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Lia Bathurst braucht dringend eine Auszeit. Privat und beruflich steckt die Künstlerin in einer Sackgasse - warum also nicht den Sommer an der Amalfiküste verbringen? Schon lange träumt Lia davon, die sonnigen Sandstrände, das türkisblaue Meer und die italienische Küche zu genießen. Aber niemals hätte sie geglaubt, dass sie hier auch auf die Spuren ihres leiblichen Vaters Ernesto stoßen könnte. Ein Vater, von dem sie bis vor ein paar Wochen überhaupt nichts wusste! Und nun steht sie vor den Toren seiner hübschen Villa und hofft, endlich mehr über ihre Wurzeln zu erfahren. Wenn da nur nicht Ernestos unausstehlicher Manager wäre. Raphael hält Lia für eine Erbschleicherin und ist entschlossen, sie zu entlarven. Selbst wenn das bedeutet, dass er sie nicht mehr aus den Augen lassen darf und die beiden sich immer näherkommen …
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Julie Caplin
Roman
Sie hobelte mit der Zitronenreibe winzige gelbe Späne auf einen hübsch bemalten Teller. Den Geruch würde sie für alle Zeiten mit diesem Augenblick in Verbindung bringen. Ihr Herz weitete sich - so fühlte sich Glück an.
Lia Bathurst braucht dringend eine Auszeit. Privat und beruflich steckt die Künstlerin in einer Sackgasse - warum also nicht den Sommer an der Amalfiküste verbringen? Schon lange träumt Lia davon, die sonnigen Sandstrände, das türkisblaue Meer und die italienische Küche zu genießen. Aber niemals hätte sie geglaubt, dass sie hier auch auf die Spuren ihres leiblichen Vaters Ernesto stoßen könnte. Ein Vater, von dem sie bis vor ein paar Wochen überhaupt nichts wusste! Und nun steht sie vor den Toren seiner hübschen Villa und hofft, endlich mehr über ihre Wurzeln zu erfahren. Wenn da nur nicht Ernestos unausstehlicher Manager wäre. Raphael hält Lia für eine Erbschleicherin und ist entschlossen, sie zu entlarven. Selbst wenn das bedeutet, dass er sie nicht mehr aus den Augen lassen darf und die beiden sich immer näherkommen …
Julie Caplin lebt im Südosten Englands, sie liebt Reisen und gutes Essen. Als PR-Agentin hat sie in zahlreichen Großstädten auf der ganzen Welt gelebt und gearbeitet. Seit einigen Jahren widmet sie sich vollständig dem Schreiben. Mit ihrer Romantic-Escapes-Reihe landet sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großes Lesevergnügen.
Christiane Steen ist Programmleiterin und Übersetzerin. Sie lebt in Hamburg.
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «A Villa with a View» bei HarperCollinsPublishers, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«A Villa with a View» Copyright © 2024 by Julie Caplin
Redaktion Nadia Al Kureischi
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01999-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Für Michael Doherty (alias Isle of Man, Verkaufsleiter) und seine entzückende Frau Kate – möge euer Leben voller Sonnenschein und Liebe sein.
Aller guten Dinge sind drei, heißt es. Aller schlechten leider auch. Und Lia Bathurst war soeben bei fünf angekommen.
Erneut drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage, die in der groben Steinmauer der Villa eingelassen war. Wieder erklang die körperlose Stimme aus dem Lautsprecher. «Das hier ist ein privates Anwesen. Bitte gehen Sie.»
Lias Stimmbänder waren vor Verzweiflung trocken, nur mühsam presste sie hervor: «Bitte, ich will einfach nur mit Signor Salvatore sprechen. Es dauert nur eine Minute, das verspreche ich.»
Sie wollte ihm lediglich sagen, dass Mary Bathurst, geborene Harding, sie geschickt hatte, und dann würde er sie ganz bestimmt sehen wollen. Er musste einfach. Immerhin war sie extra nach Italien gereist, um ihn zu treffen.
«Wenn Sie mit Signor Salvatore sprechen möchten, vereinbaren Sie einen Termin über seinen Manager, Signor Knight.» Der Lautsprecher erstarb mit einer Endgültigkeit, die Lia überdeutlich machte, dass man auf ein weiteres Klingeln nicht mehr reagieren würde.
Verdammter Mist. Sie ließ sich gegen die Wand fallen und wischte sich mit einer Hand über die verschwitzte Stirn. Zu Hause in London hatte sich dieser viel zu gut aussehende Mr. Knight als Mr. Extrem Unwillig herausgestellt. Er war doch gerade der Grund dafür, dass sie jetzt vor der Tür von Ernesto Salvatores hübscher rosafarbener Villa stand.
Also was jetzt?
Sie war bei dreißig Grad eine Stunde lang diese gewundene Straße voller Haarnadelkurven hinaufgestiegen, ihre Waden brannten, ihre Zehen waren wund gescheuert, und ihre Kehle war ausgetrockneter als das Death Valley. Jeder vernünftige Mensch hätte eine Flasche Wasser mitgenommen, aber als Lia den Weg auf Google Maps eingegeben hatte, schien die Villa Mimosa gar nicht so weit entfernt zu liegen. Was auch stimmte, wenn man ein Vogel war. Denn sie hatte eine entscheidende Kleinigkeit vergessen: dass sich die Straßen hier an der Amalfi-küste mit vielen Windungen um die Klippen schlängelten.
Mit einem tiefen Seufzer betrachtete Lia die Mauer, die vermutlich das gesamte Grundstück umfasste. Es wäre albern, etwas anderes anzunehmen. Und natürlich war die Sommerresidenz von Ernesto Salvatore streng überwacht. Wenn Lia die Adresse im Internet hatte finden können, dann waren seine vielen Fans zweifellos ebenfalls dazu in der Lage.
Die Mauer, die von Stacheldraht gekrönt wurde, erstreckte sich die staubige Straße entlang. Auf der anderen Seite des Grundstücks fiel der Berg so steil ab, dass selbst eine tibetische Bergziege Schwierigkeiten hätte. Auch ohne den Stacheldraht würde Lia wohl kaum über die Mauer klettern können. Ganz sicher jedenfalls nicht in ihren Flip-Flops – eine weitere unglückliche Entscheidung, wie sich herausgestellt hatte.
Sie war am Ende ihrer Weisheit.
Dabei schien es ein so guter Plan gewesen zu sein, nach Italien zu kommen – bis zu dem Moment, als sie die heruntergekommene Atelierwohnung ihres Freundes Luca betreten hatte, in der die Sonne durch die Löcher im Dach hereinschien, und sie das durchgesessene Sofa erblickt hatte, auf dem sie die nächsten Wochen schlafen sollte. Dann diese traurige Version einer Küche! Und was das Badezimmer anging, so wollte sie gar nicht wissen, wie lange es nicht mit Putzmittel in Berührung gekommen war. Zehn Jahre mindestens, schätzte sie.
Ein seltenes Gefühl von Selbstmitleid überkam Lia. Wie konnte bloß so vieles auf einmal so schiefgehen? Noch vor zwei Wochen war ihr Leben vollkommen im Lot gewesen. Aber plötzlich schien nacheinander alles umzufallen wie aneinandergereihte Dominosteine.
Schniefend beugte sie sich vor, um sich die wunde Stelle zwischen ihren Zehen am linken Fuß zu reiben, sowie die Blase, die sich an dem anderen gebildet hatte. Warum war sie auch nur so impulsiv? Hier oben gab es nicht mal Handyempfang, um sich ein Taxi zu rufen.
Sie begann, die Straße hinunterzuhumpeln, musste aber nach ein paar Hundert Metern stehen bleiben. Ihre Füße schmerzten zu sehr. Kurzerhand kniete sie sich hin, kramte in ihrer Umhängetasche und wickelte sich ein zerknülltes Taschentuch um den großen Zeh. Es würde ein langer Heimweg werden in dieser verrückten, sengenden italienischen Mittagshitze.
Ein verbeulter Fiat raste an ihr vorbei. Der Fahrer nahm die Kurve mit dem Elan eines Lewis Hamilton auf zwei Rädern und ließ dabei ein paar Steinchen um Lias Knöchel regnen. Vom aufgewirbelten Staub musste sie husten und keuchen. Sie konnte gerade noch einen Blick auf den Fahrer werfen, und für einen kurzen Moment dachte sie, dass sie ihn schon irgendwo einmal gesehen hatte. Mit einem unerwarteten und äußerst unwillkommenen Hüpfer ihres Herzens erinnerte sie sich an ein Paar lebhafter blauer Augen. Doch das musste sie sich eingebildet haben.
Sie wischte sich übers Gesicht und richtete sich auf. Bestimmt sah sie völlig derangiert aus.
Da sah sie eine hellblaue Vespa auf sich zukommen, so niedlich und so italienisch, dass Lia trotz ihres Unbehagens lächeln musste. Die Vespa wurde langsamer, und zu Lias Überraschung blieb sie auf ihrer Höhe stehen. Der Fahrer stellte seine Füße auf den Boden und zog den Helm ab. Ein Wust an weißblonden Locken kam zum Vorschein. Der Mann ähnelte einem Kirchenengel – abgesehen von seinem breiten Grinsen.
Lia sprach ihn hoffnungsvoll an. «Parla inglese?»
«Aber klar doch.»
Zu ihrer Erleichterung sprach er mit britischem Akzent, was eigentlich wenig überraschend war. Denn mit diesem Haarschopf sah er definitiv nicht aus wie ein Italiener.
«Sie machen den Eindruck, als könnten Sie Hilfe gebrauchen. Kann ich was tun?» Er strahlte sie an.
«Ich möchte wieder zurück zum Hafen. Wissen Sie, ob hier in der Nähe ein Bus fährt? Oder wo ich ein Taxi finden könnte?» Sie wedelte mit ihrem Handy. «Kein Empfang.»
«Wohin wollen Sie denn?», fragte er.
«Irgendwo in die Nähe der Strandpromenade.»
Beherzt klappte er den Ständer seiner Vespa herunter, stieg vom Roller und öffnete den Staukasten. Er holte einen zweiten Helm heraus und hielt ihn ihr hin, während er sich vor ihr verbeugte. «Die Kutsche steht bereit.»
Sie lachte.
«Ist schon okay», sagte er amüsiert. «Ich wollte schon immer mal einer Lady aus der Patsche helfen.» Auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen, wodurch er weniger wie ein Kirchenengel aussah als vielmehr wie ein frecher Chorjunge. «Bitte schön. Ich fahre zum Strand und nehme Sie mit.»
«Oh! Das ist toll», sagte Lia. «Vielen Dank!»
«Kein Problem», antwortete er mit einem lockeren Schulterzucken. «Ich fahre sowieso in die Richtung.» Er sah ihr zu, wie sie den Helm aufsetzte und den Kinnriemen festzurrte. «Ich heiße übrigens Leo.»
«Und ich Lia.»
«Freut mich, dich kennenzulernen, Lia.»
Wie lässig er zu der vertrauten Anrede überging, dachte Lia. Aber dann sagte sie schnell: «Ich freue mich auch.»
«Dabei weißt du noch nicht mal, wie ich fahre.» Seine dunklen Augen funkelten schelmisch. Alles an ihm wirkte golden und sonnig.
«So schlimm?»
«Schrecklich! Aber bisher habe ich noch niemanden umgebracht», sagte er unbeschwert. «Hier fahren sowieso alle schauerlich. Und mit einer Vespa kann man nicht viel anrichten.»
«Sie ist sehr hübsch», meinte Lia und bewunderte erneut die Farbe.
«Ich weiß.» Er zwinkerte ihr zu. «Alle Frauen lieben sie. Mein Bruder findet, die Farbe ist unseriös, aber er ist auch ziemlich altmodisch. Und, hey, er hat auch nicht so viele Freundinnen wie ich. Und was sagt uns das?»
Lia vermutete, dass sein Bruder einfach auch nicht so einnehmend war wie Leo, der einen so lockeren Charme und ein so fröhliches Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass er zu diesen Menschen gehörte, die einen zum Lächeln brachten.
«Los, steig auf», sagte er.
«Danke noch mal, das ist wirklich nett von dir.»
«Ich weiß. Du kannst ja später das Eis bezahlen.»
«Welches Eis?», fragte sie spöttisch. Er war wirklich ein Charmeur.
«Ach, ich kenne da eine hübsche kleine Gelateria auf dem Weg. Ich denke, das ist genau das, was du brauchst.»
«Und woraus hast du das geschlossen?», fragte sie.
«Jeder mag Eis! Und du siehst außerdem so aus, als wolltest du dich gerade am liebsten von der Klippe stürzen.» Er hob die Augenbrauen. «Ehrlich, es ist ein viel zu schöner Tag dafür und würde nur Schweinkram hinterlassen. Du kannst mir alles bei einem Eis und einem Kaffee erzählen.»
«Kaffee also auch noch?»
«Wieso nicht?» Sein Grinsen wurde noch breiter.
Es war schwierig, sich während der Fahrt zu unterhalten, also schwieg Lia, während sie sich mit den Oberschenkeln an die Vespa klammerte und gleichzeitig ihre Tasche festhielt. Es kam ihr etwas zu intim vor, die Arme um die Hüften eines vollkommenen Fremden zu legen, egal wie sehr er einem niedlichen Hundewelpen glich. Leo schien das alles nichts auszumachen.
Lia genoss die Aussicht. Beim anstrengenden Aufstieg vorhin war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie hatte der dramatischen Umgebung mit den hohen, felsigen Hügeln und den Häusern, die sich in ihre Täler schmiegten, keine Beachtung schenken können. Jetzt bewunderte sie die mit Terrakottaschindeln gedeckten Dächer, die sich wie Schichtgestein durch die Landschaft zogen, weil sich die Häuser auf jede ebene Stelle quetschten, die sich ihnen bot. Die gesamte Talseite erinnerte sie an eine kunstvolle Hochzeitstorte mit etlichen Etagen.
Von dieser Höhe über der Stadt konnte sie direkt über die Bucht und auf die riesige Breite des tiefdunklen Meeres vor dem strahlend blauen Himmel schauen. Ihr Herz hob sich beim Anblick der glitzernden Sonne auf den Wellen, und sie schämte sich ein wenig. Es war ein so schöner Tag, sie sollte dankbar sein, dass sie hier sein durfte. Nicht jeder hatte die Chance, den Sommer in Italien zu verbringen, noch dazu in einer günstigen Unterkunft – auch wenn diese vielleicht etwas zu wünschen übrig ließ.
Sie beschloss, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Leo fuhr mit typisch italienischem Elan, schlängelte sich in den zunehmenden Verkehr hinein und wieder heraus, steuerte präzise um geparkte Autos herum und verfehlte hier und da nur knapp einen Rückspiegel und manchmal eine Autotür, die plötzlich aufgerissen wurde. Auch als sich der Verkehr in den engen Straßen zu einer zähen Masse verlangsamte, hielt er eine konstante Geschwindigkeit, sauste um Ecken herum und wechselte so oft die Richtung, dass Lia schließlich keine Ahnung mehr hatte, wo sich das Meer gerade befand.
Dann bremste Leo plötzlich und steuerte die Vespa auf die Pflastersteine vor einer Gelateria. Lia wäre beinahe vom Sitz gefallen.
«Da wären wir», sagte er, nahm seinen Helm ab und stellte die Füße auf den Boden, sodass er den Roller zwischen seinen Beinen hielt, während Lia abstieg. «Ich nehme zwei Kugeln Stracciatella mit Schokosoße und Nüssen.»
«… per favore?», ergänzte Lia, die gut erzogen worden war und dementsprechend erstaunt von seiner Unbedarftheit, einfach irgendwelche Extras zu bestellen, wo doch jemand anderes zahlte. Oder regte sich da jetzt nur eine besonders britische Empörung in ihr?
Das engelsgleiche Grinsen erschien wieder auf seinem Gesicht. «Ja, bitte.»
Leo stieg nun ebenfalls von der Vespa, hängte sich den Helm über den Arm und ging voran in den Laden.
Sie folgte ihm und nahm sofort die kühlere Luft wahr – und den köstlichen Duft nach Vanille und Früchten. Eine gläserne Vitrine, die sich über die gesamte Länge der Gelateria erstreckte, war mit tiefen Behältern gefüllt, in denen die verschiedenen Eissorten hübsch zu cremigen Gipfeln geformt auf sie warteten. Viele davon wiesen bereits tiefe Krater auf, was auf ihre Beliebtheit schließen ließ. Die Beschreibungen waren in sauberer Kursivschrift auf Englisch, Deutsch und Italienisch verfasst: Erdbeer-Explosion, Zitrus-Glück, Schokoladen-Schock, Madagaskar-Vanille, Stracciatella de luxe, Nutella supreme. Lia lief das Wasser im Mund zusammen.
«Ciao, Gina», begrüßte Leo die dunkelhaarige Frau hinter dem Tresen. Dann ließ er einen Schwall Italienisch folgen, den er mit ausschweifenden Gesten untermalte.
Lia fiel auf, dass er ständig in Bewegung war – er wippte mit dem Kopf und tippte mit dem Fuß auf, während er auf das Vanilleeis mit den dunklen Schokosplittern zeigte. Schließlich wandte er sich zu ihr um.
«Was möchtest du, Lia?», fragte er. «Das Schokoladeneis ist sehr gut, das Erdbeereis auch.» Dann sagte er zu der Verkäuferin: «Gina, das ist Lia. Sie ist neu hier.»
«Hi», sagte Gina.
«Was würden Sie empfehlen?», fragte Lia die Frau, weil die große Auswahl sie überforderte. Es sah alles lecker aus, und sie merkte auf einmal, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Immerhin hatte Luca ihr ein paar Grundnahrungsmittel dagelassen, das musste man ihm zugutehalten.
«Stracciatella!», warf Leo ein. «Wie gesagt, das ist die beste Sorte.»
Gina lachte. «Er nimmt nie etwas anderes. Ich würde Ihnen Nutella supreme vorschlagen, das ist Schokolade und Haselnuss. Meine Lieblingssorte. Aber alles schmeckt hier gut. Wir stellen das Eis selbst her.» Sie deutete zu einer Doppeltür hinten im Laden. «Vor allem mein Vater.»
«Stracciatella ist das Beste», murmelte Leo und rollte spielerisch mit den Augen.
«Danke, ich probiere Schokolade-Haselnuss», sagte Lia, um es sich leicht zu machen und um Leos Beharrlichkeit nicht nachzugeben. Eis war schließlich Eis, und sie machte sich ohnehin nicht viel daraus.
Ihre Meinung änderte sich in dem Moment, als sie von der dunkel glänzenden Masse probierte, die Gina ihr in einer überladenden Waffel reichte.
«Oh, mein Gott, das ist ja himmlisch», hauchte sie.
«Sage ich doch!» Leo nahm einen großen Happen von seinem Eis. «Danke, Gina.»
Nachdem Lia gezahlt hatte, verabschiedeten sie sich und schlenderten hinaus auf die kleine, leicht abfallende Terrasse, die sich direkt vor der Gelateria an den Bürgersteig schmiegte. Die schmalen Blumenkübel mit leuchtend roten Geranien bildeten einen schönen Kontrast zu den hell gestrichenen Terrassenfliesen. Es war gerade noch Platz für ein paar hübsche weiße Bistrotische und Stühle mit herzförmigen Lehnen.
«Mmm, das ist wirklich köstlich», sagte Lia, während sie sich die dunkle Schokolade auf der Zunge zergehen ließ. Es war vermutlich das beste Eis, das sie je probiert hatte. Aber wie hätte es auch anders sein können – hier in der italienischen Sonne?
«Das nächste Mal solltest du aber Stracciatella probieren», erwiderte Leo.
«Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du an einen Hund erinnerst, der seinen Knochen verteidigt?», witzelte sie.
«Nein», antwortete er lässig. «Ich weiß nur einfach, was ich mag.»
Sie lachte. Dieser Leo war eine angenehme Gesellschaft und – stellte sie fest – die erste Person, mit der sie sich unterhalten hatte, seit sie hier war.
«Wohnst du hier?», fragte sie.
«Bloß den Sommer über. Meine Familie hat hier ein Haus. Wir kommen jedes Jahr. Aber das ist alles andere als eine Strafe. Positano ist schließlich die schönste Stadt an der Amalfiküste.» Er grinste und fügte hinzu: «Abgesehen von Minori, Ravello, Amalfi selbst, Cetara und Furore, um nur einige zu nennen. Hast du schon ein paar davon besucht?»
«Noch nicht. Ich bin erst seit zwei Tagen hier.» Sie hatte kaum Zeit gehabt, sich in Positano zurechtzufinden. «Ich versuche noch, mich zu orientieren. Die Stadt ist ganz schön verwirrend.» Der steile Berghang war übersät mit winzigen schmalen Gassen, die sich hierhin und dorthin krümmten und von Boutiquen und kleinen Läden gesäumt wurden, deren Waren im Freien präsentiert wurden.
«Aber Positano gefällt dir?», wollte er wissen.
«Ich liebe es!» Sie strahlte ihn an.
«Du machst also Urlaub hier?»
«Nicht wirklich.» Lia beschloss, mit der Wahrheit noch ein wenig zurückhaltend zu sein. Sie vermutete, dass die Einheimischen ihre berühmten Bewohner, wie Salvatore einer war, sicher beschützen würden. «Ich bin Künstlerin. Ich nutze für ein paar Monate die Atelierwohnung eines Freundes.»
«Künstlerin? So siehst du gar nicht aus.» Er neigte den Kopf zur Seite. «Du bist viel zu hübsch, um in einem Dachbodenzimmer zu darben.»
«Wie sehen Künstlerinnen denn aus?», fragte Lia lachend.
«Ich weiß nicht», gestand Leo, und um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. «Verhungert und ausgemergelt? Und voller Farbkleckse? Das aber ist ein sehr hübsches Kleid, das du trägst.»
Lia strich über den blassgrünen Stoff und berührte die zarte Stickerei, für die sie ewig gebraucht hatte. Es war eins ihrer Lieblingskleider. «Danke», sagte sie und vermutete, ihn würde es bestimmt nicht interessieren, dass sie es selbst genäht hatte.
«Also, wie lange wirst du hier künstlern?»
Lia schnaubte. «Gute Frage.» Sie dachte betrübt an die schlichte Ausstattung der Atelierwohnung in der Casa Dia. Andererseits war diese mit vielem ausgestattet, was sie brauchte, und bot ihr Platz zum Arbeiten.
«Du weißt es nicht?»
Das Mitgefühl in seinen Augen ließ sie geständig werden. «Ich … suche nach Inspiration für einen neuen Auftrag, und ich weiß nicht, ob ich sie hier finde.»
«Das klingt nicht gut. In Positano darf man nicht unglücklich sein. Wofür brauchst du denn Inspiration? Vielleicht kann ich dich ja herumführen.»
«Das wäre toll.»
«Wir haben so viele herrliche Ausblicke, da wird mir bestimmt etwas einfallen.»
Lia nickte und war froh, dass er keine weiteren Fragen stellte. Es schmerzte sie immer noch, dass ihre Bilderentwürfe für ein neues Restaurant in London abgelehnt worden waren. Nach dem phänomenalen Erfolg in New York sollte der Londoner Ableger im September eröffnet werden, und das italienischstämmige Besitzerehepaar hatte nach außergewöhnlichen Kunstwerken für die Restaurantwände gesucht. Lia hatte sich sehr darüber gefreut, als die Braganzis sie gebeten hatten, Entwürfe einzuschicken. Über die Reaktion war sie allerdings weniger erfreut gewesen.
Unwillkürlich verzog Lia das Gesicht, als sie an das Urteil dachte, das Stella und Vincent Braganzi über ihre Vorschläge ausgesprochen hatten. «Es fehlt der anspruchsvolle Glanz, die Ideen sind nicht berührend genug.» Gefolgt von: «Alles wirkt irgendwie langweilig.» Die beiden hatten sich Lias Agent Alec gegenüber wahrhaftig nicht zurückgehalten, und was zum Teufel sollte das heißen: «Es fehlt der anspruchsvolle Glanz …»? Zum Glück waren sie weiterhin an Lias Arbeit interessiert und gaben ihr noch etwas Zeit, um neue Ideen vorzulegen. Leider hatte die Deadline Lia gelähmt und ihr jeden kreativen Gedanken aus dem Kopf getrieben. Sie hatte seitdem keine einzige Idee mehr gehabt. Als wäre ihr Hirn von allem, was neu oder anders war, leer gefegt.
Sie merkte, dass sie Grimassen schnitt und Leo sie fasziniert beobachtete.
Nach einer Weile sagte er: «Nun, vielleicht passiert es mit der Inspiration auch nie, wer weiß.»
Lia lächelte ihn gequält an. Sie hatte das Gefühl, Leo war an ihrem Problem gar nicht wirklich interessiert.
«Hier kann man so vieles malen», ergänzte er. «Bestimmt findest du etwas.»
«Ich male nicht.» Sie lächelte. Das war ein häufiges Missverständnis. «Ich bin Textilkünstlerin. Ich gestalte meine Arbeiten aus unterschiedlichen Stoffen, wodurch sie Textur und Tiefe bekommen.» Sie liebte es, über ihre Arbeit zu sprechen, und war stolz darauf, dass sich immer mehr Menschen dafür interessierten, doch sie wollte auch den kommerziellen Erfolg. Und dieser verflixte Auftrag wäre ihr Durchbruch – wenn sie ihn nur an Land ziehen könnte.
«Oh», sagte Leo, offensichtlich nicht interessiert.
Lia nahm es ihm nicht übel. «Was tust du so? Studierst du?»
Leo lachte. «Nein, so jung bin ich nun auch nicht mehr. Ich verbringe den Sommer mit Stand-up-Paddling.»
Ah. Das erklärte seine sonnengebleichten Haare, auch wenn Lia nicht gewusst hatte, dass man damit Geld verdienen konnte. «Du unterrichtest also Stand-up-Paddling?»
«Nein, dafür bin ich viel zu faul, ist nur ein Hobby. Aber ich versuche, mir wegen der Arbeit nicht den Kopf zu zerbrechen. Man lebt nur einmal.» Er verputzte den Rest von seinem Eis. «Wusstest du denn immer schon, dass du mal … Was war es gleich? Dass du Stoffkünstlerin werden wolltest? Ich meine, wie kommt man auf so was? Ich wusste nicht mal, dass es das gibt.»
Sie lächelte über seinen leicht irritierten Ausdruck. «Ich wusste tatsächlich lange nicht, dass ich einmal Textilkünstlerin werden wollte, bis ich den Bereich an der Kunstschule entdeckte. Und mich darin verliebte.»
«Wie schön. Ich habe mich auch schon oft verliebt. Aber es hält leider nie lange», fügte er mit so gespielt kummervollem Gesicht hinzu, dass sie laut lachen musste.
Er grinste.
«Mein Bruder hält mich für unfassbar oberflächlich, aber er ist auch ein Miesepeter. Nun, ich schätze, einer in der Familie muss der Vernünftige sein, und ich bin es sicher nicht.»
Lia verstand, was er meinte. Sie war in ihrer Familie die einzige Künstlerin. Inzwischen war ihr aber natürlich klar, warum sie so aus der Reihe fiel.
«Wie alt bist du eigentlich?», fragte Leo unvermittelt.
«Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter», spottete Lia.
«Ich sage dir auch meins, wenn du mir deins verrätst.»
Lia nickte. Es störte sie gar nicht. Mit ihren dreißig Jahren war sie zufrieden mit sich und ihrem Weg – jedenfalls bis vor Kurzem. Bis zu dieser dummen E-Mail vor zwei Wochen war ihr Leben tatsächlich schrecklich einfach gewesen.
Am nächsten Morgen wurde Lia vom Gurren der Tauben auf dem Dach geweckt. Sie streckte sich und versuchte, die Verspannungen in ihrem Rücken zu lösen. Lucas Sofa musste eine Mischung aus Matratze und Ziegelsteinen sein.
Sie rollte sich auf die Füße und stellte sich auf die Zehenspitzen. Über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg konnte sie eben gerade das Meer sehen. Es war immer noch da, dachte sie lächelnd. Trotz ihrer Beschwerden über die Wohnung in der Casa Dia: Als Atelier war sie perfekt. Das Licht ergoss sich über die gut angeordneten Tische und Werkzeuge, und so wie sich die Wohnung eines Schiffsausgucks gleich über die anderen Gebäude erhob, war sie ideal für Lias Arbeit. Sie liebte es, abgeschieden zu arbeiten, und brauchte keinen Komfort, der sie doch nur ablenken würde.
Heute würde sie mit ihrem Auftrag beginnen und mit ein paar Stoffteilen experimentieren. Wenn sie sich auf die Schönheit dieses Ortes einließ, würde sich ihr Kopf hoffentlich entspannen und ein oder zwei gute Ideen hervorbringen.
Lia bereitete sich einen Kaffee zu und war dankbar dafür, dass Luca ihr frisch gemahlene Bohnen und eine Cafetière hingestellt hatte, die so ungefähr das einzige Haushaltsgerät zu sein schien, das er besaß. Und sie nahm sich vor, sich später am Vormittag mit einem Stück Gebäck und einem Cappuccino zu belohnen und an den Strand zu gehen. Vielleicht würde sie auch Leo treffen, der ihr erklärt hatte, dass er den ganzen Tag dort verbrachte. Immerhin war er eine angenehme, fröhliche Gesellschaft und kam aktuell so etwas wie einem Freund am nächsten. Vielleicht hatte er sogar eine Idee, wie sie Ernesto Salvatore treffen konnte. Schließlich kannte Leo die Gegend und die Leute hier gut, vielleicht wusste er also auch, welche Restaurants oder Bars Ernesto gern besuchte.
Mit etwas mehr Hoffnung und Vorfreude legte sie den Koffer mit ihren Utensilien auf den großen Zeichentisch. Der Zoll hätte sich bestimmt über den Inhalt gewundert, dachte Lia, als sie ihn öffnete. Zahlreiche Stoffe in allen Farben des Regenbogens und mit den unterschiedlichsten Mustern und Texturen kamen zum Vorschein.
Lias erste Entwürfe hatten Elemente berühmter italienischer Gebäude gezeigt – die Fenster und Ränge der Ponte Vecchio in Florenz, die Türme und Kuppeln der Vatikanstadt, die Brunnen von Rom, der Turm von Pisa –, aber die Braganzis fanden, dass all das nicht genug originelles Flair heraufbeschwor.
Lia vertiefte sich in ihre Arbeit.
Eine Stunde später war der Tisch mit diversen Materialien bedeckt, aber nichts fühlte sich richtig an. Es war eine Sache des Bauchgefühls, die sie niemandem erklären konnte.
Nach einer kurzen Dusche zog sie sich ein fließendes Seidenkleid an, das sie ebenfalls selbst kreiert hatte, und hüpfte die Stufen hinab auf die schmale Gasse vor der Casa Dia. Nach einigen scharfen Biegungen kam sie geradewegs zum Strand.
Die Bars und Cafés an der Uferpromenade waren bereits voller Gäste. Lia schlenderte an den Tischen entlang, atmete den Duft von Kaffee ein und lauschte dem fröhlichen Geplauder. Die Sonne wärmte ihre Haut, und das wohlige Gefühl brachte etwas von ihrem üblichen Optimismus zurück.
Vor sich hin lächelnd genoss sie, wie die türkisfarbene Seide ihres Kleides ihre Beine umspielte. Bewundernde Blicke folgten ihr auf ihrem Weg am Ufer entlang. Vermutlich lag das an ihrer ungewöhnlichen Kombination aus weißblonden Haaren, die sie von den skandinavischen Genen ihrer Mutter geerbt hatte und die ihr in einem langen Zopf über den Rücken fielen, sowie ihrer olivfarbenen Haut und ihren grünen Augen – die, wie Lia jetzt wusste, nicht von dem Mann stammten, den sie ihr Leben lang Dad genannt hatte. Ihr Ausdruck verhärtete sich. Es war schlimm, wenn man herausfand, dass das gesamte Leben eine Lüge gewesen war.
«Hey, Lia!»
Sie drehte sich um und sah Leo von einem der vorderen Tische in einem Café winken, an dem sie gerade vorbeigegangen war.
«Hi, Leo.»
«Ich hatte gehofft, dich heute hier zu treffen. Hast du schon gefrühstückt?»
«Nein.»
Leo schob ihr mit dem Fuß einen leeren Stuhl zu, und Lia nahm an, dass das eine Einladung sein sollte. «Das Café hier hat großartige cornetti al cioccolato oder alla marmellata – die sind mit Aprikosenkonfitüre.» Bevor sie sich hinsetzen konnte, hatte Leo schon einen Kellner gerufen. «Also, was möchtest du, Lia?»
«Ein cornetto alla marmellata und einen Cappuccino, per favore», sagte sie zu dem Mann, der an den Tisch getreten war.
Leo fügte hinzu: «Und ich nehme ein cornetto al cioccolato und einen doppelten Espresso.»
Der Ober nickte, und als er gegangen war, setzt Lia sich und beugte sich vor. «Und was genau ist ein cornetto?», fragte sie flüsternd. «Ich nehme mal an, wir essen kein Eis zum Frühstück.»
«Nein! Das wäre ja Frevel. Ein echtes cornetto ist ein traditionelles italienisches Gebäck. Cornetto bedeutet Horn, aber es ist nicht wie ein Croissant, wie viele denken. Der Teig ist süßer und weicher. Viel besser!», fügte er mit stolz vorgerecktem Kinn hinzu.
«Das würde ich niemals anzweifeln», erwiderte Lia amüsiert.
«Also, was hast du heute für Pläne?», fragte Leo. «Es ist ein guter Tag für den Strand.» Er grinste sie hoffnungsvoll an. «Ich könnte dir die besten Plätze zeigen.»
Lia kräuselte die Nase, es klang zu verlockend.
«Komm schon», fügte er hinzu. «Du weißt doch, dass du es willst.»
«Bist du eigentlich von hier?», fragte Lia, um das Thema zu wechseln. «Und wenn ja, wieso ist dein Englisch dann so gut?»
«Ha! Das liegt daran, dass ich halber Engländer bin. Du hast doch nicht geglaubt, dass meine hellen Locken von Italienern abstammen, oder?», sagte er spöttisch und zupfte an ihrem Zopf. «Du hingegen bist zu hundert Prozent Engländerin.»
«Tatsächlich bin ich halbe Italienerin», sagte sie und verdrängte die Überraschung, die diese unerwartete Entdeckung in ihr ausgelöst hatte. «Ich habe vor Kurzem sogar einen DNA-Test gemacht: fünfzig Prozent Italienerin, fünfundzwanzig Prozent Norwegerin und ein bisschen Engländerin, Waliserin, Irin und Nordeuropäerin.»
Ihre amüsierte Aufzählung verbarg den ungeheuren Aufruhr, der auf diese Entdeckung gefolgt war. Sie konnte nicht einmal behaupten, dass es eine Erleichterung gewesen war, als sie verstanden hatte, warum sie sich in ihrer Familie immer so fremd gefühlt hatte. Es war einfach keine Befriedigung gewesen. Und sie hatte sich auch nicht dazu durchringen können, ein zweites Mal mit ihrer Mutter darüber zu reden, denn Lia fürchtete, die verhaltene Wut in ihr würde dann überquellen und sie könnte etwas sagen, das sie bereuen würde. Jetzt fragte sie sich, was Leo wohl sagen würde, wenn sie ihm erzählte, dass sie in Wirklichkeit die Tochter des berühmten italienischen Filmstars Ernesto Salvatore war.
«Du bist also halb italienisch – genau wie ich!», rief Leo begeistert aus, der Lias inneren Tumult nicht zu bemerken schien. «Mir glaubt allerdings keiner, dass ich Italiener bin», fuhr er fort. «Auch, wenn das manchmal ganz nützlich ist.» Er grinste frech. «Besonders, wenn ich nicht zugebe, dass ich Italienisch kann.»
Das glaubte ihm Lia sofort. Mit seinen goldenen Surferlocken zog er bestimmt die Blicke aller Italienerinnen auf sich.
Zum Glück zeigte er aber kein weiteres Interesse an ihrem DNA-Test, was sie erleichterte. Die Ergebnisse hatten sie völlig überrumpelt – und alles, was sie zu wissen glaubte, auf den Kopf gestellt. Noch immer kam Lia damit nicht klar. Wie hatte ihre Mum sie nur die ganze Zeit so anlügen können?
Nachdem sie den ersten Schock mit ihren engsten Freunden geteilt hatte, war sie jetzt einfach nur froh, von all dem Drama weg zu sein, einfach nur sie selbst sein zu dürfen und für einen Moment vergessen zu können, was das alles bedeutete. Ihre Mutter, ihren Vater und ihre Schwester am Telefon zu meiden, war wahrscheinlich etwas übertrieben, aber sie brauchte Zeit für sich. Und im letzten Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie daher darum gebeten, dass man ihr diese Zeit zugestand. Sie musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass der eigene Vater gar nicht der eigene Vater war.
Die Frage war nur, ob sie sich überhaupt jemals daran gewöhnen würde?
In dem Moment meldete sich ihr Handy, und Lia hätte fast laut gelacht. Ihr Vater hatte ihr ein GIF von dem schrecklichen Kind aus Findet Nemo geschickt, das im Wartezimmer des Zahnarztes auf das Aquarium klopft – und dazu die Bildunterschrift: Lebst du noch?
Schnell schickte sie ihm ein GIF zurück mit der Bildunterschrift Ich bin jedenfalls nicht tot … und legte dann ihr Handy weg, denn der Kellner kam mit einem Tablett an ihren Tisch. Er stellte zwei Teller mit cornetti und zwei Tassen vor ihnen ab, und Lias Magen stieß beim Anblick der schmalen gebogenen, goldgelben Gebäckstücke ein unelegantes Knurren aus. Ihr Abendessen aus Brot, Käse und Salami war schon zu lange her.
«Vielleicht hättest du gleich zwei bestellen sollen», lachte Leo, der ihren hungrigen Magen offensichtlich auch gehört hatte.
«Ein Gentleman hätte das gar nicht kommentiert», erwiderte Lia herausfordernd, was Leo noch mehr zum Lachen brachte.
«Du hältst mich doch nicht wirklich für einen Gentleman, oder? Das klingt furchtbar langweilig.»
Lia schüttelte amüsiert den Kopf. Sie bezweifelte, dass Leo jemals als langweilig bezeichnet worden war. Mit seiner lebensfrohen Energie und seinem sonnigen Naturell war er bestimmt der Mittelpunkt jeder Party.
Plötzlich sprang er winkend auf. «Hey, Raph! Hier drüben!»
Lia drehte den Kopf, um zu sehen, wen er rief.
«Das ist mein Bruder», erklärte Leo, als sich ein großer dunkelhaariger Mann zwischen den Tischen hindurch zu ihnen schlängelte.
«Guten Morgen, Leo», sagte er. «Wie –» Beim Anblick von Lia erstarb seine Stimme, Lia hingegen wäre am liebsten im Boden versunken. «Sie?! Was machen Sie hier?»
«Oh, Mr. Knight.» Lia nickte kurz. Sie konnte es nicht fassen. Ausgerechnet!
«Ach, wie schön.» Leo schien begeistert. «Ihr zwei kennt euch bereits.»
«Nicht wirklich», schnarrte Raph, und die Verärgerung überfiel ihn wie Nesselfieber. Er wandte sich an die blonde Frau. «Also, was machen Sie hier, Miss Bathurst?»
Sie hob den Kopf und schaute ihn direkt an, sie schien leider kein bisschen von ihm beeindruckt. «Ich frühstücke», sagte sie.
«Tja, die Welt ist klein.» Leo plapperte direkt drauflos, die Zwischentöne schienen ihm mal wieder völlig zu entgehen. Raph unterdrückte ein genervtes Schnauben. Sein jüngerer Bruder segelte auf einem goldenen Sonnenstrahl durchs Leben. Alles in seiner Welt war beständig glücklich. Was einerseits schön war, aber Raph sorgte sich darum, dass Leo nicht damit würde umgehen können, wenn mal etwas wirklich Schlimmes passierte.
«Wir wollen nach dem Frühstück zum Strand. Willst du mitkommen, Raph?», fragte Leo, den Mund voller Gebäck.
«Ja, tun Sie das.» Die Frau verzog den Mund, während sie ihre Kaffeetasse abstellte. «Das wäre bestimmt sehr amüsant.»
Leo nickte. «Auch wenn du dir dann mal den Anzug ausziehen müsstest, Bro.»
Raph ignorierte seinen Bruder und sah von oben auf die Frau am Tisch herab. Aus irgendeinem Grund brachte sie ihn aus der Fassung. Schon bei ihrer ersten Begegnung in seinem Londoner Büro hatte sie ihn beeindruckt, und seitdem hatte er einfach nicht herausfinden können, warum sie in ihm dieses Interesse auslöste – was ihn wiederum noch mehr ärgerte. Es war wie ein Stachel, der ihn piekte. Denn er hasste es, wenn er nicht die Kontrolle besaß.
Er betrachtete ihr ach so unschuldiges Gesicht aus zusammengekniffenen Augen. Sie saß so abgeklärt da wie eine Madonna, und ihre schönen Augen sahen ihn mit leichter Verachtung an, als würde sie ihn bemitleiden.
Er wusste, dass er unfreundlich zu ihr gewesen war. Er hatte sich geweigert, sich ihre Geschichte anzuhören, aber sie war eben eine von vielen Frauen, die behaupteten, dass Ernesto Salvatore ihr Vater sei. Und jetzt war sie auf einmal hier und schleimte sich bei seinem Bruder ein. Offenbar hoffte sie wie alle anderen auch, eine Abfindung zu kassieren, damit sie gegen seinen Stiefvater keine Vaterschaftsklage erheben würde.
«Bro?»
Raph merkte erst jetzt, dass Leo aufgestanden war und irgendetwas zu ihm gesagt haben musste.
«Ich habe gesagt, leiste du Lia Gesellschaft, während ich mal eben austrete.» Er deutete auf die Toiletten hinten in der Bar.
«Natürlich. Mit Vergnügen», antwortete Raph finster.
«Wieso glaube ich nur, dass es keins sein wird?», murmelte die Frau.
