Die Kaufmannstochter von Lübeck - Alfred Bekker - E-Book

Die Kaufmannstochter von Lübeck E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Die Kaufmannstochter von Lübeck Historischer Roman Alfred Bekker & Silke Bekker schrieben als Conny Walden Der Umfang dieses Buchs entspricht 458 Taschenbuchseiten. Johanna von Dören, Tochter eines einflussreichen Lübecker Schonenfahrers, begleitet ihren Vater zum Hansetag nach Köln. Dort soll ein Bündnis gegen den dänischen König Waldemar IV. geschlossen werden, der wichtige Handelsinteressen behindert. Johanna, die als Kind die Pest überlebte, ist entschlossen, ins Kloster einzutreten. Als sie in Köln Frederik von Blekinge kennenlernt, einen jungen Adeligen aus Schonen, entwickelt sich eine große Liebe, und in einem Moment der Leidenschaft gibt sich Johanna Frederik hin. Erschrocken über sich selbst, vertraut sie sich einem Priester an. Ein verhängnisvoller Fehler – denn damit tritt eine dramatische Wende ein, und die Liebenden schweben bald in höchster Gefahr …

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Die Kaufmannstochter von Lübeck

Alfred Bekker

Published by Alfred Bekker, 2019.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Die Kaufmannstochter von Lübeck

Copyright

Erstes Kapitel: Eine süße Medizin

Zweites Kapitel: Gespräch unter Schwestern

Drittes Kapitel: Die Versammlung der Schonenfahrer

Viertes Kapitel: Eine schicksalhafte Begegnung

Fünftes Kapitel: Eine wichtige Nachricht trifft ein

Sechstes Kapitel: Auf dem Hansetag

Siebtes Kapitel: Hochzeitsvorbereitungen und eine Versuchung

Achtes Kapitel: Der falsche Venezianer

Neuntes Kapitel: Eine Sünde im Dom

Zehntes Kapitel: Ein Treffen in der Hurengasse

Elftes Kapitel: Ein Blutbad in den Auen

Zwölftes Kapitel: Herwards Rückkehr

Dreizehntes Kapitel: Eine Nacht im Stall

Vierzehntes Kapitel: Eine Verschwörung

Fünfzehntes Kapitel: Träume sind Zeichen

Sechzehntes Kapitel: Tumult im Langen Saal

Siebzehntes Kapitel: Verwirrung

Achtzehntes Kapitel: Eine unvermeidliche Beichte

Neunzehntes Kapitel: Schuld und Lüge

Zwanzigstes Kapitel: Vom Kerker zum Totenacker

Einundzwanzigstes Kapitel: Der Moment der Entscheidung

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Abschied aus Köln

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Sicherer Hafen

Vierundzwanzigstes Kapitel: Rückkehr nach Lübeck

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Schwarzer Tod und dunkle Tage

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Pläne und Absichten

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Ein Augenblick der Schwäche

Achtundzwanzigstes Kapitel: Ein Sturm braut sich zusammen

Neunundzwanzigstes Kapitel: Bei Nacht und Nebel

Dreißigstes Kapitel: Ein Dach über dem Kopf

Einunddreißigstes Kapitel: Ein Wiedersehen

Zweiunddreißigstes Kapitel: Dem Herzen folgen

Dreiunddreißigstes Kapitel: Eine Nacht des Glücks

Vierunddreißigstes Kapitel: Helsingborg soll fallen

Fünfunddreißigstes Kapitel: Das Blatt hat sich gewendet

Epilog

About the Author

About the Publisher

Die Kaufmannstochter von Lübeck

Historischer Roman

Alfred Bekker & Silke Bekker schrieben als Conny Walden

Der Umfang dieses Buchs entspricht 458 Taschenbuchseiten.

Johanna von Dören, Tochter eines einflussreichen Lübecker Schonenfahrers, begleitet ihren Vater zum Hansetag nach Köln. Dort soll ein Bündnis gegen den dänischen König Waldemar IV. geschlossen werden, der wichtige Handelsinteressen behindert. Johanna, die als Kind die Pest überlebte, ist entschlossen, ins Kloster einzutreten. Als sie in Köln Frederik von Blekinge kennenlernt, einen jungen Adeligen aus Schonen, entwickelt sich eine große Liebe, und in einem Moment der Leidenschaft gibt sich Johanna Frederik hin. Erschrocken über sich selbst, vertraut sie sich einem Priester an. Ein verhängnisvoller Fehler – denn damit tritt eine dramatische Wende ein, und die Liebenden schweben bald in höchster Gefahr ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors

Die Originalausgabe erschien 2010 im Goldmann Verlag.

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Dies gilt nicht für historisch belegte Personen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Erstes Kapitel: Eine süße Medizin

Lübeck, Anno 1367

„Johanna! Schau es dir an! Und koste ein bisschen von der göttlichen Speise! So schnell wird man uns das nicht noch einmal erlauben!”

Johanna von Dören kniete auf der Gebetsbank, die in ihrem Zimmer im Patrizierhaus ihrer Eltern stand. Auch wenn die Kaufmänner von Lübeck gewiss fromme Leute waren, und dies für Johannas Vater in besonderer Weise galt, so war eine so einfache Gebetsbank doch ein eher ungewöhnlicher Einrichtungsgegenstand in den herrschaftlichen Häusern jener Fernhändler, die durch den Ostseehandel so reich geworden waren, dass manch ein Adeliger sie beneidete.

„Johanna! Marzipan, so viel, wie du noch nie auf einmal gesehen hast!“

Die junge Frau beendete ihr Gebet und bekreuzigte sich. Dann blickte sie zur halb geöffneten Tür. Ihre Schwester Grete stand dort, drei Jahre älter als Johanna und im Gegensatz zu ihr in standesgemäße Pracht gewandet. Das mit Brokat besetzte Kleid reichte bis zum Boden. Der Pelzbesatz am Kragen war genau so breit, wie er den in Lübeck dazu geltenden Bestimmungen für eine Frau ihres Standes sein durfte. Die Kette mit dem fein gearbeiteten goldenen Kreuz konnte niemand übersehen.

Johanna erhob sich, ohne ein äußeres Zeichen der Eile. Das brünette Haar war zu einem einfachen Zopf geflochten. Wenn sie erst einmal ins Kloster eingetreten war, wie sie es sich vorgenommen hatte, würde sie diese Haarpracht einbüßen. Sie konnte sich an den Gedanken zwar nur schwer gewöhnen, aber ihr Entschluss stand seit langem fest. Als kleines Mädchen war sie an der Pest erkrankt – und hatte entgegen allen Erwartungen überlebt. Gott hatte sie vor dem tödlichen Übel bewahrt, das mit den Ratten von den Schiffen immer wieder nach Lübeck gekommen war. Grund genug, dem Herrn dankbar zu sein. Damals hatte Johanna sich geschworen, ihr Leben Jesus zu widmen. Ein Leben, von dem sie das Gefühl hatte, dass es ihr eigentlich schon gar nicht mehr gehört hatte. Immer noch stand ihr das entsetzte Gesicht ihrer Mutter vor Augen, als man auf die ersten Beulen bei Johanna aufmerksam geworden war, die sich unter den Achselhöhlen gebildet hatten. Ihre Mutter war der Seuche erlegen – wie so viele andere. Aber wie durch ein Wunder hatte der Tod Johanna verschont. Wie ein einsamer Halm, den die Sense des Schnitters stehengelassen hatte. Es mussten die Gebete gewesen sein, mit denen sie damals den Herrn Jesus darum angefleht hatte, weiterleben zu dürfen, die sie retteten. Die Ärzte hatten sie längst aufgegeben, und der Priester, der bei ihr schon die Letzte Ölung durchgeführt hatte, war ebenso vom Pesthauch dahingerafft worden, der Lübeck innerhalb der letzten zwanzig Jahre gleich mehrfach heimgesucht hatte. So furchtbar in all ihrer unaussprechlichen Grausamkeit war diese Geißel Gottes gewesen, dass in jenen Jahren nicht wenige den Herrn schließlich selbst verflucht und sich von ihm abgewandt hatten. Bei Johanna war das Gegenteil geschehen. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sie seitdem – und das Bedürfnis, ihr Leben dem zu widmen, der es ihr geschenkt hatte.

„Nun komm schon“, lachte Grete. „Und sieh mich nicht so an, als hätte ich dich bei einer heiligen Handlung gestört, Schwester!“

„Ist die Zwiesprache mit unserem Herrn etwa keine heilige Sache?“, gab Johanna zurück.

Grete lächelte. „Bei jedem anderen Menschen mag das zutreffen.“

„Und bei mir nicht?“

„Johanna! Du hältst so oft Zwiesprache mit dem Herrn, wie du mit mir oder Vater redest.“

„Ja, und?“

„Was soll daran noch heilig sein? Dich dabei nicht zu unterbrechen, hieße ja, dich gar nicht mehr ansprechen zu können. Und nun komm schon und genieße, was es so schnell nicht wieder zu genießen gibt.“

„In der Bibel steht ...“

„Bist du eine arme Sünderin, die so viel Unzucht getrieben hat, wie die angemalten Huren beim städtischen Frauenwirt und dafür eigentlich den ganzen Rest ihres Lebens in grauen Büßerhemden herumlaufen und sich Asche auf das Haupt streuen müssten? Davon kann bei dir ja wohl keine Rede sein! Und ich wüsste auch nicht, dass Jesus irgendwann gesagt hast, du sollst keine Freude haben.“

„Grete, was redest du da alles?“

Grete nahm Johanna bei der Hand und zog sie mit sich.

