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Shane Claiborne und Tony Campolo geht es um nichts weniger, als eine neue Jesus-Bewegung ins Leben zu rufen. Eine Bewegung, die den Worten Jesu viel mehr Gewicht gibt, als dies in großen Teilen der Christenheit der Fall ist. Dabei greifen sie brandaktuelle Fragen vieler Christen auf und setzen sie in den direkten Kontext zu Aussagen Jesu. Es geht um vieldiskutierte Themen wie Homosexualität, Islam, zur Rolle des Heiligen Geistes oder zur Abtreibung. Um die Verantwortung bei der sozialen Ungerechtigkeit dieser Welt. Um Umweltschutz. Und nicht zuletzt um die unbequeme Frage nach der Hölle. Ein unangenehmes Buch mit erhobenem Zeigefinger also? Mitnichten. Vielmehr wirken die Ansichten der beiden renommierten Autoren äußerst befreiend. Gleichzeitig sind sie stets durch den direkten Bezug auf Jesus fundiert. Ein Dialog zwischen dem jungen Wilden Claiborne und dem alten Weisen Campolo, ebenso spannend wie theologisch durchdacht. Radikal und dennoch Brücken bauend, wild und gleichzeitig weise.
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Seitenzahl: 353
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Über die Autoren
Shane Claiborne ist Bestseller-Autor, christlicher Aktivist und Redner. Er schreibt viel und intensiv über Friedensinitiativen, soziale Gerechtigkeit und Jesus. Außerdem ist er als Redner auf der ganzen Welt unterwegs. Tony Campolo ist Professor emeritus und Autor von mehr als 35 Büchern. Als vielfach gefragter Redner bereist er Länder rund um den Globus. Außerdem ist er als Medien-Kommentator und engagierter Blogger (redletterchristians.org) aktiv.
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Red Letter Revolution“ im Verlag Thomas Nelson, Inc., Nashville, Tennessee.
Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc.
© 2012 by Tony Campolo and The Simple Way
© 2014 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar
Die Bibelstellen wurden, sofern nicht anders angegeben, der Bibelübersetzung „Willkommen daheim“ entnommen. © 2009 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.1. Auflage 2014
Bestell-Nr. 817030
ISBN 978-3-96122-020-5Umschlaggestaltung: Björn Steffens
Umschlagfoto: Shutterstock
Lektorat: Karoline Kuhn, Kai S. Scheunemann
Satz: Uhl + Massopust, AalenNachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
„Dieses Buch, von einem jungen Wilden und einem altersweisen Christen geschrieben, wird Sie neu dafür begeistern, wie wir Christen diese Welt verändern können, wenn wir Jesus beim Wort nehmen.“
Jimmy Carter, Ex-Präsident der USA
„Wenige Menschen haben das Gewissen meiner Gemeinde, aber auch mein Gewissen und das meiner Familie, so berührt wie Tony Campolo und Shane Claiborne. Sie werden getrieben von der Leidenschaft Jesu für die am Rand Stehenden und Armen. Ich bin dankbar für dieses Buch, ihre Gedanken und ihr Leben.“
John Ortberg, Autor und Pastor
„Shane Claiborne und Tony Campolo, die bekannt sind für ihre klare evangelikale Botschaft und ihren leidenschaftlichen Einsatz gegen Armut, Ungerechtigkeit und Diskriminierung, sprechen mit diesem Buch eine großzügige Einladung an uns aus, uns an diesem Gespräch zu beteiligen. Ein adrenalinproduzierendes Gespräch mit prophetischem Biss!“
Eugene H. Peterson, Professor und Verfasser von The Message
„Richtungsweisend für Jesusnachfolger im 21. Jahrhundert! Kurzweilig und prägnant packen die Autoren viele heiße Eisen an. Ihre Beiträge fordern uns dazu auf, althergebrachte Antworten zu überdenken, speziell bei Themen wie Himmel, Hölle und Zukunft, Homosexualität, Islam und dem Nahostkonflikt. Und weil sich dabei die Autoren ganz auf die Worte und das Wirken von Jesus stützen, wirkt ihr Dialog kraftvoll.“
Christian Schneider, 13 Jahre Slumbewohner und Autor von „Himmel und Straßenstaub“
„Shane und Tony sprechen offen und ehrlich über die heißesten Themen unter der Sonne? Echt?! Also, das ist ein Buch, das ich meinen Freunden schenken werde.“
Rob Bell, Autor und Pastor
„In diesem mutigen Buch finden wir den Weg zurück zu den Grundaussagen des Evangeliums, geschrieben von zwei Christen, die dieses Evangelium erst gelebt und dann darüber gesprochen haben.“
Richard Rohr, Autor und Priester
„Dies ist so ein spannendes und brillant geschriebenes Buch, dass es von Menschen jeder Glaubensrichtung und von säkularen Humanisten gelesen werden sollte.“
Michael Lerner, Rabbi und Herausgeber des Tikkun-Magazins (tikkun.org)
„‚Was, wenn Jesus wirklich gemeint hat, was er sagte?‘ – Ich kenne kein Buch, das diese Frage so aufrichtig und selbstkritisch stellt wie dieses – und das mit seinen Antworten so weit in die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hineinreicht. Auf allen Seiten pulsiert die Vision eines Christentums, das sich nicht zurückzieht und gemütlich einrichtet, sondern mitten in der Realität dieser Welt Jesus nachfolgt. Shane und Tony bringen damit eine Diskussion ins Rollen, die auch und gerade in Europa ihre lebendige Fortsetzung finden muss.“
Manuel Schmid, Senior Pastor ICF Basel
„Ich kann dieses Buch nicht empfehlen. Zumindest nicht dem, der seine bisherige Sicht fundiert bestätigt bekommen will. Ach, Sie würden lieber elektrisiert, kampfeslustig und neu entzündet werden? Dann empfehle ich es sehr!“
Pfarrer Stefan Pahl, Leiter „Marburger Kreis e. V.“
„Ich habe sofort angefangen, in einem Neuen Testament alle Jesus-Worte rot zu markieren. Dieses Buch regt an, wirklich alle Lebensbereiche an den Worten Jesu und somit an Jesus selber zu messen. Ich stimme nicht mit allen Positionen überein. Aber ich will jesusmäßig leben. Und das heißt: hören, lernen, unterwegs bleiben. Claiborne und Campolo helfen dabei gut auf die Sprünge.“
Ansgar Hörsting, Präses Bund Freier evangelischer Gemeinden Deutschland
„Shane Claiborne und Tony Campolo nehmen in ihrem Dialog kein Blatt vor den Mund. Sie sind und bleiben Evangelikale, aber gehören einer wachsenden Gruppe an, die ‚evangelikal‘ neu definieren wollen. Dieses Buch hat das Potential, ein kleines Erdbeben unter den Frommen in Deutschland auszulösen. Aber dieses Erdbeben ist gut und überfällig.“
Rolf Krüger, Journalist und Blogger (www.aufnkaffee.net), Gründer der Plattformen jesus.de und amen.de
Dieses Buch ist allen gewidmet, die sich wünschen, so zu leben, dass man Jesus in ihnen erkennt
Inhalt
Stimmen zum Buch
Vorwort der deutschen Ausgabe
Einführung
Teil I – Die „Worte Jesu“-Theologie
1. Die Geschichte
2. Die Hölle
3. Der Islam
4. Gemeinschaft
5. Die Kirche
6. Liturgie
7. Heilige
8. Reich und Arm
Teil II – Die Worte Jesu leben
1. Familie
2. Schutz ungeborenen Lebens
3. Umweltschutz
4. Frauen
5. Homosexualität
6. Immigration
7. Ziviler Ungehorsam
8. Geben
Teil III – Die Worte Jesu und die Öffentlichkeit
1. Politik
2. Krieg und Gewalt
3. Staatsverschuldung
4. Der Nahostkonflikt
5. Ökumene
6. Versöhnung
7. Mission
8. Das Leben nach dem Tod
Ein abschließendes Wort
Dürfen wir das veröffentlichen? Dürfen wir das sagen? Dürfen wir sagen, was wir glauben? Jede Gemeinschaft, jede Gruppe hat bestimmte Grundüberzeugungen – was „man“ tut und was „man“ lässt. Dazugehören kann nur, wer diese Grund-Sätze vertritt und im Wesentlichen nichts sagt oder lebt, was dem widerspricht. Das ist so in Parteien und Vereinen, in Milieus und Zeitungsredaktionen.
