Die Kinderwüste - Stefan Schulz - E-Book

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Stefan Schulz

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Beschreibung

Die Anforderungen an die Familie sind immens: Eltern sollen sich um Erziehung und Bildung kümmern, ihre Arbeitskraft in den Dienst der Wirtschaft stellen und für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen. Gleichzeitig werden Familien von der Politik vernachlässigt und hintangestellt. Kein Wunder, dass immer mehr Ehen geschieden, immer weniger Kinder geboren werden. Warum misst die Politik Familien nicht denselben Stellwert zu wie Wirtschaftsunternehmen? Der Soziologe und Podcaster Stefan Schulz macht nicht nur die frappierende aktuelle Situation deutlich, sondern zeigt auch, dass wir unsere Zukunft gefährden, wenn wir die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft nicht endlich grundlegend neu definieren.

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Seitenzahl: 188

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stefan Schulz

Die Kinderwüste

Wie die Politik Familien im Stich lässt

Schafft das Familienministerium ab – zur Einstimmung

Das Familienministerium macht Wirtschaftspolitik für Arbeitgeber und Vermieter. Wir brauchen aber Familienpolitik für Eltern und ihre Kinder.

Im ersten Corona-Winter 2020 wurde in Deutschland einiges neu sortiert, in der politischen Realität und im politischen Denken. Die Gesundheitsämter waren mit dem Virus beschäftigt und die Finanzämter mit den Nothilfen der Regierungen. Nach dem Auftrag, Home-Office und Home-Schooling gleichzeitig absolvieren zu müssen, dachte offenbar auch eine Mutter in Baden-Württemberg neu über ihre Situation nach. Sie meldete ihre Familie als Gewerbe an. »Aufzucht und Pflege von Säugetieren« sollte ihr einen Steuervorteil verschaffen. In der Meldung der dpa dazu ist gleich zu Beginn von »Schwindel« die Rede. Die Polizei Heilbronn habe nämlich mitgeteilt, dass sich Experten der Arbeitsgruppe für Umwelt und Gewerbe die Tiere ansehen wollten und Kinder vorfanden. Steuervorteile gibt es hierzulande aber nur für Menschen, die Unternehmen gründen, Ehepartner heiraten oder so viel Geld haben, dass sich der Kauf von Steuersparmodellen lohnt. Tenor der kurzen Meldung: Weiß doch jeder, Kinder sind kein Gewerbe!

»Kinder sind kein Gewerbe!« lautete wenige Jahre später eine Überschrift der Berliner Zeitung. Was so »selbstverständlich« klinge, kommentierte ein Redakteur, gelte ausgerechnet im Mietrecht nicht. »Berlins ältester Kinderladen« ist, wonach es klingt – ein Gewerbe. Mögen Kinder nämlich kein Gewerbe sein; Kitas sind es. Weshalb die Räume 2024 nach 52 Jahren geräumt werden sollten. Weil der Vermieter es wollte.[1] Dazu die scharfen Worte: »Es ist eine Schande, dass uns unsere Kinder so egal sind (…) Kinder und mit ihnen die Kitas gehen uns alle an. Die Politik weiß das längst und hat doch keine Lösung.« Lösung für was? Probleme, die kaum einer hat? Selbst in ehelichen Privathaushalten leben heute mehrheitlich keine Kinder mehr. Wie sollte man da die Politik für Kinder in freier Wildbahn interessieren?

Staat und Familie: Haushalt ist nicht gleich Haushalt

Dunja Hayali zeigte ein paar Monate später im heute journal, wie weit sich die Missverständnisse beim Thema Familie und Kinder, Politik und Staat heute treiben lassen: »Schönen guten Abend. Jeder, der einen Haushalt führt, weiß, dass es manchmal gar nicht so leicht ist. Sollte man nur das ausgeben, was man hat, oder lohnt es sich auch, ab und an Schulden zu machen, wenn man denn in etwas investiert, was sich am Ende auszahlen könnte? Vor dieser Frage stehen Regierungen immer wieder.«[2]

Vor dieser Frage stand tatsächlich die Mutter in Möckmühl, die einen Haushalt führt und sich für ihre Care-Arbeit ein paar Euro Werbungskosten von der Einkommenssteuer erstatten lassen wollte, statt Schulden zu machen. Nur galt bei ihr ja nicht die Realität des Fernsehens, sondern die der Behörden: Sie hat weder Finanzkasse noch Zentralbank. Sie kann sich nicht Geld beschaffen, indem sie über ihre oder andere Einkommensströme, über Kreditkonditionen selbst entscheidet. Wir wissen nicht, welchen Beruf sie hat. Vermutlich ist sie keine Parlamentarierin, kann also auch nicht ihr Budget einfach erhöhen. Wahrscheinlich sieht ihr Arbeitgeber auch kein extra Sitzungsgeld für bloße Anwesenheit vor. Politische Haushaltsführung und private Haushaltsführung, das klingt ziemlich ähnlich. Dazwischen liegen aber Welten. Politik hier, Familie da.

Dass wir in Deutschland ein »Familienministerium« haben, das so tut, als gäbe es noch eine Verbindung zwischen Staatshaushalt und privater Haushaltsführung, ist der eigentliche Schwindel. Ja, in Berlin und Bonn arbeiten rund 900 Leute mit staatlichem Auftrag daran, rund 13 Milliarden Euro auszugeben. Das ist aber rasch erklärt: Mehr als 10 Milliarden Euro fließen in Elterngeld, Kindergeld und Kinderzuschläge. Damit werden Arbeitgeber finanziell entlastet, die Einkommen von Vermietern garantiert und dafür gesorgt, dass Konsumenten nicht ins Bodenlose fallen, wenn sie morgens nicht mehr auf Arbeit erscheinen, weil sie mal wieder mit der Schnupfnase des nächsten Arbeitnehmerjahrgangs beschäftigt sind. All das ist keine Familien-, sondern Wirtschaftspolitik. Wenn Ökonomen wortreich vom Unterschied zwischen Sozial- und Lohnpolitik erzählen, erklärt uns das nichts. Dass Kinderzimmer nach Quadratmetern berechnete Wohnflächen vergrößern, sie also teurer machen, ist ein Automatismus. Dass Kinder für ihre Quadratmeter kein eigenes Erwerbseinkommen beisteuern, ist eine moderne Selbstverständlichkeit. Kindergeld ist Vermietergeld. Die politische Gestaltung von Familie beginnt, wenn überhaupt, beim »Kinder- und Jugendplan«, einem zentralen Förderinstrument der Bundesregierung. Das kostet den Staat rund 240 Millionen Euro, grob gerundet also nichts.

Warum machen wir uns nicht so ehrlich wie die Amerikaner? Dort ist Familienpolitik dem Department of Health and Human Services untergliedert. Man muss demnach schon eine Diagnose oder anderen Bedarf vorweisen, wenn man als Familie etwas vom Staat einfordern möchte. Die Normalfälle werden politisch ignoriert.

Aber selbst in Amerika, das familienpolitisch derzeit enorme Rückschritte macht, bewegte sich zwischenzeitlich etwas. Im Sommer 2024 hat der Chef der obersten Gesundheitsbehörde, Vivek H. Murthy, der als »General Surgeon« mehrere Tausend uniformierte Ärzte im ganzen Land unterhält, alle bisherigen ausgefeilten Differenzierungen aufgehoben: Das Elternsein selbst wurde in seinem »Surgeon General’s Advisory« zum allgemeinen Gesundheitsnotstand ausgerufen.[3] Kinder zu haben, wurde damit zur Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit. Auf Dutzenden Seiten lässt sich nachlesen, was in der gesamten westlichen Welt zum Problem geworden ist. Die Politik verliert die Kinder aus dem Blick, mit ihnen die Familien und damit alle Fragen, die unsere privaten und intimen Sphären betreffen. Der Teil unserer Lebenswelt, in dem wir uns am häufigsten und am liebsten aufhalten, ist von der politischen Landkarte verschwunden.

Auch hierzulande werden Kinder und Familien allenfalls noch als Störung in den ohnehin zunehmend holprigen Betriebsabläufen wahrgenommen. In Deutschland, liest man in der Zeitung, stellten fürs vergangene Jahr laut »Statistischem Bundesamt die Jugendämter bei mindestens 63700 Kindern oder Jugendlichen eine Gefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest. Das waren mindestens 1400 Fälle mehr als 2022.«[4] Das Muster dieser journalistischen Aufarbeitung ist selbst schon auffällig. Diesen Problemen geht nämlich niemand auf den Grund. Der Text fragt sogar danach, warum viele Nachbarn, Freunde und Lehrer wegschauen. Nach den ebenso abgewandten Journalisten fragt er nicht. Wir erfahren die Zahlen, weil sie veröffentlicht werden und so zumindest an einem Tag im Jahr die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie durch Agenturmeldungen aufgegriffen werden. Wlada Kolosowa ergänzt sie in der Zeit mit einem weiteren Hinweis: »Der tatsächliche Zuwachs wird sogar auf 5000 Fälle geschätzt, da einige Jugendämter wegen IT-Problemen und Überlastung keine Daten übertragen konnten.« Die Kinder haben Probleme, die Behörden haben Probleme; Nachbarn, Journalisten und Politiker schauen weg. Das ist die aktuelle deutsche »Familienpolitik«.

Wir brauchen also neues politisches Denken! Der Mutter von Möckmühl ist nicht Schwindel zu unterstellen, sondern Selbstverteidigung. Sie hatte eine plausible Idee, die leider inkompatibel war mit der Funktionsweise von Politik und Verwaltung. Sie legte es drauf an, und es galt als Betrug. Noch so gute politische Ideen bleiben Ideen, wenn sie nicht zuerst parlamentarische Mehrheiten finden. Das nennt sich Politik. Für die einen ist es Staatskunst, für die anderen Handwerk mit dicken Brettern. In allen Fällen ist es kompliziert.

Familienpolitik nur für Milliardäre

Doch es gibt Vorgänge, die zeigen, dass es stattdessen auch sehr einfach gehen kann. Ein Beispiel: In Deutschland gibt es eine »Verschonungsbedarfsprüfung«, mit der sich Erben von Millionen- und Milliardenbeträgen beim Finanzamt von der Steuer befreien lassen können. Man braucht dafür lediglich ein paar Experten, die sich um die Details kümmern. Der Erbe darf im Moment der Erbschaft das Konto nicht so voll haben. Das Geld muss in Betriebsvermögen und anderes Anlagekapital verwandelt werden, damit Politiker davor warnen können, dass im Falle von Erbschaftssteuerzahlungen Betriebe und Investitionen – »Arbeitsplätze!« – gefährdet sind. In Deutschland ist es Tradition, Einkommen zu besteuern, aber niemals »Substanz«. So sinkt die Steuerlast für neun-, zehn-, elfstellige Vermögen beim Wandern durch die Generationen auf null.

Die Journalistin Julia Friedrichs sprach für ihr Buch Crazy Rich. Die geheime Welt der Superreichen darüber mit einem Betroffenen: »Hast du den Eindruck, dass das Gesetz extra so gebaut ist, dass man da legal an der Steuer vorbeischlüpfen kann?« – »Ja, so wie ich es verstanden habe und wie es mir erklärt wurde, war das gesamte Gesetz so geschrieben, dass in unserer Situation eine Steuerzahlung von fast Null rauskommt.««[5] Familienpolitik geht also doch! Sebastians Erbe – Einkommen! – wurde mit 0 Prozent besteuert. Ebenso gering ist damit auch dessen volkswirtschaftlicher Beitrag. Wir haben nichts davon.

Sollte man, statt es bei einer Agenturmeldung zu belassen, auch mit der Mutter von Möckmühl noch mal reden? Ausgehend von ihrem volkswirtschaftlichen Beitrag, ihre beiden Kinder durch 20 Jahre Sozialisation zum Arbeitsmarkt zu lotsen: Welche Gesetze könnte man schreiben, die »extra so gebaut« sind, sie zu unterstützen? Wie viele Ideen könnten wir aufzählen durch einfaches Nachdenken? Wie viele Gesetze könnten wir entwerfen, würden wir Experten mit dem Nachdenken beauftragen? Der Lobbyismus für die Verschonungsbedarfsprüfung von superreichen Familien hat wenige Millionen Euro gekostet, um den wenigen Familien, die sie anwenden können, etliche Milliarden Euro zu sparen. Die vielen anderen Familien gehen leer aus. Dabei rechnen Bundesministerien und das Statistische Bundesamt in Billionen Euro pro Jahr, wenn sie den volkswirtschaftlichen Beitrag familiärer Kindererziehung beziffern. Dieser bleibt unbeachtet und unbezahlt.

Interessant für uns ist auch, wann die Verschonungsbedarfsprüfung für Erbzahlungen ins Leben gerufen wurde. In Deutschland können wir uns der Legende nach mit wichtigen Problemen nicht beschäftigen, weil akute Katastrophen Vorrang haben. Die Reform der Erbschaftssteuer mit der neuen Verschonungsbedarfsprüfung wurde im Juni 2016 vom Bundestag verabschiedet – während der sogenannten »Flüchtlingswelle«, als sich das ganze Land am Abgrund sah und Finanzminister Wolfgang Schäuble zudem noch die »Schuldenbremse« scharfstellte.

Wenn also trotz guter Ausreden schlechte Familienpolitik möglich ist, wieso sollte dann nicht richtige Familienpolitik trotz schlechter Ausreden möglich sein? Ja, der Wirtschaft geht’s nicht gut. Sollten wir nicht gerade deswegen Investitionsprogramme mit zweistelliger Rendite starten? »Investitionsprogramme in Kindergärten und Ganztagsschulen« kommen »auf eine zwölfprozentige Rendite«, schreibt die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner. »Das ist hedgefonds-verdächtig, Aktien brachten seit den Fünfzigerjahren 8 Prozent.«[6]

Warum machen wir es nicht? Wegen der Großwetterlage und Geopolitik? Putin, China, dem Nahen Osten und Trump? Die innere und äußere Sicherheit hängt direkt an der Qualität unserer Kinder- und Klassenzimmer! Wenn man Männer im Krieg fragt, wofür sie kämpfen, zeigen sie auf die Fotos ihrer Frauen und Kinder. Zivilisatorisch ist es dann allerdings zu spät. Es gibt anthropologische Konstanten, die in ihrer Bedeutung jedes politische Gerede und alle Gewalt überdauern und uns im alltäglichen Gespräch trotzdem so wenig wert sind. Familie zum Beispiel. Warum quälen wir uns so? Wir brauchen ein neues Nachdenken über Familien als wichtigen, wenn nicht wichtigsten Teil der modernen Gesellschaft, dessen Ausfall wir derzeit viel zu teuer bezahlen.

I Die Schieflage

»Dass wir in Deutschland ein ›Familienministerium‹ haben, das so tut, als gäbe es noch eine Verbindung zwischen Staatshaushalt und privater Haushaltsführung, ist der eigentliche Schwindel.«

1. Die zwei Fragen der Energieversorgung

Die Mutter-Vater-Kind-Kernfamilie ist eine Erfindung des Kohlezeitalters. Aus diesem steigen wir gerade aus. Warum ist die Familie des Fabrikarbeiters immer noch unser Ideal?

Tränen, Emotionen, Abschied. Verneigungen vor Lebensleistung. Der Bundespräsident ist da, die Ministerpräsidentin weint. Hannelore Kraft ist eine der sehr wenigen Frauen vor Ort. Es ist ein festlicher, aber trauriger Anlass. Von außen so wenig zu verstehen wie Karneval. Männer mit schwarzen Gesichtern kommen von der letzten Schicht aus dem Stollen. Sie steigen aus ihrem stählernen Fahrstuhl, gehen wenige Schritte auf die vorbereitete Bühne und singen das »Steigerlied«. Anwesende Journalisten zitieren in Livetickern aus den Gebeten: »Wahre Freundschaft«, »Familiengeschichte!«, »sechste Generation«, »Erinnerung an meinen Vater«.[7] Den ganzen Tag schon erinnert man sich an die vergangene Zeit und verspricht sich eine gemeinsame Zukunft. Sie wird es nicht geben, deshalb ja die Feier. Der Anlass ist Abschied. Alle Reden sind Erinnerungen.

Dann ist der Festakt zu Ende. Überliefert wird Steinmeiers Würdigung des Wortes »Kumpel« und seine Geste, wie er das letzte Stück Kohle entgegennimmt. So stieg Deutschland aus dem Steinkohlebergbau aus. Es wird noch nach Braunkohle gebaggert. Aber das kameradschaftliche Leben und Arbeiten unter Tage endete im Dezember 2018. Drei Tage später war Heiligabend, traditionell ein Familienfest und damit erste Bewährungsprobe, wie viel Gemeinschaft ohne den politischen und unternehmerischen Rückhalt blieb.

Die Politik und die Gemeinschaft, für die Politiker arbeiten, stehen in einem merkwürdigen Verhältnis zueinander. Das Lokale und Soziale fallen schnell aus dem Blick der Politik, wenn der Anlass fehlt. Im Ruhrgebiet war es ein historischer Automatismus, eine vermeintlich selbstverständliche Verkettung: Das Land brauchte Energie, also Kohle, also Gruben und Arbeiter unter Tage und jemanden, der täglich ihre schwarzen Arbeitsklamotten wieder sauber kriegt, Ehefrauen. Und so redet der Bundespräsident beim Festakt über die »unbesungenen Heldinnen, an die wir heute mit Dankbarkeit erinnern«.[8]

Als im Ruhrgebiet die Kohlearbeit endete, drehte sich im politischen Begleitprogramm fast alles um das Land, die Energie und die Wirtschaft. Die geschriebenen Erinnerungen aus der Region ähnelten dagegen den Reden vom Abschiedstag. Es drehte sich alles um Familiengeschichten. In manchen wurden die Gruben und ihre Kohle selbst zum Teil der Familien. In dem 2018 erschienenen Sammelband Machet gut, Schwatte!, mit Texten zum Abschied von der Kohle, heißt es im Klappentext: »Dies ist ein Buch mit Geschichten über eine gute Freundin, die einen ein Leben lang begleitet hat. Als Wärmespenderin im heimischen Wohnzimmer oder als Haufen vor der Tür.«[9] Der Kohleausstieg war viel mehr als nur die Abkehr von einer Energiequelle. Zumindest für die Betroffenen.

Die Politik dagegen kennt das Soziale nur in Sonntagsreden und schaltete schnell wieder auf die Sachebene um: Darf man aus einer Technologie aussteigen, ohne in eine andere einzusteigen? Auf keinen Fall! Auf die Diskussionen zur Kohle folgte die immer gleiche Diskussion zur Kernkraft. Atomausstieg, Ausstieg vom Ausstieg, Kernfusion? So geht es schon Jahrzehnte. Wer heute »Ausstieg« sagt, fügt im nächsten Halbsatz den »Ausbau« an. Der Wohlstand braucht neue Energie, von neuer Technologie mit neuer sozialer Begleitmusik. Finanzminister Christian Lindner nannte sie seinerzeit im Bundestag beispielsweise »Freiheitstechnologien«. Das ist, im Vergleich zur Kameradschaft, schon sehr hochgestapelt. Wie wir das Land mit Energie und Wärme versorgen, sind immer konfliktträchtige, soziale Fragen – allerdings ganz weit weg vom Alltag der meisten Menschen. Zuletzt ging es um Kanzlertauglichkeit und Kriegsbereitschaft. Wir debattieren »Habecks Heizhammer« und Söders nicht vorhandene Windräder oder verkoppeln Diskussionen zur nicht mehr gewünschten Gaslieferung aus Russland mit der alten Wehrpflicht oder neuen Diensten und Kürzungen im Bundeshaushalt, die uns alle betreffen.

Der politische Journalismus sucht in seinen ständig neuen Themen immer die alten Muster. Die materielle Politik, die Fakten schafft, wird flankiert von einem human interest; einer ideellen Politik, die auf Gefühlshaushalte und Gemütszustände zielt. Über deren latente Sinnstrukturen, über immanente, implizite, indirekte Zusammenhänge wird, das sagen schon diese Worte, nicht geredet. Wir wollen sie trotzdem ansprechen. Folgen Sie mir bei einem Gedanken: Wenn im Januar eines Jahres ein politischer Streit über Heizungen entsteht und sechs Monate später Marion Horn, die Chefredakteurin der Bild, die diesen Zoff forcierte, über ihre Redaktion sagt: »Wir haben hier verdammt noch mal niemanden, der weiß, wie so eine Wärmepumpe funktioniert«[10], gilt dasselbe auch für ihr Wissen über die privaten Haushalte, für die diese Heizungen gedacht sind. Marion Horn ließ ihre Journalisten ein halbes Jahr biographische Schicksalsfragen von Politikern inszenieren. Von den Heizungen hatte sie so wenig Ahnung wie von den erhitzten Gemütern ihrer Leserschaft.

Wenn Politiker von Familie reden

Ausgeblendet blieb, worum es eigentlich geht. Wie würde es klingen, würden wir das Wichtige und Verborgene in der Bild oder tagesschau diskutieren? Sätze, die wir alle kennen, nur mit anderen Substantiven. Statt Kohlebergbau, Autoindustrie und Wärmepumpe ließe sich auch über Familie, Feierabend und Schulzeugnisse berichten. Politische Berichterstattung auf der Höhe der dramatischen Zeit könnte so klingen:

Ende einer Ära: Deutschland hat den Ausstieg aus der Kernfamilie beschlossen. Ohne Zeremonie, Gesang oder Grußworte gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass »im Jahr 2023 (…) die Geburtenzahl um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr« sank.[11] »Bereits 2022 war die Geburtenziffer im Vorjahresvergleich um 8 Prozent gesunken.«[12] »Im ersten Quartal 2024 sank die Anzahl neuer Kinder im Jahresvergleich um weitere 4,4 Prozent.« Der Bundespräsident war nicht anwesend. Mitglieder der Bundesregierung wurden angefragt, standen für Wortspenden aber nicht zur Verfügung.

Die tatsächlichen Nachrichten sahen am 2. Mai 2024 nicht so aus. Ein Moderator, die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts und ein Taschenrechner hätten für ausreichend Nervenkitzel sorgen können. Chance vertan. Dabei hätte man gleich die weiteren Bögen schlagen können. Am selben Tag stand es nicht nur um unsere sozialen Ressourcen schlecht. Auch der ökologische Erdüberlastungstag lag hierzulande 2024 auf dem 2. Mai, so früh wie nie zuvor.

Es gibt bei uns leider nur langweilige oder satirische Nachrichtensendungen. Mit ein wenig redaktionellem Geschick hätte man die Frage klären können, ob wir zuerst den Planeten zerstören und dann aussterben, oder – Hoffnung stiftend – nach der Klimakatastrophe noch jemand übrig bleibt. Maybrit Illner diskutierte an dem Abend die »Blockierte Republik – verhindert die Ampel den Aufschwung?«. Sie lud zwei Vorsitzende von Regierungsparteien (Christian Lindner und Ricarda Lang) und einen Generalsekretär der Opposition (Carsten Linnemann) ein und eröffnete ihre Sendung so: »Gerade meldet die OECD, dass die Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland wieder sinkt – auf 0,2 Prozent. Und damit halten wir die Laterne bei der Übersicht der wichtigsten Industrienationen der Welt. Und die logische Frage ist, was müsste geschehen?« Es ging dann um Robert Habecks Forderung nach einem »wuchtigen Entlastungspaket für Unternehmen« und Kevin Kühnerts Beschwerden, Christian Lindner beschimpfe die Wähler zu viel. Es war die typische Besprechung eines Spieltags der politischen Bundesliga. Man stritt um politische Kennziffern, aber entschied sich für die 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum statt für die 6,2 Prozent weniger Kinder, die das Statistische Bundesamt am Morgen veröffentlichte. Es gibt Erklärungen dafür, aber keine klugen.

Markus Lanz sprach anschließend über Russland nach dem Tod von Alexej Nawalny. Dass von außen betrachtet das Schicksal eines Landes mit dem Schicksal einer Person zusammenfällt, entspricht den Sehgewohnheiten im politischen Journalismus. Lanz verwob die nicht zusammengehörenden Konzepte sogar noch enger. Er stellte die Osteuropa-Expertin Sabine Adler als Gast im Studio vor. In ihrem Buch »zitiert sie Dmitri Gluchowski, der ebenfalls hier mal zu Gast war, der sagt, die Russen betrachten ihren Staat mittlerweile wie ihren eigenen betrunkenen Vater, der aggressiv ist und dem man am besten aus dem Weg geht, zu dem man aber auch fasziniert aufschaut. Herzlich willkommen, Sabine Adler, freue mich sehr.«

Eben schrieb ich noch, dem politischen Betrieb sei das Soziale und insbesondere die Familie fremd. Jetzt stellen wir fest, dass die Bundesregierung wie ein Familiendrama mit Aussprache am runden Tisch im Abendfernsehen inszeniert wird und zur Plausibilisierung von politischen Schicksalsfragen der Staat die Rolle eines Vaters spielt. Es ist verrückt und kompliziert. Wir haben im Grunde genommen zwei Probleme. Die Politik übersieht die tatsächlich existierenden Familien. Zusätzlich hat der Familienbegriff in der Politik aber immerwährende Konjunktur, als appellative Erklärungsfolie für fast alles: Streitet euch nicht! Haltet euren Haushalt in Ordnung! Denkt denn niemand an die Kinder? Seid nett zu Oma und Opa! Und helft den Nachbarn!