Und Johanna folgte ihr. Sie gingen durch den breiten, hohen Flur. Eine Freitreppe führte hinab in die große Empfangsdiele. Schon so manches Festmahl hatte in diesem hohen hallenartigen Raum stattgefunden – für die Mitglieder der Kaufmannsbruderschaft der Schonenfahrer, für die Mitglieder des Stadtrates, dessen langjähriges Mitglied Moritz von Dören war, für die Geschäftspartner und Angestellten des Handelshauses der Familie von Dören und hin und wieder auch eine Speisung für die Armen. Es war nicht nur gute Christenpflicht, sondern gehörte unter den Patriziern der Stadt auch einfach zum guten Ton. Durch eine Tür aus dunklem Holz, in die das geschnitzte Relief einer Kogge eingearbeitet war, gelangten die beiden Schwestern des Hauses von Dören dann in einen Raum, der von jeher das Buchzimmer genannt worden war. Hier wurden die Geschäftsbücher geführt und aufbewahrt. Ein oder zwei Schreiber hatte Moritz von Dören zumeist angestellt, die ihm bei dieser wichtigen Arbeit halfen – und dabei verließ sich der vor allem durch den Handel mit dem südschwedischen Schonen reich gewordene Fernhandelskaufmann auf seine Tochter Johanna. Sie hatte das Talent ihres Vaters für die Kunst des Rechnens anscheinend geerbt und war äußerst begabt im Lesen und Schreiben. Und das sogar in mehreren Sprachen. Auch wenn das platte Niederdeutsch der Hanseaten fast überall um Nord- und Ostsee herum verstanden wurde, hatte es doch immer wieder Gelegenheiten gegeben, bei denen die Kenntnisse, die Johanna sich in der Lateinschule erworben hatte, von Nutzen gewesen waren.

Die Wände des Buchzimmers waren mehr oder minder bis unter die Decke mit Regalen versehen, in denen die dicken, ledergebundenen Folianten standen, auf deren Seiten jeder Geschäftsvorgang seit fast zweihundert Jahren aufgezeichnet worden waren. Eine Chronik des ehrbaren Kaufmanntums, so hatte Johanna ihren Vater oft voller Stolz sagen hören.

Es gab mehrere Schreibpulte, an denen gearbeitet werden konnte. Und in der Mitte befand sich eine breite Tafel aus dunklem Holz. Die dazugehörigen Stühle waren an den Lehnen durch Schnitzereien reich verziert. Kaufmänner aus aller Herren Länder hatten an diesem Tisch schon gesessen und mit Generationen von Kaufleuten der Familie von Dören Geschäfte verhandelt. Stockfisch aus Schonen, Pelze aus Nowgorod, Bernstein aus dem Baltikum – darum wurde hier gefeilscht. Und dabei ging es zumeist nicht um Kleinigkeiten. Ganze Schiffsladungen wechselten an diesem Tisch den Besitzer.

Und jetzt – Marzipan. Allerdings ging es da um wesentlich kleinere Mengen. Ein halbes Dutzend kleiner Krüge stand auf dem Tisch. Und deren Inhalt war mehr Wert als eine ganze Kogge voller Stockfisch.

„Essbares Gold, Nektar der Könige, über unseren Freund Brugsma in Antwerpen frisch aus Venedig angeliefert“, sagte Moritz von Dören mit einem Glanz in den Augen, wie Johanna ihn nur noch sehr selten gesehen hatte, seit ihre Mutter gestorben war.

Einer der versiegelten Krüge war geöffnet. Die grauweiße Masse darin verbreitete einen angenehm süßlichen Geruch. Mit einem Messer hatte Moritz von Dören etwas davon auf einen Teller gestrichen. Es waren Portionen, die jeweils kaum größer als eine Messerspitze waren.

Grete strich über eine dieser Portionen mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand. Das Marzipan blieb daran kleben und verschwand im nächsten Moment in ihrem Mund. Sie schloss die Augen.

„Und?“, fragte Moritz seine ältere Tochter. „Hält die Ware, was sie verspricht?“

Aber Grete ließ die Augen geschlossen und war einen Moment offenbar durch den süßen Wohlgeschmack derart entrückt, dass sie noch gar nicht in der Lage war, darauf eine angemessene Antwort zu geben.

Etwas zögernd nahm auch Johanna eine Fingerspitze dieser klebrigen Masse in den Mund. Sie schmeckte köstlich. Mit nichts anderem war dieser Geschmack vergleichbar.

„Zerriebene Mandeln und Zucker sollen die Hauptbestandteile sein“, fuhr Moritz fort, der es sich nicht nehmen ließ, noch eine weitere Messerspitze zu probieren. „Aber die venezianischen Apotheker vermeiden es tunlichst, die Feinheiten der Herstellung zu verraten.“

„Dann sollte man vielleicht eine Reise in die Länder der Araber unternehmen, von denen diese Köstlichkeit ja ursprünglich stammen soll“, mischte sich nun Wolfgang Prebendonk ein. Wolfgang war Prokurist des Handelshauses von Dören. Moritz vertraute dem etwa fünfunddreißigjährigen Mann mit dem ernsten Gesichtsausdruck und den aschblonden Haaren wie sonst kaum jemand anderem. Oft war er in wichtiger Mission und mit großer Entscheidungsbefugnis in Moritz' Auftrag unterwegs. Ob es darum ging, mit südschwedischen Kaufleuten in Schonen zu verhandeln oder Geschäfte in Antwerpen, London oder Nowgorod im Sinne des Hauses zu erledigen, schickte Moritz von Dören zumeist seinen Vertrauten Wolfgang Prebendonk. Selbst in Venedig war er schon in Moritz' Auftrag gewesen und ein spätes Ergebnis seiner dortigen Verhandlungen war unter anderem der Erhalt dieser Krüge gewesen. Marzipan, die süße Verführung der Reichen und Edlen, die bereit waren, dafür nahezu jeden Preis zu zahlen gegen haltbaren Stockfisch, der über Lübeck, Nürnberg und die Alpen schließlich bis nach Italien gebracht wurde, wo in der Fastenzeit so viel Bedarf an Fisch bestand, dass der Papst in Rom bereits mehrere mit dem Wasser in Beziehung stehende Tierarten, wie zum Beispiel den Biber, kurzerhand zu Fischen erklärt hatte. Andernfalls hatte man entweder eine Hungersnot oder einen massenhaften Verstoß der Gläubigen gegen die Fastenregeln in Kauf nehmen müssen.

„Nicht dass hier jemand glaubt, dass solche Köstlichkeiten in Zukunft häufiger auf den Tisch kämen“, sagte Moritz von Dören unterdessen, während er sich noch eine Messerspitze Marzipan genehmigte und sie für einen langen Moment schweigend und mit geschlossenen Augen genoss. Erst dann sprach er schließlich weiter. „Aber eine gewisse Überprüfung der Qualität muss schon sein. Unsere Kunden sind schließlich hohe und einflussreiche Herrschaften.“

„So, an wen soll denn dieser Inbegriff des sündhaften Luxus verkauft werden?“, fragte Johanna, nachdem sie ihre Fingerspitze Marzipan so lange es irgend möglich war, zwischen Zunge und Gaumen hatte zergehen lassen, ehe sie es dann doch einfach herunterschluckte.

„Wir haben Anfragen des Herzogs von Lüneburg Braunschweig“, erklärte Moritz von Dören. Dabei straffte sich seine Haltung und ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen. Er schien den zu erwartenden geschäftlichen Erfolg noch weitaus intensiver zu genießen als die Süße dieser unvergleichlichen Speise. „Außerdem hat der Kurfürst von Brandenburg sein Interesse bekundet und wie mir Joop Bartelsen von den Rigafahrern ganz offiziell schon vor längerer Zeit mitgeteilt hat, wäre offenbar auch der Hochmeister des Deutschordens daran interessiert, größere Mengen davon einzuführen.“

„Haben die Ordensritter nicht Armut und Keuschheit gelobt?“, wandte Grete ein, während sie noch etwas von der Köstlichkeit naschte.

Dabei tauschte sie einen Blick mit Wolfgang Prebendonk.

„Man sagt, dass viele der Ordensritter sich weder an das eine noch an das andere halten“, grinste Wolfgang.

Grete errötete leicht, während Wolfgang sie auf eine Weise ansah, die die Grenze des Schicklichen schon beinahe überschritt. Sie wandte sich in ihrer Verlegenheit Johanna zu, die diese Szene aufmerksam beobachtet hatte.

„Wenn du demnächst dein Gelübde ablegst und ins Kloster gehst, dann kannst du es ja genauso halten wie die Ordensritter“, meinte sie.

„Grete!“, ermahnte Moritz von Dören seine ältere Tochter streng. Zumindest so streng, wie ihm dies innerlich möglich war. Gegenüber seinen Töchtern war er nämlich nie wirklich streng gewesen. So sehr er auch darauf achtete, dass innerhalb seines Handelshauses alles exakt so erledigt wurde, wie er sich das vorstellte, so nachgiebig war er andererseits immer gegenüber Grete und Johanna gewesen.

Zumindest in den meisten Dingen.

Nur in einer Frage hatte er sich durchgesetzt, und das betraf die Wahl von Gretes zukünftigem Ehegatten.

Dass Wolfgang Prebendonk sich zu Grete hingezogen fühlte, war unübersehbar und lange Zeit hatte der Prokurist und Vertraute des Hausherrn die besten Chancen gehabt, eines Tages die Geschäfte ganz zu übernehmen und der Vater einer zukünftigen Generation von Kaufleuten aus der Familie von Dören zu werden. Und Grete war gegenüber einer Verbindung mit Wolfgang auch gar nicht abgeneigt gewesen. Alles hätte gepasst.