Und wie ist das in der christlichen Gemeinde? Ohne mich jetzt lange mit denen aufzuhalten, die wirklich felsenfest davon überzeugt sind, dass es (nur) so, wie sie es sehen, richtig ist, weil es (ihr) Gott schließlich genauso sieht, will ich klar sagen: Auch christliche Gemeinden kennen diese Grund-Sätze – achten auf das, was „man“ sagt oder tut oder eben nicht sagt oder tut. Abweichungen führen zu Irritationen, hartnäckige Verletzungen der Grund-Sätze zum Ausschluss – entweder offiziell oder durch inoffizielles „Geschwistermobbing“.
Viele unserer Konfessionen und Denominationen fußen auf solchen Grund-Sätzen und viele Baptisten könnten sich nicht vorstellen, Methodisten zu sein, viele Landeskirchler wollen nie und nimmer Freikirchler werden und „katholisch werden“ geht für Protestanten schon mal gar nicht – und jeweils umgekehrt genauso!
Aber so gut und wichtig uns unsere eigenen Leit-Sätze sind, manchmal, manchmal empfinden wir ein Innehalten und vielleicht sogar eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass der Leib Christi, das Reich Gottes größer ist als unsere eigenen Überzeugungen. Das macht demütig, lernbereit, barmherzig – und neugierig.
Auch sogenannte „Evangelikale“, quer durch Konfessionen und Denominationen, haben ihre Leit-Sätze, oftmals eben das, was sie von anderen unterscheidet. Und das ist gut so. Profil gewinnt eine Bewegung dadurch, dass man sie erkennen und benennen kann. Aber was ist „evangelikal“? Woran erkennt man „evangelikale Christen“? Die Diskussion darüber ist in den vergangenen Jahren immer heftiger geworden und sie könnte die evangelikale Bewegung zerreißen. Davon singen Tony Campolo und Shane Claiborne ein vielstrophiges Lied in diesem Buch.
Ganz eindeutig sind sie nicht damit einverstanden, dass die evangelikale Bewegung nur mit einem einseitigen gesellschaftlichen Profil wahrgenommen wird, und sie versuchen, durch eine neue Konzentration auf die in den Bibeln oftmals rot und fett gedruckten Jesuszitate etwas an dieser einseitigen Profilbildung zu verändern, die allerdings weit über gesellschaftliche Fragen hinausgeht. Wobei derartige „Rote Buchstaben“-Christen im evangelikalen Bereich auch ganz schnell zu „Rote Tuch“-Christen werden können.
Wenn jemand einen Standpunkt gegen Abtreibung vertritt: gut.
Aber sich als männliche Feministen zu bezeichnen, die gegen Umweltzerstörung sind? Klassisch evangelikal: nicht gut.
Für das uneingeschränkte Existenzrecht Israels: gut.
Aber Kritik an israelischer Politik? Schwierig.
Eine differenzierte Sicht auf den Islam: momentan gaaaaaanz schlecht.
Unterschiedliche Standpunkte im Umgang mit Homosexualität zulassen und alles in Liebe? Autsch.
Ich könnte so weitermachen und verstehe, warum sowohl Verlage als auch Einzelpersonen im evangelikalen Bereich sich dreimal überlegen, ob und wie sie mit derartigen Positionen an die Öffentlichkeit gehen. Ist das noch „evangelikal“? Ist das nahe an Jesus, also „roter Buchstabe“, oder nahe am Abfall vom rechten Glauben, also „rotes Tuch“?
Um es deutlich zu sagen: Ich habe dieses Buch mehrmals in einem Rutsch und mit „hohem Herzschlagfaktor“ gelesen. Das bedeutet gerade nicht, dass ich in allen Themenfeldern mit den Autoren einer Meinung wäre. Teils finde ich es – typisch deutsch – theologisch etwas dünn, manchmal überzeugen mich die Argumente einfach nicht. Aber ich stehe dafür ein, dass wir über diese Fragen innerhalb der evangelikalen Bewegung offen und unvoreingenommen sprechen. All diese Positionen werden längst unter uns vertreten – wir sollten fragen, welche Leit-Sätze dahinter stehen und wie viel wir davon teilen. Wir brauchen die Diskussion über diese Fragen und ich vermute: wir brauchen dieses „Rote Buchstaben-Profil“ als essenziellen Teil (!) einer voneinander lernenden und aufeinander hörenden evangelikalen Bewegung.
Besonders verheißungsvoll stimmen mich dabei das Gespräch der Generationen, welches Shane und Tony praktizieren, und die Tatsache, dass dabei einer ihrer wesentlichen Leitbegriffe der der Gemeinschaft ist. Von Jesus lernen – in Gemeinschaft: das will auch ich.
Laut Widmung ist dieses Buch für alle geschrieben ist, die sich wünschen so zu leben, dass man Jesus in ihnen erkennt – mindestens das müsste uns aufmerksam hinhören und vieles ganz neu beherzigen lassen.
