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"Wie rettet man den Sturm der Jugend über die Zeit? Tom Müller kann davon eindrucksvoll erzählen." (Bov Bjerg) Jonathan Buck steht am Bahnsteig nach Berlin, er wartet auf den Zug. Die Mutter seines Jugendfreundes Strippe will ihn dringend sprechen, und es gibt keine Ausflucht mehr. Denn Strippe ist tot, und seine Mutter will von Jonathan hören, was war und was jetzt werden soll. "Die jüngsten Tage" erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die immer an die Grenzen ging, erzählt von Aufbruch und Übermut, die kein Maß kannten. Ein Roman zwischen Hamburg und Berlin, Nachwendejugend und Gegenwartseskapade, italienischen Dichtern und deutschen Zügen. Mehr Schmerz, mehr Witz, mehr Aufruhr war selten. Ein herausragendes Debüt.
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Seitenzahl: 266
Tom Müller
Die jüngsten Tage
Roman
Jonathan Buck steht am Bahnsteig nach Berlin, er wartet auf den Zug. Die Mutter seines Jugendfreundes Strippe will ihn dringend sprechen, und es gibt keine Ausflucht mehr. Denn Strippe ist tot, und seine Mutter will von Jonathan hören, was war und was jetzt werden soll. Das Einzige, was Jonathan will, ist neben Elena im Bett liegen, D’Annunzio lesen, rauchen. Kalte Tomatensuppe löffeln, sich an früher erinnern, an die Berliner Nachwende-Jugend, als alles möglich schien. An Strippes Seite.
Vor dreißig Jahren, im Vakuum der Wendejahre, haben sie Sinnlichkeit gesucht und neue Idole. Sie wollten Helden sein im Aufstand der Gefühle. Strippes Tod zwingt Jonathan, Gericht zu halten, über sich, die Zeit und seine Träume.
Tom Müller erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die immer an die Grenzen ging, erzählt von Aufbruch und Übermut, die kein Maß kannten. «Die jüngsten Tage» ist cool und voller Emphase: eine Reise zwischen Hamburg und Berlin, Kindheitsabenteuern und Gegenwartseskapade, italienischen Dichtern und deutschen Zügen. Mehr Schmerz, mehr Witz, mehr Aufruhr war selten. Ein herausragendes Debüt.
«Wie rettet man den Sturm der Jugend über die Zeit? Tom Müller kann davon eindrucksvoll erzählen.» (Bov Bjerg)
«Eine eindringliche Geschichte über Freundschaft und die Macht des Gewissens und eine lässige, aber nicht leichtfertige Hommage an eine Frau, einen Hund, an ein zweifelhaftes Idol und die Kraft der Literatur – und, nicht zuletzt, an das Pinkeln im Stehen.» (Sandra Hoffmann)
«Ein wunderbares Buch: todtraurig und aberwitzig, trostlos und doch voller Hoffnung, dass es irgendwie möglich ist, dem Wahnsinn, der das Leben darstellt, die Stirn zu bieten, selbst wenn die Kreditkarte gesperrt ist.» (Christoph Peters)
Tom Müller, geboren 1982 in Friedrichshain, ging früh nach Trento, Porto Sant’Elpidio und Castellammare di Stabia, um Italienisch zu lernen. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Griechenland und anderen Teilen der Welt studierte er Romanistik und Germanistik in Tübingen, Pisa und Perugia. Er war Finalist des Open Mike und Stipendiat der Jürgen Ponto-Stiftung. Er ist Mitglied der Gruppe «Arbeit an Europa», Spieler der DFB-Autoren-Nationalmannschaft, Initiator der Berliner Read Parade und Verlagsleiter des Tropen Verlags. Er lebt in Berlin. «Die jüngsten Tage» ist sein erster Roman.
Für R, M & L
Ardisco, non ordisco – Ich schmiede keine Pläne, ich glühe. Gabriele D’Annunzio
Alles ist so gewesen. Nichts war genau so.Volker Schlöndorff
Am Rand steht ein Kind und faucht. Es hat die Arme ausgebreitet, die Finger zu Krallen gekrümmt, treibt die Tauben vor sich her über den Bahnsteig und hin zu den Gleisen.
Das Kind stampft mit dem Gummistiefel auf den Boden. Jetzt flattern die Tauben, und das Kind lacht. Ein paar fliegen bis unters Dach, auf das noch immer der Regen schlägt. Eine Frauenstimme verkündet die Einfahrt des Zuges auf Gleis acht. Ich schlucke den Rest Kaffee herunter. Er ist kalt, auf dem Rand des Pappbechers sind Abdrücke von meinen Zähnen. Ich schließe die Augen.
Wir liegen nebeneinander. Elena schnauft im Schlaf, vielleicht bekommt sie Schnupfen. Kein Wunder, so wie der Regen auf das Dach schlägt. Ich ziehe uns die Decke über die Schulter, klemme sie mir unters Kinn. Die Heizung gluckst.
Wir liegen schon eine ganze Weile. Auch Pasolini hat sich kaum gerührt, liegt da, die Schnauze auf den Pfoten. Elena ist nicht zur Arbeit gegangen. Und jetzt atmet sie in die kleine Kuhle über meinem Schlüsselbein. Ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Draußen vor dem Fenster schüttelt der Wind die Kastanie.