Aber dann war das Angebot aus Antwerpen gekommen. Die Verbindung zur Antwerpener Familie van Brugsma war zuvor schon für Moritz von Dören immer wichtiger geworden. Beide Handelshäuser waren Partner eines sehr einträglichen Fernhandels. Marzipan war dabei noch nicht einmal das wichtigste Gut, um das es dabei ging. Das Haus von Dören lieferte vor allem Pelze aus Nowgorod und importierte dafür Tuchwaren aus England und Flandern. Dass sich nun durch eine Heirat zwischen Grete von Dören und Pieter van Brugsma dem Jüngeren die Gelegenheit ergab, beide Handelshäuser noch enger miteinander zu verbinden, musste Moritz wie eine glückliche Fügung erscheinen, zumal er keinen männlichen Erben besaß, der seine Geschäfte hätte weiterführen können. Und von seinen Töchtern hatte sich ausgerechnet diejenige, die dazu vielleicht eine gewisse Begabung gehabt hätte, entschlossen, ins Kloster zu gehen und ein Leben in gelehrsamer Enthaltsamkeit zu führen.

Für Wolfgang war diese Fügung der Dinge natürlich weitaus weniger glücklich, denn er war nun als potenzieller Schwiegersohn des großen Moritz von Dören auf jeden Fall ausgeschieden, obwohl er sich doch über einige Jahre berechtigte Hoffnungen hatte machen können. Eigentlich hatte es ja schon so ausgesehen, als würde alles auf ihn hinauslaufen. Doch dieser Traum hatte sich nun zerschlagen und er würde bleiben was er war – Prokurist, Vertrauter und Ratgeber seines Herrn.

Grete war mit der bevorstehenden Vermählung einverstanden, obwohl sie Pieter van Brugsma den Jüngeren kaum kannte. Auf einer Reise nach Flandern hatte sie ihn flüchtig kennengelernt. Grete war 22, Pieter gut zwölf Jahre älter. Ein freundlicher, blassgesichtiger Mann mit tiefliegenden blauen Augen und hellblondem, sich an der Stirn bereits deutlich lichtendem Haar. Er galt als gewiefter Händler und begnadeter Rechenkünstler, der den Abakus wie kaum ein zweiter zu verwenden wusste, was in den letzten Jahren nicht unerheblich zum geschäftlichen Erfolg des Hauses van Brugsma beigetragen hatte. Man sprach sogar davon, dass Pieter nach Art der Araber zu rechnen verstand, die die Mathematik zu einer Kunst entwickelt hatten, die für Unkundige beinahe wie Magie wirkte. Die große Liebe erwartete Grete wohl nicht bei diesem eher kühlen Mann, dem abgesehen von Verhandlungen schon ein einfaches, belangloses Gespräch schwer zu fallen schien. Es schien unmöglich zu sein, mit ihm unbeschwert herumzuscherzen – geschweige denn, dass Grete jemals das Gefühl gehabt hätte, dass sich Gedanken und Empfindungen allein durch Blicke von einem Menschen zum anderen übertrugen, wie es ihr oft genug mit Wolfgang geschehen war.

Aber das würde sich ja vielleicht noch einstellen, so sagte sich Grete. Und davon abgesehen wäre es ihr auch niemals in den Sinn gekommen, sich gegen eine arrangierte Heirat aufzulehnen, zumal es dafür auch keinen stichhaltigen Grund gegeben hätte.

Wolfgang war zwar ein netter Kerl, aber mit dem Erben des Hauses van Brugsma eben doch nicht zu vergleichen. Wolfgang stammte aus Dören, einem westfälischen Dorf, aus dem einst ihr Urahn Jacob nach Lübeck aufgebrochen war, kurz nachdem Herzog Heinrich der Löwe in der Nähe einer alten Slawensiedlung auf einer Halbinsel an der Trave Lübeck gegründet und zum ersten Ostseehafen des Reiches erhoben hatte. Einer von vielen Händlern und Handwerkern, die aus Westfalen aufgebrochen waren – wie zum Beispiel die Familie von Brun Warendorp, dem derzeitigen Bürgermeister.

Ein Mann, der aus Dören stammte, so war Moritz' Überzeugung, war in besonderer Weise vertrauenswürdig. Wolfgang war von Moritz schon als Halbwüchsiger ausgesucht und mit nach Lübeck genommen worden. Dort war er ausgebildet und in die Geschäfte eingeführt worden. Einen eigenen Sohn hätte Moritz von Dören nicht stärker prägen können als Wolfgang Prebendonk.

Und vielleicht war auch das ein Grund dafür, weshalb Grete Wolfgang zwar immer zugetan gewesen war, sich aber nie Gefühle entwickelt hatten, die stark genug gewesen wären, um dafür einen Bruch mit ihrem Vater in Kauf zu nehmen.

Und davon abgesehen reizte es Grete durchaus, die Herrin eines so bedeutenden Hauses zu werden – denn auch wenn die Familie von Dören innerhalb der Kaufmannsbruderschaft der lübischen Schonenfahrer eine bedeutende Rolle spielte, seit Moritz dort das Amt des Ältermanns innehatte, so waren die van Brugsmas aus Antwerpen, was Reichtum und Einfluss anging, noch um einiges bedeutender. Ihre Stimme wurde auf den Hansetagen gehört und das van Brugsma'schen Haus war für seine unvergleichliche Pracht und Erhabenheit bekannt. Dort zu leben und auch zu herrschen – so stellte sich Grete das vor – war ganz nach ihrem Geschmack.

Johanna hingegen konnte so eine Haltung nicht nachvollziehen. Aber ihre Schwester war schon immer etwas mehr an den diesseitigen Dingen interessiert gewesen. Oberflächlicher Schein, wie Johanna ihr oft gesagt hatte. Denn was bedeutete schon ein großes Haus und Wohlstand, wenn man nicht das Wohlwollen des Herrn hatte. Pest und Unglück verschonten niemanden, nur weil er einen Sack voll Silber hinter der Tür stehen hatte. Hatte Jesus nicht gesagt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gelangen konnte, als ein Reicher ins Himmelreich? Sie war der festen Überzeugung, dass es auf die inneren Werte eines Menschen ankam. Nur das Gold, das jemand im Herzen gesammelt hatte, war wichtig, denn all die anderen Reichtümer, die man in seinem Leben anhäufte, konnte man weder mit in die andere Welt hinübernehmen noch halfen sie einem, wenn man wirklich in höchster Seelennot war. Zu dieser festen Überzeugung war Johanna während der Zeit gekommen, da sie als kleines Mädchen mit hohem Fieber mit dem Pestdämon gerungen hatte. Einem Dämon, der ihre Mutter dahingerafft, ihren Vater und ihre Schwester jedoch gar nicht erst angegriffen hatte. Warum das so war, das wusste nur Gott allein. Es war eines seiner unergründlichen Geheimnisse und Johanna hatte längst aufgehört, sich danach fragen, was der Grund dafür sein mochte. Genauso war es wohl auf ewig ein Geheimnis, weshalb sie selbst damals vom Totenbett wieder auferstanden war – ein Glück, das kaum einem unter Hundert widerfuhr, die von dieser furchtbaren Krankheit einmal niedergeworfen worden waren. Johanna hatte dies einfach als Geschenk des Herrn angenommen. Ein Geschenk, das ebenso Ergebnis seines unergründlichen Ratschlusses war wie der Tod ihrer Mutter. Es hatte keinen Sinn, solche Dinge zu hinterfragen – und ebenso wenig hatte es Sinn, sich gegen die Schläge des Schicksals mit Reichtum, Macht, guter Herkunft, einer standesgemäßen Heirat oder anderem diesseitigen Schein wappnen zu wollen.

Grete hatte aus jenen dunklen Tagen, in denen sie in einem Pesthaus gelebt hatten, offenbar ganz andere Schlussfolgerungen für sich und ihr Leben gezogen.

„Für die Gesundheit”, sagte Grete, während sie sich noch eine Fingerspitze Marzipan nahm und die Augen schloss, um sich diesem Genuss für ein paar Augenblicke vollkommen hinzugeben.

„Marzipan soll ja tatsächlich gegen alle möglichen Leiden helfen”, meinte Wolfgang Prebendonk. „Von unerfülltem Kinderwunsch bis zur Behebung von Verdauungsproblemen ist nahezu jedes Leiden vertreten.”

„Bestimmt sind das nur Behauptungen der Apotheker”, glaubte hingegen Johanna. „Sie wollen Gründe dafür erschaffen, dass man das Marzipan nur bei ihnen kauft.”

„Das nenne ich ein gut begründetes Handelsmonopol”, meinte Wolfgang, aber ein Teil seiner Aufmerksamkeit galt nach wie vor Grete. Er sah ihr zu, wie sie ihr Marzipan genoss und als sie ihre Augen wieder öffnete, trafen sich die Blicke der beiden.

Tatsächlich verkaufte auch Moritz von Dören sein Marzipan nicht direkt an interessierte Kunden. Bruder Emmerhart, ein Alchemist und Mönch, der in Lübeck eine Apotheke betrieb, die für sich in Anspruch nahm, dass noch niemand an den dort gemischten Arzneien gestorben oder ernstlich krank geworden war, fungierte offiziell als Zwischenhändler.

Auch wenn Moritz den Anteil, der an Bruder Emmerhart ging, natürlich am liebsten selbst eingestrichen hätte, so wäre es doch äußerst unklug gewesen, die Apotheker Lübecks gegen sich aufzubringen. Und zudem arbeitete das Haus von Dören ja auch beim Verkauf von Zucker mit Bruder Emmerhart zusammen – und der ging in unvergleichlich größeren Mengen über den Tresen seiner Apotheke als das viel kostbarere Marzipan.