Dr. Michael Diener,
erster Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz
Warum es dieses Buch gibt
Christen in Deutschland wie in den USA stecken in einem Namensdilemma. „Evangelikal“, dieses Wort hat man ursprünglich einmal eingeführt, um Christen zu benennen, die sich besonders ernsthaft und engagiert an der Bibel orientieren. Inzwischen ist es aber schon beinahe ein Schimpfwort geworden und steht vielerorts, besonders in den Medien, für übertrieben strenggläubige, engstirnige Fanatiker mit rechten Tendenzen. Leider gibt es die tatsächlich, und verständlicherweise möchten besonders junge Christen nicht mit diesen Leuten in einen Topf geworfen werden, auch wenn die Mehrzahl der Christen, die sich selbst als Evangelikale sehen, natürlich keineswegs in eine solche Richtung tendiert. Ein neuer Name für Christen müsste her, die die Bibel ernst nehmen und sich nicht durch eine „Dagegen-Haltung“, sondern durch „Engagement für“ ihre Mitmenschen und ihre Umwelt auszeichnen. In den USA bilden diese „neuen evangelikalen“ Christen mittlerweile eine sehr lebendige Bewegung, die sich als „Red Letter Christians“ bezeichnet.
Was aber sind „Rote-Buchstaben-Christen“? 1899 begann man in den USA, die Bibeln zweifarbig zu drucken: den normalen Text schwarz, die Worte Jesu rot. Diese Bibeln sind uns Amerikanern von klein auf bekannt, darum weiß auch jeder sofort, was mit „Red Letter Christians“ gemeint ist.
Wir haben uns den Namen „Red Letter Christians“ nicht nur zugelegt, um uns von den gesellschaftlichen Wertvorstellungen derer zu unterscheiden, die man normalerweise „evangelikal“ nennt, sondern vor allem, um deutlich zu machen, dass wir die Worte von Jesus radikal ernst nehmen wollen. Was er gesagt hat, möchten wir im alltäglichen Leben ohne Abstriche umsetzen.
Seit mehr als 40 Jahren haben unter anderem der Buchautor Ron Sider, Jim Wallis, der Gründer der „Sojourners“ (eine christliche Kommunität in Illinois) und auch ich immer wieder betont, dass jeder, der Jesus nachfolgen will, den Armen und Unterdrückten in ihren Nöten dienen muss.
Irgendwann hat dann eine neue Generation den Stab übernommen, und diese jungen Leute haben unser Anliegen der sozialen Gerechtigkeit in einer frischen, sehr effektiven Weise aufgenommen. Einer, der aus dieser Gruppe besonders hervortritt, ist der Co-Autor dieses Buches, Shane Claiborne. Sein Buch „Ich muss verrückt sein, so zu leben“1, seine Vorträge und vor allem sein Leben haben ihn zu einem Vorbild für junge Christen werden lassen, die mehr wollen als nur ein Glaubenssystem. Und diese jungen Christen gibt es: Sie halten Ausschau nach einem authentischen Lebensstil, der dem Vorbild von Jesus folgt.
Shane war vor längerer Zeit einer meiner Studenten an der Eastern Universität. Und er engagiert sich bei „Simple Way“, einer sehr aktiven Gemeinschaft, die sich unserer gesellschaftlichen und ökologischen Verantwortung bewusst ist, und, was vielleicht das Bedeutendste ist: Jeder in der Gemeinschaft bemüht sich, die Worte Jesu in die Tat umzusetzen, vor allem im Hinblick darauf, wie wir mit unserem Geld umgehen.
Shane und ich haben angeregte Diskussionen darüber geführt, wie wir die Worte Jesu in unserem Leben umsetzen können; immerhin trennen uns fast vier Jahrzehnte. Als wir unsere Gemeinsamkeiten, aber auch unsere Unterschiede entdeckten, kamen wir zu der Überzeugung, dass unsere Gespräche vielleicht auch für andere Christen hilfreich und interessant sein könnten. Nur um ein Beispiel zu nennen: Diejenigen von uns, die in den 1950er- und 1960er-Jahren aufwuchsen, dachten nicht im Traum daran, in einer anderen als einer ehelichen Gemeinschaft zu leben. Aber in den darauffolgenden turbulenten Jahrzehnten kamen die unterschiedlichsten Kommunenformen auf. Zuerst waren da die Hippies, die leider die positiven Aspekte des Lebens in einer Gemeinschaft durch den exzessiven Gebrauch von Drogen und freizügigem Sexualverhalten diskreditierten. Diese Erfahrungen und Assoziationen hielten die Christen meiner Generation lange davon ab, überhaupt ernsthaft über das Leben in einer verbindlichen Gemeinschaft nachzudenken.
Die „Kommunen“, in denen junge Christen heute leben, sind von einer ganz anderen Art. Wenn Sie Shane und die anderen, die den gemeinschaftlichen Lebensstil für sich gewählt haben, kennenlernen würden, dann würden Sie sicher bald verstehen, dass viele in seiner Generation auf der Suche sind. Auf der Suche nach einem Weg, die Art von liebevoller Gemeinschaft zu bilden, die im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben ist.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Shane und die anderen „Red Letter“-Christen sich aus politischen Prozessen heraushalten. Doch tatsächlich ist es einfach so, dass sie einen anderen Weg wählen, um Gerechtigkeit direkt und unmittelbar dem Einzelnen zuteilwerden zu lassen. Als der zweite Golfkrieg ausbrach, flogen Shane und andere junge Christen nach Jordanien und fuhren von dort durch die Wüste in den Irak, um in den Krankenhäusern von Bagdad den Menschen zu dienen, die bei amerikanischen Militäraktionen verletzt worden waren.
Meine Generation versuchte auf der anderen Seite, in unserem Land ein Gespür dafür zu wecken, dass Krieg generell unmoralisch ist, besonders aber dieser. Unsere Hoffnung war dabei, dass diejenigen, die etwas zu sagen haben, durch den Widerstand in der Bevölkerung den Krieg doch noch verhindern würden. Beide Generationen „Red Letter“-Christen waren sich in ihrer Ablehnung des Krieges an sich absolut einig, aber die Art, wie wir diese Ungerechtigkeit angingen, war total unterschiedlich.
Als wir zum Thema „Kirche“ kamen, bemerkten wir, dass sich in den letzten 40 Jahren doch einiges zum Besseren verändert hat. Meine Generation stammt noch aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil – und damit auch vor der Wende, mit der dieses Konzil den Katholizismus öffnete, hin zu mehr Gemeinschaft mit anderen Christen und stärkerer biblischer Ausrichtung. Wir älteren Evangelikalen hatten noch ziemlich verdrehte und negative Vorstellungen von den Katholiken. Wir waren uns sicher, dass diese Kirche die Rechtfertigung allein durch Glauben irgendwie verpasst hat und auch noch einige reichlich abwegige Dinge glaubte und lehrte. Daher wollten wir eigentlich nichts mit Katholiken zu tun haben, und umgekehrt sie wahrscheinlich auch nicht mit uns. Allein die Idee, wir könnten von ihnen etwas in Sachen Spiritualität lernen, war für uns undenkbar, und der Vorschlag, mit Katholiken einen gemeinsamen Gottesdienst zu feiern, wäre revolutionär gewesen.