Am Morgen ist Elena aufgestanden, ich sah sie vor dem Kleiderschrank stehen, auf einem Bein balancierend, das andere zog sie zu sich heran, um mit dem Fuß in die Strumpfhose zu schlüpfen. Sie schwankte, und ich wünschte, dass alles stillhielte, die Wolken am Himmel, die Blätter der Kastanie, die rasende Zeit.
Strippe ist tot. Es gibt nichts mehr zu retten außer uns.
Ich sah zu, wie Elena über ihre Haut eine zweite zog, die perfekt passte, von den Zehen über die Ferse, hoch zu den Knöcheln. Aber von weitem, vom Bett aus, wirkte es, als würde sie nichts drüberziehen, sondern eine tiefere Schicht freilegen, die nicht milchweiß, sondern schwarz war. Ich sah ihr zu und dachte an nichts. Oder so was wie: Ach guck, so ist das, so fühlt sich das an.
Da fiel Elena hin, so richtig auf den Hintern. Wir mussten beide lachen. Pasolini war hochgeschreckt, riss das Maul auf und gähnte.
Das ist ein Zeichen, sagte ich und drehte die Heizung auf.
Wir legten uns wieder hin. Ich las Meriggio, ein Gedicht von der Hitze eines Mittags an der Küste vor Livorno, ein Mann steht in völliger Flaute an der Mündung des Arno, das Schilf reglos, das Meer spiegelglatt, über allem ein Flirren, das es unmöglich macht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Vor der vierten Strophe, als die warme Heizungsluft über uns strich, schlief Elena wieder ein. Ihr Arm über meiner Brust, und ich hielt ihn wie ein Ertrinkender oder wie jemand, der Angst hat, keine Luft zu kriegen.
Wir haben Absprachen. Sie geht zur Arbeit, ich spüle das Geschirr, gieße die Pflanzen, sauge den Teppich, besorge das Nötigste: Obst und Gemüse, Nudeln, Pfirsichjoghurt, Bitterschokolade.
Wir gewöhnen uns. Wir trinken und rauchen gemeinsam, Primitivo unter der Woche und Gin am Wochenende. Wir liegen viel auf dem Teppich, der mit dem Licht die Farben wechselt, irgendwann unbekleidet, sehen aus dem Dachfenster, auf das jetzt der Regen fällt, hinaus zu den kolossalen Schiffen, die ganz nah kommen, wenn sie aus dem Hafen auslaufen, und höher sind als das Haus. Wir fahren auf dem obersten Container mit, von dort überblicken wir die salzigen Elbwiesen, wir steuern ans Horn von Afrika und weiter nach China.
Das Kind hat eine Papiertüte entdeckt, in der wohl noch etwas Brot ist, eine der Tauben ist ganz versessen darauf. Sie sitzt auf der Werbetafel hinter dem Gleis, die Flügel gespreizt. Das Kind stellt den Fuß auf die Tüte, steckt die Hände in die Taschen der Daunenjacke. Da sind sie warm.
Jetzt hat das Kind Zeit. Es dreht sich um, schaut an einer Gruppe älterer Damen mit Wanderstöcken und Rucksäcken vorbei. Es schaut zu mir, denke ich. Neben mir steht ein Mann im Anzug, er beachtet es nicht, telefoniert und raucht, sein Koffer parkt in Reichweite, der Henkel der Laptoptasche ist über die ausgezogenen Griffe gefädelt. Schon praktisch.
Es ist der sechste April, ein Donnerstag. Ich habe einen Anruf in Abwesenheit, mein Vater. Für das Berliner Umland sind drei Grad Celsius, gefühlte null, angesagt. Im weiteren Tagesverlauf ist mit Nieselregen zu rechnen. Strippes Mutter schreibt, sie freue sich, dass es endlich klappt.
Der Mann im Anzug bläst den Rauch mit vorgeschobenem Unterkiefer an seinem Gesicht vorbei nach oben. Er hat das Telefon noch immer am Ohr. Zwischendurch zeigt er energisch in die Richtung, aus der der Zug kommen muss. Er bleibt im markierten Bereich. Qualmkringel stehen über seinem Kopf, die Kälte macht den Rauch dicht und königsblau. Jetzt blickt er zu Boden, sagt: Das ist keine Lösung. Sagt dann: Das werde ich so nicht hinnehmen! Dabei verlagert er das Gewicht vom linken auf den rechten Fuß. Ich schließe die Augen, vielleicht ist es ein Traum, und ich muss ihn nur aushalten.
Steh auf, sagt Elena. Du zappelst im Schlaf. Du musst etwas tun.
Sie kann dir helfen, sagt sie. Warum willst du das mit dir allein ausmachen?
Ich muss, sage ich.
Vor ein paar Tagen kam Elena mir im Flur entgegen, drückte mir das Telefon in die Hand und erklärte, Strippes Mutter sei dran. Bis ich verstand, hatte ich das Gerät schon am Ohr und hörte mich sagen: Hallo, Frau Weiser. Schön, dass Sie anrufen.