Die Familie ist eine übersehene und missverstandene Selbstverständlichkeit. Die Zahlen zu den Geburten verweisen auf einen schon Jahrzehnte überspannenden Trend, der sich gerade wieder verschärft. Dass diese Kennziffern aber publiziert werden, liegt wohl nur daran, dass sie leicht zu erheben sind. Die Geburt eines Kindes ist ein amtlicher Akt. Und auch wenn der staatliche Festakt ausbleibt, ein paar Faxe werden verschickt, archiviert und können durchgezählt werden. Das Statistische Bundesamt schlüsselt es auch interessant auf. »Die höchste Geburtenziffer mit 1,46 Kindern je Frau verzeichnete Bremen. Am niedrigsten war die Geburtenhäufigkeit in Berlin mit 1,17 Kindern je Frau.« Diese Werte sind historisch ohnehin, aber auch global nahezu einmalig. Hongkong, Seoul, Tokio verzeichnen schon Fertilitätsraten unter einem Kind pro Frau. Berlin, aber auch Madrid und Rom nähern sich dem Wert an. In den urbanen Zentren halbieren sich nahezu die Bevölkerungen von einer Generation zur nächsten.

Während man beim Bergbau betonte, wie wichtig die Kameradschaft und der soziale Gemütszustand sind, wissen wir über die sozialen Aspekte hinter den Geburtenzahlen eigentlich nichts. Die jungen Menschen ziehen in die Städte. Die Urbanisierung bleibt einer der deutlichsten Megatrends weltweit. Dort angekommen, verläuft das Leben aber in ganz anderen Bahnen, als wir es aus 300000 Jahren Geschichte des Homo sapiens kennen. Die Fragen, zu denen wir kaum tragfähige Kennziffern haben, die aber entscheidend für unseren Alltag und für dieses Buch ausschlaggebend sind, lauten: Liegt die Zahl an Kindern so niedrig, weil es keine Kinderwünsche mehr gibt? Oder topediert ein unsichtbares, aber großes Phänomen die Lebenspläne der jungen Menschen? Gibt es eine Diskrepanz, eine Kluft zwischen dem Leben, das wir tatsächlich führen, und dem Leben, das wir führen wollen?

Michael Nast fragte im Juli 2024 auf Instagram: »Ich bin 49 Jahre alt und habe keine Kinder, obwohl ich mir immer Kinder gewünscht habe. Also: Warum habe ich keine Kinder?«[13] Seit zehn Jahren stellt er sich und einem Millionenpublikum solche Fragen. Sein Buch Generation Beziehungsunfähig stand ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste, mehr als zwei Monate auf Platz eins. Er tourt unentwegt durch die großen Hallen. Stellt er sich heute die Frage nach seiner eigenen Lebensplanung vor Publikum, zieht er in gewisser Weise nicht nur für sich selbst Bilanz einer Entwicklung. Wäre er eine Frau, wäre es ihm kaum noch möglich, eigene Kinder zu gebären. Die Urteile in seinem Video wären für ihn final. Sein Fazit lautet: »Weil ich mich der Karriere gewidmet habe, um auch finanziell die perfekten Umstände für eine Familie zu schaffen. Ich habe immer wieder abgewogen, gezweifelt und abgewartet. Bis sich meine Bedenken verselbstständigten.«

Hat er falsch darüber nachgedacht? Er schlägt einen Bogen von seinem Denken zur politischen Realität: »Es ist ein gesellschaftliches Problem. Die Leute werden immer später Eltern. Die Geburtenrate ist auf den tiefsten Stand seit 15 Jahren gefallen. Aber Kinder sind das Wertvollste in einer Gesellschaft, denn sie formen unsere zukünftige Gesellschaft. So sollten wir sie aber auch behandeln – und ihre Eltern auch. Denn daran erkennt man die Qualität einer Gesellschaft.«

Der Hinweis, es handle sich um ein »gesellschaftliches Problem«, ist natürlich immer richtig, auch wenn er noch nichts aussagt. Er ist eine Formulierung aus Verlegenheit, der ein Problem markiert, aber nicht mal eine Richtung zur Lösung mitgibt. Gesellschaftliche Probleme lassen sich schließlich auf viele unterschiedliche Weisen lösen oder aushalten. Entweder verändern wir alle unser Denken, stellen also fest, dass das Problem gar nicht so bedeutend ist. Oder wir entscheiden uns für Zynismus, der die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit wenigstens für einige unterhaltsam und erträglich macht. Oder wir bleiben unserem Denken treu und verändern die Realität, beispielsweise durch eine andere Politik oder einen anderen Technologieeinsatz.