Die jüngere Generation der „neuen Evangelikalen“ oder „Red Letter“-Christen kann sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass solche Feindseligkeiten zwischen Katholiken und Protestanten geherrscht haben. Shane hat nicht die geringste Hemmung, zusammen mit Katholiken Gott anzubeten. Viele „Red Letter“-Christen sind Mitglieder der katholischen Kirche. Diese Generation schätzt die katholische Liturgie und viele beschäftigen sich intensiv mit den geistlichen Erfahrungen der Heiligen. Für uns Ältere ist das alles sehr, sehr neu.
Jüngere „Red Letter“-Christen führen uns ältere so an völlig neue Dimensionen des Glaubens heran, die aus Zeiten weit vor der Reformation stammen. Und es gibt eine wachsende Bewegung von Christen wie Shane, die wahrnehmen, dass Gott etwas ganz Frisches und Neues tut, gleichzeitig aber auch in die großen Fußstapfen derer treten, die schon früher einen revolutionären Pfad beschritten und für uns erleuchtet haben. Darum ist dieses Gespräch zwischen den Generationen so unverzichtbar.
Unser Ziel war es nicht, unsere Träume zu homogenisieren, sondern zu harmonisieren. Schließlich sagt schon die Heilige Schrift: „Junge Männer werden Visionen haben und alte Menschen bedeutungsvolle Träume“ (Apostelgeschichte 2,17b).
Darum haben wir dieses Buch als einen Dialog geschrieben. Wir wünschen uns, dass Sie die Wege nachvollziehen können, auf denen jeder von uns vom anderen lernt und gleichzeitig auch kritisch hinterfragt (vgl. Phil 2,12), wie wir jeweils die Worte Jesus verstehen und umsetzen.
Unsere Hoffnung ist, dass unser Gespräch Sie zu Ihrer ganz eigenen Interpretation der Lehren Jesu inspiriert. Wir laden Sie ein, sich an diesem Dialog aktiv zu beteiligen (www.redletterchristians.org). Doch bedeutend wichtiger: Wir laden Sie ein, sich der „Jesus-Revolution“ anzuschließen.
Tony Campolo
1 Brunnen Verlag Gießen 2007
Teil IDie „Worte Jesu“-Theologie
„Ein Mensch, der mir vertraut, wird nicht nur das tun, was ich getan habe, er wird sogar noch größere Dinge tun, denn ich bin bereits auf meinem Weg zum Vater.“
Johannes 14,11–13
Shane: Tony, warum glaubst du, dass wir nach Bezeichnungen wie „Fundamentalisten“ oder „Evangelikale“ einen neuen Begriff brauchen, wie „Red Letter“-Christen?
Tony: Engagierte Christen haben während des letzten Jahrhunderts eine Reihe von verschiedenen Namen angenommen, um verschiedene Schwerpunkte und Ausrichtungen auszudrücken.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler in Deutschland, die Texte der Bibel kritisch zu lesen und kamen zu Ergebnissen, die den traditionellen Glauben zu gefährden drohten. Sie gingen der Frage nach, wer eigentlich die Autoren der Bibel waren und vermuteten, dass ein Großteil des Alten Testaments nichts anderes sei als eine Sammlung alter, vielleicht sogar babylonischer Mythen und Moralvorstellungen. Männer wie Friedrich Schleiermacher, Albrecht Ritschl, Ernst Tröltsch, um nur einige zu nennen, entwickelten aus dieser historisch-kritischen Herangehensweise eine Theologie, die auch die Fundamente des christlichen Glaubens in Zweifel zog, etwa die Göttlichkeit Jesu oder die Auferstehung.
Das erzeugte einigen Aufruhr. Unter anderem setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Bibelforschern aus England und Amerika zusammen und veröffentlichte eine zwölfbändige Reihe, die sie „Die Fundamente des Christlichen Glaubens“ nannte. Diese Bücher waren eine intelligente Verteidigung der traditionellen Lehren der Kirchen, so wie wir sie im apostolischen Glaubensbekenntnis vorfinden.
Auf diese Bücher reagierte wiederum ein bekannter liberaler Prediger in New York, Harry Emerson Fosdick. Seine Predigt „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?!“ wurde gedruckt und in ganz Nordamerika verbreitet. Auf diese Weise kam das Wort „Fundamentalismus“ auf die Welt.
Die Bezeichnung „fundamentalistisch“ hatte zunächst einen durchaus guten Klang (ein solides Fundament ist ja nichts Schlechtes) und sorgte bis zu den Jahren 1928/29 für mehr Klarheit. Doch dann kam der aufsehenerregende Scopes-Prozess vor einem Gericht in Dayton, Tennessee im Jahr 1925. In diesem Prozess ging es um ein im selben Jahr verabschiedetes Gesetz, welches verbot, Theorien zu lehren, die der Bibel in Bezug auf die Entstehungsgeschichte der Menschheit widersprechen. Weil der Lehrer John Thomas Scopes die Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen gelehrt hatte, wurde er im Scopes-Prozess zu 100 Dollar Bußgeld verurteilt. In den daraus resultierenden Diskussionen geriet der Fundamentalismus in den Verdacht, antiintellektuell und naiv zu sein. Zusätzlich zu diesem wenig schmeichelhaften Image schlich sich in fundamentalistische Kreise immer mehr ein Geist der Verurteilung ein. Man verachtete nicht nur die, die von der „richtigen Glaubenslehre“ abwichen, sondern gleich auch noch alle diejenigen, die sich dem sehr gesetzlichen Lebensstil nicht bedingungslos anschließen wollten. Für einen Fundamentalisten waren Tanzen, Rauchen und Alkoholkonsum absolut verdammungswürdige Verhaltensweisen.
Von da an bis in die 1950er-Jahre war der Begriff „Fundamentalist“ mit allen Arten von negativen Vorstellungen überfrachtet. Genau in diesen Jahren brachten Billy Graham und Carl Henry (der spätere Herausgeber der Zeitschrift „Christianity today“) die Bezeichnung „evangelikal“ auf. Das schien zunächst ein recht guter Begriff für die überzeugten, aktiven Christen zu sein. Doch Mitte der 1990er-Jahre verlor auch dieser Begriff seine Neutralität in der Öffentlichkeit. Über weite Strecken erschien es nun, als wären die Evangelikalen der USA eine Ehe mit der religiösen Rechten, ja sogar mit dem rechten Flügel der sowieso schon konservativen Republikaner eingegangen.