Es war nicht schön, dass sie anrief. Sie sprach von der Beerdigung, Trauerfeier, sagte sie, als hätte irgendjemand gefeiert. Elena und ich hatten uns gleich davongemacht. Ich sah sie vor mir, Strippes Mutter mit dem grausig gewellten Krähenhaar. Ich schwieg und brummte an den richtigen Stellen in den Hörer, damit sie wusste, dass ich noch dran war. Sie bat mich zu sich, nach Berlin, sagte, wir sollten uns aussprechen.
Elena war dafür. Aber Elena hat keine Ahnung. Sie kennt die Frau nicht. Nicht wie ich. Angenommen, heute Abend spaziere ich mit Strippes Mutter um den Block, die Sonne geht unter, der Himmel leuchtet in allen Farben, und dann schlägt sie mir ins Gesicht. Sie schreit: Deine Schuld, deine Schuld, es ist alles deine Schuld. Sie tritt mich mit spitzen Schuhen, bis ich leuchte in allen Farben.
Der Zug kommt. So will es der Fahrplan, die Weichen werden andernorts gestellt. Summend gleitet er in die Bahnhofshalle.
Darauf hat das Kind gewartet. Es schiebt die Tüte mit dem Fuß über die Kante, nur ein bisschen, hinten hat es noch immer den Fuß drauf. Die Taube stürzt herunter, fliegt eine Steilkurve und steht auf Armlänge und Augenhöhe über dem Gleisbett in der Luft, rudert mit den Flügeln. Gleich renkt sie sich was aus. Die macht einen Höllenlärm mit ihrem Gekreische. Natürlich, jetzt sehe ich: Es ist keine Taube. Eine Möwe, orangeroter Schnabel. Was will sie hier, warum ist sie nicht draußen, beim Fischmarkt oder sonst wo, wo sie hingehört?
Der Zug fährt ein. Das Kind rührt sich nicht, oder doch, es hebt den Stiefel, aber nur zum Schein. Was für ein Biest, wo sind die Eltern, jemand muss dazwischengehen.
Der Anzugträger rollt den Koffer vor sich her zur Bahnsteigkante. Er geht mitten durch die Damenreisegruppe, sie machen widerwillig Platz. Eine mit Zipfelmütze schließt den Reißverschluss ihrer schwarz-roten Wetterjacke, eine andere betastet prüfend ihre Taschen, sie rufen sich Chiffren zu, Wagennummer, Sitzplatz, machen Uhrenvergleich.
Der Mann geht auf das Kind zu, packt es an der Schulter. Matilda, sagt er, wir fahren. Er zieht es an der Jacke neben sich her. Das Kind wirft bockig den Kopf zurück und sieht zu, wie die Möwe sich die Tüte schnappt. Dann ist der Zug da. Die Bremsen quietschen.
Jetzt ist es zu spät. Hätte ich vorhin nur den Mund aufgemacht und gerufen: Elena, es hat keinen Sinn, sag alles ab. Berlin ist keine Lösung. Ich stand im Treppenflur, schon eine Weile. In ihrem Frotteepyjama sah sie so gemütlich aus, ich hätte alles gegeben, wieder zu ihr hineinzudürfen. Sie schloss ihre Arme um meinen Rücken, zog mich an sich. Sie hat erstaunlich viel Kraft. Ihr Atem war warm in meinem Ohr. Als sie zurücktrat, musste ich mich an der Wand festhalten. Sie lächelte, was mehr ein Kopfschütteln war, holte eine Blechbüchse hervor und zeigte auf das mit Edding schraffierte Rote Kreuz. Drückte mir die Dose in die Hand. Jetzt geh, sagte sie und küsste mich auf den Mund.
Dann war die Tür zu. Auf Kopfhöhe in einem Metallring saß das reglose Auge des Spions und beobachtete mich. Ich konnte nichts erwidern, meine Lippen waren verklebt von ihrem Labello und ihrer Verbannung.
Eine Hand berührt meine Schulter, ich zucke zusammen. Ein alter Mann mit einem Stirnband, in dem eine weiße Feder steckt. Er hält mir seinen Kaffeebecher hin. Zittert. Es ist nichts drin, also stecke ich meinen Kaffeebecher in seinen Kaffeebecher hinein. Er wirkt überrascht. Ich schultere die Tasche, tippe mir an die Stirn.
Ahoi, sage ich und drücke mich an ihm vorbei.
Schöne Jacke, ruft er. Echtes Leder?
Ich antworte nicht.
Alles in Ordnung?, ruft er. Du hast ganz schön gelbe Augen.
Ich schüttle den Kopf.
Nur noch die in Uniform stehen auf dem Bahnsteig, schauen links und rechts, nicken sich zu, dann machen sie kehrt. Sie stehen schon an den Türen. Ich sehe zum Hallendach, auf das der Regen schlägt und wo irgendwo die Möwe sitzen muss.
Pass auf dich auf, ruft der Alte. Ich drehe mich um, und er winkt.
Du auch. Du auch auf dich.