„Man sollte diese Köstlichkeit selbst verkaufen und veredeln”, wiederholte Wolfgang Prebendonk, einen Vorschlag, den er nicht zum ersten Mal machte und von dem er eigentlich auch bereits im Voraus wusste, dass der traditionsbewusste und den Regeln einer ehrbaren Kaufmannschaft zutiefst verhaftete Moritz niemals darauf eingehen würde. Wolfgang lächelte und sein Blick streifte dabei abermals Grete auf eine Weise, die diese erröten ließ. „Ganze Schiffsladungen voller Köstlichkeiten, angeboten an jeder Straßenecke! Ihr würdet nicht nur an ein paar Reichen verdienen, werter Herr Moritz, sondern auch an all den anderen, denn es gibt Speisen, denen man beim besten Willen nicht zu widerstehen vermag. Und wenn man einen letzten Taler in der Tasche hat, dann wird man selbst ihn noch opfern, nur um dieses köstlichen Geschmacks teilhaftig zu werden.“

„Wenn Schiffsladungen davon lieferbar wären, dann wären sie auch nicht mehr wert als Stockfisch“, erwiderte Moritz, dem die stumme Zwiesprache der Blicke zwischen Wolfgang und Grete offenbar völlig entging. „Nur die Knappheit macht aus einem Gut etwas Wertvolles. Wenn jedermann Gold hätte, dann würden wir es auf der Straße finden und niemand schenkte ihm Beachtung.“ Moritz verschloss nun wieder den Krug – gerade noch rechtzeitig, bevor Grete ein weiteres Mal hineingreifen konnte. „Und im Übrigen ist etwas, das in einer Apotheke verkauft wird, weil es der Behandlung heilkundiger Personen bedarf und einige wundersame Eigenschaften hat, die über den fulminanten Geschmack weit hinausgehen, wertvoller als irgendeine Mixtur, die jeder Küchenmeister und jede Hausfrau selbst herzustellen vermag.“ Moritz schüttelte langsam und sehr nachdenklich wirkend den Kopf. „Nein, wir müssen alles tun, um den Preis unserer Waren hochzuhalten. Nur dann ist der Gewinn groß genug, um die erheblichen Aufwendungen zu rechtfertigen, die lange Transportwege bedeuten.“

Zweites Kapitel: Gespräch unter Schwestern

In diesem Moment sprang die Tür auf. Hintz, ein Laufbursche, den Moritz von Dören zur Erledigung diverser Botengänge und Besorgungen angestellt hatte, kam herein. Sein Kopf war hochrot. Er musste tatsächlich ein ganzes Stück gerannt sein. „Herr, die Seehundbraut liegt bei Kopenhagen fest. König Waldemar lässt sie nicht passieren und verlangt einen unverschämt hohen Zoll für die Öresund-Durchfahrt ...“ Hintz rang nach Luft.

„Damit war leider zu rechnen“, murmelte Wolfgang.

„Die Seehundbraut war nicht allein unterwegs“, stellte Moritz fest. „Was ist mit den anderen Koggen des Verbandes?“

„Dasselbe“, keuchte Hintz. „In Kopenhagen festgesetzt, bis bezahlt ist. Der Bote kam gerade vorhin in die Stadt und ist jetzt noch beim Bürgermeister.“

Moritz von Dören ballte die Hände zu Fäusten und in das ansonsten eher weich und freundlich wirkende Gesicht des Kauffahrers trat ein harter Zug, wie Johanna ihn nur sehr selten bei ihrem Vater bemerkt hatte. „Waldemar, dieser dänische Räuber“, entfuhr es ihm. „Es wird Zeit, dass ihm jemand das Handwerk legt! Höchste Zeit wird es!“

Waldemar IV., seines Zeichens König von Dänemark, hatte vor kurzem die südschwedische Provinz Schonen erobert und kontrollierte jetzt beide Seiten des Öresundes. Nur ein paar Meilen war diese Wasserstraße an der schmalsten Stelle breit. Es hing jetzt von König Waldemars Gnaden ab, ob und zu welchem Preis er die Schiffe der Hanse dieses Nadelöhr zwischen Nord- und Ostsee passieren ließ. Und damit saß der Dänenkönig am Lebensnerv der lübischen Fernhändler. Nicht genug, dass der wichtige Handel mit der Küste von Schonen jetzt vollständig unter seiner Kontrolle stand, auch die Schiffe, die Stockfisch in Bergen luden, und der überaus wichtige Schiffsverkehr mit Flandern und England waren davon betroffen.

„Hintz!“, sagte Moritz plötzlich auf sehr energisch wirkende Weise.

„Ja, Herr.“

„Ruf alle Mitglieder unserer Bruderschaft zusammen. Wir treffen uns in zwei Stunden im großen Saal des Rathauses. Und lasst auch unseren Bürgermeister von unserer Zusammenkunft wissen und ihm ausrichten, dass er herzlich willkommener Gast sei.“

Hintz musste jetzt erst einmal tief durchatmen. Einige Dutzend Handelsherren in so kurzer Zeit zusammenzurufen, war auch für einen robusten Laufburschen eine anspruchsvolle Aufgabe, auch wenn Lübeck kein besonders ausgedehntes Stadtgebiet hatte. Seine Lage hatte eine ungehemmte Erweiterung verhindert. Nur ein kurzes Stück verband die Stadt mit dem Land, ansonsten wurde sie von allen Seiten durch die in einem Bogen ins Meer fließende Trave begrenzt. Diese natürlichen Grenzen sorgten dafür, dass man relativ kurze Wege hatte. Ein Umstand, der für den Handel stets eine ideale Voraussetzung gewesen war.

„Ich werde tun, was ich kann, Herr“, versprach Hintz.

„Beeil dich!“, verlangte Moritz mit einer drängenden Ungeduld, die ansonsten eigentlich nicht zu den typischen Eigenschaften des Ältermanns der Schonenfahrer-Bruderschaft gehörte. „Und der Bote aus Kopenhagen – er soll im Kreis der Bruderschaft wiederholen, was er gesagt hat!“

„Jawohl, Herr.“

Hintz verneigte sich leicht. Dann drehte er sich um und brach sofort auf.

Moritz wandte sich an Johanna. „Sorg dafür, dass dieser Schatz gut verschlossen und sicher verwahrt wird, Johanna.“

„Das werde ich“, versprach sie.

„Ich werde jetzt einiges zu tun haben. Sucht mich im Rathaus, wenn irgendetwas sein sollte!“ Mit diesen Worten verließ nun auch Moritz von Dören den Raum. Wolfgang Prebendonk folgte ihm, allerdings nicht, ohne Grete zuvor noch einen Blick zuzuwerfen, den man gegenüber einer verlobten Frau wohl nur als unverschämt betrachten konnte.

––––––––

Grete errötete leicht, aber es war unübersehbar, dass ihr die Aufmerksamkeit gefiel, die Wolfgang ihr nach wie vor zuteil werden ließ.

Sie wischte sich mit einer schnellen Bewegung über die erröteten Wangen und sagte dann: „Es scheint, als seist du die Einzige im Raum gewesen, der unser Vater die innere Stärke zugetraut hat, der Versuchung zu widerstehen, die auf diesem Tisch steht, und tatsächlich dafür zu sorgen, dass der Schatz, wie er ihn nennt, sicher verwahrt wird.” Sie lächelte breit während sie das sagte und richtete etwas ihre Frisur, um die Verlegenheit zu überspielen.

„Hättest du diese innere Stärke denn nicht, Schwester?”, fragte Johanna.

„Du hast doch gesehen, wie sehr ich dieser klebrigen, zuckersüßen Masse verfallen bin, Johanna.”

„Und was ist mit den anderen Versuchungen?”

Grete sah Johanna geradewegs in die Augen.

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst”, behauptete sie schmunzelnd.

„Ich hatte das Gefühl, Wolfgang wusste das sehr genau.“

„Denkst du, wir sind wirklich so verschieden, wie du manchmal tust, Johanna?“

„Sind wir nicht?“

Grete schüttelte zögernd den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Ich glaube, tief hinter deinem gottgefälligen Äußeren verbirgt sich ein Vulkan der Sünde, stets in der Gefahr auszubrechen.“

„Ach ...“

„Als ich in Antwerpen war, hat Pieter mir vom Vesuv erzählt, einem Vulkan in Neapel. Weißt du, er ist schon einige Male bis dorthin gereist, um die Handelsinteressen seines Hauses zu vertreten, und träumt davon, eines Tages den Venezianern und Genuesen ein Schnippchen zu schlagen und den Handel mit Konstantinopel und den Ländern der Muslime direkt abwickeln zu können – ohne dass die Zwischenhändler in Italien den größten Teil des Gewinns einstreichen.”

„Es scheint, als hätte dein zukünftiger Gemahl ehrgeizige Pläne“, stellte Johanna fest.

„Ja, das hat er. Aber darauf will ich jetzt nicht hinaus.“

Johanna hob die Augenbrauen. „Und worauf dann?“

„Niemand weiß, wann der Vesuv das nächste Mal ausbrechen wird. Er hat in der Vergangenheit schon mehrfach seine Feuersbrunst emporsteigen lassen und ganze Städte unter Asche und geschmolzenem Gestein begraben. Nur Gott allein weiß, ob und wann das wieder geschehen wird. Pieter sagt, dass die Gegend jetzt ruhig und friedlich aussieht. Manchmal steigt etwas Rauch auf, aber ansonsten ließe sich nicht einmal erahnen, welche Gewalt unter dem Krater schlummert.“

„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ein Vulkan in Italien mit mir zu tun haben sollte.“

„Könnte es nicht sein, dass du genauso bist, Schwester? Äußerlich scheint alles ruhig und friedlich, aber unter der der Oberfläche brodelt es und niemand weiß, was sich da tief unter der Oberfläche zusammenbraut.“

Johanna lächelte kurz und verlegen. „Du redest Unsinn“, behauptete sie kurz und knapp.

Grete zuckte mit den Schultern. „Da bin ich mir gar nicht so sicher ... Auf jeden Fall wärst du nicht die Erste, die nach außen hin so heilig tut und in deren Inneren es in Wahrheit ganz anders aussieht.“

Johannas Gesicht wurde jetzt sehr ernst. Gretes Worte hatten sie bis ins Mark getroffen. Die Worte ihrer Schwester ärgerten sie über die Maßen. „Wie kannst du wissen, wie es in meinem Inneren aussieht!“, empörte sie sich. „Und überhaupt! Die einzige Macht, der ich gehorchen will, ist die Macht Gottes. Ihm habe ich mich ganz und gar unterworfen.“

„Wirklich?“, fragte Grete und in ihren ansonsten so weich wirkenden Gesichtszügen stand nun ein hintergründiges, durchtriebenes Lächeln. Sie zuckte mit den Schultern. „Dann bist ja vielleicht tatsächlich eine Heilige, Johanna!“

Auch wenn die Schwestern sich meistens gut verstanden und einander sehr nahestanden, blieb doch immer eine gewisse Rivalität zwischen ihnen, die ab und zu in Form von spitzen Bemerkungen hervorbrach.

Für Grete war es bislang immer schwierig gewesen zu akzeptieren, dass Johanna für ihren Vater eine so herausragende Rolle als Vertraute und Gehilfin in Geschäftsdingen spielte. Die Begabung für die Rechenkunst war Grete nun einmal nicht gegeben – und der Heiligenschein einer von der Pest Genesenen hatte das Schicksal ihr auch nicht zuteil werden lassen. Allein dieser Umstand schien Moritz von Dören seine zweite Tochter mit anderen Augen sehen zu lassen, als seine erste. Doch nun, da Grete sich anschickte, die Frau eines der bedeutendsten Fernhändler der ganzen Hanse zu werden, schien die Waagschalen der beiden Schwestern noch einmal gehörig in Bewegung zu bringen. Eine gute Heirat fiel mehr ins Gewicht, als alles Geschick in geschäftlichen Dingen oder die Fähigkeit, große Zahlen zu überblicken und den Profit frühzeitig zu erkennen, den ein Handel einbrachte.

Königreiche waren durch Hochzeiten schneller erobert worden als durch irgendeinen Feldzug – und dasselbe galt wohl auch für Handelshäuser und Märkte.

„Eine Woche noch, dann brechen wir zum Hansetag in Köln auf”, sagte Johanna. „Dann wird sich dein Leben ziemlich verändern, glaube ich ...”

„Du kommst mit?”

„Ich habe Vater versprochen, meinen Klostereintritt noch um ein paar Monate zu verschieben. Gerade jetzt braucht er mich dringend. Die Schwierigkeiten mit König Waldemar haben sich ja lange angekündigt und Vater hat so lange darauf hingewirkt, dass sich die Hansestädte endlich zusammentun und auf Waldemars Angriffe eine angemessene Reaktion erfolgen kann ...”

„Es ist das dritte Mal, dass du deinen Klostereintritt verschiebst, Johanna.”

Johanna zuckte mit den Schultern. „Ja, ich weiß.”

„Und jedes Mal wird Vater dir einen Grund nennen können, weshalb du für ihn unabkömmlich bist.”

„So ist er nun einmal.”

„Mir scheint, er hätte es am liebsten, wenn du deine Pläne vollkommen aufgeben würdest.”

„Das wird nicht geschehen”, versicherte Johanna und ihre Stimme hatte dabei einen sehr entschiedenen Tonfall. „Wer dem Herrn sein Wort gibt, kann es nicht so einfach brechen. Dazu ist mir mein Glaube zu heilig und das Geschenk des Lebens, das ich erhielt, als Er mich die Pest überleben ließ, zu kostbar.”

Grete seufzte. „Wie auch immer. Ich bin schon gespannt auf die Reise nach Köln – und vor allem natürlich darauf, meinen zukünftigen Ehemann dort zu treffen.” Sie sah sich um und ein nachdenklicher Zug trat in ihr Gesicht. „Ich werde nicht mit Vater und dir zurückkehren, Johanna. Und wahrscheinlich werde ich all das hier so schnell nicht wiedersehen.” Ihr Blick verweilte bei den Marzipankrügen und dabei musste sie unwillkürlich schmunzeln. „Immerhin werde ich, was diese süße Versuchung angeht, näher an der Quelle sitzen, als bisher – es sei denn, irgendwann kommt doch ein listiger lübischer Apotheker oder Alchemist darauf, wie man dieses Heilmittel gegen alles Mögliche selbst herstellen kann, dann wird Lübeck vielleicht eines Tages die Hauptstadt der süßen Versuchung sein und nicht mehr Venedig ...”

„Traumgespinste von Meister Emmerhart”, lächelte Johanna. „Aber mit der Wirklichkeit wird das alles nichts zu tun haben, glaub mir.”

Drittes Kapitel: Die Versammlung der Schonenfahrer

Auf der eilig einberufenen Versammlung der lübischen Schonenfahrer ging es hoch her. Ältermann Moritz von Dören schaffte es nur mir großer Mühe, für die nötige Ruhe zu sorgen.

Der Bote hatte seine deprimierende Kunde aus Kopenhagen überbracht und jetzt wartete er draußen vor den schweren Holztüren des Versammlungssaals, um eine Antwort zurück zum Hof von König Waldemar zu bringen.

Bürgermeister Brun Warendorp war ebenfalls eingetroffen und demonstrierte damit für alle sichtbar, dass er den Konflikt um die Öresund-Durchfahrt nicht allein als ein Problem der davon besonders hart getroffenen Mitglieder der Schonenfahrer-Bruderschaft ansah – sondern als etwas, das ganz Lübeck und darüber hinaus den gesamten Hansehandel in der Ostsee betraf.

„Ruhe! Ich darf um Ruhe bitten, damit wir die Dinge, um die es hier geht, in aller gebetenen Form besprechen können!“, dröhnte Moritz' Stimme durch den Raum und wer den Ältermann der Schonenfahrer nur aus dem täglichen Umgang kannte, der konnte kaum glauben, es mit demselben Mann zu tun zu haben, so energisch wirkte er in diesen Momenten. Aber da er seine Autorität als Ältermann nur sehr selten in die Waagschale warf und normalerweise eher zurückhaltend agierte, machte dies jetzt einen besonderen Eindruck auf die Anwesenden.

Das Geraune und Gerede im Saal verstummte und für einige Augenblicke herrschte eine bedrückte Stille. Zwar waren diesmal nur eine Handvoll Kauffahrer von dem Erpressungsversuch des Dänenkönigs direkt betroffen, aber jeder der Anwesenden wusste nur zu gut, dass sein Schiff das nächste sein konnte, das im Öresund festgehalten und mit vollkommen willkürlichen Zöllen für die Durchfahrt Richtung Lübeck belegt wurde.

Breno Lührsen meldete sich zu Wort, ein in Ehren ergrauter ehemaliger Ältermann, dessen Geschäfte inzwischen längst sein Sohn führte, der ebenfalls Breno hieß. Gleich zwei Schiffe, die im Auftrag von Breno dem Jüngeren unterwegs gewesen waren, wurden gegenwärtig im Öresund festgehalten. Und an Bord der größeren dieser beiden Koggen befand sich Breno Lührsens Sohn, der auf der Rückreise aus Bergen war.

„Wie ich euch ja bereits im Verlauf dieser Sitzung berichtet habe, bin ich diesmal in besonderer Weise von der Willkür des Dänenkönigs betroffen und habe viel zu verlieren. Aber beim nächsten Mal, da dieser Räuber am Öresund zuschlägt, kann das für einen anderen unter euch gelten.“ Der alte Breno Lührsen hob die Hand und ballte sie so heftig zur Faust, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Wir werden diesem gierigen Hund irgendwann das Handwerk legen müssen, denn auch wenn er eine Krone trägt, ist er doch nichts anderes, als ein gemeiner Straßenräuber, der sich auf die Lauer legt und ehrbare Kaufleute um den verdienten Lohn ihrer Mühen zu bringen versucht!“

Ein Raunen erhob sich im Saal und hier und da waren zustimmende Äußerungen einiger anwesender Mitglieder der Schonenfahrer-Bruderschaft zu hören. Bis aufs Blut hatte Waldemar die lübischen Kaufleute schon gereizt und offenbar teilten viele Breno Lührsens Ansicht, dass man dem möglichst bald ein Ende setzen sollte – sofern man dazu die Möglichkeit hatte.

Breno Lührsen wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, ehe er weitersprach. „Vorerst wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Bedingungen zu akzeptieren und die Zölle zu bezahlen, die Waldemar fordert. Aber ein Dauerzustand kann es nicht sein, dass wir zu Geiseln dieses Piraten werden, der uns nach Gutdünken von unserem Warenstrom abschnüren kann.“

Wieder kamen zustimmende Worte aus der Menge der Anwesenden.

„Ich kann den Worten meines Vorredners nur zustimmen“, sagte nun Moritz von Dören, woraufhin sich das Stimmengewirr wieder legte. „König Waldemar will uns offenbar spüren lassen, wozu er im Stande ist. Wahrscheinlich haben wir ihm schon viel zu lange tatenlos zugesehen. Allein, dass er sich ungestraft Schonen aneignen konnte, scheint ihn in einer Weise zu weiteren Schandtaten ermutigt zu haben, die wir auf Dauer nicht hinnehmen können. Aber vielleicht möchte sich unser Bürgermeister zu diesem Thema näher äußern, den in unserem Kreis zu begrüßen ich die Ehre habe.“

Moritz von Dören deutete auf Brun Warendorp. Der blassgesichtige Mann umfasste den Griff des kurzen Zierschwertes, wie es Männer aus dem Stand ehrbarer Händler immer häufiger an der Seite trugen – weniger, um damit tatsächlich zu kämpfen, als vielmehr, ihresgleichen mit den Rittern und Adeligen gleichzusetzen. Er trat vor – ein schmaler Mann mit langem Gesicht. Das Haar reichte ihm bis zum Kinn. Die blassblauen Augen wirkten aufmerksam. Schon sein Vater Gottschalk und sein Großvater Bruno waren Ratsherren und zeitweilig Bürgermeister von Lübeck gewesen. „Jeder hier im Saal kann sicher sein, dass wir mit unseren diplomatischen Bemühungen nicht nachgelassen haben. Aber fest steht, dass wir allein nicht dafür gerüstet sind, gegen König Waldemar vorzugehen. Vom Kaiser können wir kaum Schutz erwarten, wobei auch da unsere Emissäre unterwegs sind und versuchen, etwas in unserem Sinn zu bewegen.”

„Man soll Waldemar Helsingborg und das Schonener Land wieder wegnehmen!”, rief einer der Kaufleute. Weder Moritz noch der Bürgermeister hatten erkennen können, wer das war. Aber das anschließend kurz aufbrandende Stimmengewirr ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Sprecher die Stimmung der Anwesenden genau getroffen hatte.

Moritz hob die Hände und bemühte sich darum, dass wieder Ruhe einkehrte, was nicht so einfach war. Zu aufgebracht waren die Mitglieder der Schonenfahrer-Bruderschaft. Für manchen von ihnen stand mittlerweile die Existenz auf dem Spiel.

„Im Moment kann ich nur empfehlen, die geforderten Beträge für die Öresund-Durchfahrt zu bezahlen“, stellte Brun Warendorp unmissverständlich klar.

„Und was ist mit der Kriegsflotte, die der Rat mit unseren Steuertalern ausrüstet?“, war der Rufer von eben noch einmal zu hören.

„Wer spricht da?“, wollte Brun Warendorp wissen und für einen kurzen Moment herrschte eine Stille, bei der ein Schneider seine Nadel hätte fallen lassen können und damit aufgefallen wäre. Dann bildete sich eine Gasse und ein kleiner, beleibter Mann mit hoher Stirn und grauschwarzem Spitzbart trat hervor. Magnus Bredels vom Unterwerder, so lautete sein Name. Ein Mann, der als Koggenkapitän angefangen und sich inzwischen in die Kreise der lübischen Patrizier hochgearbeitet hatte, auch wenn man ihn in diesen Kreisen eher mit Skepsis begegnete und es hier und da sogar Geraune gab, dass sein schneller Aufstieg nicht allein mit erfolgreichen Geschäften zu tun hatte. Man munkelte, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein musste. Es war von Betrug die Rede – aber auch von Hexerei. Allerdings war keiner dieser Vorwürfe je vor Gericht gekommen, was von manchen wiederum als Anzeichen von unlauteren Machenschaften gewertet wurde. Schließlich waren einige Zeugen auf nie ganz geklärte Weise gerade rechtzeitig gestorben, um die Eröffnung eines Verfahrens zu verhindern.

Magnus hatte schon oft das große Wort in der Versammlung der Schonenfahrer geführt und einmal war er sogar vergeblich gegen Moritz in einer Wahl um das Amt des Ältermanns angetreten. Seitdem er bei der Abstimmung eine deutliche Niederlage hatte einstecken müssen, waren seine Wortmeldungen deutlich zurückgegangen. Moritz hatte trotzdem immer das Gefühl gehabt, dass Magnus klammheimlich daran arbeitete, ihn doch noch eines Tages als Ältermann abzulösen – auch wenn seine Chancen dafür schlecht standen, da er nicht aus einer der traditionsreichen Händlerfamilien kam, die schon seit den Zeiten von Heinrich dem Löwen hier angesiedelt hatten.

„Es bedarf für einen Magnus Bredels wohl keiner Vorstellung“, sagte der rundliche Mann nun, der zwar kleiner als Brun Warendorp und Moritz von Dören war, aber viel kräftiger wirkte. „Und ich wiederhole gerne meine Frage an den Bürgermeister: Was ist mit der Flotte, die ausgerüstet wird? Was ist mit den Seeleuten und Söldnern, nach denen in ganz Holstein und Mecklenburg und wahrscheinlich noch weit darüber hinaus so eifrig geworben wird und zwar mit einem Lohn, der sich sehen lassen kann und der es uns Händlern schwer macht, noch Männer für unsere Schiffe zu finden?“

„Alles zu seiner Zeit“, antwortete Brun Warendorp mit einem Tonfall, der äußerlich ruhig und gelassen wirkte. Wer den Bürgermeister jedoch besser kannte – und auf Moritz traf das zu – der wusste, dass es in ihm ganz anders aussah. Denn Brun Warendorp war alles andere als der geborener Anführer, der sich gern an die Spitze stellte und eine Menge mit großen Reden mitzureißen vermochte. Er war vielmehr ein zurückhaltender, emsig in der Stille wirkender Mann, der seine Pflichten als Bürgermeister sehr genau nahm und mit großer Geduld und Beharrlichkeit die Interessen der Stadt zu vertreten versuchte.

„Was soll das heißen?“, ereiferte sich Magnus. „Die Koggen lübischer Händler werden mit ungerechten Zöllen belegt und in der Durchfahrt des Öresunds auf eine Weise behindert, die jedem Rechtsverständnis spottet, und gleichzeitig wird mit unserem Geld eine Flotte ausgerüstet, die aber nicht einmal die Travemündung verlässt, geschweige denn dafür sorgt, dass Helsingborg zurückerobert wird und die dortigen Besitztümer der hanseatischen Händler wieder zurückgegeben werden!“

Lauter Beifall brandete jetzt auf. Moritz begriff, dass dies nicht nur gegen den Bürgermeister gerichtet war, sondern auch gegen ihn. Mit diesen Worten hatte sich Magnus Bredels als der bessere Ältermann darzustellen gewusst. Als einer, der die Interessen der arg gebeutelten Schonenfahrer besser und energischer zu vertreten wusste, als der vergleichsweise zurückhaltende und in seinem Ansichten stets zur Mäßigung neigende Moritz von Dören.

„So lasst den Bürgermeister sich doch erklären!“, rief Moritz und versuchte erneut, für Ruhe zu sorgen.

„Seid Ihr der Büttel des Bürgermeisters oder der Ältermann unserer Bruderschaft?“, rief Magnus daraufhin und brachte damit wohl die Ansicht einer ganz erheblichen Anzahl von Mitgliedern in diesem ehrenwerten Kreis von Kaufleuten auf den Punkt.

So dauerte es noch einige quälend lange Augenblicke, bis Brun Warendorp schließlich wieder zu Wort kam, um seine Sicht der Dinge erklären zu können.

„Wir brauchen noch Zeit“, sagte er. „Zeit, um genügend Schiffe und Männer unter Waffen aufbieten zu können, um Waldemar entgegentreten zu können. Und allein werden wir das nicht schaffen. Wie ich schon einmal gesagt habe, wir brauchen Verbündete. Sonst ist jegliche Aktion gegen Waldemar von vornherein zum Scheitern verurteilt.”

„Soweit ich gehört habe, habt Ihr kein Schiff, das gegenwärtig bei Helsingborg festsitzt”, sagte Magnus und stemmte dabei die Hände in die Hüften. Sein abschätziger Blick maß Brun Warendorp von Kopf bis Fuß. „Da wartet es sich wohl etwas leichter, nehme ich an.”

Gelächter brach aus.

„Ruhe!”, schimpfte Moritz energisch dazwischen und fand zu seiner eigenen Überraschung damit sogar Gehör. „Solange ich Ältermann dieser Bruderschaft bin, wird hier ein freies Wort gesprochen. Und das gilt für jeden – ganz besonders aber für den Bürgermeister von Lübeck. Die Gastfreundschaft und der Anstand eines ehrbaren Kaufmanns gebieten das und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr allen Ernstes der Erste sein wollt, der von diesen Grundsätzen abgehen will, Magnus!“

Einige Augenblicke sagte niemand ein Wort. Magnus schien sich nun wohl auch nicht ganz sicher zu sein, wie groß sein Rückhalt unter den Anwesenden tatsächlich war. Um offen den Aufstand gegen den amtierenden Ältermann zu wagen, schien ihm noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, zumal es von den anderen Schonenfahrern wohl als äußerst unfein angesehen worden wäre, wenn Magnus Bredels in dieser äußerst schwierigen Situation einen Wechsel verlangt hätte. So biss er sich auf die Lippe und schwieg.

„Bezahlt einstweilen die Zölle, kann ich euch nur raten”, ergriff wieder Brun Warendorp das Wort. „Glaubt mir, ich weiß, wie weh euch jeder Taler tut und dass dadurch eure ganzen Unternehmungen in Gefahr geraten können. Und mir ist durchaus auch klar, was die ganze Entwicklung der letzten Zeit für diejenigen bedeutet, die sogar Lagerhäuser und Kontore in Helsingborg betrieben haben, deren Warenlager vielleicht sogar noch prall gefüllt waren.”

„Fürwahr! Die Dänen können über das Geschäft nicht klagen, dass sie durch die Eroberung von Helsingborg gemacht haben!”, rief einer der Anwesenden laut dazwischen und die anderen stimmten ihm knurrend zu.

Magnus war allerdings nicht darunter. Er hielt sich nun vollkommen zurück und sagte kein einziges Wort. Seine Stunde würde noch kommen! Zumindest hatte er sich das vorgenommen. Niemand, der in sein hintergründig lächelndes Gesicht sah, musste davon ausgehen, dass er diese Ankündigung auch mit aller Rücksichtslosigkeit durchzusetzen gedachte.

„Wir haben hier und jetzt nur darüber zu entscheiden, mit welcher Botschaft wir den Emissär zurück in Waldemars Reich schicken”, erklärte Moritz von Dören nun – und obwohl er diesmal weder die Stimme hob, noch besonders laut sprach, fand er Gehör bei den Schonenfahrern. „Aber für die Zukunft wollen wir darauf hinwirken, dass dieser unerträgliche Zustand nicht einen Tag länger anhält als unbedingt notwendig!”

––––––––

Als Moritz von Dören sehr spät in der Nacht von der Versammlung der Schonenfahrer nach Hause kam, fand er Johanna im der Eingangshalle des von Dören'schen Hauses. Im Kamin brannte Feuer. Es war Ende August und in diesem Jahr schien der Sommer ungewöhnlich früh sein Ende zu finden. In den letzten Nächten war es schon empfindlich kalt geworden und ein unangenehm scharfer Wind wehte von Nordwesten über die Stadt und zwischen den engen Gassen hindurch.

Johanna las im einem handgeschriebenem Gebetbuch, einer Sammlung, die von Bruder Emmerhart zusammengestellt und aufgeschrieben worden war. Sie enthielt einige Psalmen, Gebete und Liedtexte, deren ursprüngliche Quellen wohl höchst unterschiedlich waren. Aber Johanna hatte darin immer viel Trost gefunden. Bruder Emmerhart verkaufte solche handgeschriebenen Bände mit nicht mehr als jeweils vierzig bis fünfzig Seiten aus gelbbraunem Pergament neben seinen Arzneien und Heilmitteln in seiner Apotheke. Zwischen übelriechenden Tinkturen, Marzipan, Zucker und einigen Gewürzen hatte auch dieses sorgfältig in Leder gebundene Bändchen seinen Platz gehabt. Erbauung für die Seele, den Geist und den Körper, das alles diente der Gesundheit, so hatte der geschäftstüchtige Mönch ihr erklärt und es daher auch als völlig selbstverständlich angesehen, diese Dinge zusammen anzubieten. „Die Heilmittel für die Reichen finanzieren diejenigen für die Armen“, hatte Johanna Bruder Emmerharts Worte noch im Ohr. „Ihr braucht also kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn Ihr so ein Buch kauft, denn für eine einzige Abschrift dieser Gebete und Psalmen verlange ich einen Preis, von dem ich Wundsalben für ganz Lübeck und jeden Bauern in Holstein und Lauenburg mischen könnte!“

Johanna musste gerade jetzt daran denken, da sich doch nun immer sicherer herauskristallisierte, dass sich ihr Ordensgelübde länger verzögern würde, als sie gedacht hatte. Der Hansetag, eine über Wochen andauernde Veranstaltung, war für den Herbst in Köln angesetzt. Gesandte aus allen Hansestädten und dem mit der Hanse verbündeten deutschen Orden würden dort erscheinen. Johanna wusste natürlich, wie wichtig es für ihren Vater war, dass sie ihn begleitete und unterstützte – gerade jetzt, da es um so viel ging. Und danach, dachte sie. Wird es sich danach ändern?

„Du bist noch auf?“, fragte Moritz von Dören seine Tochter.

„Ich finde keinen Schlaf, Vater.“

„Und was raubt ihn dir, Johanna?“

„Meine Gedanken kreisen immer wieder um dieselbe Frage. Kann man ein Versprechen, das man dem Herrn gegeben hat, so einfach brechen?“

„Du brichst dein Versprechen nicht, wenn du es im nächsten Jahr erfüllst, Johanna.“

„Meinst du wirklich?“

„Ich bin kein Priester und bin ganz sicher auch nicht gelehrt genug, um dir solche Fragen erschöpfend beantworten zu können. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Vater im Himmel in dieser Hinsicht derart kleinmütig ist, dass er es dir nicht verzeihen könnte.“

„Wenn du das sagst, beruhigt mich das“, antwortete Johanna.

„Ich weiß das Geschenk, das dein Leben für mich ist, sehr wohl zu würdigen und danke Gott jeden Tag dafür, dass er dich die Pestilenz hat besiegen lassen. Aber ich glaube nicht, dass Gott dafür verlangt, dass du ihm sein Leben widmest.“

„Aber ...“

„Das, meine Tochter, verlangt er nur von denen, die dazu die Berufung spüren – und ob das bei dir der Fall ist, kannst nur du allein wissen. Niemand sonst.“

Viertes Kapitel: Eine schicksalhafte Begegnung

Zu Köln – Wochen später ...

Die Hammerschläge der Steinmetze mischten sich mit dem Gemurmel der Betenden. Seit mehr als einem Jahrhundert wurde am Dom zu Köln bereits gearbeitet. Eigentlich hatten die neu errichteten Teile dieses bereits in seiner noch unvollendeten Gestalt gewaltigen Gotteshauses nach und nach den alten Dom ersetzen sollen, der für den Ansturm der Pilger einfach nicht mehr ausgereicht hatte. Doch ein verheerendes Feuer war Schuld daran, dass davon nichts mehr erhalten war und der Bau zügiger vorangetrieben worden war und man immer darauf geachtet hatte, dass trotz aller Bautätigkeit die Feier der heiligen Messe möglich blieb.

Johanna schmerzten die Knie. Schon viel zu lange verharrte sie in dieser wenig komfortablen Haltung, völlig auf ihr Gebet konzentriert, sodass sie zeitweilig das Gefühl für ihren Körper vollkommen verloren hatte. Die schwach gewordene Herbstsonne schien durch die vierundzwanzig  Fenster des Oberchores. Vierundzwanzig Könige waren in diesen Fenstern dargestellt – allesamt bärtig. Die vierundzwanzig Ältesten der Apokalypse. Darüber hinaus gab es zwölf weitere Fenster, in denen ebenfalls Könige dargestellt waren – allesamt ohne Bart.

Das waren die zwölf Könige von Juda, die als Vorgänger Jesu galten.

Sie alle gemahnten an die Endlichkeit von Macht, Reichtum und allen irdischen Dingen. Ja, sogar an die Endlichkeit der Zeit selbst.

Seit zwei Wochen weilte Johanna nun schon in Köln und unterstützte ihren Vater nach Kräften in schriftlichen Dingen. Und davon fiel während der Beratungen des Hansetages reichlich an. Immer wieder mussten Briefe an einzelne Gesandte verfasst und mit Formulierungsvorschlägen für die schließlich zu treffenden Abmachungen unter den höchst ungleichen Teilnehmern aufgesetzt werden. Es hatte sich schon deutlich gezeigt, dass die Interessen sehr unterschiedlich waren, für Lübeck, Stralsund, Danzig und den deutschen Orden war die Expansion des dänischen Königs eine akute, lebensbedrohliche Gefahr. Bremen, Hamburg, die westlichen Hansestädte waren weit weniger davon betroffen. Aber Bürgermeister Brun Warendorp hatte unter den lübischen Gesandten die Devise ausgegeben, dass die Koalition gegen Waldemar möglichst breit sein musste und man unbedingt auch Münster und die niederländischen Städte zur Unterstützung gewinnen musste.

Am Rande der großen Verhandlungen waren es die vielen kleinen Zusammenkünfte, die schließlich die Standpunkte einander annäherten.

Noch waren gar nicht alle Delegierten des Hansetages eingetroffen. Allein dies zog sich über Wochen hin, denn die Anfahrtswege waren sehr unterschiedlich beschwerlich. Unter jenen, die bislang noch nicht nach Köln gefunden hatten, war auch Pieter van Brugsma der Jüngere, der hier in Köln mit Grete von Dören vermählt werden sollte. Auch um die Vorbereitungen dieses Festes hatte Johanna sich mit zu kümmern. Da auf dem Hansetag ohnehin viele Mitglieder beider Familien abwesend sein würden, bot sich hier eine einmalige und günstige Gelegenheit für ein solches Fest.

Trotz aller Geschäftigkeit ließ es sich Johanna jedoch nicht nehmen, mindestens einmal am Tag in den Dom zu gehen, um zu beten. Manchmal suchte sie auch eine der kleineren Kapellen und Kirchen der Stadt auf, aber der Dom war ihr am liebsten.

Die Glocke schlug und schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Und zudem zeigte sie ihr die Zeit. Es fand heute noch eine große Vollversammlung der Städtevertreter im großen Saal des Rathauses zu Köln statt und ihr Vater hatte sie gebeten, unbedingt dabei zu sein, um mitzuschreiben, was gesagt und beschlossen wurde. Es war wichtig, dass, abgesehen von den offiziell bestellten Schreibern, jede Seite auch ihre eigenen Protokolle anfertigte.

So erhob sie sich und machte nur ein paar Schritte, als ihr ein Schatten auffiel. Im nächsten Moment prallte sie gegen etwas Hartes, Metallisches. Ein Harnisch, erkannte sie sofort. Dicht vor ihr stand ein Mann in den Kleidern eines Edelmanns. Harnisch, Wams, Mantel, hohe Stiefel, ein Schwert an der Seite, dessen Lederscheide kunstvoll verziert war. Zwei blaue Augen sahen sie an. Der Bart war der eines Mannes, der einige Zeit auf Reisen gewesen war und keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn zu scheren. Das Haar war blond und dicht, die Augenbrauen so hell, dass man sie wohl kaum gesehen hätte, wäre sein Gesicht nicht von der Sonne gebräunt gewesen.

„Entschuldigt ...”, murmelte sie.

„Es gibt nichts zu entschuldigen, da nichts geschehen ist”, sagte der Mann. Sein Niederdeutsch hatte einen eigenartigen Akzent, wie Johanna ihn bereits hin und wieder gehört hatte, wenn Gäste aus Dänemark oder Schweden im Haus ihres Vaters zu Besuch gewesen waren. Der Mann lächelte auf eine Weise, die Johanna unwillkürlich erröten ließ. „Ich hoffe, Euch ist nichts passiert“, sagte er und schlug mit der Faust gegen seinen Harnisch. „Wie Ihr ja hört und wie ich vermute auch zu spüren bekommen habt, bin ich im Gegensatz zu Euch gut geschützt.“

„Der Herr ist mein Schild“, sagte sie.

„Ein hübsches Wort – gesprochen von hübschen Lippen.“

„Nicht nur ein Wort, fremder Herr.“

„So?“

„Gott verschonte mich als Kind vor der Pest – warum sollte ich annehmen, dass mir ein rempelnder Waffenknecht gefährlich werden könnte.“

Ihre Unterhaltung währte bereits zu lang und war trotz des Hämmerns und der anderen Baustellengeräusche, die immer wieder unüberhörbar die Stimmen der Betenden übertönten, einem Pater des Domkapitels aufgefallen. Ein grauhaariger Mann mit falkenhaften Augen, deren stechendem Blick nichts zu entgehen schien.

„Ich glaube, Ihr habt die Aufmerksamkeit der Geistlichkeit erregt“, sagte der Edelmann, bei dem sich Johanna inzwischen ganz sicher war, dass er skandinavischer Herkunft war.

„Das ist Pater Martinus vom Domkapitel – und ehrlich gesagt, glaube ich eher, dass Ihr seine Aufmerksamkeit erregt habt ...“

„Frederik.“

„Wie?“

„Mein Name. Ich bin Frederik von Blekinge. Und wie darf ich Euch nennen?“

„Wer sagt Euch, dass ich mich länger mit Euch unterhalten möchte, Frederik von Blekinge“, erwiderte Johanna und sie versuchte dabei, ihre Stimme kühl und abweisend klingen zu lassen. Aus irgendeinem Grund misslang ihr das gründlich. Sie nickte Pater Martinus zu, mit dem sie sich an einem der vergangenen Tage etwas ausführlicher über die Bedeutung der Fensterbilder unterhalten hatte. Ein geistvoller Gesprächspartner, belesen und gebildet wie sie es selbst werden wollte, sobald sie ihr Gelübde abgelegt und in einer klösterlichen Gemeinschaft Aufnahme gefunden hatte.

Johanna beschleunigte ihren Schritt. Harte Schläge drangen an ihr Ohr. Der Stahl eines Fäustlings traf auf einen Meißel und das Geräusch, das dabei entstand, war so durchdringend, dass es für ein paar Augenblicke unmöglich war, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Johanna drehte sich nicht um. Erst als sie das Hauptschiff des Doms bereits verlassen hatte, holte Frederik von Blekinge sie ein.

„Wartet, schöne Unbekannte. Ihr sollt wissen, dass ich Euch nicht in Eurer Andacht stören wollte.“

„Das habt Ihr auch nicht. Vielmehr habe ich Euch durch meine Unachtsamkeit angerempelt und Euch gestört. Allerdings ...“ Johanna blieb stehen und musterte ihn von oben bis unten. Der Klang seiner Stimme löste irgendetwas in ihr aus, das sie im Moment nicht näher hätte beschreiben können. Ein Gefühl, das ihr unbekannt war und sie vielleicht gerade deswegen auch ängstigte. Die Gedanken rasten in diesem Moment nur so durch ihren Kopf.

„Allerdings was?”, fragte er.

„Ihr hattet doch sicherlich vor, Euch Eurer eigenen Andacht zu widmen. Ich weiß nicht, was Euch jetzt davon abgehalten haben mag, aber ich will nicht der Grund dafür sein.”

„Meine Andacht kann warten und davon abgesehen, war ich hier, weil ich von den Fensterbildern der Könige gehört habe ... Bei uns in Blekinge gibt es so etwas nicht.”

„Blekinge? Liegt das nicht in Schonen?“, bemerkte Johanna und sie wusste in diesem Augenblick selbst nicht, warum sie überhaupt noch ein Wort mit ihm sprach. Aber irgendetwas an ihm zog sie auf eine Weise an, die sie nicht zu erklären vermochte. Vielleicht war es der Klang seiner angenehm tief klingenden Stimme, vielleicht die Besonderheit seines Akzents – oder der intensive Blick seiner Augen ... Sie war viel zu verwirrt, um das genauer ergründen zu können.

„Blekinge ist eine eigene Provinz – aber für Leute von außerhalb gehört es oft zu Schonen, da beide seit langem gemeinsam regiert werden.“

„Das wusste ich nicht.“

„Die meisten haben sowieso noch nie etwas von den beiden Ländern gehört. Aber seit König Waldemar sie beide gewaltsam seinem Reich zugefügt hat, interessiert man sich anscheinend auch andernorts für die Küste am Öresund.“

„So seid Ihr wegen der Beratungen des Hansetages hier in Köln?“

Frederik von Blekinge lächelte. „Wer nicht?“, fragte er. „Die Stadt ist voll von Delegierten aus aller Herren Städte. Auf dem Marktplatz von Helsingborg hört man jedenfalls nicht einmal halb so viele Sprachen, da bin ich mir sicher. Und ein Gasthaus zu finden, ist fast unmöglich. Das Siegel des schwedischen Königs macht hier anscheinend auf niemanden Eindruck und so werde ich die nächsten Nächte wohl in einem Pferdestall schlafen.“ Er zuckte die Schultern. „Aber es gibt wahrlich Schlimmeres.“

Inzwischen hatten sie den Dom verlassen und waren ins Freie getreten. Bettler umringten sie. Lahme, Blinde, Verkrüppelte und in Lumpen gehüllte Gestalten, die vor einem Gotteshaus am ehesten auf die Barmherzigkeit der Menschen hofften. Ein Fuhrwerk, beladen mit so gewaltigen Steinbrocken, dass die Ochsen es kaum zu ziehen vermochten und von hinten noch ein halbes Dutzend kräftiger Männer schieben musste, quälte sich über den Vorplatz des Doms.

Einige Begleiter dieses Transports scheuchten die Bettler fort. „Aus dem Weg mit euch!” Etwa zwanzig Schritt entfernt wurden Steine behauen oder zersägt. Gleich daneben loderten Schmiedefeuer und Drahtzieher gingen ihrer anstrengenden Arbeit nach – oder ließen den Hauptteil davon gleich von Ochsen oder Eseln verrichten. Immer wieder musste der möglichst dünn geschmiedete Stahl zwischen harten Flintsteinen hindurchgezogen und geschält werden, bis sie so dünn waren, dass man die Ringe daraus biegen konnte, aus denen Kettenhemden gemacht wurden. Aber hier dienten die Drähte einem anderen Zweck. Man zersägte mit ihrer Hilfe große Seine und erhielt Blöcke mit geraden Kanten, die sich problemlos vermauern ließen. Die Laute der Esel, die diese über den Stein geführten Drahtseile immer wieder vor und zurück ziehen mussten, mischte sich mit den lauten Rufen der Vorarbeiter und den Hammerschlägen der Steinmetze, die die Feinarbeit zu machen hatten. Der Geruch von Mörtel hing in der Luft.

„Ich bin Johanna von Dören, Tochter des Moritz von Dören, der zu den Gesandten aus Lübeck gehört”, sagte Johanna, denn auf einmal interessierte es sie etwas genauer, mit wem sie da im Dom zusammengestoßen war. Aber ihr war auch klar, dass sie wohl kaum erwarten konnte, noch etwas zu erfahren, wenn sie nicht auch selbst etwas preisgab.

„Von Dören? Der Name kommt mir bekannt vor. Habt Ihr nicht auch in Helsingborg eine Niederlassung betrieben? Allerdings ist es schon ein paar Jahre her, dass ich dort war ...”

„Es gibt ein Kontor der Schonenfahrer in Helsingborg und mein Vater ist der Ältermann der Schonenfahrer-Bruderschaft.”

„Insofern ist es also durchaus möglich, dass ich den Namen Eurer Familie schon gehört habe”, fühlte sich Frederik von Blekinge bestätigt. „Ich selbst kann mich leider nicht mehr an der Öresund-Küste blicken lassen, seit König Waldemar den ganzen Landstrich an sich gerissen hat. Die Besitzungen unserer Familie wurden eingezogen und der dänischen Krone übereignet. Mein älterer Bruder fiel im Kampf mit den Dänen ...” Er seufzte und zum ersten Mal wirkte der sonst so intensive Blick seiner blauen Augen nicht durchdringend, sondern eher in sich gekehrt. „Immerhin ist es gelungen, das Gehör des schwedischen Königs zu finden, dem unser Geschlecht immer treu gedient hat.“

„Nun, vielleicht wendet sich hier in Köln Euer Geschick ja zum Guten, falls das große Bündnis gegen Waldemar zustande kommen sollte.“

Frederik wog den Kopf zur Seite und wirkte, was diesen Punkt betraf, äußerst skeptisch. „Das wäre beinahe mehr, als ich zu hoffen wage. Auf jeden Fall wird es mein König mit Sicherheit nicht noch einmal wagen, sich mit Waldemar anzulegen. Es sei denn, er findet so mächtige Verbündete, dass er damit rechnen kann, diesmal auf der Seite der Gewinner aus dem Krieg hervorzugehen.“

„Niemand will etwas einsetzen, alle wollen etwas gewinnen“, sagte Johanna. „Und jeder versucht, den anderen auszunutzen, wie er kann.“

„So ist die Hanse eben“, lachte Frederik. „Ein Haufen von Krämern und Händlern.“