Wenn Theologen wie du, Shane, und ich vor Studenten in Harvard oder Stanford sprechen sollen und als „Evangelikale“ angekündigt werden, gehen sofort die roten Fahnen hoch und die Leute sagen: „O je, ihr gehört also zu diesen reaktionären Christen, die gegen alles sind! Ihr habt etwas gegen Frauen, erst recht gegen Schwule, ihr mögt keine Umweltaktivisten, aber dafür setzt ihr auf Krieg, wollt Einwanderung stoppen und so weiter.“ Wenn wir überhaupt noch dazu kommen, uns zu verteidigen, dann würden wir sagen: „Einen Moment! Genau das sind wir nicht!“ Es gibt natürlich viele Gründe dafür, dass sich dieses Bild von „den Evangelikalen“ entwickelt hat, unter anderem durch solche, die sich wirklich so negativ verhalten haben, aber auch durch die Medien, die die Evangelikalen und die religiöse Rechte undifferenziert in einen Topf geworfen haben.
Wir wollten, dass Leute sofort wissen sollten, mit wem sie es zu tun haben: Christen, die das leben wollen, was Jesus gesagt hat, soweit es ihnen nur möglich ist.
Es war also wieder einmal notwendig, nach einem Namen zu suchen, der noch unbelastet beschreibt, wer und was wir sind. Und so entstand der Begriff „Red Letter Christians“. Wir wollten, dass Leute sofort wissen sollten, mit wem sie es zu tun haben: Christen, die das leben wollen, was Jesus gesagt hat, soweit es ihnen nur möglich ist. Wir sind keine politische Bewegung, doch uns liegt sehr daran, die Politik unseres Landes so zu beeinflussen, dass mehr Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte erreicht wird. Dabei spielt es für uns überhaupt keine Rolle, welche Partei diese Anliegen unterstützt. Hauptsache, sie tut es!
Die Zeitschrift „Christianity today“ veröffentlichte einen Artikel, der diesen Namen aufs Korn nahm: „Ihr tut ja gerade so, als wären die roten Buchstaben in der Bibel bedeutender als die schwarzen!“ Darauf können wir nur antworten: „Ganz genau! Nicht nur wir sagen, dass die roten Buchstaben in der Bibel wichtiger sind als die schwarzen – Jesus selber hat dies gesagt!“ Jesus hat zum Beispiel in seiner Bergpredigt immer und immer wieder klargestellt, dass seine Lehre – vorsichtig ausgedrückt – die des Mose sozusagen ablöst; denken wir nur an seine Aussagen über Scheidung, Ehebruch, Töten, selbst über den Umgang mit fremder Schuld oder mit Geld. Überall hat Jesus einen wesentlich höheren moralischen Standard angelegt.
Als Jesus gesagt hat, dass er uns ein neues Gebot geben würde, war es wirklich neu.Sein Gebot übersteigt mit Sicherheit alles, was wir im Alten Testament lesen. Außerdem können wir eigentlich nicht wirklich verstehen, was die schwarzen Buchstaben der Bibel uns zu sagen haben, wenn wir nicht zuerst verstanden haben, was Jesus uns durch seine eigenen Worte offenbart hat. Das heißt in keiner Weise, dass wir die übrigen Texte der Bibel abwerten; wir glauben, dass der Heilige Geist die Schreiber der biblischen Texte inspiriert hat, also auch all das „um die Worte Jesu herum“.
Shane, immer, wenn ich dir in den letzten Jahren zugehört habe, war klar, wie wichtig es dir ist zu betonen, dass die Zeit reif ist für uns Christen, die Lehren Jesu wirklich ernst zu nehmen, vor allem auch die Bergpredigt!
Wir zerreden die Worte Jesu, erklären sie weg, möbeln sie auf oder verwässern sie, als ob sie nicht für sich selber sprechen könnten.
Shane: Wir zerreden die Worte Jesu, erklären sie weg, möbeln sie auf oder verwässern sie, als ob sie nicht für sich selber sprechen könnten. Ich hörte einmal jemanden sagen: „Ich ging ins Seminar, um zu lernen, was Jesus mit dem, was er sagte, wirklich gemeint hat. Und dann lernte ich, dass Jesus das, was er gesagt hat, nicht wirklich gemeint hat.“ Das ist traurig! Dabei brauchen wir eigentlich nur wie ein Kind an die Sache heranzugehen, wie Jesus gesagt hat: mit Unschuld und Einfachheit.
Der dänische Theologe Søren Kierkegaard schrieb bereits Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die Bibel ist sehr leicht zu begreifen. Doch wir Christen sind ein Haufen ränkevoller Schwindler. Wir tun so, als ob wir unfähig seien, sie zu verstehen. Wissen wir doch sehr genau, dass wir von dem Augenblick an, in dem wir sie verstehen, entsprechend handeln müssen.“2
Wir müssen zur Unschuld zurückkehren. Das heißt, die Bibel wieder ohne all die vielen Kommentare im Kopf zu lesen und uns nur zu fragen: „Was bedeutet das alles wirklich für mich persönlich?“ Ich finde es nicht sonderlich interessant, mir zu überlegen, was für theologische Fragen die Stelle aufwirft. Viel mehr interessiert mich, wie ich mein Leben so leben kann, wie Jesus es gemeint hat. Wenn ich heute etwas offener dafür bin als gestern, meinen Nachbarn zu lieben, für meine „Feinde“ zu beten und mir wenig Sorgen zu machen, dann lebe ich gut.
Wenn ich heute etwas offener dafür bin als gestern, meinen Nachbarn zu lieben, für meine „Feinde“ zu beten und mir wenig Sorgen zu machen, dann lebe ich gut.
Christen, die sich auf die Worte Jesu konzentrieren, sind keineswegs, wie mir jemand einmal sagte, „überzogen christozentrisch“, indem sie Christus so betonen, dass für den Rest der Dreieinigkeit kein Raum mehr ist. Nun gut – mir hat man schon ganz andere und wesentlich üblere Sachen vorgehalten, als „christozentrisch“ zu sein. Aber trotzdem muss klar sein, dass wir uns nicht so verstehen.