Sobald Leo außer Hörweite war, beugte er sich zu ihr herunter. «Was zur Hölle spielen Sie hier für ein Spiel? Halten Sie sich von meiner Familie fern, habe ich gesagt. Das bedeutet, auch von Leo.»
«Ich wusste nicht, dass er irgendwas mit Ihnen zu tun hat.» Zwei helle rote Flecken brannten auf ihren Wan-gen.
Er stemmte die Hände in die Hüften. «Sie wollen mir tatsächlich vormachen, dass Sie nach Italien gereist und ihm ganz zufällig hier begegnet sind?»
Sie biss sich auf die Lippen und schaute zu ihm hoch. «Ich weiß, wie seltsam das wirken muss, aber es ist die Wahrheit.»
«Gehen Sie wieder nach Hause, Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit. Ich erlaube nicht, dass mein Stiefvater noch einmal erpresst wird.»
«Ihr Stiefvater?» Sie schien ernsthaft überrascht. «Ich dachte, Sie wären sein Manager.»
«Nicht offiziell, nein.» Auch wenn es sich manchmal so anfühlte, dachte Raph. «Er hat meine Mutter geheiratet, und ich helfe ihm manchmal mit seinen geschäftlichen Angelegenheiten, falls sie persönlicher Natur sind. Ich habe meinen eigenen Job.»
«Sie sind also mit ihm verwandt.»
Raph seufzte. «Er ist mein Stiefvater.»
«Sie scheinen ihn beschützen zu wollen», sagte sie.
«Ich muss.» Er starrte sie an. «Ich habe Ihnen schon gesagt, mit Ihrem DNA-Test kommen Sie nicht weiter. Der sagt doch gar nichts aus. Reichen Sie einen Vaterschaftstest ein, dann reden wir weiter.» Natürlich wusste er, dass sie keinen solchen Test ohne Einwilligung seines Stiefvaters machen lassen konnte, womit er aus dem Schneider war. Und das Risiko einer Klage war bisher noch keine der Damen eingegangen, die sich als Tochter von Ernesto ausgegeben hatten.
«Aber dafür muss ich mit Ihrem Stiefvater reden. Ich brauche dafür ja mehr als seine Einwilligung.»
Sie klang frustriert. Gut so, dachte Raph. Dann würde sie bald einsehen, dass hier nichts zu holen war.
«Vermutlich wollen Sie den Prozess nur extra hinauszögern, Mr. Knight. Haben Sie überhaupt mit Ernesto gesprochen?»
Er schnaubte. «Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie viele Frauen behaupten, dass er ihr Vater sei?»
«Das haben Sie mir schon in Ihrem Büro erzählt. Aber wenn Sie einfach mal mit ihm reden würden, dann wüssten Sie, dass dies hier anders ist. Nennen Sie ihm bitte den Namen meiner Mutter: Mary Bathurst, geborene Harding. Sie hatten in den Neunzigerjahren in London eine Beziehung – 1994, um genau zu sein. Fragen Sie ihn.»
«Ernesto ist nicht die Sorte Mann, der ein Kind im Stich lassen würde. Er hätte die Verantwortung übernommen.»
«Nun, hat er aber nicht.»
Raph zuckte mit den Schultern. Es konnte nicht stimmen, was sie da behauptete. Denn wenn Ernesto etwas nicht war, dann ein verantwortungsloser Hallodri, der eine schwangere Frau im Stich ließ.
Ihr Mund bildete einen rebellischen Strich, bevor sie wütend und mit funkelnden Augen sagte: «Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie herausfänden, dass Sie einen Vater haben, den Sie gar nicht kennen? Würden Sie dann einfach gar nichts tun? Sie haben keine Ahnung, wie sich das anfühlt.»
Das musste er ihr lassen, sie bewies wirklich Beharrlichkeit – und sie besaß schauspielerisches Talent. Mit ihren Worten hätte sie ihn beinahe berührt. Beinahe.
«Ich nehme an, Sie haben Leo bereits Ihre tränenreiche Geschichte erzählt?»
«Natürlich nicht. Ich wusste ja nicht, dass er Ernesto überhaupt kennt.»
«Nun, jetzt wissen Sie es. Aber ich warne Sie, über Leo kommen Sie auch nicht an Ernesto heran. Wenn ich Sie wäre, würde ich meine Koffer packen und zurück nach London fahren.»
Sie schenkte ihm ein falsches Lächeln, das ihm zeigte, wie gern sie ihm einen Dolch zwischen die Rippen rammen würde. «Tun eigentlich alle immer das, was Sie ihnen sagen?»
Er hätte beinahe laut gelacht. Wenn seine verdammte Familie es bloß täte! Das würde sein Leben so viel leichter machen.
Einen Augenblick stand er nur da und wollte ihr nicht das letzte Wort überlassen, aber dann sah er Leo zurückkommen. Raph eilte zu ihm, um ihn abzufangen.
«Leo, was weißt du über diese Frau?»
«Lia? Nur, dass sie Künstlerin ist. Und den Sommer hier verbringt, um sich inspirieren zu lassen.»
Verdammt! Leo konnte manchmal derartig naiv sein. «Ich hätte es wissen sollen», murmelte Raph. Denn hätte Lia Bathurst einen anständigen Job, hätte sie nicht alles stehen und liegen lassen können, um ihren vermeintlichen und höchst wohlhabenden Vater aufzusuchen. Raph glaubte ihre Geschichte nicht. «Wo hast du sie getroffen?», fragte er Leo.
«In der Nähe der Villa. Sie humpelte die Straße runter, darum habe ich ihr angeboten, sie mitzunehmen.»
Raph richtete seinen Blick zum Himmel. «Und du fandest es nicht merkwürdig, dass sie sich vor der Villa herumgedrückt hat?»
Leo dachte einen Moment darüber nach. «Nein, nicht wirklich. Sie hat mich angelächelt.»
«Und?» Leos Logik war manchmal nicht nachzuvollziehen.
«Nun, sie sah irgendwie verloren aus, und ich wollte sowieso runter in die Stadt.»
«Halt dich von ihr fern. Sie gehört zu denen, die behaupten, dass Ernesto ihr Vater ist.»
«Nein!», sagte Leo voller Verachtung. «Sie ist echt nett. Du bist einfach paranoid. Ich habe dir doch gesagt, ich habe sie rein zufällig getroffen.»
«Und sie hat dir nicht erzählt, dass wir bereits in London das Vergnügen miteinander hatten?»
«Nein. Wieso auch? Sie wusste doch nicht, wer ich bin. Geschweige denn, dass wir Brüder sind.» Trotz seiner Ausflüchte erstarb Leos Lächeln, und Raph bekam ein schlechtes Gewissen, weil er seine Illusion zerstörte.
«Sorry, Leo, aber sie hat dich benutzt.»
Als Leo schluckte, fühlte sich Raph, als hätte er gerade ein Katzenjunges getreten.
«Soll ich dich mit nach Hause nehmen? Ich kann Marco mit dem Laster runterschicken, um die Vespa zu holen», schlug er vor, denn er wusste, dass der Gärtner, der auch Ernestos Chauffeur war, nichts dagegen haben würde.
Leo schaute über die Schulter zu Lia, und sein Mund zuckte reumütig. «Ich sollte erst die Rechnung bezahlen.»
«Geschieht ihr recht, wenn sie bezahlen muss.»
«Aber sie hat gestern schon das Eis bezahlt.»
«Natürlich hat sie das. Um dich einzuwickeln.»
«Und was, wenn du dich irrst? Nicht jeder Mensch verfolgt böse Absichten. Was, wenn sie Ernesto bloß kennenlernen will? Was, wenn man ihr erzählt hat, dass er ihr Vater ist, und sie glaubt es eben, auch wenn es nicht stimmt?»
«Das erklärt nicht, warum sie hergekommen ist. Sie müsste erst einen Vaterschaftstest einklagen, das habe ich ihr erklärt. Aber dieses Risiko gehen diese Frauen alle nicht ein.»
Leo seufzte. «Ich gehe jetzt erst mal eine Weile aufs Board.»
Raph sah seinem Bruder nach, wie er mit hängenden Schultern zum Tisch zurückkehrte. Er wechselte ein paar Worte mit Lia. Sie lachte, und beide sahen zu ihm hinüber. Dann öffnete Leo seine Brieftasche und zog ein paar Scheine heraus, die er auf den Tisch legte. Lia schien sich bei Leo zu bedanken und winkte ihm zum Abschied. Dann schenkte sie Raph ein mitleidiges Lächeln, setzte ihre Sonnenbrille auf, nahm ihr Handy in die Hand und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Display.
Raph gestattete sich ein kleines Lächeln, so amüsiert war er von ihrer kühlen Ablehnung. Aber er würde sie nicht vom Haken lassen, ohne herauszufinden, wie lange sie hierbleiben wollte.
Er trat an den Tisch und setzte sich auf den Platz, den Leo frei gemacht hatte.
Sie ignorierte ihn, und er nutzte die Zeit, sie zu betrachten. Heute hatte sie ihre blonden Haare zu einem lockeren Zopf geflochten, einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, als könnten sie es nicht ertragen, eingesperrt zu sein. Er fragte sich, ob das ihre Persönlichkeit widerspiegelte. Sie wirkte auf ihn sowohl impulsiv als auch verbissen und entschlossen. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er von ihrer Hartnäckigkeit beeindruckt oder genervt war.
«Also, wie lange haben Sie vor hierzubleiben?», fragte er schließlich, frustriert darüber, dass sie seine Gegenwart so wenig zu stören schien.
Sie grinste ihn an. «Sie meinen, wie lange Sie sich noch darüber ärgern müssen?»
Er schüttelte den Kopf. «Sie verschwenden Ihre Zeit.»
«Wer sagt das? Es zahlt sich bereits für mich aus.»
«Sie meinen, wie Sie sich an Leo heranschleimen?»
«Nein!», protestierte sie. «Sie haben eine ziemlich einseitige Sichtweise und scheinen nicht besonders viel von Ihrem Bruder zu halten, stimmt’s?»
«Das habe ich nie gesagt», wehrte er sich.
«Nein, aber Sie denken eindeutig, dass er zu schwach oder zu dumm ist, um eine Erbschleicherin zu erkennen.»
«Leo ist ein viel zu netter Mensch. Er sieht immer nur das Gute in den Menschen.»
«Wohingegen Sie, der Dunkle Lord, nur das Schlechte sehen? Sind Sie immer so misstrauisch, oder nur bei mir?»
Raph dachte über ihre Worte nach. Etwas daran ließ ihn ehrlich antworten: «Ich neige zu einem gewissen Misstrauen den Menschen gegenüber, das stimmt. Aber nach meinen Erfahrungen ist das auch gerechtfertigt.»
«Wirklich? Wie deprimierend», sagte sie, stützte ihr Kinn in die Hände und seufzte so kläglich, dass er beinahe lachen musste.
Ihre Respektlosigkeit und ihr Sinn für Humor waren sympathisch, auch wenn er sie wirklich nicht mögen wollte.
«Wie alt sind Sie eigentlich?», fragte er plötzlich.
«Dreißig, warum?»
«Warum kommen Sie jetzt? Warum wollen Sie plötzlich … Ihren Vater kontaktieren?»
«Sie haben sich wirklich bemüht, Anführungszeichen um ‹Ihren Vater› zu setzen, oder?» Sie lächelte ihn an. Es war schwer, sie auf Spur zu halten.
Er sagte nichts und überließ es ihr, die Stille zu füllen. Was sie bestimmt tun würde, nichts schien sie zu beunruhigen. Aber zu seiner Überraschung wurde ihr Gesicht auf einmal traurig, und er sah, wie sich ihre Kehle bewegte, als würde sie schwer schlucken müssen.
«Ich wusste es vorher nicht. Ich habe es erst vor Kurzem erfahren.»
In ihren leisen Worten lag eine Welt von Schmerz und Traurigkeit, die ihn berührte, und er hätte sie am liebsten getröstet. Vor allem, weil er wusste, dass ihr noch mehr Herzschmerz bevorstand, wenn sie einsah, dass Ernesto nicht ihr Vater war. Denn das war er auf keinen Fall, da war sich Raph hundertprozentig sicher.
Sie hob den Kopf. «Ich muss jetzt wieder an die Arbeit gehen.»
Sie stand auf, und Raph erhob sich ebenfalls.
«Wo wohnen Sie?», fragte er, als sie zusammen die Terrasse des Cafés verließen.
Sie lachte. «Warum fragen Sie? Wollen Sie mich etwa nach Hause eskortieren?»
«Nein, keine Sorge. Meine Vespa steht dahinten.»
Sie neigte den Kopf und sah ihn an. «Ich kann Sie mir gar nicht auf einer kleinen blauen Vespa vorstellen. Bitte sagen Sie mir, dass Ihre schwarz ist mit roten Flammen.»
Jetzt musste er doch lachen. «Woher wissen Sie das?»
«Nennen Sie es Intuition», sagte sie grinsend, und ihre grünen Augen funkelten schelmisch.
Auf einmal hätte er sich gern vorgebeugt und sie geküsst – bloß, um ihre Reaktion zu sehen, natürlich. Sonst nichts. Lia Bathurst war wirklich nicht sein Typ. Raph zog die schillernden Frauen vor, die sich kühl und distanziert verhielten. Zumindest hatte er das in der Vergangenheit immer getan.
Als Raph zur Villa Mimosa zurückkehrte, empfing ihn lautes Geschrei. Sobald er auf die gepflasterte Auffahrt trat, hörte er die Stimme seine Mutter Aurelia ungewöhnlich laut aus dem Garten klingen. Und nicht nur das: Ernesto schrie zurück. Was um alles in der Welt war da los?
Er eilte um das Haus herum und sah die beiden dicht voreinander auf der mit Wein überwucherten Terrasse stehen – und zuckte zusammen, als sich die lauten italienischen Worte zu einem Sinn zusammenfügten.
«Glaub bloß nicht, dass du mich verlassen kannst», schimpfte seine Mutter. «Du Bastard! Ich teile dich in Stücke und verfüttere dich an die Fische!»
«Das glaubst auch nur du!», gab Ernesto wütend zurück.
Raph blieb stehen und schüttelte den Kopf. An manchen Tagen fühlte es sich an, als würde er in einem Irrenhaus leben. Heute war eindeutig einer dieser Tage.
«Allerdings!», rief Aurelia mit der ganzen Melodramatik einer drittklassigen Schauspielerin, die an ihrem schlechten Text verzweifelte. Sie fuchtelte mit der Faust vor Ernestos Gesicht herum. «Du bist eine doppelzüngige Ratte mit einem sehr kleinen …» Mit Daumen und Zeigefinger deutete sie an, was sie meinte – und fing auf einmal an zu kichern.
Ernesto nahm ihre Hand und küsste sie, dann brachen beide in lautes Gelächter aus.
Raph erblickte die zusammengerollten Papiere, die sie in den Händen hielten, und seufzte.
«Ah, Raph», begrüßte Ernesto ihn. «Wir haben gerade Matteos neuestes Meisterwerk getestet. Was hältst du davon?»
«Schrecklich. Ich weiß nicht, warum du ihn immer wieder ermutigst und anbietest, sein Zeug zu lesen. Wäre es nicht besser, ihn aus seinem Elend zu befreien? Er wird nie ein anständiges Drehbuch schreiben.»
«Was? Ich soll all seine Hoffnungen zerstören?» Ernesto schüttelte den Kopf. «Ich werde ihm ein konstruktives Feedback geben und …» Er seufzte. «Vielleicht wird er es noch einmal versuchen und dann hoffentlich –»
«Liebling», unterbrach ihn Aurelia, «vielleicht ist es gar nicht so abwegig, was Raph sagt. Du solltest aufhören, ihn zu ermutigen. Ich glaube nicht, dass er das Zeug zu einem erfolgreichen Drehbuchautor hat. Er ist hinter der Kamera viel besser.»
«Du hast recht, meine Liebe. Er ist der beste Kameramann, mit dem ich je gearbeitet habe. Daran sollte ich ihn erinnern.» Ernesto wandte sich an Raph. «Vielleicht kannst du mir dabei helfen, ihm eine E-Mail zu schreiben? Du bist so gut in solchen Dingen.»
«Eine ausgezeichnete Idee.» Seine Mutter schenkte Raph ein süßes Lächeln. «Du weißt immer das Richtige zu sagen und bist sehr diplomatisch. Apropos, weißt du, ob die Einladungen schon verschickt sind? Signora Cavalli sagt, sie hat noch keine erhalten.»
«Das liegt daran, dass du sie von der Gästeliste gestrichen hast», erwiderte Raph. Wie üblich half er seinen Eltern dabei, das jährliche Sommerfest zu organisieren.
«Nun, ich denke, sie sollte wieder auf die Liste», sagte Aurelia. «Was letztes Jahr passiert ist, war nicht ihre Schuld. Kannst du dich bitte darum kümmern, dass ihre Einladung heute noch rausgeht?»
«Mamma, ihr habt für solche Dinge eine Sekretärin, erinnerst du dich? Sie kann auch remote arbeiten.»
«Ja, Liebling, aber du bist viel effektiver.»
Raph verdrehte die Augen. «Na, vielleicht solltet ihr sie dann nicht mehr beschäftigen.»
«Raphael Knight! Wie kannst du nur so etwas sagen?», schimpfte seine Mutter. «Esther gehört praktisch zur Familie. Sie ist diesen Sommer nur nicht hier, weil ihre Nichte getauft wird.»
«Also gut, ich kümmere mich darum», sagte er resigniert und schaute hinüber zu den Fenstern des kleinen Salons, den er als Arbeitszimmer nutzte, wenn er hier war. Über die Jahre war die Ausstattung darin stetig angewachsen, sodass er seine Geschäfte nun ebenso gut von hier wie aus seinem offiziellen Büro in London führen konnte.
«Ah, bevor du gehst …», sagte seine Mutter. «Bringst du jemanden zum Sommerfest mit?»
«Nein», sagte er.
«Das darfst du herzlich gern tun, falls es da jemanden gibt, den du einladen möchtest?», hakte Aurelia nach, während Ernesto auffällig intensiv die Pflastersteine der Terrasse studierte. «Sie kann auch bleiben, wir haben genügend Platz.»
Die Untertreibung war wirklich atemberaubend, dachte Raph. Denn die Villa bot viel Platz mit den beiden separaten Gästesuiten auf dem Grundstück, von denen er eine bewohnte, da er sich bei seinen Besuchen gerne einen gewissen Grad an Unabhängigkeit bewahren wollte. Im Alter von einunddreißig Jahren schien das nur angemessen.
«Mamma, es gibt niemanden, den ich zur Party einladen möchte oder zum Übernachten.»
Ernesto riskierte einen Blick und blinzelte ihm zu.
Unbeirrt von seiner Antwort sagte seine Mutter: «Du isst doch mit uns zu Mittag, oder?»
«Ja, Mamma.»
«Braver Junge.» Ihre Augen strahlten, und bevor er seinen üblichen Protest bei dem Wort «Junge» loslassen konnte, hob sie die Hand und sagte: «Du wirst immer mein Junge sein.» Mit diesen Worten segelte sie ins Haus.
Raph stieß den Atem aus.
«Sie will nur dein Bestes», sagte Ernesto lächelnd.
«Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht mehr Sorgen um Leo macht.»
Ernesto tätschelte Raphs Arm. «Ach, der ist doch noch ein Baby.»
«Nein, ist er nicht. Er ist ein erwachsener Mann. Oder er wäre es, wenn ihr ihn lassen würdet.» Leo mochte siebenundzwanzig Jahre alt sein, aber es würde noch einiges brauchen, damit er erwachsen würde.
«Was wäre eigentlich so schlimm daran, sesshaft zu werden?», fragte Ernesto mit gerunzelter Stirn. «Ich kann mir mein Leben ohne deine Mutter und unsere Familie gar nicht mehr vorstellen. Es hat mir so viel Freude gebracht.»
Raph klopfte ihm auf die Schulter. Ernesto war zu Leo und ihm wie ein Vater gewesen und hatte die beiden Brüder und ihre jüngeren vier Halbgeschwister immer gleich behandelt. «Und du hast meine Mutter glücklich gemacht», sagte er, «dafür kann ich dir niemals genug danken.»
In Ernestos Augen traten Tränen, und er umarmte Raph. «Wir sind eine Familie.»
Raph nickte. Er sprach es selten laut aus, aber er liebte seine Familie inbrünstig – auch wenn sie ihn meistens in den Wahnsinn trieb.
«Also …» Ernesto legt ihm einen Arm um die Schultern. «Schauen wir mal, was deine Mutter uns heute zum Mittag gekocht hat.»
Lia warf ihren Stift hin. Genug war genug. Sie wollte nach draußen und sich ablenken. Die Idee, an der sie den ganzen Tag gearbeitet hatte, gefiel ihr einfach nicht mehr. Sie langweilte sie. Und wenn es ihr schon damit so ging, wie sollte sie dann die Braganzis davon überzeugen, dass sie gut war?
Obwohl Lia jeden Tag der letzten Woche gearbeitet hatte – sie hatte mit Stoffresten herumprobiert und Ideen skizziert, war durch enge Gassen gelaufen und hatte viel zu viel Kaffee getrunken –, wartete sie immer noch auf eine zündende Idee. Sie brauchte eine Pause, sowohl von ihrer eigenen Gesellschaft als auch von den GIFs ihres Vaters – er war ein Mann weniger Worte, und das war seine Art, mit ihr zu kommunizieren – und von allem anderen.
Einen Moment lang grübelte sie, wohin sie gehen sollte, bevor sie beschloss, wegen der Hitze zum Strand zu spazieren. Nicht zum Hauptstrand, wo sie Leo ein paarmal in der Ferne auf dem SUP-Board gesehen hatte, sondern zum Strand von Fornillo, der nur zehn Minuten zu Fuß entfernt war.
Leo hatte ihr erzählt, dass sein Bruder davon überzeugt wäre, sie würde ihn nur ausnutzen, und nun war Lia fest entschlossen, Raphael Knight das Gegenteil zu beweisen. Das Problem war nur: Jetzt, wo sie von Leos Verbindung zu Ernesto wusste, hätte sie ihn nur zu gern ausgenutzt, aber sie konnte die Vorstellung von Enttäuschung in Leos Hundeblick nicht ertragen.
Der Weg zum Strand dauerte wesentlich länger als zehn Minuten, weil sie von all den Läden abgelenkt war, die sich auf die engen Gassen hin öffneten. Es gab Boutiquen mit eleganten Sommerkleidern, wunderschöne Töpferläden mit bunt bemaltem Steingut und familiengeführte Läden, die Olivenöl verkauften. Ihr Lieblingsladen hatte sich ganz den Zitronen verschrieben: Hier gab es strahlend weiße Teller, Servietten und Tischtücher mit Zitronenmotiven in leuchtend gelben Farben und Flaschen mit trübem Limoncello. Es roch sauber und frisch, und während sie so durch den Laden schlenderte, die gestickten Zitronen berührte und die Untersetzer mit den Zitronenscheiben betrachtete, begann sich in ihrem Hinterkopf der Schimmer einer Idee zu regen. Doch als sie versuchte, ihn zu fassen, verschwand er.
Bevor sie den Laden verließ, kaufte Lia sich noch eine Zitrusseife und eines der niedlichen Schälchen dazu.
Zufrieden mit ihren Einkäufen schwor sie sich, erst wieder anzuhalten, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie wollte jetzt unbedingt zum Strand, um ein paar Skizzen zu machen. Ihre Vorfreude drängte sie zur Eile, aber es war unmöglich, in den überfüllten Gassen voranzukommen. Die Touristen schienen alle Zeit der Welt zu haben. Als ihr Handy in ihrer Tasche klingelte, war es beinahe eine Erleichterung, weil es sie von ihrer Ungeduld ablenkte – bis sie aufs Display schaute.
Es war ihre Mum. Schon wieder.
Das schlechte Gewissen nagte an Lia. Sie sollte wirklich mit ihrer Mutter sprechen, aber sie war einfach noch nicht bereit. Bei ihrem letzten Gespräch hatte Lia ihr gesagt, dass sie etwas Zeit brauche, um mit ihrer neuen Lebensrealität klarzukommen. Und sie hatte auch jetzt nichts anderes zu sagen. Aber was noch schlimmer war: Ihre Mutter würde am Klingelzeichen erkennen, dass Lia nicht in England war. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Ihre Mutter würde total verletzt sein, wenn sie erfuhr, dass Lia einfach nach Italien gefahren war, ohne vorher mit ihr zu sprechen.
Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte sie, doch sie versuchte, sie abzuschütteln. Es war immerhin nicht ihre Schuld, dass ihre Mutter sie die ganze Zeit angelogen hatte. Sie stopfte ihr Handy auf den Boden ihrer Strandtasche und ging mit schnelleren Schritten grübelnd weiter.
Der Tag, als die Ergebnisse des DNA-Testes gekommen waren, würde ihr für immer im Gedächtnis eingebrannt bleiben. Ihre Freundin Izzy wollte einen Artikel über Menschen schreiben, die mithilfe dieser Tests mehr über ihre eigene Herkunft und über verloren geglaubte Familienmitglieder zu erfahren versuchten. Und sie hatte Lia und drei andere Freundinnen gefragt, ob sie Lust hätten, den Test zu machen, um zu sehen, welche Ergebnisse bei Leuten herauskämen, die im gleichen Viertel von London aufgewachsen waren.