Die Plätze sind fast alle besetzt, bleich und fettig glänzen die Glatzköpfe vor den blauen Polstern. Sobald ich den Gang runterkomme, schauen sie mich an, alarmiert vom Summen der automatischen Schiebetür, Augen wie schwarze Knöpfe oder graue Nordseesteine. Sie wollen, dass ich an ihnen vorübergehe. Ich tue ihnen den Gefallen.
Im nächsten Wagen, in der vierten Reihe und in Fahrtrichtung, ist noch was frei. Die Frau auf dem Fensterplatz hat die Beine übergeschlagen und sich über ein großes Heft gebeugt, ihr Oberkörper ist schmal, der Kopf dicht vor den Seiten. Sie nimmt nicht viel Raum ein, wofür ich dankbar bin.
Als ich den Gurt meiner Tasche über den Kopf streife, sieht sie zu mir auf. Ich warte auf eine Reaktion, stelle, nachdem etwas Zeit verstrichen ist, die Tasche auf den Sitz. Tatsächlich zieht sie jetzt die Mundwinkel auseinander. Ein Lächeln ist das nicht.
Ich nehme das Nötigste heraus. Wasser, Portemonnaie, Handy. Tabak, Feuerzeug, Buch. Die Büchse. Meine Finger verschmieren das Kreuz. Ich muss den Schweiß abwischen. Auch von der Stirn. Erst mal hinsetzen.
Meriggio. A mezzo il giorno / sul Mare etrusco. Das sage ich stumm, weil es hilft.
Du musst Märridjo sagen, sagt Elena, das R rollen.
Märridjo, Märridjo, Märridjo.
Ich tupfe mir mit dem Ärmel die Stirn ab, da bemerke ich den Fettsack an der Tischgruppe ein paar Reihen weiter. Er isst eine Vollkornstulle und sieht mich an. Sein Blick tastet mich ab, vom Haar bis zu den Schuhen. Ich lehne mich nach innen, verstecke mich hinter dem Vordersitz.
Wir fahren schnell, dabei haben wir Hamburg noch nicht verlassen, die Häuser beugen sich über uns, eine rasende graue Wand. Jetzt schiebt sich die Lärmschutzmauer davor, schneidet das Sichtfeld entzwei. Die Linie dazwischen tanzt auf und ab, in weichen Bögen und in Zacken, sie ist schneller als ihr Hintergrund, die Häuserfront, ich sehe zwei Geschwindigkeiten in einem Fenster, suche nach Anhaltspunkten, aber wohin ich schaue, rutscht das Auge ab, irrt über die Fläche, sendet unzureichende Informationen. Wir rasen, wir rasen, und es blinzelt, wenn die Masten plötzlich ins Blickfeld schlagen.
Ich schaue in den Schoß meiner Nachbarin, dort liegt das Notenheft, eine Partitur womöglich, ihr Finger gleitet die Zeile entlang und setzt auf der nächsten vorn an. Sie schert sich nicht um mich, worum ich sie beneide. Auch nicht um das hastige Flackern des Lichts, wie Nadeln in der Stirn. Auf meinen Knien: die Büchse. Ich streiche über die abgerundeten Ecken, atme ein und aus und sage stumm: Märridjo, Märridjo, Märridjo.
Schon praktisch, wie sich der Gegenstand dem Gefühl anschmiegt. Ich wiege die Dose in der Hand. Sie ist leicht. Gummibären, vermute ich. Elena schwört darauf. Gummibären sind Bindegewebe vom Schwein. Sonst nichts.
Ich schüttle die Büchse. Das Klappern ist vielversprechend. Vielleicht hat Elena auch an echte Medizin gedacht. Der Fettsack schaut noch immer her. Das darf nicht sein. Er schaut nicht zu mir, er schaut mir zu. Das gehört sich nicht.
Ich überprüfe, ob etwas an mir nicht stimmt. Taubenschiss auf dem Pullover, brauner Kaffeetupfer auf der Nase, Petersilie zwischen den Zähnen. Die Leute sind Geier, in der Schule ist Kollege Brandt einen Tag lang mit eigelbem Rotzfaden im Schnauzer herumgelaufen. Aber ich finde nichts. Alles normal.
Der Deckel der Dose hat sich verkantet, und der Rand steht kaum über, ohne Fingernägel ist da nichts zu machen. Ich spüre die Augen des Fettsacks auf mir, schüttle die Büchse, sanft, um den Deckel zu lockern.
Du zappelst, sagt Elena.
Ich zapple nicht.
Doch, sagt sie.
Märridjo, Märridjo, Märridjo.
Manchmal lacht sie. Manchmal macht es sie böse.
Die Büchse ist mir aus der Hand gefallen. Die Frau sieht von ihrem Notenheft auf, zu mir herüber, scheu und aufgeregt. Sie will sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Jaja. Bin gleich zurück, sage ich.
Das Geräusch des einrastenden Schlosses ist angenehm. Die Luft steht, und die Enge ist bedrückend, aber das nehme ich in Kauf für die Stille, die Abwesenheit von allem. Selbst das Fenster ist blickdicht beklebt mit einer milchigen Folie, darauf eine zartrosafarbene Tulpe in einer Vase.
Ich klappe mit der Schuhspitze den Deckel hoch und schaue in den metallenen Rachen. Beim Pinkeln ziehe ich die Vorhaut etwas zurück, das bündelt den Strahl. Aus der Schüssel steigt Dampf auf, der nach Gemüse und Kaffee riecht. Ich schüttle ab und spüle. Mit einem Fauchen verschwindet die Flüssigkeit in einem verborgenen Trakt. Mein Urin reist weiter mit, hat lediglich das Behältnis gewechselt.
Ich überprüfe die Griffe des Fensters und habe Glück. Das obere Drittel lässt sich ankippen. Ich stelle mich auf den Klodeckel und zünde mir eine Zigarette an. So gut es geht, drücke ich meinen Kopf schräg gegen die Decke, puste von oben in die Fensteröffnung, durch die der Rauch angesaugt und zerstäubt wird, kaum dass er meinen Mund verlässt.
Erinnere dich, sagt Elena, und sprich mit mir.
Ich erinnere mich. Strippe war Kettenraucher von Kindesbeinen an. Im Kosmosviertel wusste jeder, dass er ganze Kisten besaß und günstig verkaufte. Jede Schachtel eigenhändig geklaut. Rauchen ist das falsche Wort, sagte er, es kommt ja nicht drauf an, was rausgeht, sondern was reinkommt.
Ich hatte es selber früh probiert, bei Paul Raabe auf der Veranda. Dort saßen seine Schwestern Susanna und Katja, Zwillinge, groß und dünn, lange blonde Haare, ihre Jeans waren kurz abgeschnitten, sodass die weißen Taschen wie Ohren auf ihren Schenkeln schlappten. Sie hatten nie etwas zu tun, und immer schien die Sonne. Ich sehe ihre lachenden Gesichter, gedimmt von der grünenden Überdachung, sie hockten immer auf dem Sofa und rauchten die teuren Marlboros, obwohl es keinen Vater gab und ihre Mutter kellnerte.
Weil ich behauptet hatte, ich hätte es schon gemacht, boten sie mir eine an. Ich müsse den Rauch in die Lunge saugen und durch die Arschbacken wieder rauspressen, sagten sie.
Ich hustete, das war für sie ein Riesenspaß. Ich übte heimlich. Als ich das nächste Mal zu Paul ging, machte keiner auf. Ich ging durch die Garage direkt in den Garten, trat mit brennender Zigarette auf die Terrasse. Keiner war da. Ich ging durch die Küchentür hinein, die Holztreppe hoch. Mir war, als hörte ich aus dem anderen Zimmer, nach vorn raus, eine der Schwestern schreien. Unklar, was für ein Schrei das war. Ein Typ mit kahl rasiertem Schädel kam dann aus dem Zimmer und sagte, ich solle mich verpissen.
Draußen warf ich die Schachtel in die Tonne und rührte lange keine an. Ein paarmal stand ich daneben, wenn Strippe sich aufspielte: den rechten Daumen in die Hosentasche gehakt, die linke Hand auf der Schachtel in der Brusttasche. Ab der fünften Klasse trug er nur noch Hemden. Oliv, Beige, Blaugrau – das waren seine Farben.
Meine Freunde, sagte er, wir rauchen nicht. Es ist Inspiration.
Er klopfte drei Zigaretten heraus und reichte die Schachtel herum. Wenn ein Mädchen mutig war, fragte es, wie er das meinte, und damit hatte er sie dann.
Bremsabrieb zieht durch die Öffnung herein, und ich niese. Der Schleim klebt auf meiner Handfläche und zwischen den Fingern. Ich lasse die Zigarette fallen und wasche mir die Hände. Ich zwinge mich, nicht in den Spiegel zu sehen.
Der kann sich auf was gefasst machen. Schon als ich durch den Gang gehe, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Er sitzt auf seinem Platz wie ein in Bronze gegossener, fetter kleiner König. Er kaut. Ein Stück Salat, das ihm aus dem Mund hängt, wird mit kreisendem Kiefer einverleibt. Sein Schlund ist beachtlich, der Hals so breit wie der Kopf. Auf der Spitze seines Kugelbauchs prangen die Krümel auf dem Pullover wie Sterne im All.
Auf einmal tut er so, als sei er ganz in seine Stulle vertieft, kein Heben des Blicks, kein verstohlenes Blinzeln. Vielleicht hat er endlich begriffen, dass sich das Glotzen nicht gehört.
Ich stelle die Füße auf die Pedale und lege die Büchse auf meine Knie. Der Deckel lüftet sich widerstandslos. Obenauf liegen tatsächlich zwei Tüten Gummibären, darunter ein Fläschchen Schnaps. Kornbrand ist was für Notfälle. Will sie mir das damit sagen?
Ich wende die Flasche vor meinem Gesicht, mich durchströmt ein warmes Gefühl. Da fällt mir auf, dass der Verschlussring lose ist. Dazu der Geruch von Wacholder. Sie hat die Flasche mit Gin gefüllt! Kreisend streiche ich mit der Zunge um die Öffnung, schließe die Lippen um den Hals. Aus Dankbarkeit nehme ich nur einen winzigen Schluck. Auf meinen Armen stellen sich die Haare auf, eine toxische Reaktion. Passiert manchmal.
Auf dem Büchsenboden liegt ein quadratischer Zettel mit Elenas Mädchenhandschrift. Seit ich vor einer Woche bei ihr eingezogen bin, hält sie mich mit solchen Zetteln auf Trab: Spülmaschine ausräumen, Wohnzimmer saugen, Toilettenpapier, Hundefutter, Barthaare aus dem Waschbecken, einen Kasten Wasser für den Nonno – sie bekommt ziemlich viel auf eine Seite. So auch hier.
Hallo Jonathan,
stell Dir vor, Du bist im Innern eines Wals. Genau, Jona. Du sollst für Gott nach Babylon, hast aber keine Lust und fliehst nach Norden. Zur Strafe lässt Gott dein Schiff in Stücke reißen.
unten rechts ein rührend kleines b.w.
Du überlebst, weil Du von einem Wal gefressen wirst. Bleibst drei Tage in seinem Bauch. Er spuckt dich da aus, wo Du herkamst, und Du musst noch mal los, nach B. Diesmal kommst Du an, und die Sache geht gut aus für alle.
Tu mi capisci!
Bacione, El
Mit einer halben Drehung des Handgelenks verabreiche ich mir einen weiteren Schluck. Auf dich, Elena. Auf meine Walfahrt.
Beim Griff um das Fläschchen habe ich den Zettel in der Hand zerknüllt. Ich klappe die Tischlade herunter, breite das Papier darauf aus und glätte es mit dem Flaschenboden.
Nicht zu fassen. Der Fettsack wieder. Er zeigt auf mich. Was ist bloß in ihn gefahren? Ich sehe ihn direkt an.
Sein Arm sinkt. Dieser Feigling, so schnell gibt er auf. Aber ich muss auf Nummer sicher gehen. Ich lege mir die Hand auf die Brust, und weil er nicht gerade der Hellste zu sein scheint, forme ich mit den Lippen das Wort: ICH?
Er nickt.
Als ich näher komme, blinzelt er mehrmals.
Die Stulle legt er auf dem Reisemagazin vor sich ab. Er sieht mich an, aber ohne jede Kraft, da ist keine Ebenbürtigkeit. Wenn ich was gelernt habe auf den U-Bahnhöfen meiner Jugend, Wutzkyallee, Zwickauer Damm, dann: Jeden falschen Blick musst du bezahlen.
Ich bin jetzt in Reichweite, ziehe bloß die Brauen hoch. Seine Augen stehen vor, die Lider sind kalkweiß. Er sieht kränklich aus, mitgenommen.
Gibt es ein Problem?, frage ich. Der kleine Asiate neben ihm sieht zwischen uns hin und her, er hat die Hand unter dem Tisch, was ihn verdächtig macht. Mit Mühe schluckt der Fettsack das Brot, ich kann sehen, wie der Klumpen beim Hinabrutschen seinen Hals ausbeult. Er räuspert sich. Ich bin gespannt.
Sie haben was verloren, sagt er und sieht an mir vorbei.
Ich drehe mich um, kann nicht erkennen, was er meint. Ein paar Schritte rückwärts, ohne ihn aus den Augen zu lassen, schwitzend – ein kalter Strich von den Achseln zu den Rippen. Der Schweiß hat einen anderen Geruch, schärfer, nach Zwiebel und Essig. Im Fußraum auf dem Teppich liegt ein Portemonnaie.
Danke, sage ich.
Der Fettsack verzieht keine Miene, nur der Asiate lächelt mich an.
Ich setze mich, wische mir mit dem Ärmel über die Stirn. Dann sammele ich das Portemonnaie vom Boden, klappe es auf.
Drinnen ein Foto: Pasolini, ein Welpe mit Fuchsgesicht, die Mähne fransig, scheuer Blick. Zwölfter November steht hintendrauf. Es muss aus der Zeit sein, als Elena ihn gerade aus Thüringen geholt hatte.
Ich verstaue das Bild in der Büchse und mache den Deckel drauf. Ich vermisse ihn, sie beide, das Bett, langzuliegen, den Blick aus dem Dachfenster, das Rascheln der Kastanienblätter, die auslaufenden Schiffe, das Kreischen der Möwen, ihre raue Stimme: Märridjo, du musst das R rollen, gib dir Mühe, du schaffst das.
Die Frau neben mir ist über ihrer Partitur eingeschlafen. Sie hat den Ellbogen auf der Armlehne abgestützt, ihr Kopf schaukelt auf der offenen Handfläche.
Noch ein verpasster Anruf von meinem Vater. Wenn er anruft, was selten vorkommt, habe ich immer Angst, dass was mit Großmutter passiert ist. Es ist schon über ein Jahr her, dass ich bei ihr war. Oder weiß er, dass ich nach Berlin komme?
Was gibt’s, schreibe ich.
Dann trinke ich einen großen Schluck Wasser, leere schließlich die ganze Flasche. Oft ist das schon alles, oft braucht es keine komplizierte Erklärung. Oft liegt es einfach an zu wenig Wasser.
Du musst dir deinen Körper wie ein Kraftwerk vorstellen, sagt mein Vater. Wenn das Wasser fließt, ist alles gut. Wenn nicht, fällt der Strom aus.
Der Zug steuert auf die Höchstgeschwindigkeit zu. An der Scheibe gleiten, waagerecht und in gezackter Bahn, die Tropfen entlang wie Spermien auf der Suche nach dem Ei. Dahinter Birken, Kiefern, Eichen. Wir beschleunigen weiter, die Stämme verschmieren, jetzt ist es Wald. Neben der Wagentür klettert der Zähler: zweihundertachtunddreißig, zweihundertdreiundachtzig. Jemand schnarcht wie ein Topf, der überkocht.
Wir haben freie Fahrt, es gibt keine Erschütterungen, keinen Widerstand, wir sind abgehoben, gleich wird die Schwerelosigkeit einsetzen. Elenas Küchenzettel, entwertete Fahrkarten, wirsch geknüllte Taschentücher, Brillen und ihre Etuis, Bonbonpapier, Mandarinenschalen, einsatzbereite Kugelschreiber, Kopfhörer, Mützen, Handschuhe, Schirme, Notenhefte, Laptops, Zeitungen, Kinderbücher, Konfetti aus Haut- und Haarschuppen, Staubkörnchen aus den Fasern, die Sternenkrümel vom Bauch des Fettsacks – alles wird schweben und wir ebenso: der Dicke, die Nachbarin, die kahlen und gerupften Köpfe, Alte und Junge, ihre Wanderstöcke, ihre Tablets umklammernd, Geschäftsreisende, Schoßhunde mit Schleifchen um den Hals, Kinder in Windeln und mit Gummistiefeln, Schaffner, Brezel- und Kaffeeverkäufer – wir alle schweben, rudern mit den Armen, tauchen durch Hab und Gut, stoßen uns an Sitzlehnen, Gepäckablagen und automatischen Schiebetüren, und es tut nicht weh.
Ich habe Schluckauf.
Du musst der Wirklichkeit ins Auge sehen, sagt sie.
Schall und Wahn, sage ich. Strippe ist tot.
Du musst den Schmerz teilen, sagt sie.
Du musst, du musst, du musst.
Als ich eine Hand auf meiner spüre, erstarre ich erst und löse dann langsam die Umklammerung der Stuhllehne.
Ich sehe sie an. Sie hat einen schönen Mund, muss ich sagen, voll ist er nicht, aber frech geschwungen und pflaumenfarben.
Ist alles in Ordnung?, fragt sie und schiebt ihr Notenheft in das Netz vor ihren schmalen Knien.
Das Bild ihrer Lippen, wie obszön sie das O formen, bringt mich aus der Fassung. Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und sieht mich direkt an. Ihre Augen sind teichgrün, die langen Wimpern versprechen Geduld.
Vielleicht sollten Sie etwas trinken, sagt sie. Amerikanerin. Ich nicke und stehe auf, halte ihr die Hand hin. Sie zögert, schlägt dann ein. Ich ziehe sie hoch. Sie ist sehr groß, größer als ich. Ich setze mein bestes Lächeln auf, halte unsere ineinander gefalteten Hände gut sichtbar, während wir, sie vorneweg, an dem Fettsack vorbei, zum Bordrestaurant stolzieren.
Erin heißt sie. Wir sitzen am Zweiertisch und warten auf die Getränke. Zu meiner Enttäuschung hat sie Schwarztee bestellt. Ich sah uns beide schon in Berlin aus dem Zug wanken, Arm in Arm, ohne dass man hätte sagen können, wer wen stützt. Wir hätten uns alles erzählt, ein verrutschter Kuss auf den Mund.
Und jetzt triffst du noch seine Mutter, würde sie fragen, und ich würde nicken. Sie würde mir Glück wünschen, mit ernster Miene, und dann in Lachen ausbrechen, etwas zu laut, weil es ja wirklich unmöglich wäre, noch jemanden treffen, ein normales Gespräch zu führen in unserem Zustand und in meiner Situation. Mit ihrer ganzen Erfahrung nähme Erin meine Hand, um mich zum Späti zu führen und mir zum Abschied und gegen den Säuferatem noch zwei Pfeffi zu spendieren.
Nun also Schwarztee. Spirituosen stehen nicht mal auf der Karte. Erin sitzt mir gegenüber, die Ellenbogen auf dem Tisch, eine Hand über der anderen, den Kopf gerade wie eine Dame am Empfangstresen. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Sie redet nicht, und jetzt, da ihr Kopf so gerade auf dem Hals sitzt, ist etwas abhandengekommen.
Fährst du nach Hause oder in die Fremde?, frage ich und ärgere mich, weil die Frage unnötig kompliziert ist.
Wie man es nimmt, sagt sie. Und du?
Ich auch, sage ich, und sie zieht ihre dünnen Lippen auseinander, ein Lächeln ist das wirklich nicht. Ich kann nicht sehen, ob die Kellnerin mein Bier schon gezapft hat. Als ich mich umdrehe, nimmt Erin meine Hand.
Mit dir stimmt doch was nicht, sagt sie, schließt ihre Finger fest um meine.
Ich rutsche zurück bis an die Lehne, drücke den Rücken durch, hebe das Kinn.
Die Getränke kommen. Wir zahlen sofort und jeder für sich.
Auf unser Uoll, sagt sie, und ich verstehe nicht gleich. Sie hebt ihr Teeglas, senkt den Blick auf ihre Hand, die in der Tischmitte auf meiner liegt, und fährt fort, ohne getrunken zu haben.
Manchmal kannst du nicht einschlafen, sagt sie.
Ihre Stimme ist jetzt angenehm tief, kommt aus dem Bauch, sie spricht die Silben sorgfältig, ein wenig zu sorgfältig, doch ihr Akzent gleicht es aus, ich mag das. Es erinnert mich an den Radiomoderator, den ich früher beim Frühstück hörte, er nannte sich «der alte Ami». Das war zu der Zeit, als ich anfangen musste, Kaffee zu trinken, weil Strippe und ich in Neukölln aufs Gymnasium gingen und den Bus um sieben Uhr sieben kriegen mussten, aber die Erotikfilme erst nach Mitternacht ausgestrahlt wurden.
Ich bemerke Erins fragenden Blick und nicke.
Manchmal war ich froh, sagt sie, in einer Woche ein paar Stunden zu schlafen. Du hast Tramadol probiert?
Ich schüttele den Kopf. Nur von gehört.
Drei Jahre ich habe es genommen. Ehrlich gesagt: Es war schön. Du brauchst nichts. Nichts mehr. Du bist abhängig, ja. Aber auch super frei.
Sie lacht, um ihre Augen fächern sich die Fältchen auf wie Sonnenstrahlen. Sie blinzelt, jetzt sind ihre Augen schmal.
Du hast keinen Hunger, brauchst nur Wasser, du kannst rauchen, so viel du willst, und es tut so gut. Du bist so, wie du immer sein wolltest. Gibt es was Besseres?
Ich nicke, korrigiere mich und schüttle den Kopf. Sie lächelt wieder, verhaltener, ein Eckzahn schiebt sich über ihre Unterlippe, was linkisch aussieht. Ich warte ab, bis ihr Lächeln versiegt, nehme einen großen Schluck, wappne mich. Ich weiß nicht, was es sein wird, aber jetzt kommt der Haken.
Es ist eine Lüge, sagt sie. Irgendwann merkst du, du bist innen kaputt. Du hast deine Substanz gegessen.
Verbraucht, korrigiere ich.
Du weißt nur eins, sagt sie. Es ist zu spät.
Der letzte Satz zischt zwischen ihren Lippen. Sie schließt die Augen und fährt fort, ihre Stimme klingt dünn, hat keine Resonanz mehr.
Als sie den Salzstreuer packt und ihn auf den Tisch schlägt, stoße ich mit dem Ellbogen gegen die Lehne. Der Musikantenknochen vibriert.
Das ist die Reue, sagt sie. Ihre Augen wandern schnell von links nach rechts, suchen mich ab, ihre Lippen beben nach.
Du gehst durch die Straßen, und überall ist Lärm. Geschrei, Sirenen, Hupen, Glocken, Quietschen, Geklingel. Das ist der Moment, wo du Hilfe brauchst. Und weißt du, was das Schlimme ist?
Ich schüttle den Kopf, stecke meine Hände zwischen die Schenkel, sie sind kalt. Ich will es nicht wissen, mein Bier ist leer. Ich muss auf die Toilette.
Sie hat ihre Handtasche auf den Tisch gestellt, gräbt darin rum, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Hilfe ist überall, sagt sie. Du musst nur bereit sein. Sie bricht ab, schaut von oben in ihre Tasche, bewegt einige Gegenstände. Sie scheint gereizt.
Willst du wissen, warum ich dir das erzähle?
Ich nicke.
Ich sehe deine Not.
Sie zieht eine Faltbroschüre aus der Tasche, legt sie auf den Tisch und schiebt sie mir rüber wie einen Vertrag.
Auf der Vorderseite ist eine Lichtung, Menschen ums Lagerfeuer, darüber eine Fahne, schwarz-weiß-rot, und der Schriftzug: Einer für alle, alle für einen.
Schön. Danke, sage ich, nachdem ich die Seiten durchgeblättert habe. Sie erzählen von der Kraft der Natur, von Gefährten und Gemeinschaft, von Aufrichtigkeit und innerer Größe, dem richtigen Weg und Kampf für heimische Werte.
Komm einfach vorbei.
In Berlin?
Ja.
Ich wohne in Hamburg.
Kein Problem, dort sind wir auch.
Okay, sage ich. Bin gleich zurück.
Ich gehe zügig an den Tischen vorbei in den nächsten Wagen, erste Klasse. Ich möchte heulen. Elende Ratte. Sie hat mich getäuscht. Sie hat mich benutzt.
Ich halte vor der gläsernen Schiebetür, sie öffnet sich nicht. Ich sehe mich in der Scheibe. Meine Haare hängen kraftlos vom Kopf, dunkle Striche unter den Augen. Bemitleidenswert. So sehe ich aus.
Weißt du, was?, frage ich mich. Es ist alles deine Schuld.