Wir glauben, dass der Gott, der sich in Jesus geoffenbart hat, auch der Gott der hebräischen Bibel ist. Zusammen mit allen Glaubenden früherer Zeiten wissen wir, dass unser Gott ein dreieiniger ist – Vater, Geist, Sohn. Trotzdem kann es beim Lesen des Alten Testaments passieren, dass einem verwirrende Dinge begegnen. Man muss ja nur mal die Geschichte in Richter Kapitel 19 lesen, wo die Leichenteile einer vergewaltigten Frau an elf Stämme Israels verschickt wurden, ganz zu schweigen von den mörderischen Folgen … Das kann einen schon gehörig irritieren. Aber genau das ist der Grund, warum Jesus so einzigartig ist: Jesus kam, um uns zu zeigen, wie Gott ist, und das in einer Art und Weise, dass wir ihn förmlich berühren und ihm nachfolgen können. Jesus ist für uns auch so etwas wie eine Brille, mit der wir die Bibel und unsere Welt erst richtig sehen können. Alles ist in Jesus Christus erfüllt. Es gibt eine Menge Dinge, die ich immer noch ziemlich schockierend finde, aber wenn ich dann auf Jesus schaue, bekomme ich eine tiefe Gewissheit, dass Gott dennoch durch und durch gut ist, voller Gnade – und gar nicht so weit weg …
Tony: Ja, es ist ein ganz anderes Gefühl, das wir von Gott bekommen, wenn wir vom Alten Testament hinüberwechseln ins Neue. Natürlich glauben wir daran, dass auch das Alte Testament von Gott inspiriert ist, aber ebenso müssen wir eingestehen, dass man den Kontrast, den das alttestamentliche Gottesbild zum neutestamentlichen bildet, schlecht übersehen kann. Manche Menschen verwirrt es total, wenn sie erst im AT lesen und dann zu den Aussagen Jesu wechseln. Aus diesem Grund dachten manche der ersten Christen, sie würden zwei verschiedene Götter kennen. Natürlich gibt es die nicht, aber es ist nur zu verständlich, dass Christen in der Vergangenheit immer wieder so dachten.
Shane: Genau das ist es, was die Menschwerdung Jesu so wunderbar macht. Jesus zeigt uns, wie Gott „sich anfühlt“ – mit einem Mal ist er jemand, den man sehen, berühren, spüren, dem man folgen kann. Meine spanisch sprechenden Freunde haben mir beigebracht, dass das Wort Inkarnation vom Ursprung her „ins Fleisch“, en carne, als auch con carne, „mit Fleisch“, heißen kann. Ein Gott „mit Fleisch“, das ist Jesus für uns.
Wir können Gott durch die gesamte Geschichte an den unterschiedlichsten Orten wirken sehen, aber der Höhepunkt der gesamten Menschheitsgeschichte ist Jesus und das, was er uns in seinen Worten mitgegeben hat.
Tony: Noch einmal: Das bedeutet nicht, die übrigen Texte der Bibel seien nicht göttlich inspiriert – sie sind es! Der Theologe G. Ernest Wright hält fest, dass wir alles, was wir über Gott wissen, in dem erkennen können, was er in der Geschichte getan hat. In seiner kleinen Schrift „Ein Gott, der handelt“ (1952) stellt er klar, dass Gott keiner ist, der auf die Erde kam, um Wort für Wort die Bibel zu diktieren (im Gegensatz zum Koran oder dem Buch Mormon). Stattdessen hat sich Gott in dem offenbart, was er tat. So ist die Bibel vor allem ein Bericht von seinen mächtigen Taten. Die Art, wie er handelt, gibt uns Menschen eine erste Ahnung davon, wer unser Gott ist.
Was das Volk Israel über Gott wusste, erfuhr es durch das, was Gott tat.
Aus dem griechischen Denken stammen Wörter wie „allmächtig, allwissend, allgegenwärtig“. Mit ihnen versuchte man, Gott zu beschreiben, doch diese Worte kommen im Alten Testament nicht vor. Das Volk Israel hat niemals in solch abstrakten Begriffen von Gott geredet. Wenn du jemanden aus dem frühen Judentum bitten würdest, Gott zu beschreiben, würdest du Antworten bekommen wie diese: „Unser Gott ist der Gott, der die Welt erschaffen hat, der unser Schreien gehört hat, als wir versklavt waren, und der uns aus Ägypten in das Land der Verheißung geführt hat. Unser Gott hat die Streitkräfte des Feindes besiegt. Er, den wir verehren, machte uns fähig, uns gegen die drohenden Mächte zu erheben, die uns vernichten wollten. Wir beten einen Gott an, der sich im Leben von Abraham, Mose und Jakob gezeigt hat.“ Was das Volk Israel über Gott wusste, erfuhr es durch das, was Gott tat.
Im Neuen Testament lesen wir, dass Gott, der sich in früheren Zeiten an verschiedenen Orten und auf die unterschiedlichste Weise zu erkennen gegeben hatte, sich nun endgültig und ganz in seinem Sohn Jesus Christus offenbart hat (vgl. Hebr 11,1 f.). Die Bibel ist der zusammenfassende Bericht aller geschichtlichen Ereignisse, durch die wir einen immer tieferen Einblick in die Natur Gottes gewinnen können. Aber letztendlich haben wir erst in Jesus die ganze Offenbarung Gottes vor uns.
Die Evangelien beschreiben, wie wir als Volk in seinem Reich leben sollen, wie wir mit dem Heiligen Geist zusammen Menschen auf ihrem Weg zu ihm begleiten können. Jesus hat sehr deutlich ganz klare Erwartungen an uns ausgesprochen, wie wir uns als seine Nachfolger gegenüber anderen zu verhalten haben und welche Opfer es kostet, schon jetzt in seinem Königreich leben zu dürfen.
Shane: In den letzten Jahrzehnten waren wir Christen geradezu versessen darauf festzustellen, was wir zu glauben haben, statt danach zu fragen, wie wir leben sollen. Wir haben sehr viel über Lehrmeinungen gesprochen, aber sehr wenig über die praktische Umsetzung. Doch bei Jesus finden wir keine Präsentation irgendwelcher Theorien, sondern die Einladung, sich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, die Gottes Güte für die Welt erfahrbar macht.
Interessanterweise hat Jesus ja seine Jünger nicht aufgefordert, die Menschen zu „Glaubern“ zu machen, sondern zu Nachfolgern.
Diese Art, den Glauben eher als Lehre zu verstehen, hat sogar schon unsere Sprache infiziert. Auf was zielen wir, wenn wir fragen: „Bist du gläubig?“ Interessanterweise hat Jesus ja seine Jünger nicht aufgefordert, die Menschen zu „Glaubern“ zu machen, sondern zu Nachfolgern. Du kannst Jesus wie einen Rockstar verehren, ohne irgendetwas von dem zu tun, was er sagt. Wir können an ihn glauben und ihm doch nicht nachfolgen. Einige Verse im Brief an die Korinther machen das deutlich (1 Korinther 13,1–3): „Wenn ich alle Sprachen der Menschen und sogar der Engel spreche, aber keine Liebe habe, dann bin ich nichts als ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken. Und wenn ich die Gabe der Prophetie und der Erkenntnis habe und alle Geheimnisse kenne, wenn ich die Glaubenskraft besitze, Berge zu versetzen, aber in mir keine Liebe ist, dann bin ich ein Nichts. Selbst wenn ich alles hergebe, was ich besitze, und sogar noch mein Leben (worauf ich eigentlich stolz sein könnte) – wenn das alles ohne Liebe geschieht, nützt es mir gar nichts.“
Wir haben in den vergangenen Jahren viel in den spirituellen Aufbau des Einzelnen investiert. Doch genau aus diesem Grund haben wir jetzt eine Kirche, die voll ist mit kopflastigen Gläubigen, in der sich aber kaum wirkliche Nachfolger Jesu finden lassen.
