila Mae. Sie öffnet ihre Ledermappe und setzt ihre Initialen ans Ende der Namensliste. Selbst im zwölften Stock kann sie hören, wie die Frau unten ihre Kinder anbrüllt, jedenfalls glaubt Lila Mae, dass es Kinder sind. Heutzutage weiß man nie.

»Gehören Sie etwa zu diesen Voodoo-Inspektoren? Brauchen nix sehen, fühlen nur, stimmt’s? Hab‹ gehört, wie Jimmy über solche Hexendoktoren gelästert hat.«

Sie sagt: »Intuitionistin.« Lila Mae reibt an der Spitze ihres Kugelschreibers, damit die Tinte wieder fließt. Das W ihrer Initialen gehört zu einem Geisteralphabet.

Der Hausmeister grinst. »Ah, das Spielchen«, sagt er, »na gut, Sie haben mich wohl in der Hand.« In seiner öligen Pranke liegen drei Zwanzig-Dollar-Scheine. Er beugt sich vor und steckt das Geld in Lila Maes Brusttasche. Patscht es hinein. »Hab‹ noch nie ’ne Frau als Inspektor erlebt, schon gar keine farbige, aber sie bringen sicher allen dieselben Tricks bei.« Hinter Lila Mae knarrt die Tür von Apartment 12a. »Was soll der Krach im Flur?«, fragt eine hohe, dünne Stimme. »Wer lungert hier rum? Was wollen Sie?«

Der Hausmeister zieht die Tür von 12a mit festem Griff zu und sagt: »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, Mrs. LaFleur. Ich bin’s nur.« Der Hausmeister wendet sich zu Lila Mae um und lächelt. Er schiebt die Zunge in die Lücke, wo früher seine Vorderzähne waren. Arbo hat im Hinblick auf das QuarterPoint-CounterWeight-System nicht gelogen. Es versagt fast nie. Ein bedauerlicher Vorfall in Atlanta sorgte vor einigen Jahren für großen Ärger in der Branche, aber eine spätere Untersuchung entlastete Arbo. Heißt es jedenfalls. Die Übergeschwindigkeitsregler dieses Modells sind eine andere Sache, notorisch unzuverlässig, und ihr berüchtigter Herstellungsfehler hätte sich eigentlich schon vor langer Zeit zeigen müssen. Sechzig Dollar sind sechzig Dollar.

»In einigen Tagen erhalten Sie die offizielle Mahnung per Post. Sie nennt Ihnen die genaue Höhe des Bußgeldes«, sagt Lila Mae. In die Inspektionsakte von 125 Walker schreibt sie: 333.

Der Hausmeister klatscht mit seiner breiten Hand auf die Tür von 12a. »Aber ich hab‹ Ihnen sechzig Dollar gegeben! Keiner hat je mehr als sechzig verlangt.« Es fällt ihm schwer, die zitternden Arme ruhig zu halten vor der Brust. Er hätte ihr vermutlich am liebsten eine gescheuert.

»Sie haben sechzig Dollar in meine Tasche gesteckt. Ich glaube nicht, dass ich durch mein Verhalten den Wunsch angedeutet habe, bestochen zu werden. Ich denke, ich habe durch nichts angedeutet, Schmiergeld kassieren zu wollen. Weder durch Worte noch durch eine Geste, Ihre Annahme, ich könnte meinen Bericht ändern, wenn Sie mir Geld zustecken, ist also haltlos. Wenn Sie Ihr sauer verdientes Geld verschenken«, Lila Mae winkt in Richtung einer Ansammlung von Graffiti, »dann verstehe ich das als ungewöhnliche, in diesem Fall aber rein zufällige Geste, die mit mir nichts zu tun hat. Oder damit, warum ich hier bin.« Sie schickt sich an, die Treppen hinunterzugehen. Nachdem sie den ganzen Tag Aufzug gefahren ist, freut sie sich darauf, die Treppe zu nehmen. »Wenn Sie mir die sechzig Dollar wieder abknöpfen wollen, können Sie das gern versuchen, und wenn Sie meine Untersuchungsergebnisse anfechten wollen, damit der Übergeschwindigkeitsregler noch einmal von jemand anderem überprüft wird, ist das Ihr gutes Recht, immerhin sind Sie für dieses Gebäude zuständig. Aber ich irre mich nicht.« Lila Mae lässt den Hausmeister und den Arbo-Smooth-Glide im zwölften Stock zurück. Der Hausmeister flucht. Sie hat recht mit dem Übergeschwindigkeitsregler. Sie irrt sich nie.

Noch ahnt sie nichts.

*

Alle Autos der Behörde sind algengrün, und sie glänzen dank der hingebungsvollen Pflege durch die Fahrbereitschaft auch wie Algen. Am Abend seines Amtsantritts packte Chancre das Rednerpult mit seinen Wurstfingern und verkündete einen Zehn-Punkte-Plan. Das goldene Dienstabzeichen baumelte an einer langen, patriotischen Kordel über seiner Schulter. »Fahrzeuge der Behörde«, donnerte er, »müssen sich in einem Zustand befinden, der der Behörde würdig ist.« Tosender Applaus im dämmrigen Bankettsaal des Albatros Hotels. Die an langen, ovalen Tischen versammelten Gäste, vor sich die unseligen Blumengestecke von Mrs. Chancre, übersetzten Punkt Nummer sieben ohne viel Umschweife für Freunde offener Worte: »Die farbigen Jungs sollen die Kisten mal besser auf Hochglanz bringen.« Einer der Mechaniker, Jimmy, ist heimlich in Lila Mae verknallt. Nicht ganz heimlich: Lila Maes Sedan ist das einzige Auto, das täglich gesaugt wird, und wenn sie morgens die Garage verlässt, um zur Arbeit aufzubrechen, steht der während der Nachtschicht verstellte Rückspiegel wieder so, wie sie es mag. Jimmy ist eine eher schmächtige Erscheinung zwischen den stämmigen Typen der Fahrbereitschaft und obendrein der Jüngste. Die Hornhautflecken auf seinen Händen sind erst kieselgroß.

Der Feierabendverkehr ist die Pest. Der Sender WCAM rüstet Leute mit Ferngläsern aus und postiert sie an strategisch günstigen Überführungen, damit sie Chaos und Karambolagen melden. Lila Mae kann diese Männer nie von den verlorenen Seelen unterscheiden, die in Abständen am Rand der Freeways herumlungern. Alle gestikulieren auf eine rätselhafte, verstohlene Art, allen ist eine gebückte Haltung zu eigen, die besagt, dass sie keinen stichhaltigen Grund dafür haben, sich dort aufzuhalten, wo sie sind, am Straßenrand. Unmöglich, ein Walkie-Talkie aus dieser Entfernung von einer Flasche billigen Fusels zu unterscheiden.

Sie haben keine Alibis, so jedenfalls schätzt Lila Mae die Männer am Straßenrand ein.

Ihr Sedan humpelt durch schwarzen Klebstoff. Unfall voraus, warnt der WCAM-Posten: Ein Schulbus hat sich überschlagen, und weil die Pendler gaffen und sich glücklich preisen, gerät der Verkehr ins Stocken.

Hier hinten, hupt eine Frau im roten Kombi. Der helle Ton zeugt von der Geburt ihres Autos im Ausland, von Wiegenliedern in fremden Zungen. Autohupen wirken nach hinten, findet Lila Mae: Sie bedrängen nicht die Schnecke vor, sondern rufen den Wagen hinter dir zu, schließt auf, mir nach. Lila Mae hört die sporadischen Rufe, lauscht den WCAM-Nachrichten, die roten Bremslichter schwelen vor ihr auf der Straße. Jedes Wort des Nachrichtensprechers hat die gewohnte Eleganz, die makellose Reinheit, die Lila Mae mit Geometrie verbindet. Der Sprecher sagt, ein Tiefdrucksystem dringe nach Osten vor. Der Sprecher sagt, im Fanny-Briggs-Memorial-Building habe sich ein Unglück ereignet. Ein Fahrstuhl sei abgestürzt.

Da wird ihr siedend heiß.

Lila Mae stellt den Behördenfunk ein und hört, wie der Fahrdienstleiter ihren Inspektoren-Code ausruft. »Bitte kommen, Z34. Zulu drei vier, bitte melden.«

»Hier Z34. Melde mich bei Zentrale«, sagt Lila Mae.

»Warum haben Sie sich nicht gemeldet, Z34?« Im Gegensatz zu gängigen Vorstellungen ist der Fahrdienstleiter-Raum der Inspektoren nicht mit langen Konsolen ausgerüstet, besetzt mit fähigem Personal, das wie besessen Kabel in unzählige kleine Buchsen ein- und emsig wieder ausstöpselt. Der Dienstraum ist ein kleines Loch im obersten Stock des Bürohauses, in dem immer nur eine Person Dienst tut. Es ist aufgeräumt und fensterlos. Craig ist gerade dort, in Lila Maes Vorstellung ein hagerer Mann mit braunen Haaren, der in seinem Drehstuhl verwelkt, mit Freizeithose, Hosenträgern und ärmellosem Unterhemd. Sie hat noch nie einen Fahrdienstleiter gesehen, den Dienstraum nur ein einziges Mal, an ihrem ersten Arbeitstag. Vermutlich war der Mann gerade auf Toilette oder kochte Kaffee.

»Hatte einen Auftrag«, antwortet Lila Mae. »125 Walker. Bin gerade ins Auto gestiegen.« Diese Lüge wird nie auffliegen. Nach Feierabend stellt Lila Mae stets das Funkgerät aus. Manchmal meldet sich einer aus der Nachtschicht krank, dann bittet Craig sie, für ein paar Stunden einzuspringen. Aber bevor Stadt und Behörde den Umgang mit Überstunden nicht geklärt haben, springt Lila Mae sicher nicht für die Nachtschicht ein. Wenn man seinen Kater bis achtzehn Uhr immer noch nicht los ist, dann schmeißt man was ein, so sieht sie die Sache.

»Sie müssen sich sofort in der Zentrale melden«, sagt Craig. Und fügt hinzu: »Zulu vierunddreißig.«

»Was ist das für ein Scheiß mit dem Briggs-Building?«, fragt Lila Mae.

»Machen Sie hier sofort Meldung, Z34. Chancre will mit Ihnen reden. Und ich muss wohl nicht erst die Regeln der Behörde betreffs unflätiger Wortwahl auf städtischen Frequenzen zitieren. Ende.«

Lila Mae schaltet WCAM wieder ein, sie hofft auf weitere Details. Aus irgendeinem Grund ist Craig mürrisch, was nichts Gutes verheißt. Sie erwägt, auf der Standspur am Stau vorbeizuziehen, ihre Marke zu zücken, falls sie von der Polizei gestoppt wird. Aber Polizei und Fahrstuhlinspektoren haben eine heikle Vergangenheit, und sie bezweifelt, dass ein Cop sie vom Haken ließe, selbst wenn sie in städtischem Auftrag unterwegs ist. Die Stadt hat Chancres wiederholte Bitte um Sirenen stets ignoriert. Man scheint sie außerhalb der Gilde aus irgendeinem Grund für unnötig zu halten. Im Radio lassen sich die WCAM-Posten darüber aus, wie lange die Bergungsmannschaft braucht, um die Kinder aus dem Schulbus zu befreien.

In der dritten Klasse hielt Lila Mae ein Referat über Fanny Briggs. Fanny Briggs war in den neueren Lexika zu finden. In manchen sogar ihr Foto. Fanny Briggs sah müde aus am Seitenrand; bleischwere Augenlider, von den Wangenknochen triefende Backen. Lila Mae stand vor Mrs. Parkers dritter Klasse und zitterte, als sie mit dem Referat begann. Sie zog es vor, in den hinteren Reihen zu verschwinden, neben den Kaninchenkäfigen, im Rücken ungelenke Pastelle des Frühlings-Kunstprojekts. Da stand sie nun, vor Mrs. Parkers Pult, und die Karteikarten zitterten in ihren winzigen Händen.

»Fanny Briggs war eine Sklavin, die sich selbst das Lesen beibrachte.«

Irgendwann trug Dorothy Beechum, die berühmteste farbige Schauspielerin des Landes, in einer Radiosendung Ausschnitte aus Fanny Briggs’ Bericht über ihre Flucht nach Norden vor. Lila Mae wurde von ihrer Mutter ins Wohnzimmer gerufen. Ihre Beine baumelten vom Schoß ihrer Mutter, als sie sich vor die braune Bespannung des Radiolautsprechers beugte. Die Stimme der Schauspielerin war unerschütterlich und stark und sorgte beim liberaleren Teil der Zuhörerschaft, der etwas von einem edlen Kampf murmelte, zuverlässig für Beifall. Winzige Dunkelheits-Partikel drängten von innen gegen das rissige, verfilzte Netz des Lautsprechers, eine beunruhigende Dunkelheit, die Lila Mae später mit dem Fahrstuhlschacht assoziierte. Natürlich würde sie das Referat über Fanny Briggs halten. Wer sonst?

Kaum ein Vorankommen in diesem Verkehr.

Die Zeiten ändern sich. In einer Stadt mit einem farbigen Bevölkerungsanteil, der sich immer lauter zu Wort meldet — sich nicht zu schade ist, lästige Demos für die lausigeren Boulevardblätter zu inszenieren oder während perfekt orchestrierter Reden und Kundgebungen mit Tomaten und faulen Salatköpfen zu werfen —, ist es durchaus sinnvoll, das neue städtische Gebäude auf den Namen einer farbigen Heldin zu taufen. Der Bürgermeister ist nicht blöd; sonst wäre er niemals der Herr einer so riesigen und durchgedrehten Stadt geworden. Der Bürgermeister ist clever; er weiß, dass diese Stadt nicht im Süden liegt, dass es weder eine Stadt des alten Geldadels noch der Neureichen ist, sondern die berühmteste Stadt auf der Welt, und hier gelten andere Regeln. Das neue städtische Gebäude wurde nach Fanny Briggs benannt, und seither gibt es weniger Klagen und noch weniger Tomaten.

Als Lila Mae das Fanny-Briggs-Memorial-Building zugeteilt wurde, maß sie dem keine große Bedeutung bei. Klar, dass man entweder sie oder Pompey auswählen würde, einen der zwei farbigen Inspektoren der Behörde. Chancre ist kein Idiot. Schließlich wählt auch die Aufzugsgilde alle paar Jahre, und dies ist ein Wahljahr, und es ist viel Unerwartetes geschehen. Etwa die für die ganze Behörde geltende Gehaltserhöhung um $ 1,25, was sich laut Chancre nach einer Weile zu einem hübschen Sümmchen addiert. Nicht, dass man die Fahrstuhlinspektoren, allesamt eingefleischte Beamte, obwohl sie als schräge Vögel gelten und sich manchmal zu bizarren Kapriolen hinreißen lassen, von der Bedeutung einer Lohnerhöhung um $ 1,25 überzeugen müsste. Ein staatlicher Job ist ein staatlicher Job, ob man nun Aufzüge inspiziert oder Eisenbahnwaggons, in denen Fleischbatzen neben Fleischbatzen hängt, und jede Maßnahme, die ihre Löhne in ein gerechteres Verhältnis zu dem Beitrag setzt, den sie zum Wohle Amerikas leisten, wird begrüßt, heiße Wahlkampfluft oder nicht. Genauso die Schraubenzieher. Als ein kurz nach der Lohnerhöhung zirkulierendes Memo verkündete, neue Schraubenzieher seien unterwegs, war es den meisten egal, dass der Gilde-Vorstand auf so plumpe Art um die Wählergunst buhlte. Zumal die neuen Schraubenzieher wirklich schön waren. Seit die Behörde den Segen der Stadt erhalten hatte, waren die Jackentaschen der Inspektoren von klobigen und hässlichen Schraubenziehern ausgebeult worden, die jedes Bemühen um Eleganz und Autorität torpediert hatten. Wie soll man amtlich und eindrucksvoll wirken, wenn man zur Seite kippt? Die neuen Schraubenzieher haben einen Perlmuttgriff und einen Kopf, der exakt zu den Schrauben der Scheibe für das Inspektionsformular passt. Sie lassen sich öffnen wie Klappmesser und schüren wilde Fantasien von Spionen und geheimen Missionen. Wer sollte da etwas einwenden?

Die Neuigkeit, dass der Fahrstuhlschacht im Fanny-Briggs-Memorial-Building, achtzehn Etagen hoch (achtzehn Etagen!), Lila Mae zugeteilt worden war, ein Karrieresprung für jeden Inspektor, erstaunte fast niemanden, und der Rückhalt, den Chancre dadurch bei der alten Garde der Gilde verlor, wurde durch das Wohlwollen, für das Lohnerhöhung und Klappschraubenzieher mit Perlmuttgriff gesorgt hatten, mehr als wettgemacht. Als Lila Mae erfuhr, dass sie das Hochhaus erhalten sollte, wusste sie, dass Chancre damit gegenüber seinem Konkurrenten im Kampf um den Gilde-Vorsitz punkten wollte, dem liberalen Orville Lever, der offenbar meint, nur Intuitionisten könnten Koalitionen schmieden, die Hand von grundverschiedenen Menschen schütteln usw. Lila Mae (die im Feierabendverkehr übrigens kaum vorankommt) mag Intuitionistin sein, aber sie ist eine Farbige, und das ist entscheidender. Chancres Assistentin legte einen Zettel auf ihren Schreibtisch: Man wird Ihre guten Dienste nach der Wahl nicht vergessen. Als müsste man sie mit einem vagen Beförderungs-Versprechen bestechen (sicher sowieso nur eine Lüge). Dies ist ihr Job. Sie hat einen Eid abgelegt, und das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Lila Mae hielt den Zettel in ihren kleinen Händen, und obwohl sie den Blick nicht vom Schreibtisch hob, war ihr klar, dass die ganze Bagage, ob alte Garde oder Neulinge mit Safety-Frisur, sie im Auge behalten würde. So wie Gerüchte durch die Höhle flossen (Lila Mae ist weit flussabwärts positioniert), wusste man sicher , dass sie den Auftrag bekommen sollte, bevor sie dies selbst erfuhr. Der hagere Ned, dieser Dunsthauch, diese als Mann verkleidete, ziellos umherschweifende Quellwolke, die nach dem berüchtigten Johnson-Towers-Debakel an den Schreibtisch strafversetzt worden war, hatte sicher mit jemandem gesprochen, der wiederum mit jemandem aus Chancres engstem Beraterkreis geredet hatte, und so erfuhr man: Das farbige Mädel bekommt den Job. In Wahljahren gibt es keine Überraschungen, sondern nur ein leicht erhöhtes statisches Knistern.

Und da ist Chancre, die Hände hinter seinem Markenzeichen gefaltet, dem Zweireiher, sechs Meter groß auf einem Werbeplakat der United Elevator Company. Lila Maes Auto schleppt sich durch das Nadelöhr des Tunneleingangs, sie kann den Mann also nicht übersehen. Kein Teilnehmer dieser trübsinnigen Prozession hupt mehr — man sieht den Tunnel, und vor der Einfahrt tritt pflichtgemäß die Phase nachdenklicher Erwartung ein. »Absolut sicher« verkünden Lettern über seinen Füßen, eine Anspielung auf Otis‹ berühmte Erklärung bei der Weltausstellung im Kristallpalast im Jahr 1853. Die Leute in den Autos rings um Lila Mae verstehen diese Anspielung sicher nicht — Werbung für Fahrstühle kommt in zivilen Köpfen wohl nur als vage Bestätigung von Modernität und glorreichem Fortschritt an, den man für selbstverständlich hält und bestenfalls unbewusst würdigt —, aber das Zitat von Otis ist der Hebel, der sie und ihre Inspektoren-Kollegen an jedem Morgen aus dem Bett hievt. Das heilige Motto.

Selbst erfahrene Beobachter der rätselhaften Spielarten von Konzern-Eitelkeit können die plötzliche Allgegenwart der Fahrstuhlwerbung schwer begreifen. Neben Plakaten wie dem, das über Lila Mae aufragt, pflastern Anzeigen der Fahrstuhlindustrie Parkbänke, schmücken Busse und U-Bahnen des städtischen Verkehrsnetzes, prangen als glänzende Irrlichter auf den Wänden von Baseball-Stadien. Und anderswo. Einmal, vor dem Beginn des Films in ihrem Lieblingskino — dem Marquee in der 23rd Street, berüchtigt dafür, dass die Popcorntüten dort gratis nachgefüllt werden —, bekam Lila Mae vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu, als ein zweiunddreißig Sekunden langer Werbespot den neuen reibungsarmen Antrieb der American Elevator Company pries. Lila Mae ertappt sich manchmal dabei, die flotte Melodie des Werbesongs zu summen, obwohl es sich bei dem besagten reibungsarmen nur um den alten 240-60-Antrieb in einem schicken neuen Gehäuse handelt. Das Mitteilungsbedürfnis der internationalen Industrie für vertikalen Kurzstreckentransport ist ein relativ neues und vollkommen unerklärliches Phänomen. Wie viel Geld Chancre jedes Jahr mit Werbung verdient, sei dahingestellt, aber er hat fraglos viel in seine Wiederwahl zum Gilde-Vorsitzenden investiert. Man schaue ihn an, dort oben. Bisher glaubte Lila Mae, ihre Rolle in der Kampagne sei reine Schönfärberei — Beweis für das neue, fortschrittliche Gesicht der Fahrstuhlgilde und, weiter gefasst, der Stadtverwaltung.

Noch ahnt sie nichts.

Sie ist schon fast im Tunnel, als sich WCAM endlich entschließt, über den neuesten Stand der Ereignisse im Fanny-Briggs-Memorial-Building zu berichten. Die gelben Kacheln im Tunnel schimmern, Lila Mae erblickt einen langen, verschleimten Rachen. Der Nachrichtensprecher sagt mit seiner geometrischen, von Ebenen nur so wimmelnden Stimme, Chancre und der Bürgermeister wollten eine Pressekonferenz abhalten, um zu erörtern, was am frühen Nachmittag in dem städtischen Gebäude vorgefallen sei. Bevor er mehr sagen kann, irgendetwas Konkreteres, das Lila Mae helfen könnte, sich auf das Bevorstehende vorzubereiten, unterbricht der Tunnel die Verbindung. Zack. In ihrem Sedan ist nur noch das hektische Kratzen der Statik zu hören, das dumpfe Rauschen der vielen Reifen auf dem Tunnelboden draußen. Fast vollkommene Stille, um besser über das Wunderwerk der Ingenieurskunst sinnieren zu können, durch das sie fahren, und die Ära der Wunder, in der sie leben. Die Luft ist giftig.

Irgendetwas ist vorgefallen. Und sie war zuständig. Lila Mae trommelt mit den Fingern auf das Steuer und führt sich ihren gestrigen Besuch im Briggs-Building noch einmal vor Augen. All jene, die in der Bauweise des Hochhauses nach einer Parallele zu dem starken, massigen Körper von Fanny Briggs suchen, deren Namen es trägt, sollten sich bewusst machen, dass das Denken jedes städtischen Architekten vom Willen zum Klotzen dominiert wird. Regierungsgebäude sind meist gedrungener als hoch, vermutlich, um die massigen Aktenschränke mit den dreifachen Durchschlägen von Banalitäten besser unterbringen zu können. So war es seit Generationen. Aber wer kann heutzutage der Versuchung von Fahrstühlen widerstehen, diesen Sprungbrettern ins Himmelreich, die kompromisslosen Vertikalismus so verlockend erscheinen lassen? Obwohl Architekten begreifen, dass die Zukunft in der Höhe liegt, darin, möglichst hoch zu bauen, fällt es schwer, von alten Gewohnheiten zu lassen. Gewohnheiten krallen sich auf Knöchelhöhe fest und trotzen allen Überredungskünsten, egal wie logisch. Wie in der Politik siegte auch hier am Ende der hässliche Kompromiss. Das Fanny-Briggs-Memorial-Building kauert im renovierten Teil der Innenstadt am Nordrand der Federal Plaza. Die ersten fünf Stockwerke sind fett und schwer, dann schießt es mit weiteren vierzig Stockwerken aus makellosem, reinem Stahl in die Höhe. Der Eindruck ist puppenhaft, das Ganze erinnert an das Foto eines gläsernen Insekts, das aus einem Steinkokon schlüpft. Als Lila Mae zum ersten Mal die breite Steintreppe hinaufging, blickte sie zu dem Monolithen auf, und ein Schwindel ließ sie erzittern: eine schwere Verantwortung. Über dem Eingang war wie üblich ein lateinisches Motto eingemeißelt.

Lila Mae hat den Tunnel jetzt verlassen, und sie weiß nicht, was sie falsch gemacht hat. Sie braucht einen Plan.

Nur die Ruhe, Lila Mae.

*

Unheimlich an dem Tunnel ist, dass die Skyline der Stadt auf der weltzugewandten Seite nur eines von vielen Ereignissen am Horizont ist. Auf der weltzugewandten Seite des Tunnels gleicht die Skyline einer Reihe zertrümmerter Zähne, einer Auszackung, die zornig an der Atmosphäre nagt, aber es gibt noch viel mehr: verschmutztes Wasser und weiteres Land jenseits des verschmutzten Wassers, den bescheidenen, erst kürzlich verschwundenen Vorposten der Metropole, ein Dickicht verwilderter Schornsteine, ein Haufen Zeug. 360 Grad, aus denen man auswählen kann, dazu die großzügige Illusion freier Auswahl. Schließlich der Tunnel, kein Himmel mehr. Nur noch Zähne. Die Autofahrer sind milder gestimmt, wenn sie die Stadt erreichen, weil ihnen wieder einfällt, was die Stadt bedeutet, und weil sie erschöpft sind, wenn sie nacheinander den Tunnel verlassen, und sich fragen, warum sie es so eilig hatten. Das widersprüchliche Gewirr der Einbahnstraßen und Schilder, die ein Umkehren verbieten, erschwert den Rückzug massiv. Und das mit Absicht.

Um die Ecke vor der Zentrale biegend, sieht Lila Mae, dass die Pressekonferenz bereits angefangen hat, obwohl es dauert, bis sie eins und eins zusammenzählt. Zeitungsreporter und Radiojournalisten in piekfeinen Nadelstreifen; wenn es den Stadtvätern gelänge, die Bautätigkeit zu regeln, stets zu kontrollieren, wie die Skyline aussieht, dann würde die Stadt wohl einem dieser Nadelstreifenanzüge gleichen: einförmig, zweifelbereinigt, vorschriftengesichert. Im Gedränge der Filzhutmänner kann Lila Mae Chancre und den Bürgermeister zunächst nicht erkennen, dann aber entdeckt sie den sonderbaren, roten Heiligenschein, der sich um Chancres irisches Gesicht schließt, wenn alles Blut hineinschießt, wenn der amtierende Gilde-Vorsitzende wieder in die Luft zu gehen droht. Sie fühlt sich bloßgestellt, ist eine Voyeurin im Mondschein der hellsten aller Sommernächte. Weil man über sie spricht, weil sie mit all dem gemeint ist — so viel ist klar, obwohl sie keine Details kennt. Die Pressekonferenz findet vor dem Eingang der Zentrale statt, die Einfahrt der Tiefgarage ist gottseidank frei. Blitzlichter knistern und knacken wie trockene Äste unter den Füßen von Jägern.

Städtischen Gebäuden mag es an angemessenem Büromaterial, bequemen Stühlen und hochwertigem Klopapier mangeln, aber nie an Neonröhren. Lila Mae fährt ihren Sedan in das üppige Zwielicht der Garage, vorbei am Kontrollfenster des Mechaniker-Büros. Die sechsköpfige Crew, alle in dunkelgrüner Uniform, spitzt die Ohren vor dem alten, aber zuverlässigen Büroradio, und Lila Mae betet darum, unbemerkt vorbeihuschen zu können, von dem üblichen Stirnrunzeln und wissenden Kopfnicken verschont zu bleiben. Hochnäsige Collegetusse. Diesen Raum in der Garage hat die Behörde für die farbigen Mitarbeiter vorgesehen — unterirdisch, fensterlos, also ohne Himmelsblick, was das fahle Neonlicht noch schlimmer macht —, aber die Mechaniker haben sich trotzdem gemütlich eingerichtet. Zum Beispiel: Bei einer genaueren Betrachtung von Chancres Wahlplakaten, die an jeder Betonsäule kleben, obwohl Wahlwerbung im Umkreis von hundert Metern um die Zentrale verboten ist, entdeckt man eine Vielzahl kleiner Kritzeleien, etwa gegen den Uhrzeigersinn kreisende Spiralen in Chancres Pupillen, eine Anspielung auf seine berühmte, nächtliche Quartalssäuferei. Man erkennt die Spiralen nur, wenn man dicht vor den Plakaten steht, und selbst dann sind sie leicht zu übersehen. Jimmy musste sie Lila Mae zeigen. Hörner, brodelnde Zysten, manchmal ein Fluch, quer auf Chancres Lattenzaunzähne gepinselt — sie fügen sich schließlich zu einem Ganzen, das persönlicher und vielsagender ist als die üblichen Cartoons und Pin-ups in Büro-Heimstätten. Niemand bemerkt sie, aber sie sind da, nahezu unsichtbar, und sie haben eine Bedeutung.

Lila Mae schließt die Tür und zwängt sich zwischen den Autos durch. Schon nach sieben, aber die Nachtschicht ist noch nicht aufgebrochen, in ihren drei Jahren bei der Behörde ist das noch nie passiert. Sie hat noch keinen Plan, nimmt an, dass sie Chancre erst nach der Pressekonferenz gegenübertreten muss, also noch genug Zeit hat, um ihre Story wasserdicht zu machen. Lila Mae fällt ein, dass sie ihren Inspektionsbericht über das Briggs-Building dummerweise schon gestern Nachmittag eingereicht hat, und selbst wenn sie sich in die Verwaltung schleichen könnte, vorbei an Miss Bally und ihren Mädels, wäre der Bericht wohl schon einkassiert worden. Als Beweis. Wie lange mag es dauern, bis man das Amt für Innerbetriebliche Angelegenheiten einschaltet, oder ist das schon passiert? Niemand schuldet ihr einen Gefallen. Nach drei Jahren ist sie keinen Gefallen mehr schuldig, und niemand schuldet ihr einen, und bisher fand sie das gut so. Sie denkt noch einmal über ihre Lage nach. Vielleicht Chuck.

»Wie läuft die Karre heute?«, fragt Jimmy. Das sagt der junge Mechaniker immer, wenn Lila Mae von der Arbeit zurückkehrt, er bildet sich wohl ein, Beharrlichkeit und nettes Geplauder würden sich eines Tages auszahlen und als Ära prähistorischer Unschuld ihrer Romanze in rührseliger Erinnerung bleiben. Nicht, dass er sich angeschlichen hätte — Lila Mae war zu tief in Gedanken versunken, um zu bemerken, wie seine drahtige Gestalt das Büro verließ und über den Betonboden flitzte. Allerdings ist sie nicht zu tief in Gedanken versunken, um nicht zu bemerken, dass seine täglich wiederholte Frage heute unsicher klingt, dass noch ungewisser als üblich ist, ob er sich nach Lila Mae oder dem Sedan der Behörde erkundigt. Immerhin lächelt er, und Lila Mae denkt, dass es vielleicht doch nicht so schlecht steht.

Lila Mae fragt: »Warum sind noch alle Autos hier?«

»Alle hören zu, wie Chancre und der Bürgermeister über das Hochhaus reden.« Er weiß weder, wie viel er erzählen darf, noch, wie er es erzählen soll. Er zieht einen Lumpen aus der Gesäßtasche des Overalls, verdreht und krümmt ihn.

Sie wird ihm alles aus der Nase ziehen müssen. Sie kennen sich schon lange, aber Lila Mae weiß noch immer nicht, ob Jimmy nur schüchtern oder verblödet ist. Jedes Mal, wenn sie sich entschieden hat, tut Jimmy etwas, das sie veranlasst, die Sache neu zu überdenken, und löst erneut monatelange Spekulationen aus. »Sie reden über das Fanny-Briggs-Building, stimmt’s?«

»Ja«, sagt Jimmy.

»Was ist dort passiert?« Sie geht methodisch vor. Sie ist sich der Tatsache, dass ihr die Zeit davonrennt, deutlich bewusst.

»Irgendwas ist passiert, und der Fahrstuhl ist abgestürzt. Hat einen Haufen Ärger gegeben deshalb, und — jeder — hier in der Werkstatt — sagt, Sie sind schuld.« Er hält den Atem an. »Und das sagen sie auch im Radio.«

»Schon gut, Jimmy. Eines noch — sind die Leute, die tagsüber Dienst hatten, oben oder im O’Connor‹s?«

»Hab‹ von ein paar gehört, dass sie rüber ins O’Connor‹s wollen, um Chancre zu hören.« Der arme Kerl zittert. Sein Lächeln ist schon vor geraumer Zeit verflogen.

»Danke, Jimmy«, sagt Lila Mae. Die Rampe hinauf, dann auf die Straße und an drei Läden vorbei bis zum O’Connor‹s. Das könnte sie schaffen, ohne von den Leuten bemerkt zu werden, die vor dem Eingang stehen. Hoffentlich ist Chuck da. Auf dem Weg hinaus packt sie Jimmy bei der Schulter und sagt, die Karre laufe wie eine Eins. Ist natürlich nur ein Witz.

*

Lila Mae hat einen einzigen Freund in der Behörde, und sein Name lautet Chuck. Chucks rotes Haar ist zu einem adretten Safety geschnitten und gekämmt, er möchte von den jüngeren Inspektoren der Behörde akzeptiert werden. Laut Chuck ist dieser Haarschnitt ein Muss an der Akademie für Vertikalen Transport des Mittleren Westens, bis zum letzten Frühling seine Alma Mater. Punkt eins (jedenfalls fast) im Handbuch für Studenten. Selbst die Studentinnen müssen Safetys tragen, was für so häufiges verwirrtes und halsverrenkendes Herumfahren sorgte, dass der Arzt der Akademie die daraus resultierende, campusweite Epidemie von Nackenmuskelzerrungen auf den Namen »Safety-Hals« taufte. Chucks Theorie läuft darauf hinaus, dass die Renaissance des Safety Teil eines überall in der Fahrstuhlindustrie zu beobachtenden gärenden Konservatismus ist, von dem minimalistischen Kabinendesign dieser Saison bis zur Rückkehr der stabilen, T-förmigen Geländer nach dem unseligen Flirt mit den runden, europäischen Varianten. Behauptet er. Gab im Laufe der letzten Jahre zu viele Veränderungen in der Gilde — man sehe sich nur den chaotischen Aufstieg des Intuitionismus oder die zunehmende Zahl von Farbigen und Frauen an, ein Mist, man sehe sich nur Lila Mae an, eine regelrechte Flut, dreimal verflucht. Irgendwann wird sich das umkehren, unausweichlich, dann wird es wieder nach der Nase der alten Garde gehen. »Innovation und Regression«, predigt Chuck gern beim Mittagessen, meist ein Hantieren mit braunen Papiertüten auf zusammengepressten Knien im schmuddeligen Foyer des Metzger Building, wenige Blocks vom Büro entfernt. »Vor und zurück, vor und zurück.« Oder rauf und runter, fügt Lila Mae dann insgeheim hinzu.

Chuck behauptet, dass er sich nach kurzem Außendienst unbedingt einen Platz an einem Schreibtisch der Behörde sichern und schließlich an der Akademie für Vertikalen Transport Rolltreppenkunde unterrichten will. Chuck ist gerissen. Angesichts der Tatsache, dass die Fahrstuhlinspektion in der Gilde ganz klar Vorrang hat und und alle Vorteile genießt, bedarf es einer besonderen Persönlichkeitsstruktur, um sich auf Rolltreppen zu spezialisieren, die niederste Fortbewegungsart auf der heiligen Skala des Vertikalen. Die Inspektion von Rolltreppen ist nie richtig gewürdigt worden, vermutlich, weil die Überprüfung dieser rotierenden Geschöpfe so monoton ist, dass nur wenige zäh und schwindelfrei genug sind, um den ganzen Tag auf eine Kaskade von Zähnen starren zu können. Chuck kann mit dem Schattendasein, der Missachtung und der gelegentlichen Migräne leben. Spezialisierung bedeutet einen sicheren Job, und weil an allen Akademien hierzulande ein Mangel an Rolltreppen-Dozenten herrscht, glaubt er, einen Lehrauftrag so gut wie in der Tasche zu haben. Sobald er fest im Sattel sitzt, sobald seine Stellung gesichert ist, kann er von der Rolltreppe absehen und unterrichten, was ihm passt. Vermutlich hat er schon jetzt den idealen Lehrplan in der Tasche, auf eine billige Serviette gekritzelt. Etwa ein Überblicks-Seminar über die Geschichte hydraulischer Fahrstühle — Chuck ist fasziniert von Hydraulik, von Edoux’ hydraulischem Monstrum aus dem Jahr 1867 bis zu den Hybriden, die Arbo Labs für den nächsten Herbst entwickeln, wie man munkelt. Oder hypothetische Fahrstühle. Hypothetische Fahrstuhlkunde ist sicher bald wieder angesagt, denn der Furor ist inzwischen abgeebbt. Chuck hat Lila Mae versichert, dass er, obwohl eingefleischter Empiriker, die Gegenargumente der Intuitionisten verwenden wird, falls erforderlich. Seine Studenten sollen die gesamte Bandbreite des Fahrstuhlwissens kennen, nicht nur den Kanon. Chuck hat das Gefühl, dass seine Zukunft in der Gilde gesichert ist. Die Witze über Rolltreppenjockeys gehen ihm zum einen Ohr rein, zum anderen raus.

Er wird inzwischen nicht mehr veralbert, weder freundlich noch weniger freundlich gehänselt: Nach einer kurzen Phase latenter Schikane (die Neulinge wie Chuck oder ewige Außenseiter wie Lila Mae nicht bemerken, weil sie meist aus geheimen Codewörtern und flüchtigen Gesten besteht, die nur Eingeweihte entziffern und deuten, ja überhaupt wahrnehmen können) wird Chuck vom Rest der Behörde mehr oder weniger akzeptiert, außerdem haben sich heute Abend alle vor dem Radio zusammengerottet und lauschen der Pressekonferenz. Der großen Neuigkeit. Lila Mae, die so vorsichtig aus der Garage und von dort zum O’Connor‹s geschlichen ist, dass man meinen könnte, sie hätte ihre Beine erst am heutigen Morgen entdeckt, ist nicht erstaunt, ihre Kollegen vor dem Radio vorzufinden, in dem über ein Ereignis berichtet wird, das sich gut hundert Meter weiter zugetragen hat. Sie hätten problemlos zu den Reportern draußen vor der Zentrale stoßen können, aber das wäre zu direkt gewesen. Das Ruckeln und Rütteln der Fahrt bedeutet Fahrstuhlinspektoren alles — im Gegensatz zu Banalitäten wie Aufbruch und Ankunft, und wenn sich die Radiowellen zunächst von den Mikrofonen der Reporter zum Empfänger auf dem WCAM-Gebäude schlängeln und dort eine Weile herumtändeln müssen, bevor sie (fast) punktgenau an ihren schlichten Ursprungsort zurückkehren, dann umso besser. Die der Inspektion eigene Umständlichkeit kommt gewissen verstaubten Winkeln der Mentalität von Fahrstuhlinspektoren entgegen, und wie sich zeigt, sind es genau jene Winkel, in deren Nachbarschaft die grundlegenden, entscheidenden Charakterdefizite zu finden sind. Keiner ist bereit, diese Winkel zu erkunden oder gar anzuerkennen oder zu kommentieren; dies würde lehrreiche, ja, aber sowohl in persönlicher als auch beruflicher Hinsicht eindeutig verheerende Erkenntnisse zeitigen. So bedeutend sind sie. Ehrlich. Der Erste, der die Idee hatte, ins O’Connor‹s zu gehen, um Chancre und den Bürgermeister zu hören, derjenige, der es ihnen erleichtert hat, der immer größeren Bandbreite an Ausweichmanövern und Verdrängungstaktiken zu frönen, säuft heute Abend sicher umsonst.

Tages- und Nachtschicht haben sich in gebückter Haltung halbkreisförmig vor dem Radio des O’Connor‹s installiert, das hinter der Bar unter einem smaragdgrünen Neonkleeblatt steht wie in einem Schrein. Lila Mae entdeckt Chucks roten Schopf in der Mitte des Rudels. Die Wölfe spitzen die Lauscher. Im Radio sagt der Bürgermeister, man werde den Vorfall schonungslos aufklären, die Schuldigen an den Pranger stellen, eine umfassende Untersuchung des schrecklichen Unglücks im Fanny-Briggs-Building einleiten, das einer der verdienstvollsten Töchter unseres Landes gewidmet sei.

»Meinen Sie, eine Gruppe oder auch mehrere Gruppen, die der Emanzipation der Farbigen feindlich gesinnt sind, könnten dafür verantwortlich sein?«, fragt ein Reporter, was im O’Connor‹s erbostes Gemurmel auslöst. Natürlich denken alle an die Unruhen im letzten Sommer, daran, wie verrückt es war, in einer Metropole wie dieser zu leben (herrliche Hochbahnen, fünf Tageszeitungen, zwei Baseball-Stadien) und sich dennoch nicht vor die Tür zu wagen. Wie rasant alles wieder in einem mittelalterlichen Chaos versinken kann.

»Zum jetzigen Zeitpunkt möchten wir nicht darüber spekulieren, wer dafür verantwortlich sein könnte oder auch nicht«, sagt der Bürgermeister. »Wir wollen keine Emotionen anheizen oder niedere Instinkte wecken. Ich war dort, als es geschah, und ich weiß nur, dass es einen lauten Krach gab, ein lautes Krachbumm und große Verwirrung, und mir war klar, dass im Fanny-Briggs-Memorial-Building etwas Furchtbares passiert sein musste. Derzeit untersuchen wir die vorliegenden Fakten, etwa die Inspektionsunterlagen. Diese Fragen beantwortet Mr. Chancre, Chef der Fahrstuhlinspektions-Behörde. Mr. Chancre?«

Wie sich von selbst versteht, ist Lila Mae nicht oft im O’Connor’s, eigentlich nur an den Bowling-Abenden der Behörde, dann ist sie mit Chuck und den lokalen Säufern allein, und diese stellen höchstens eine Bedrohung für saubere Fußböden dar. Sie hat von ihrem Vater gelernt, dass man von Weißen jederzeit vor die Tür gesetzt werden kann. Sie bangt im O’Connor‹s um ihr Leben, weil sie glaubt, das unvermittelte Zurückschieben eines Stuhls oder eine plötzlich anschwellende Stimme könnte auf eine bevorstehende Auseinandersetzung hindeuten. Lila Mae war ab und zu im O’Connor’s, wenn ein Baseballspiel oder ein Boxkampf übertragen wurde, und bei jedem Jubeln sah sie sich nach einer potenziellen Waffe um. Da hilft es wenig, dass der Wirt stets mit einer großen Messingglocke läutet, wenn ein Gast kein Trinkgeld gibt; sie erschrickt jedes Mal. Sie erschrickt bei diesem Geräusch und auch bei dem der Startpistole, mit der hier Streit unterbunden wird, etwa hitzige Debatten über die diversen Vor- und Nachteile der Kühlung der Bremssysteme von United Elevator. Die Leute können jederzeit tollwütig werden; das ist das wahre Resultat verbesserter Integration: Der sichere Ausbruch von Gewalt wird durch den verzögerten Ausbruch von Gewalt ersetzt. Ihr Stand im Büro ist prekär, das weiß sie, und ebenso im O’Connor’s; sie ist eine Touristin, die sich zwischen schweren Vokalen verirrt hat, den groben Landkarten uralter Herkunftsländer, den Familienwappen fast komplett ausgerotteter Clans. Ihr Stand ist natürlich an jedem Ort dieser Stadt prekär, aber sie hat ihre übergroße Angst darauf gedrillt, unsichtbar zu sein, ähnlich wie Feuerhydranten und zu schwarzer Bürgersteig-Spachtelmasse zertretene Kaugummis. Zu den potenziellen Waffen zählen Schuhe, Schlüssel und zerbrochene Flaschen. Billardqueues, wenn sie zur Hand sind.

»Zehn Dollar darauf, dass Chancre eine Wahlkampfrede hält.«

»Die Wette ist für den Arsch.«

Heute Abend droht große Gefahr. Man könnte es so sehen: Alles Vertraute ist nicht mehr das, was es mal war.

»Jetzt ist sie so richtig ins Fettnäpfchen getreten.«

»Sie und der Rest der Truppe, bei Roland.«

»Chancre ist gesetzt.«

Ist wohl egal, dass sich Lila Mae nicht mehr geprügelt hat, seit sie in der dritten Klasse von einem jungen, blonden Mädchen mit Pferdezähnen gefragt wurde: Wieso haben Nigger krause Haare?

»Das passiert, wenn man Freaks und Sonderlinge in die Gilde aufnimmt.«

»Klappe — ich will den Mann hören.«