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Anhand Tondolus’ Vision (1483) und St. Brandans Meerfahrt (1476) differenziert die Autorin in einer Vergleichsanalyse die frühneuhochdeutsche Visionsliteratur hinsichtlich ihrer Funktion und Wirkung. Die anthropologischen und philosophischen Jenseitsvorstellungen wurden in der Heldenepik mit ihrem antithetischen Verhältnis von Leben und Tod und in der Visionsliteratur mit der Entrückung ins Jenseits erfasst. Die Besonderheiten der Jenseitsreise liegen in der Topografie und der Semantik des Raumes, in dem transzendente Erfahrungen möglich sind. Die mittelalterliche Jenseitsreise unterlag einer kulturellen Fusion und Diffusion bezüglich der Raumsemantik und liefert keine einheitliche Vorstellung von Jenseitsgedanken. Vielmehr beeinflussten unterschiedliche Strömungen des Jenseitsglaubens die Visionsliteratur im Mittelalter, weswegen das damalige kulturelle Bild der Jenseitsreise traditionell archaisch-heidnisch und eschatologisch-religiös geprägt war. Das Jenseits als ein Ort der immateriellen Existenz war bereits im Altertum durch die Imagination von Gefühlsräumen und Auseinandersetzung mit dem Tod vorstellbar. Die Grenz- und Heilserfahrungen der beiden Protagonisten als sekundäres Ziel der Jenseitsreise stehen dabei im Zeichen der Subjektivierung und Förderung des Jenseitsglaubens. Die Autorin leistet einen hochinteressanten Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs und teilt eine wertvolle Abhandlung über die mittelalterliche Visionsliteratur hinsichtlich der Authentizität von Grenz- und Heilserfahrungen bei Jenseitsreisen. Sie taucht detailliert ins Thema ein, dabei ist ihre Vorgehensweise analytisch stringent und nachvollziehbar. Dadurch macht sie die Unterscheidung von echten und unechten Visionen am Beispiel der jeweiligen literarischen Abbildung deutlich und hebt die Unterschiede zwischen Jenseitsreisen und Jenseitsvisionen hervor.
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Seitenzahl: 206
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Vorwort
Einleitung
1 Entstehungsprozesse im Vergleich
St. Brandans Meerfahrt vs. Tondolus’ Vision
1.1 Heiligenlegende und historische Figuren – St. Brandan der Heilige vs. Tondolus der Ritter
1.2 Autor und Entstehungsort
1.3 Authentizität der mittelalterlichen Visionsliteratur
2 Topografie des Jenseits
Konzeption der Raumsemantik
2.1 Raumtheorien – Utopie, Heterotopie und symbolische Repräsentation
2.2 Gedankengeschichte – das Jenseits als ein Ort der immateriellen Existenz
2.3 Hölle und Himmel – Kompensationsräume
3 Die Jenseitsreise als Grenz- und Heilserfahrung
3.1 Vision vs. Erscheinung – Tondolus der Ekstatiker vs. St. Brandan der Charismatiker
3.2 Die Jenseitsvision als Seelenwanderung
3.2.1 Tondolus der Grenzgänger
3.2.2 Der Engel als Reisebegleiter
3.2.3 Der Teufel als Kontrahent Gottes
3.2.4 Läuterung, Buße und Konversion
3.3 Die Jenseitsfahrt als peregrinatio
3.3.1 St. Brandan der Seelenführer
3.3.2 Propheten als Boten der Offenbarung
3.3.3 Monster, Ungeheuer und Dämonen als Erscheinungen
3.3.4 Heilsgewissheit vs. Heilserfahrung
Fazit
Literaturverzeichnis
Quellen
Monographien
Dissertationen
Aufsätze aus Sammelbänden
Artikel aus Lexika oder Handbüchern
Aufsätze in Zeitschriften
Diese wissenschaftliche Arbeit basiert auf den Auseinandersetzungen während eines Hauptseminars an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. zum Thema Jenseitsgedanken in Bild und Text, das unter der Leitung von Prof. Dr. Martina Backes im Bereich der Germanistischen Mediävistik stattfand. Die Forschungsdiskussion weckte bei den Teilnehmern das Interesse hinsichtlich der Frage nach der Authentizität von Visionen in Jenseitsreisen.
Am Beispiel von Tondolus’ Vision (1149) und St. Brandans Meerfahrt (1150) können unterschiedliche Grenz- und Heilserfahrungen während der Jenseitsreise veranschaulicht werden. In der weiterführenden Forschungsdiskussion wies Apl. Prof. Dr. Stefan Seeber auf die repräsentative Ideologie des Raumes hin, das dazu führte, die Raumerfahrung der beiden Jenseitsreisenden deutlich zu differenzieren.
Ursprünglich stammt die älteste datierte mitteldeutsche Handschrift der ›Visio Tundali‹ aus Bayern (1441), und liegt in diesem Beispiel als älteste erhaltene Prosafassung (Dx) von ›Tondolus der Ritter‹ vor, die von den beiden Verlegern Johann und Conrad Hist in Speyer (um 1483) gedruckt wurde (vgl. Nigel F. Palmer 1980). Die Grundlage für die ›Reisefassung‹ der ›Meerfahrt St. Brandans‹ ist ein mittelfänkisches Original (um 1150), und liegt in der ältesten überlieferten Augsburger Druckversion (A1) von Anton Sorg (um 1476) vor (vgl. Rolf D. Fay 1985).
Die Vergleichsanalyse der beiden Jenseitsreisen zeigt, inwiefern die Literarisierung des 15. Jahrhunderts Jenseitsgedanken in Reiseerzählungen manifestierte und den Begriff ›Vision‹ unterschiedlich bewertete. Gleichzeitig besteht ein Zusammenhang hinsichtlich der Reiseerfahrung der beiden Protagonisten, die zu den berühmtesten und beliebtesten mitteleuropäischen Jenseitsreisenden zählen.
Die Ungewissheit über den Verbleib des menschlichen Körpers und der Seele nach dem Tod hinterließ im Mittelalter eine Erkenntnislücke, die als ›epistemische Leerstelle‹1 bezeichnet werden kann.2 Der Tod als eine Art menschliche Banalität war bereits im Mittelalter »ein subjektives, emotionales und zugleich mysteriöses Phänomen«3, das einer Rätselhaftigkeit unterlag, die schwer zu durchdringen war und ein magisches Denkvermögen forderte. Es bestanden vielzählige Jenseitsvorstellungen im anthropologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Sinne.4 Berichte über Nahtoderfahrungen, die auf Zeugnissen von Sterbeberichten basierten, manifestierten den »To[d] als Durchgangsstadium«5. Die philosophische und religiöse Auseinandersetzung mit dem Tod ließ in ihm eine Tiefsinnigkeit und Weltintegration erfahren, die sein Bedrohungspotenzial und die Ungewissheit darüber minderten. In der Kunst und Literatur erfuhr die Auseinandersetzung mit dem Tod im 15. Jahrhundert eine ästhetische Verarbeitung, die einem künstlichen Gefühlsraum glich, der die Grenzen zwischen Leben und Tod plastisch darstellte. Maler und Ikonografen, wie Hieronymus Bosch (Der Aufstieg in das himmlische Paradies) oder Hans Fries (Höllensturz), gestalteten das Jenseits als ungewisses Übergangsphänomen, das die differenzierte Vorstellung von Leben und Tod aufzuheben versuchte.6
Im Mittelalter war die Literatur das »Trägermedium von Kultur«7, das die Jenseitsvorstellungen reflektierte. Zu den am meisten mit dem Thema in Korrespondenz geratenen Textsorten gehörten einerseits die Heldenepik und andererseits die Visionsliteratur, die den Topos ›Jenseitsreise‹ verarbeiteten.8 Der Heldenepik liegt ein antithetisches Verhältnis von Leben und Tod zugrunde, das sehr »stark heidnisch-archaisch gepräg[t]«9 ist. Heroische Absichten der Helden bestehen aus dem Motiv der Unsterblichkeit. Dabei findet der Held im Kampf um Leben und Tod seinen Nachruhm. Diese Art von Todesinszenierung suggeriert eine Freiheit, die im Gegensatz zur christlichen Heldenepik nicht erduldet werden muss.10 Im Rolandslied dagegen zeigt sich eine andere Gestaltung des Heldentods, der »als christlich motivierter Märtyrertod«11 gekennzeichnet ist. Roland findet in der Gnade Gottes sein eigenes Seelenheil, weil er die christliche Lehre im Kampf gegen das Heidentum verteidigt.12 Diese apokalyptischen Szenen einer Heidenverfolgung erinnern an die »Schilderung des Kreuzestodes Jesu«13, die den Helden Roland analog zur Passion Christi ins himmlische Paradies führen.
In der Visionsliteratur erlebt der Protagonist eine Entrückung aus der diesseitigen Welt ins Jenseits, die ihm einen Blick ins Jenseits gewährt. Der diesseitige Wahrnehmungsraum kann so für eine bestimmte Zeit verlassen werden, um mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen zu können.14 Aus naturwissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei der Vision um eine psychopathologische Anomalie, die in der neueren Forschung mit dem pathopsychologischen Problem der Halluzination in Verbindung gebracht wird.15 Die Vision als reine Halluzination zu erklären, scheint im Sinne der Literaturwissenschaft nicht als Antwort zu genügen. Kulturwissenschaftlich sind Visionen wichtiger »Bestandteil sozialer Interaktion«16, denn sie stehen in Zusammenhang mit Initialriten und werden in christlicher Tradition überliefert. Ihre Botschaft handelt von Erleuchtung und Offenbarung. Sie stehen in enger Beziehung zum Traum oder zur Erscheinung, werden aber im Gegensatz dazu als intensiver, wahr und real erlebt.17 Visionen unterliegen »eine[m] autobiografischen Zuschnitt«18, der oft mit »Belehrung und Verhaltenssteuerung«19 einhergeht. Sie sind in den meisten Fällen »exponierten Personen vorbehalten«20. Eine Steigerung der Vision ist die mystische Schauung, bei der die Visionäre selbst als Medium fungieren. Ihnen widerfahren gleichermaßen Visionen und Auditionen, meistens im selben Augenblick. Eine der bekanntesten mittelhochdeutschen Mystikerinnen ist Hildegard von Bingen (1098–1179). In ihren mystischen Todesvisionen sah sie das Jenseits vor ihrem inneren Auge und hörte dabei Stimmen.21
Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meines Lebenslaufes schaute ich ein himmliches Gesicht. Zitternd und mit großer Furcht spannte sich ihm mein Geist entgegen. Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir. »Gebrechlicher Mensch. Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst!«22
Im Unterschied zum Visionär übertritt der mystische Seher keine immanente Grenze oder Schwelle ins Jenseits, sondern bleibt »in seinem gewohnten Wahrnehmungsraum«23.
Die Jenseitsreise ist Teil einer Textsorte der Visionsliteratur, die eine plastischere und konkretere Jenseitserfahrung vermittelt. Wanderungen oder Fahrten beleben den Reisecharakter der Textsorte und bringen Abenteuer, Spannung und die Anschaulichkeit von fantastischen Welten zum Vorschein. Den meisten Jenseitsreisen liegt eine Visionslegende zugrunde, die aus hagiografischer Sicht auf mittelalterlichen Heiligenlegenden beruht. Die Entstehungsgeschichte der Gattung reicht bis weit in die vorchristliche Antike und handelt meist von profanen Schilderungen einer abenteuerlichen Unterweltsfahrt. Literarischer Höhepunkt der Gattung bildet zweifellos die Göttliche Komödie (1320) von Dante Alighieri.24 Eine beliebte Jenseitsreise der mittelhochdeutschen Visionsliteratur ist St. Brandans Meerfahrt (1150), die an die Irrfahrt des Odysseus erinnert.25 Noch verbreiteter war die Visio Tnugdali (1149), die »zu den beliebtesten Erzählstoffen des Mittelalters«26 gezählt werden kann. Aufgrund des autobiografischen Charakters und der Plastizität der Reiseerfahrung bestand beim mittelalterlichen Publikum kein Zweifel an der Echtheit der Jenseitsberichte – was einerseits am mittelalterlichen Unterscheidungsproblem zwischen Fantastik und Religion liegen mag, andererseits an der mündlichen Überlieferungsgeschichte des mittelalterlichen Erzählens.27 Weshalb es in der Forschung zur Visionsliteratur keinen Zweifel an den echten und unechten Visionen gibt und welche signifikanten Unterschiede zwischen Jenseitsreisen und Jenseitsvisionen bestehen, kann am Beispiel einer Vergleichsanalyse von Tondolus’ Vision und St. Brandans Meerfahrt veranschaulicht werden, um die Textsorten innerhalb der Visionsliteratur weiter auszudifferenzieren. Dabei hat die Topographie des Jenseits eine Auswirkung auf den Reisenden, was am Beispiel der Reiseerfahrung der beiden Protagonisten deutlich zu sehen ist.
1 Bettina Albert: Der Tod in Worten. Todesdarstellungen in der Literatur des frühen Mittelalters, masch. phil. Diss., Marburg 2014 (Die Darstellung des Todes in der volkssprachigen Literatur des frühen Mittelalters 8.–10. Jh.), S. 4.
2 Vgl. Heinz Sieburg: Zwischen Leben und Tod. Jenseitsvorstellungen und Diesseitskonzepte als Poetik des Übergangs in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10 (2019) 2, S. 39–52, hier S. 39.
3 Ebd.
4 Vgl. ebd., S. 40.
5 Ebd.
6 Vgl. ebd., S. 40 f.
7 Ebd., S. 43.
8 Vgl. ebd.
9 Ebd., S. 44.
10 Vgl. ebd.
11 Ebd., S. 45
12 Vgl. ebd.
13 Ebd., S. 46.
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. Peter Dinzelbacher: Vision und Magie. Religiöses Erleben im Mittelalter, Paderborn 2019, S. 43.
16 Heinz Sieburg: Zwischen Leben und Tod, S. 47.
17 Vgl. ebd.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd.
22 Hildegard von Bingen (1098-1179): Berufungsvision, in: Erhebe dich, meine Seele. Mystische Texte des Mittelalters, hrsg. v. Johanna Lanczkowski, Stuttgart 1988 (Reclam 8456), S. 52-79, hier S. 52.
23 Heinz Sieburg: Zwischen Leben und Tod, S. 48.
24 Vgl. ebd., S. 48 f.
25 Vgl. ebd., S. 49.
26 Brigitte Pfeil: Die 'Vision des Tnugdalus' Albers von Windberg. Literatur- und Frömmigkeitsgeschichte im ausgehenden 12. Jahrhundert, masch. phil. Diss., Frankfurt am Main 1999 (Mikrokosmos 54), S. 20.
27 Vgl. Heinz Sieburg: Zwischen Leben und Tod, S. 51.
Die Frage nach dem Entstehungsprozess der mittelhochdeutschen Jenseitsreise unterliegt der »Vorstellung eines Gegensatzes und einer Hierarchie zwischen ›gelehrter‹ und ›volkstümlicher‹ Kultur«28. Jacques Le Goff geht davon aus, dass die Entstehung von Erzählungen über die Reise ins Jenseits auf einer Interaktion des globalen Mittelalters beruht und auf einer Korrespondenz zwischen der gelehrten und volkstümlichen Gesellschaft basierte.29St. Brandans Meerfahrt und die Vision des Tondolus gehören der dritten Traditionslinie im Entstehungsprozess von Jenseitsreisen an, denen die »Erzählungen der jüdisch-christlichen Apokalyptik«30 und »die Höllenreisen des assyrisch-babylonischen Helden Ur-Nammou, Prinz von Ur, dann von Enkidou im Gilgamesch-Epos«31 vorausgehen. Die mündliche Überlieferung der dritten Traditionslinie stammt aus keltischen bzw. irischen Erzählungen über Reisen ins Jenseits, die aus heidnischen Versionen entstanden. Die lateinische Visio Tnugdali, die von einem irischen Ritter handelt, wurde 1149 von einem klerikalen Schreiber verfasst.32 Ritter Tnugdali ist ein Laie, dessen Seele das Jenseits durchwandern und durchleben muss. Die Jenseitsräume in Tondolus’ Vision sind systematisiert und erstrecken sich über »eine intermediäre Region«33. Die Entstehungsgeschichte von St. Brandans Meerfahrt hingegen ist aufgrund seines sukzessiven Aufenthalts in einer schlaraffenlandartigen Umgebung den vorchristlichen Vorbildern näher als die christlichen Höllen- und Paradiesvorstellungen in Tondolus’ Vision.34 Die Besonderheit dieser literaturhistorischen Gattung besteht darin, dass sie in einem »System der Wechselwirkung«35 eingebettet ist, weil ihre Überlieferung im Übergang vom klerikalen zum volkstümlichen Erzählen angesiedelt werden kann, weshalb die Erzählstrategien und Motivübernahmen parallel verlaufen und die entstehungsgeschichtlichen Traditionslinien miteinander kollidieren. Vier Phasen der Weitergabe können voneinander unterschieden werden, von denen drei im mündlichen Überlieferungsbereich liegen, es aber erst in der vierten Phase zur Verschriftlichung des Jenseitsberichts kommt. Tradiert werden die Berichte aus der volkstümlichen Mündlichkeit über einen gelehrten (litteratus) Kleriker zu einem ungelehrten (illiteratus) Laien bis hin zu einem unbekannten Schreiber (scriptor). Inwiefern die mündlichen Überlieferer die Jenseitsberichte veränderten, erweiterten oder kürzten, ist nicht mehr nachvollziehbar.36 In der vierten Phase, dem Schritt zur Verschriftlichung der Jenseitsberichte, kam es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu »eine[r] ›literarische[n]‹ und ›logische[n]‹ Formgebung«37, die mit »eine[r] ›Modernisierung‹ und […]›Christianisierung‹«38 in Zusammenhang stand. Insgesamt sind drei Änderungen aufgrund der Christianisierung der Motive festzustellen.39
[D]ie Verwandlung des greisen Seelenführers in einen Engel, die Gleichsetzung des Landes in der anderen Welt mit dem Ort, an dem »Henoch und Elias wohnen«, dem irdischen Paradies also, die Verwandlung der Burg des Helden in ein Kloster.40
Jacques Le Goff spricht in diesem Zusammenhang von einer »komplexen Geschichte der mittelalterlichen Akkulturation«41, weil die kulturelle Realität zwischen Klerus und Laientum aus einer Interaktion zwischen der volkstümlichen Mündlichkeit sowie der klerikalen Schriftlichkeit bestand. Der Visionär war in den meisten Fällen ein Kleriker oder Laie, der seine Vision einem ranghöheren Abt erzählte, der diese wiederum aufschrieb oder sie einem anderen Schreiber diktierte. So ist der Erlebnisbericht von einem ungebildeten Kleriker oder Laien über die mündliche Erzählung zu einem gebildeten Schreiber in die Kultur der Gelehrten eingegangen.42 Der Höhepunkt der soziokulturellen Geschichte der Jenseitsreise liegt in der Epoche zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert. In dieser Blütezeit des Mönchtums kam es zu einem kulturellen Umschwung, der die volkstümlichen Elemente wiederbelebte.43 Erst im 11. und 12. Jahrhundert fand ein Auftrieb der Laienkultur statt, der mit dem »Durchbruch der Folklore«44 verbunden war.
Peter Dinzelbacher bestätigt für die Entstehungsgeschichte der Jenseitsvisionen eine chronologische Reihenfolge der Überlieferungskette. Die Visionsberichte konnten entweder mit dem Zeitpunkt des Erlebnisses oder dem Zeitpunkt der Aufzeichnung ausgewiesen werden. Auch die historischen Lebensdaten des Visionärs konnten als Zeitpunkt des visionären Erlebnisses genannt werden. Wahrscheinlich ist aber, dass die Schreiber die Jenseitsberichte möglichst genau an den Ort und die Zeit der Vision legten, um das Bild der Jenseitsvision nicht zu verzerren. Im Fall von Tondolus’ Vision sind dessen Lebensdaten unbekannt. Die Vision selbst ist genau auf das Jahr 1149 datiert.45St. Brandans Meerfahrt hingegen lässt sich trotz aller Bemühungen der literaturhistorischen Forschung nicht genau datieren. St. Brandans Lebensdaten sind zwar bekannt, aber der Entstehungszeitpunkt seiner Meerfahrt ist ungewiss, kann jedoch für das Ende des 8. Jahrhunderts angenommen werden.46
St. Brandan war ein irischer Abt, der laut den Annalen von Ulster am Ende des 6. Jahrhunderts (577/583) verstarb.47 Sein Geburtsdatum ist umstritten, wird aber auf das Jahr 484 datiert.48 St. Brandans Geburt steht in Zusammenhang mit der Prophezeiung eines der verehrtesten und bekanntesten Heiligen Irlands, dem Heiligen Patricius. Er entstammte einer der bekanntesten und einflussreichsten Familien Irlands und wuchs im ›Tal der Wunder‹49 (Cluain-Ferta/Clonfert) unter dem Einflussgebiet von Bischof Erc auf.50 In Clonfert gründete St. Brandan (553–563) einen Bischofssitz mit mehreren Klöstern und wird seither als irischer Apostel verehrt.51 Mehrere Kulturorte sind noch immer nach ihm benannt, z. B. »die Berge Brandon Hill und Mount Brendan und die Quelle Brandon Well«52. Am 16. Mai feiert Irland seinen Gedenktag.53 Aus hagiografischen Quellen existieren einige Erzählungen über seine Kindheit, in der er bereits als kleiner Junge wahre Quellwunder vollbracht haben soll. Laut seiner Lebensbeschreibung ließ er eine Quelle aufsprudeln, um seinen Ziehvater vor der glühenden Hitze des Feuers zu bewahren.54 Aus historischen Quellen geht hervor, dass St. Brandan mindestens einmal eine Seereise um die britische Insel unternahm, bei der er vom Osten Irlands aus nach Frankreich segelte.55
Die Brandan-Legende war eine der beliebtesten, unterhaltsamsten und meistgelesenen Abenteuerfahrten der mittelalterlichen Visionsliteratur. Sie hatte einen weitreichenden Bekanntheitsgrad und gilt aus heutiger Sicht als mittelalterlicher Bestseller.56 Sie entstammt altirischen und mündlich überlieferten Schifffahrtssagen, die im 6. Jahrhundert kursierten. Aus ihnen entstand im 7. Jahrhundert eine besondere Gruppe von Sagen, die als ›Immrama‹ bezeichnet werden. Diese Sagen handeln ausnahmslos von Seefahrten, die von einer besonderen Gruppe freiwillig unternommen wurden, mit dem Ziel, das Jenseits zu erkunden. Das Immram erzählt von einer Mannschaft, die unter der Leitung eines überlegenen Führers während einer Meerfahrt auf eine Insel stößt.57 Es ist eine Art fantastischer Reisebericht, in dem »Reales und Irreal-Mythisches zu einem unentwirrbaren Geflecht verwoben«58 ist. Diese Sage gilt als Vorstufe der Brandan-Legende, in der die Meerfahrt auf christlich-mönchische Art abgehandelt wird. Heidnische Vorstellungen werden hierbei auf Heilige aus dem Christentum übertragen.59 Die Vita des Brandan und das Immram der nordischen Seefahrererzählung bilden demnach die Basis der Heiligenlegende, die als Navigatio etwa am Ende des 8. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde.60 Legenden handeln »von Akten charismatischer Erfahrung«61, die die Alltagserfahrung unterbrechen und dennoch sozial vertretbar sind. Von anderen Erzählformen abgrenzbar sind sie durch ihre unmarkierte Fiktion, die kognitive Dissonanzen anhand des symbolischen Charakters reduziert. Die religiöse Ebene verblendet das Fantastische und erklärt das Übernatürliche anhand der christlichen Glaubenslehre.62
Die Visio Tnugdali hingegen erscheint als authentischer Visionsbericht, der in enger Verwandtschaft zur Bußpredigt steht. Diese Vision steht in Zusammenhang mit der Heiligenlegende des Patricius, weil der irische Heilige, ebenso wie die Apostel Petrus und Paulus, zu den ersten Predigern zählte, der dem Volk die Strafen und Belohnungen des Jenseits offenbarte. Visionen waren als Augenzeugenberichte wesentlich wirkmächtiger als Predigten, weil sie eine zusätzliche Lehrfunktion enthielten, die das Bestreben erfüllte, die Sünder zum Glauben zu führen.63 Wie Nigel F. Palmer zeigt, steht die Translation E der Visio Tnugdali auf produktionstechnischer Ebene eng mit dem Purgatorium Sancti Patricii in Verbindung, weil beide Visionen vom selben Übersetzer am Ende des 14. Jahrhunderts ins Mittelhochdeutsche übertragen wurden.64 Typisch für die Textsorte war eine Profanierung der Jenseitsvision mit einem Helden, der fernab des klerikalen Standes als Exempel für das Schlechte und Verdorbene der Laienwelt herangezogen werden konnte.65 So widmete der Autor von Tondolus’ Vision den Jenseitsbericht »den weisen vnd den edeln vnd den richen dieser falschen welt die diß nit glaubent«66.
Die Meerfahrt des St. Brandan stammt aus einer anonymen Überlieferung, die seit dem 10. Jahrhundert mit insgesamt 141 Handschriften weitläufig erhalten geblieben ist. Die Autorschaft ist unbekannt, wird aber unter dem irischen Klerus vermutet, weil in den Handschriften irische Ortsnamen in lateinischen Übersetzungen vorliegen.67 Die Kenntnisse des Autors über die »irische[n] Genealogien und die Flexion irischer Namen«68 lässt ebenfalls vermuten, dass derjenige die Herkunftsbeschreibungen von St. Brandan kannte und Ortskenntnisse über Irland besaß. Irland als Ort, an dem St. Brandans Meerfahrt begann, wird in der mittelhochdeutschen Übersetzung nicht explizit erwähnt, sondern muss als Schauplatz vom Leser geografisch erschlossen werden. Diese Tatsache könnte ein Anzeichen dafür sein, dass sie zur Zeit der karolingischen Herrschaft verfasst wurde.69 Auf der Grundlage der Vita Sancti Brendani, die aus dem 8. Jahrhundert stammt, und der Navigatio, deren Entstehungsdatum ungewiss ist, aber zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert vermutet werden kann, entstand um 1150 eine mittelrheinische Fassung von Sankt Brandans Reise, die als die älteste mitteldeutsche Fassung gilt.70 Insgesamt sind drei Versfassungen in Mitteldeutsch, Niederdeutsch und Mittelniederländisch aus dem 12. Jahrhundert bekannt. Aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist eine Prosabearbeitung überliefert, die in fünf Handschriften existiert und 24 mal abgedruckt erscheint.71 Aller Wahrscheinlichkeit nach arbeitete der Autor im 12. Jahrhundert in einem der zahlreichen irischen Klöster, die zu dieser Zeit am Niederrhein entstanden waren.72 Er war ein gebildeter Kleriker, der weitreichende Kenntnisse in der deutschen und irischen volkssprachigen Literatur besaß und »den irischen Gedanken der peregrinatio (Pilgerfahrt)«73 kannte. Die eremitische und missionsartige Meerfahrt erfuhr in der irischen Geschichte ab dem 6. Jahrhundert als freiwillige Pilgerfahrt ihre Blütezeit. Im 8. Jahrhundert hingegen bekam die peregrinatio ihren Charakter der unfreiwilligen und erzwungenen Exilfahrt, weil die Wikinger Irland angriffen und viele irische Kleriker und Gelehrte auf das Festland flohen.74 So konnten sich die »irische[n] Visions- und Heiligengeschichten«75 über den gesamten europäischen Kontinent verbreiten. In der Gegend um Trier siedelten sich die irischen Gelehrten am europäischen Hof an und stifteten ab dem 12. Jahrhundert irische Klöster entlang des Rheins.76
Die Autorschaft der Visio Tnugdali nachzuvollziehen, gestaltet sich trotz des dazugehörigen Widmungsbriefs, den der Autor (Frater Marcus) seinem Werk beifügte, als problematisch. Wie der Beiname Frater zu erkennen gibt, handelte es sich bei diesem Autor um einen gelehrten Kleriker, der als Mönch sein Werk in den Klosterdienst stellte. Die Begebenheit, über die Marcus schrieb, trug sich nach seiner eigenen Aussage in Irland zu, wo der Ritter der Vision angeblich gelebt haben soll. Über die hagiografischen Lebensdaten des Ritters Tnugdali ist nichts bekannt, dennoch spricht einiges dafür, dass Tnugdal ein keltischer Name gewesen sein könnte.77 Weil Tn- aufgrund keltischer Lautgesetze äußerst selten vorkommt, geht Richard Gosche davon aus, dass es im Irischen eine »Metathesis der mittleren Spiranten«78 gab, die die spätere Form ›Tundal‹79 hervorbrachte. Frater Marcus teilt in seinem Widmungsbrief mit, dass Tnugdal ihm dessen Erlebnisse erzählte und er lediglich bei der lateinischen Übersetzung ins Schriftbild Schwierigkeiten hatte. Er beherrschte nicht nur Tnugdals Sprache, sondern kannte sich auch geografisch in Irland aus, was er zu Beginn seines Werkes in einer ausführlichen Inselbeschreibung nahelegt.80 Eine »für die Iren so typischen Verbundenheit mit ihrer Insel«81 ist ebenso ein Indiz dafür, dass der Autor selbst aus Irland stammte und ein Wandermönch gewesen sein könnte. Marcus verwies auf seine zeitgenössischen Kenntnisse über den Bruderstreit »zwischen Cormac und Donough MacCarthy«82, die zu Zeiten der Visio Tnugdali den Thron im Süden des Landes beherrschten. Das Schicksal einer Vision wird Tnugdal nicht ohne Grund zuteil, denn sein Geburtsort Cashel steht mit der Übertragung der Regierungsgewalt von König Murtough O’Brien (1101) und dem ansässigen Bischof in Verbindung. Nicht zufällig trifft Tnugdal in seiner Vision nur bekannte Iren im Paradies, beispielsweise die Bischöfe Celestinus von Armagh, Christian Ua Morgair, Malachia und Nehemia von Cloyne, die zu den bekanntesten Legaten Irlands gehören.83
Hie sach ich vier bischoff die ich wol kant. […] A[l]s ich vmb mich sach/ da sach ich den aposteln patricium mit einer grossen schar der bischof vnd dar vnder sach vir bischof die ich wol kant den Ertzbischof Celestinum Malachiam der nach dem selben in dz ertzbistum kam Von rom by Innocencius geziten vnd alles das der selb bischof gehaben mocht das teilet er Clostern vnd armen luten Diser buwet vier closter vnd munster von monchen Canoniken vnd iungfrawen den er alle ir notorft bestalt Vnd behielt im selber gantz nichts Die sel sach auch Cristianum ein bischof zu lion vnd bruder des vorgenanten malachie der was eins harten leben vnd ein liebhaber des willigen armutz Vnd ein bischof Neemiam der von grosser weißheit und kuscheit ander vber tretten hat By den vorgenanten herren was ein sessel der was wuniglich gezieret/ dar vff saß niemant/ Do sprach min sel wes ist diser sessel oder warumb stat er ledig Do antwurt malachias der bischof vnd sprach diser sessel ist vnser bruder einer der noch nit tod ist/ dan wan er gestirbt so wirt er heruf sitzen vf disen stul[.]84
Welchem Bischofssitz der Autor selbst als Mönch angehörte, ist nicht bekannt, er könnte allerdings mit einem Benediktinerorden aus Cashel in Verbindung gestanden haben.85 Weil Tnugdal im Paradies mit dem Heiligen Ruadanus sprach, der »[n]eben dem irischen Nationalheiligen Patricius«86 in Irland Bekanntheit erlangt hatte, ist davon auszugehen, dass Marcus mit dem »Kl[o]ster im Königreich Munster«87 in Verbindung stand. Ruadanus war Abt von Lorrah, der in Cashel geboren worden war und der Sage nach »aus dem Herrscherhaus von Südmunster«88 stammte.
D[o] sie also stont/ do wz gegenwertig Sant rudan ein bichter mit grossen freiden grußt vnd vmbfing die sel Tundali des vorgenanten ritters vnd von rechter innigkeit vnd freiden sprach er zu ir/ Got bewar deinen ingang vnd dinen vßgang nun vnd yemer vnd ewiglich/ vnd sprach ich bin es rudan din patron by dem din begerung von recht sin sol Vnd do er dis gesprach Do Stunt sant Rudan vnd sprach nit mer.89
Der Grund für diese auffällige Hervorhebung Ruadanus scheint kein Zufall zu sein, denn Vermutungen legen nahe, dass Marcus eine gewisse Zeit in Lorrah gelebt hatte, seine Familie dort ansässig gewesen oder er von dort aus in den Mönchstand übergetreten sein könnte, was seinen Anspruch auf ein Grab im Kloster Lorrah erklären würde.90
Als Wandermönch gelangte Marcus nach Regensburg in Süddeutschland, wo er den Visionsbericht in lateinischer Sprache niederschrieb. In diesem Gebiet entstanden auch die meisten der mittelhochdeutschen Abschriften. Eine Quelle aus dem 12. Jahrhundert besagt, dass ein bayerischer Geistlicher namens Alber die lateinische Visio Tnugdali im Kloster von St. Paul in mittelhochdeutsche Verse übertrug. Wie im Prolog des Visionsberichts erwähnt wird, ist die Visio Tnugdali 1149 zu der Zeit von Kaiser Conrad im vierten Papstjahr Eugens von Ibernia geschaut worden.91
I[n] dem iar cristi vnsers herren als man zalt Tusent hundert nein und vierzig. zu ziten keiser Conrats/ vnd in dem vierden iar des babstes Eugenij zu ibernia in dem land der do zwei sind ein ybernia lit gegen mitternacht/ das ander gegen mittag/ vß dem was ein ritter genant Tundalus edel von gesclecht/ […] von leib stoltz hubsch vnd starck/92
Plausibel anzunehmen ist, dass Regensburg, der Regentschaftsort von Kaiser Konrad III., als Entstehungsort der lateinischen Visio Tnugdali gelten kann, weil der Kaiser von dort aus zum zweiten Kreuzzug aufbrach.93 Zu dem Entstehungskontext und der Auftraggeberin wird aus der praefatio deutlich, dass die Aufzeichnung der Visio Tnugdali von Äbtissin Gisela erbeten wurde, um den Text der Klostersammlung als Predigtmaterial hinzuzufügen.94
Peter Dinzelbacher schlägt eine klare Differenzierung der Gattung in die Textsorten echte und unechte Visionen mit der Begründung vor, dass es Visionen gab, die sich als unecht herausgestellt hätten, weil sie nicht »so erlebt worden«95 seien. Diese Texte basieren nicht auf paranormalen Erlebnissen, sondern sind rein fiktiv.96 Unechte Visionen sollten zu ihrer Zeit als »echt gehalten werden«97 so wie einige »der politischen Visionen der Karolingerzeit«