Tony: Die Evangelien vermitteln uns vor allem Leitlinien für einen Lebensstil, der dem Reich Gottes entspricht. Die anderen Bücher des Neuen Testaments versorgen uns mit einer soliden Theologie. Wir brauchen beides. Wir wollen auf keinen Fall die Rechtfertigung allein durch den Glauben gering achten. Es ist für uns sonnenklar, dass wir nur durch Gnade errettet sind und nicht durch das, was wir leisten, damit sich kein Mensch vor Gott rühmen kann (vgl. Eph 2,8). Wir vertrauen unser Leben Jesus Christus an und vertrauen nicht auf unsere eigene Leistung. Was Jesus am Kreuz für uns auf sich genommen hat: Das ist unsere Rettung. Aber im gleichen Moment sehen wir auch sehr deutlich, dass Christus uns zu einem Lebensstil auffordert, der besonders klar in der Bergpredigt beschrieben ist, sich aber auch in anderen Worten Jesu wiederfindet.
Genau so, wie wir gehalten sind, die Aussagen des Paulus, die er in seinen Briefen unmissverständlich formuliert hat, absolut ernst zu nehmen, so sind wir auch dazu berufen, den Lebensstil zu leben, den Jesus uns in den Evangelien vor Augen gestellt hat.
Shane: Vor einigen Jahren führte die Willow Creek Community Church in der Nähe von Chicago (übrigens eine der einflussreichsten Megagemeinden der Welt) eine faszinierende Studie durch. In dieser Studie versuchten sie herauszufinden, ob ihre immer wieder beschworene Vision, Kirchendistanzierte zu hingegebenen Nachfolgern Jesu zu formen, bei ihren Mitgliedern Wirklichkeit geworden war3. Dabei steht außer Frage, dass diese Gemeinde außerordentlich gut darin ist, völlig kirchenferne Menschen in eine Beziehung zu Gott zu bringen. Die Frage in dieser Studie war: Sieht der Lebensstil dieser Christen anders aus als der ihrer Umgebung? Haben sich, als sie Christen wurden, ihr soziales Netzwerk und ihre Verhaltensmuster (auch im Hinblick auf Konsum und Umgang mit Geld) verändert?
Was sie herausfanden, war wohl für die meisten schockierend. Die Leitung von Willow Creek veröffentlichte diese Studie unter dem Titel „Reveal“ (Enthüllung), die eher so etwas wie ein Bekenntnis war, zu dem es nicht nur Mut, sondern auch eine gehörige Portion Demut brauchte. Untersuchungen wie diese (sie sind allerdings selten) zeigen uns, dass der Fluss des Christentums in weiten Teilen zwar sehr breit ist, aber nur ein paar Zentimeter tief.
Dabei möchte ich klar herausstellen: Ich habe tiefen Respekt vor Willow Creek. Dort wird unermüdlich daran gearbeitet, das Verständnis davon, was Mitgliedschaft in einer Gemeinde bedeutet, zu vertiefen. Ich habe in dieser Gemeinde ein Jahr lang gearbeitet und wir hatten unseren Spaß daran, wenn sich jemand über irgendetwas beschwerte. Diese Person wurde nämlich stets im selben Moment zum ehrenamtlichen Mitarbeiter ernannt, der sich um das angesprochene Problem kümmern durfte. Ich erinnere mich an ein geflügeltes Wort bei Willow Creek, das ich in dem Jahr oft zu hören bekam: „Neunzig Prozent Hingabe sind immer noch zehn Prozent zu wenig.“4
„Neunzig Prozent Hingabe sind immer noch zehn Prozent zu wenig.“
Was Willow Creek durch Reveal so mutig aufdeckte, geht uns alle an. Wir werden in den meisten unserer Gemeinden sehr viel zu tun haben, wenn wir beginnen, völlig hingegebene Nachfolger Jesu zu formen, statt nur Leute zum Glauben zu bringen.
Wenn wir alles einzig und allein auf die persönliche Rettung setzen, dann ist das schlichtweg unvollständig. Aber auch das Gegenteil gilt: Wenn wir nur soziale Verbesserungen anstreben und den Menschen nicht helfen, den Gott persönlich kennen- und lieben zu lernen, der selbst die Haare auf ihrem Kopf zählt, dann ist unsere Botschaft genauso unvollständig.
Tony: Weil ich immer noch nicht wirklich das lebe (und vermutlich auch nie leben werde), was Jesus vorgelebt hat und was ich durch seine Worte erkannt habe, definiere ich mich gerne als jemand, der durch Gottes Gnade gerettet wurde und der auf dem Weg ist, ein Christ zu werden. Hierbei hilft mir Paulus: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich umso mehr nach dem aus, was vor mir liegt. Ich tue wirklich alles, um den Siegespreis zu erringen: in Ewigkeit bei ihm zu sein“ (Phil 3,13 f.). Gerettet zu sein bedeutet, auf das zu vertrauen, was Christus für uns getan hat; wie wir mit unserem Leben darauf antworten, das macht uns zu Christen.
Shane: Da gibt es doch diesen alten Spruch: „Ich bin nicht errettet, weil ich gut bin, aber ich versuche gut zu sein, weil ich errettet bin.“ Wir können uns die Errettung nicht mit guten Werken verdienen, sondern unsere Taten beweisen und zeigen auch nach außen, dass wir errettet sind. Wenn wir Gnade erfahren haben, werden wir dadurch zu Menschen, die gnädig mit anderen umgehen. Gnade verändert einen Menschen.
„Ich bin nicht errettet, weil ich gut bin, aber ich versuche gut zu sein, weil ich errettet bin.“
Wenn wir wirklich eine „neue Schöpfung in Christus“ sind, dann verändert das auch die Art und Weise, wie wir uns verhalten, mit wem wir unsere Zeit verbringen und wie wir mit unserem Geld umgehen. Ja, es verändert auch unseren Blick darauf, was Krieg und Politik angeht und warum wir überhaupt auf dieser Erde sind. Es ist schon so: Alle Dinge werden neu.
Bei Menschen, denen Gott systematisch als bedeutungslos, langweilig und unverständlich vorgestellt wurde, kommt ein Gespräch über Gott oder eine Erfahrung seines wirklichen Wesens oft gar nicht mehr an.
Ich sehe noch eine große Herausforderung. Wenn alles irgendwie christlich ist, ist nichts mehr wirklich christlich. Wir leben zwar in einer ehemals christianisierten Zivilisation, in der man theoretisch überall etwas über Gott hören oder lesen kann, aber gerade deswegen kommt die Rede kaum auf den Gott, der Mensch wurde. Man weiß ja alles und irgendwie ist all das Christentümliche langweilig. In den deutschsprachigen Ländern sind es die Gottesdienste, die oft genug junge Menschen gegen Gott regelrecht immunisieren. In den Vereinigten Staaten ist es der Dollar, auf dem groß steht: „In God we trust“, mit dem Drogen, Waffen, Bomben und Pornografie finanziert werden. Bei Menschen, denen Gott systematisch als bedeutungslos, langweilig und unverständlich vorgestellt wurde, kommt ein Gespräch über Gott oder eine Erfahrung seines wirklichen Wesens oft gar nicht mehr an. Sie ist bestenfalls eine Information wie viele andere, aber sie berührt nicht mehr – diese Menschen sind vielfach resistent gegen die Wirklichkeit des Glaubens. Kaum einer hat mehr ein Interesse am Christentum, weil er oft nur ein winziges (und wenig reizvolles) Stück davon mitbekommen hat.
Tony: Es gibt da eine wundervolle Geschichte, in der der große dänische Philosoph Søren Kierkegaard erzählte, wie er Schwimmunterricht bekam: Sein Vater stand am Rand des Beckens und drängte ihn, doch loszulassen und dem Wasser zu vertrauen, dass es ihn trägt. Und der Kleine fuchtelte mit seinen Armen im Wasser herum, strampelte mit einem Fuß und schrie seinem Vater zu: „Guck mal, ich schwimme! Ich schwimme!“ Doch dabei stützte er sich mit dem großen Zeh des anderen Fußes auf dem Boden des Beckens ab.
Das beschreibt genau mich. Ich möchte rufen: „Schau nur, wie toll ich dir gehorche! Siehst du, wie ich deinen Willen erfülle? Ich habe doch losgelassen!“ Aber in Wirklichkeit stütze ich mich immer noch – bildlich gesprochen – auf meinen großen Zeh. Da ist etwas in uns, das uns an den Dingen dieser Welt festklammern lässt. Wir leben mit der Hoffnung, dass wir endlich loslassen können, damit Jesus durch uns wirken kann, aber die meisten von uns bekommen das einfach nicht hin, sosehr wir es auch möchten.
Shane: Wir bräuchten also eine Art Lackmus-Test, um festzustellen: Ist etwas christlich oder ist es das nicht. Vielleicht ist eine ganz einfache Frage dieser Test: „Sieht das mehr und mehr nach Jesus aus?“ Es gibt eine Menge Leute, die von sich behaupten würden, dass sie Christen sind, aber in ihrem Verhalten werden sie Jesus nicht ähnlicher oder sogar zunehmend unähnlicher. Und dann gibt es Menschen, die gar nicht so sehr darauf pochen, dass sie Christen sind, doch ihr Herz und ihre Leidenschaft kommen langsam, aber sicher dem Herzen Jesu immer näher. Zum Glück ist es allein Gottes Sache, das alles auseinanderzuhalten.
Mehr wie Jesus zu werden, das ist unser höchstes Ziel. Das ist es, woher wir kommen und wohin wir gelangen wollen.
Mehr wie Jesus zu werden, das ist unser höchstes Ziel. Das ist es, woher wir kommen und wohin wir gelangen wollen.
2 Søren Kierkegard: Provocations: Spiritual Writings of Søren Kierkegaard, ed. Charles E. Moore (Farmington, PA: Plough, 2002
3 Hawkins/Parkinson: Prüfen: Aufrüttelnde Erkenntnisse der REVEAL-Studie. Die harte Wahrheit über Gemeindeleben und geistliches Wachstum. Gerth Medien, Asslar 2009
4 Hier einmal zur Illustration ein paar Dinge, die Willow Creek allein in einem einzigen Jahr auf die Beine gestellt hat: Sie haben 1.4 Millionen (!) Kilo kostenlose Nahrungsmittel für Menschen mit finanziellen Problemen in ihrem Einzugsgebiet zur Verfügung gestellt, 11 Krankenhäuser in Lateinamerika aufgebaut, 28 solarbetriebene Bewässerungssysteme und 106 Brunnen in Afrika installiert, mit denen die Wasserversorgung von über 200 000 Menschen sichergestellt wurde, eine der größten Fair-Trade-Messen der USA abgehalten, 16 000 Freiwillige zum Sortieren von Saatgut für Farmprojekte in Simbabwe mobilisiert, weitere 16 000 Freiwillige 3,6 Millionen Essenpakete für Kinder in Afrika packen lassen, 18 Großraumcontainer mit Hilfsgütern für die schlimmsten Krisengebiete der Erde befüllt, eine kostenlose Rechtsberatung für fast 1000 Menschen durch Anwälte durchgeführt, 5000 Gefängnisinsassen in 8 Anstalten besucht und 10 728 Wintermäntel an Bedürftige in Chicago verteilt, die sonst gefroren hätten. Über 35 000 Menschen haben sich allein im Jahr 2010 in Willow Creek unentgeltlich sozial engagiert. Ein umwerfendes Beispiel für leidenschaftlichen Einsatz!
Nur durch eine sehr enge Tür könnt ihr in das Reich Gottes kommen.
Der Weg zur Hölle dagegen ist breit und hat ein weites Tor.
Viele entscheiden sich für diesen scheinbar bequemen Weg.
Matthäus 7,13 (Hoffnung für alle)
Tony: Gleich vorweg: Ich bin kein Allversöhner (Vertreter einer theologischen Richtung, die annimmt, dass bei Gottes großem Erbarmen auch der brutalste Schwerstverbrecher schlussendlich Aufnahme im Himmel findet). Ich bin überzeugt davon, dass es Menschen gibt, die, wie im 3. Kapitel des Hebräerbriefes beschrieben, so hart geworden sind, dass sie Christus auch dann noch zurückweisen, wenn sie ihm gegenüberstehen. Das sind Menschen, die sich so in Sünde verstrickt haben und dermaßen viel Böses getan haben, dass sie völlig unansprechbar für alles geworden sind, was zu ihrer Rettung führen könnte.
Die Gerechtigkeit fordert also, dass ich kein Allversöhner sein kann, aber ich bin nicht derjenige, der zu entscheiden hat, wer wo landet. Das Gericht ist allein Sache Gottes, so wie es das Wort Gottes selbst sagt (vgl. Deuteronomium 1,17). Für mich ist Christus der einzige Weg zur Erlösung, aber ich muss für die Möglichkeit offen sein, dass Gott auch außerhalb von dem wirkt, was ich für das wahre Christsein halte. Ich kann und will nicht ausschließen, dass auch Menschen gerettet werden, die nicht zu allen meinen Glaubensüberzeugungen Ja sagen (vgl. Römer 2,14–16).
Shane: