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Budweis 1291. Franziska ist eine begabte Schneiderin, die großes Ansehen genießt. Seit ihrer revolutionären Erfindung des Knopfes ist sie in ganz Böhmen bekannt. Ihre prachtvollen und raffinierten Knopfkleider erregen Aufsehen, ihr Talent spricht sich bis in die höchsten Kreise herum, sogar am Königshof verlangt man nach ihren Diensten. Eines Tages gerät sie in einen Hinterhalt des gefürchteten Ritters Bero von Restwangen. In letzter Sekunde kann ihr Geliebter Ludwig sie retten. Doch Bero sinnt auf Rache: Ludwig flieht, und auch Franziska muss überstürzt die Stadt verlassen. Eine Reise in eine ungewisse Zukunft beginnt und führt sie über Nürnberg und Wien bis nach Venedig … Doch wird sie Ludwig je wiedersehen? Ein mitreißender und dramatischer historischer Roman über eine entschlossene junge Frau, an ihrer Bestimmung und an ihrer Liebe festzuhalten und den Wegen zu folgen, die das Schicksal ihr weist.
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Seitenzahl: 542
Budweis 1291: Die junge Schneiderin Franziska wird durch eine bahnbrechende Erfindung berühmt: Sie entdeckt den Knopf als Verschluss für Kleidungsstücke und revolutioniert damit die mittelalterliche Modewelt. Ihre prachtvollen und raffinierten Entwürfe erregen Aufsehen, und ihr Ruhm dringt bis in höchste Kreise – sogar Königshäuser verlangen nach ihren Diensten.
Eines Tages gerät sie in einen Hinterhalt des Adligen Bero von Restwangen. Ihre Jugendliebe Ludwig kann sie in letzter Sekunde retten. Doch Restwangen, ein Mörder und Hochverräter, sinnt auf Rache: Der junge Ritter muss fliehen und gerät in ein Netz von Intrigen, bis ein schändlicher Königsmord ihn zum Geächteten macht. Auch Franziska ist den üblen Machenschaften Bero von Restwangens ausgesetzt und muss überstürzt die Stadt verlassen. Eine Reise ins Ungewisse beginnt und führt sie über Wien nach Nürnberg … Kann es für die Liebenden doch noch eine glückliche Zukunft geben?
Ein mitreißender und dramatischer Mittelalterroman über eine junge Frau, die entschlossen ist, an ihrer Bestimmung und an ihrer Liebe festzuhalten.
Rainer Siegel wurde 1963 in Linz geboren und lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Berlin.
Umschlagfoto: Helena M. Damsel / trigger images /mauritius images
eBook Insel Verlag Berlin 2013
© Insel Verlag Berlin 2013
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»Das ist nicht lustig!«, rief Franziska, als sie die Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie dachte, eines der Kinder aus der Nachbarschaft wolle sie erschrecken. Sie wirbelte herum, doch sie erstarrte mitten in der Bewegung. Sie blickte geradewegs in das Gesicht des hässlichsten Mannes, den sie je gesehen hatte. Der magere, knochige Alte war dreckig und verlaust, und ein Augenlid hing seltsam nach unten. Das andere Auge stierte sie gierig an. Als er grinste, zeigten sich eklige schwarze Stummel, die schief in seinem Mund standen. Sein Atem, den er Franziska ins Gesicht blies, stank. Vergammelte Lumpen baumelten an seinem Leib, und seine zerfetzten Schuhe waren mit Schnüren umwickelt. Vergeblich versuchte Franziska, die Hand abzuschütteln, und sah sich nach Hilfe um; sie hatte allein auf der Weide des Rosshändlers gespielt und die Pferde mit Blättern und Gräsern gefüttert, den frischen, saftigen, die nur hier am Rand des Waldes wuchsen. Die Finger des abscheulichen Kerls rieben an dem guten, sauberen Stoff ihres Kleidchens und fassten in ihr Haar.
»Was haben wir denn da Schönes, hm?«, geiferte der Mann. Gebückt stand er vor ihr und zog sie näher zu sich. Franziska sprang einen Schritt zurück, die Hand des Mannes rutschte von ihr ab. Er geriet aus dem Gleichgewicht und wäre fast gestürzt. Franziska machte kehrt und wollte davonlaufen, doch eine zweite Lumpengestalt versperrte ihr den Weg. Als sie versuchte, seitwärts zu entkommen, griff plötzlich die Hand eines Dritten nach ihr und fasste den Kragen ihres Kleidchens. Franziska hörte den Stoff reißen und rannte weiter. Sie wusste, sie musste quer über die ganze Weide laufen, anschließend unter den Latten hindurchschlüpfen, die die Pferdekoppeln einsäumten, um auf den Hof Hermanns zu gelangen. Dorthin würden sich die Lumpen am helllichten Tag gewiss nicht wagen. Doch nur wenige Schritte gelangen ihr, bis ein kräftiger Stoß sie vornüberfallen ließ. Jemand drückte ihre Handgelenke hinter ihrem Rücken zusammen und presste ihr den Mund zu. Noch eine Gestalt war dazu gekommen, die irgendetwas von »In den Wald!« rief. Franziska wollte schreien, doch die Hand verschloss erbarmungslos ihren Mund. Dann wurde sie von starken Armen emporgerissen und davongetragen. Schreckliche Angst stieg in ihr auf.
Mit einem Mal ließen die Kerle sie auf den Boden fallen. Sie sah einen der Männer von einem Armbrustbolzen durchbohrt auf dem Rücken liegen. Ein zweiter griff nach seinem Hals und berührte noch den Pfeil, der bis zum Gefieder darinsteckte, bevor auch er fiel. Das Schlagen galoppierender Hufe drang an ihr Ohr. Zwei Reiter näherten sich und hatten sie schon beinahe erreicht. Der vordere ließ die Armbrust sinken und zog sein Schwert. Das Blut des Mannes, der ihr eben noch den Mund zugehalten hatte, spritzte auf ihren Kittel, als er von einem mächtigen Hieb getroffen zu Boden sank. Der zweite Reiter setzte dem letzten überraschten Räuber nach, der sich gerade ins Unterholz schlagen wollte. Franziska hörte einen unmenschlichen, langgezogenen Schrei, der plötzlich erstarb. Der Reiter trieb sein Pferd vorsichtig rückwärts aus den Bäumen und wendete das Tier. Der Schaft seiner Lanze war blutig.
»Dass sie so nahe an die Stadt herankommen, hätte ich nicht gedacht. Und Ihr, Herr Bero?«
Der Angesprochene war abgestiegen und wischte seine Lanze im Gras sauber. »Dummköpfe allesamt. Reite zum Vogt und bestell ihm, dass wir wieder vier von ihnen erwischt haben. Er soll sie abholen lassen und ausstellen, vielleicht taugen sie ja zur Warnung.« Er zögerte einen Moment, als er auf das ängstlich zitternde Mädchen sah: »Bring das Kind nach Hause, bevor du losreitest.« Mit diesen Worten bestieg er sein Ross und ritt in Richtung der nahe gelegenen Straße von dannen. Der Knappe trat auf Franziska zu. Vorsichtig wollte er sie aufheben, doch sie war schon von selbst wieder auf die Beine gelangt. Er fragte sie nach ihrem Zuhause, und Franziska wies auf die Gebäude, deren Dächer man hinter der Weide und einem Obstgarten gerade noch ausmachen konnte. Langsam gingen sie los.
Bero und sein Knappe hatten schon ein rundes Dutzend Räuber und Unruhestifter aufgespürt und zur Strecke gebracht. Wie viele von ihnen tatsächlich Verbrecher oder vielleicht nur arme Vagabunden waren, ließ sich nicht feststellen, da erst einer von ihnen vor Gericht gestanden hatte, und der war erwiesenermaßen ein Brandstifter und Mörder gewesen. Unter seinen Sachen hatte man einen Dolch gefunden, der dem beraubten und gemeuchelten Schneidermeister Gerhard, einem Bürger Budweis', gehört und dessen leere Scheide noch am Gürtel des Ermordeten gehangen hatte. Bero hatte den Schneider gekannt. Sein Großvater, der Lehnsherr Siegfried von Restwangen, hatte bei ihm Kleider für sämtliche Mitglieder des Haushalts in Auftrag gegeben. Kein halbes Jahr war es her, dass der Schneider überfallen worden war. Nach seinem Tod hatte die junge Witwe die Kleider alleine fertiggestellt.
Eine ganze Reihe von Raubmorden und Brandschatzungen hatte das Land im letzten Jahr in Unruhe versetzt; die Opfer waren zumeist deutschstämmige Bürger und wohlhabende Zunftmeister gewesen. Bei den Tätern soll es sich um böhmische Nationalisten gehandelt haben, die die Reichsnähe des jetzigen Königs ablehnten und sich nach ihrem alten König Ottokar zurücksehnten. König Wenzel hatte die Vögte angewiesen, Belohnungen für die Ergreifung oder Tötung dieser Aufwiegler auszuschreiben, und einige junge Ritter und deren Knappen besserten nun die Erträge ihres Lehens oder die Zuweisungen von ihren Vätern durch Kopfjagden auf.
Nele entfuhr ein Schrei, als sie ihr verschmutztes und verweintes Kind sah und den Bewaffneten, der es nach Hause brachte. Sie schloss Franziska in die Arme. Sie konnte dem Mann nicht genug danken für das, was er getan hatte.
»Dankt meinem Herrn, Bero von Restwangen, der seit Wochen im Auftrag König Wenzels Aufrührer zur Strecke bringt. Er hat für Eure Tochter gesorgt und das Ungeziefer vertilgt, das Hand an Euer Kind legen wollte«, sagte der junge Mann und verabschiedete sich, um zu seinem Herrn zurückzureiten. Bestimmt war diesem die Dankbarkeit der Schneiderwitwe Nele ebenso viel wert wie das Silber des Königs.
Es war ein festes Ritual zwischen den beiden Männern, dass sie, nachdem sie Lumpenpack das Lebenslicht ausgeblasen hatten, in eine Schänke gingen und Bier und Wein durch ihre Kehlen strömen ließen. Der Knappe zügelte seinen Durst, da er nicht in Gegenwart seines Herrn und schon gar nicht eher als dieser betrunken sein durfte. Bero würde ihn einen Schwächling heißen und ihn womöglich nicht mehr mit auf seine Streifzüge nehmen. Bero selbst hingegen kannte wenig Zurückhaltung. Wenn er getötet hatte, hatte er stets einen unbändigen Drang, sich zu betrinken – und danach das Verlangen nach einer Frau. In seiner Zeit bei der Armee hatte es Huren gegeben, die sich immer dort einfanden, wo Soldaten ihren Sold ausgeben konnten. Hierzulande waren die Dirnen seltener. Budweis war eine biedere Stadt. Dafür gab es auf den Gehöften Mägde und Bauerntöchter, die manchmal sofort willig waren, manchmal eine Münze sehen wollten und bisweilen ein paar kräftige Klapse benötigten oder auch schon mal von einem Helfer gepackt werden mussten, bevor sie sich auf den Rücken legten und die Beine spreizten. Manche von ihnen waren drall und kräftig und konnten einen guten Stoß vertragen, viele allerdings schrecklich mager und dünn. Nun, heute sollten sie ihre Ruhe vor ihm haben, dachte Bero, denn auf ihn wartete Besseres.
Franziska schlief längst fest, und Nele wollte gerade das Licht in der Stube löschen und sich in ihre Schlafkammer begeben, als sie den Hufschlag eines Pferdes und kurz darauf ein Pochen an ihrer Pforte hörte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt, bis sie den jungen Herrn von Restwangen erkannte, der vor wenigen Stunden ihre Tochter gerettet hatte. Sie roch den Alkohol in seinem Atem, als er an ihr vor
Verärgert warf Franziska den unförmigen Schuh ihrer Mutter beiseite, sodass er neben einem Korb mit Stoffresten liegen blieb. »Ich kann diese Treter nicht mehr sehen!«, brummte sie und überprüfte ein letztes Mal die Länge des Umhangs, den sie für Nele nähte. Die Näherinnen beugten sich tiefer über ihre Arbeit und warfen einander ein verstohlenes Lächeln zu. In den letzten Jahren war aus der kleinen Tochter der Meisterin eine temperamentvolle junge Frau geworden, die sich mit der gleichen Hingabe wie ihre Mutter dem Schneiderhandwerk widmete.
»Was stört dich denn daran? Die Schuhe sind doch fast neu«, fragte Nele ihre Tochter und drehte sich ein wenig in dem halb fertigen Kleidungsstück.
»Neu sind sie, das stimmt, aber sie taugen doch nur dazu, im Winter nicht im Schnee einzusinken. Willst du solche Ungetüme wirklich zu den feinen Sachen tragen?«
Nele hob den Schuh auf und besah ihn genauer. Franziska hatte schon Recht, besonders reizvoll wirkten die in dieser Gegend üblichen Schuhe wahrhaft nicht. Männer wie Frauen liefen, sofern sie überhaupt richtiges Schuhwerk besaßen, in linksherum genähten Füßlingen aus Leder herum, die eher wie übergroße Socken wirkten. Manche der wohlhabenden Männer trugen bisweilen auch mit langen Riemen umwickelte Schaftstiefel, die aber von gleicher Machart waren. Im Sommer liefen die Armen barfuß oder in einfachen Holzschuhen, und die weniger Armen trugen die gleiche Schuhmode wie im Winter. Bestenfalls waren die Sommerschuhe aus leichterem Leder gefertigt. Da die Kleider zumeist bodenlang waren, waren die Frauenschuhe ohnedies kaum zu sehen.
»Was stellst du dir denn vor?«, fragte Nele schließlich.
»Erinnere dich an den Besuch des Königs und der Königin in Budweis. Hast du die Schuhe der Königin gesehen?«
»Ehrlich gesagt, nein. Ich habe nur das schöne Kleid bestaunt.«
Nun blickten auch die Näherinnen von ihrer Arbeit auf. Die Gespräche zwischen der Meisterin und ihrer Tochter waren so spannend und boten schönen Gesprächsstoff, wenn die beiden Herrinnen einmal nicht anwesend waren, besonders da Franziska sich in letzter Zeit gegenüber ihrer Mutter mehr und mehr durchzusetzen begann.
»Also, das waren mehr so … so eine Art Sandalen. Ähnlich wie die der Mönche, nur ungleich feiner und schöner. Sie hatten eine schmale Sohle und gekreuzte Lederbänder. Um den Knöchel waren sie mit Riemen zu binden. Solche Schuhe bräuchten wir!«
»Dann gehen wir am besten zur Königin und bitten sie um ein Paar.« Eine der Näherinnen lachte und fing sich einen strengen Blick der Meisterin ein.
»Aber so Unrecht hast du nicht«, lenkte Nele nun ein. »Lass uns die Augen offen halten und sehen, ob man nicht anderenorts schöneres Schuhwerk trägt als hier. Bis zur Hochzeit wird es uns aber kaum gelingen, welches anzuschaffen. Und wenn wir weiter so trödeln und unsere Zeit mit Tratschen vergeuden, werden wir auch ohne neue Kleider feiern müssen. Machen wir also besser mit unserer Arbeit weiter. Ich muss ohnehin gleich fort, um mit Hermann die Bestellungen für das Fest zu bereden. Zacharias' Gehilfe will gleich kommen, um mit uns die Kosten durchzurechnen. Falls er zuvor hier auftauchen sollte, schicke ihn zu Hermann und halte ihn nicht zu lange auf. Hermann macht sich mal wieder Sorgen wegen des Geldes«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.
*
»Na, mein Herzblatt, arbeitest du wieder an deiner Aussteuer? Also ich schlafe am liebsten in Damaszener Leinen, wenn du das bitte berücksichtigen würdest. Und vergiss unsere Kinder nicht: Ordentliche weiße Hemdchen in verschiedenen Größen, und nicht zu wenige davon. Du weißt ja, wenn du mich erst unter der Haube hast, dann kenne ich kein Halten mehr!« Karl grinste sie frech an und Franziska lachte zurück. Der junge Gehilfe des Geldverleihers war zwar ein vorlauter Bursche, aber ein fescher Kerl war in letzter Zeit aus ihm geworden, stellte sie einmal mehr fest, als sie ihn nun von der Seite betrachtete. Karl war gertenschlank, sehnig und beweglich, und seine dunkle Haut, das scharf geschnittene Profil und die schwarzen Augen verliehen ihm etwas Fremdländisches und Mystisches. Wie meist war er schwarz gekleidet und hatte seine Mütze keck nach hinten geschoben. Sie wusste, dass die meisten Mädchen heimlich in ihn verliebt waren, oft genug hörte sie sie tuscheln, wenn er in der Nähe war. Sie selbst war ebenfalls verliebt und zwar bis über beide Ohren – allerdings nicht in ihn.
Vor etwa einem Jahr war es gewesen, als sie mit ihrer Mutter beim Lehnsherrn auf der Burg gewesen war, da hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen: Er mochte siebzehn oder achtzehn Jahre gezählt haben, war größer als alle anderen Männer auf Restwangen und hatte Haare so blond wie die Strahlen der Sonne. Trotz der Entfernung von mehr als einem Dutzend Klaftern konnte sie seine leuchtend blauen Augen sehen. Mit einem anderen, jüngeren Pagen scherzend hatte er sich um ein Pferd gekümmert und mehrmals verstohlen zu ihr hinübergeblickt, sodass Franziska plötzlich spürte, wie sie errötete, und sich schrecklich albern vorkam. Natürlich hatte sie sofort kleine Nachforschungen über den Jüngling angestellt und erfahren, dass der junge Mann der Stiefbruder des frechen Karl war. So hatte sie die nächstbeste Gelegenheit genutzt, diesen geschickt auszufragen. Karl suchte seit Jahr und Tag am Freitagnachmittag das Haus des Rosshändlers Hermann auf, um dessen Aufzeichnungen zu überarbeiten und Geldfragen mit ihm zu besprechen. Es war zu einer festen Gewohnheit geworden. Gewöhnlich blieb er über Nacht und kehrte erst am Abend des Samstags wieder zurück zu seinem Herrn Zacharias. Bisweilen sah er an diesen Tagen auch bei Nele vorbei, sodass es nicht schwer gewesen war, ihn zu einem Gespräch zu verlocken, zumal Karl sich gern in der Nähe der Näherinnen aufhielt.
»Ich war zehn Jahre alt, als Ludwigs – eigentlich heißt er ja Louis – Vater mich adoptiert hat. Meine Mutter war Mameluckin und lebte mit mir in Akkon im Heiligen Land. Leider wurde sie bei einem Aufstand betrunkener Söldner getötet, und ich habe mir das hier eingehandelt.« Er hob seinen rechten Arm, und Franziska betrachtete die künstliche Hand aus gemasertem Holz, die an seinen Unterarm geschnallt war. Bisher hatte sie sich nie getraut, den jungen Mann zu fragen, wie er dazu gekommen war. »Im Orient hätte ein arabisch aussehender Junge mit fehlender Hand nur geringe Überlebenschancen gehabt. Das Abhacken der Rechten ist dort die Strafe für ertappte Diebe, selbst wenn es sich dabei um Kinder handelt.« Er lächelte tapfer, als Franziska ein kleiner Schrei entfuhr.
»Oh, es gibt dort noch schlimmere Strafen, zum Beispiel für das Begaffen unbekleideter Damen: Man schneidet dem Täter …« Er grinste, als Franziska ihn unterbrach. »Ist ja gut, so genau will ich es gar nicht wissen. Doch erzähle, wie seid ihr denn nach Budweis gekommen?«
»Möchtest du die kurze oder die lange Fassung hören?«
»Erst mal die kurze, auf mich wartet noch Arbeit. Auf dich übrigens auch, nehme ich doch an.«
»Wie wahr, der Rosshändler braucht einiges an tatkräftiger Unterstützung. Also will ich mich kurz fassen. Henri de Montardier, Ludwigs Vater, Kreuzritter und Diplomat, diente in Akkon und war anerkannter Unterhändler zwischen den Ritterorden und dem Sultan von Ägypten. Ein großartiger Mann! Als Akkon kurz vor dem Fall stand, organisierte er die Ausreise der Frauen und Kinder. Wir drei Geschwister, also Louis, die kleine Marie und ich, Chalil, genannt Charles, wurden mit meiner Adoptivmutter Catherine de Montardier nach Zypern geschickt und sollten von dort weiter nach Europa reisen. Louis sollte bei Siegfried von Restwangen seine Pagen- und Knappenzeit verbringen, da Henri den alten Siegfried kannte und dessen Enkel Bero unter ihm dem Heiligen Kreuz diente.«
»Und wo sind eure Eltern jetzt? Hier in Budweis ja wohl nicht, das wüsste ich doch.«
»Das ist der traurige Teil der Geschichte. Catherine wurde auf Zypern von einem Unbekannten ermordet. Und als die Kunde vom Fall Akkons nach Zypern drang, ernannte man Rochus von der Enns, einen Mann, der in Henris Diensten stand, zu unserem Vormund. Er hat uns hierhergebracht.«
Franziska sah, wie schwer es dem sonst so fröhlichen Jungen fiel, von dem gewaltsamen Verlust zweier Mütter zu sprechen, und ein kurzer Schmerz durchfuhr sie, als sie an den frühen Tod ihres eigenen Vaters dachte. Sie wollte nicht tiefer in Karl dringen, doch der junge Mann erzählte freimütig weiter.
»Henri ist wohl in Akkon gefallen, wie fast alle Männer, die bis zuletzt dort ausharren mussten. Ich wundere mich ja, wie Bero von Restwangen es aus dieser Hölle geschafft hat. Aber, wer weiß? Vielleicht hatte er einfach Glück oder einen eifrigen Schutzengel. Jedenfalls landete Louis als Page bei Siegfried und Marie in einem Dominikanerinnenkloster unweit von hier. Meine Talente hingegen lagen im Erlernen von Sprachen und besonders in der Mathematik«, fügte er ohne falsche Bescheidenheit hinzu. »Deshalb hat mich der alte Zacharias hier in Budweis als seinen Lehrling und späteren Gehilfen aufgenommen. Da ich getauft bin, stehen mir Türen offen, die ihm als Juden versperrt sind, und gemeinsam sind wir die Stütze der Budweiser Kaufmannschaft. Und der muss und werde ich jetzt wieder dienen. Sei also verabschiedet, holde Maid!« Bei den letzten Worten hob er die Holzhand zum Gruß und spazierte davon, um Hermann bei seinen Aufzeichnungen zu unterstützen.
*
Nach und nach hatte Franziska schließlich die gesamte Lebensgeschichte der drei Geschwister erfahren, und eines Tages hatte die Liebelei zwischen ihr und Ludwig ganz unschuldig begonnen.
Als Tochter einer Schneiderin hatte sie immer Wert auf ihr Äußeres gelegt, doch seit sie Ludwig erstmals gesehen hatte, verließ sie Neles Hof nur noch aufs Feinste herausgeputzt, stets in der Hoffnung, ihm zu begegnen. Sie war etwas größer als ihre Mutter, nicht ganz so dünn, und ihre mädchenhafte Anmut war ihr auch nach Erhalt ihrer fraulichen Rundungen erhalten geblieben. Ihre Mutter beobachtete sie nachdenklich, wenn sie vor dem Ausgang nochmals ihr Mieder schnürte und sich vor dem Spiegel drehte, doch hatte sie bisher noch kein Wort über den auffälligen Putz der Tochter verloren. Franziska war stolz auf ihr glänzendes braunes Haar, das sie sorgfältig pflegte und gern zu fröhlichen Frisuren flocht, die die Form ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen unter den bernsteinfarbenen Augen betonten. Schon in den letzten Jahren waren Nele hie und da die Blicke der Männer aufgefallen, die jetzt, da Franziska mit fünfzehn längst heiratsfähig war, umso unverhohlener ihr Interesse zeigten. Die eine oder andere Bürgersfrau hatte auch bereits Andeutungen gemacht, dass es wohl langsam an der Zeit sei, einen Gatten für sie zu erwählen.
Franziska selbst schien keine Notiz von ihren Bewunderern zu nehmen, es sei denn, Ludwig sah sie mit leuchtenden Augen an. Seit ihrer ersten Begegnung auf Restwangen hatten sie sich in der Kirche, die auch der Restwangen'sche Haushalt besuchte, oder wann immer sie sich zufällig über den Weg liefen, heimlich Blicke zugeworfen, was dem raffinierten Karl natürlich nicht lange verborgen blieb. Nachdem er sich eine Zeitlang darüber amüsiert hatte, konnte er den liebeskranken Bruder und die offensichtlich ebenso schmachtende Franziska nicht mehr länger leiden sehen und bot sich als diskreter und verschwiegener Amor an, der heimlich Briefchen schmuggelte oder die eine oder andere Botschaft überbrachte. Anfangs hatte er die Briefe noch gelesen, doch dann hatte er sie nicht mehr geöffnet, da zum einen ohnehin immer das Gleiche darin stand, er zum anderen aber auch erkannte, dass er kein Recht hatte, sich in die Geheimnisse der beiden einzuschleichen. Stattdessen hatte er die wenigen bisherigen Treffen der beiden arrangiert, kleine harmlose Spaziergänge nach der Sonntagsmesse, von denen jedoch niemand aus den Haushalten der Turteltauben erfahren sollte. Natürlich war Nele längst nicht so unwissend, wie sie vorgab, doch gewährte sie ihrer Tochter stillschweigend diese kleine Freiheit.
*
Seit dem Tod von Franziskas Vater hatte Nele die Schneiderei allein geführt. Ihr Nachbar, der Rosshändler Hermann, hatte sich bei der Zunft für sie verwandt und gebürgt, und schließlich hatte man der Führung eines Witwenbetriebs auf unbestimmte Zeit zugestimmt und auf die sonst übliche Auflage verzichtet, binnen dreier Jahre einen Schneidermeister zu heiraten oder das Geschäft an einen anderen Schneider zu übergeben. Viele wohlhabende Bürger ließen ihre Kleider ausschließlich bei Nele fertigen, die mit ihrer kleinen Schar von Näherinnen im Lauf der Jahre die erste Schneiderin am Platz geworden war. Seit Franziska ebenfalls in der Werkstatt arbeitete, war es mit dem Betrieb noch weiter aufwärts gegangen, da die Tochter mit vielen neuen Ideen die Arbeiten ihrer erfahrenen Mutter auffrischte und ein besonderes Talent fürs Entwerfen und Fertigen eleganter Gewänder hatte. Franziska war praktisch in der Schneiderei aufgewachsen und handwerklich längst ebenso geschickt wie ihre Mutter. Sie hatte als einziges Mädchen der Stadt die Bürgerschule besucht, bis sie elf war, und anschließend bei Nele das Schneiderhandwerk erlernt. Es wäre ihr nie ein anderer Beruf in den Sinn gekommen. Sie liebte ihre Kunst über alles, oder beinahe über alles, gestand sie sich ein, wenn Ludwig sich wieder einmal in ihre Gedanken schlich.
Hermann, der Rosshändler und Nachbar, war schon seit sehr vielen Jahren ebenfalls verwitwet und jetzt, als die Leute schon recht unverhohlen darüber sprachen, dass Witwer und Witwe sich ja anscheinend sehr gut zu verstehen schienen, hatten Nele und er den Entschluss gefasst, vor den Altar zu treten. Insofern hatte Karl mit dem Begriff Aussteuer gar nicht so Unrecht. Sie nähte tatsächlich an neuen Kleidern für ihre Mutter, jedoch an keinem Nachtgewand, das machte Nele schon selbst.
*
Noch immer stand Karl neben ihr. »Stell dir vor, ich werde morgen, wenn ich hier fertig bin, der Burg derer von Restwangen einen Besuch abstatten. Gibt es vielleicht jemanden, den ich von dir grüßen soll?«
Franziskas Augen glänzten. »Wirst du ihn treffen?«, fragte sie und spürte, wie ihr Herz einen kleinen Sprung machte.
»Nun ja, das kommt darauf an, ob mein nichtsnutziger Bruder abkömmlich und nicht gerade mit Wichtigerem beschäftigt ist. Mit einem Holzschwert auf den armen Pagen einzudreschen, Gäule zu striegeln oder so.«
Franziska kicherte. Sie wusste, wie ernst Ludwig seine Ausbildung nahm und wie sehr er sich bemühte, in allen Bereichen der Beste zu sein.
»Apropos Gäule, habt ihr meine alte Mähre gelegentlich gefüttert und nach ihr gesehen, damit morgen nicht am Ende ich sie tragen muss?«
Wieder musste Franziska lachen. Die Mähre war eine edle und kostbare fünfjährige Stute, und sie hatte es nie verstanden, wie es Karl gelungen war, sie Hermann abzuschwatzen. Das Pferd war eines Fürsten würdig und eines der schönsten Tiere aus Hermanns Zucht. Sie hatte einmal gehört, wie der Rosshändler bei einem Gelage lachend gesagt hatte, der Bursche hätte den Gaul zwar mehrfach verdient, aber lieber hätte er ihm eine Tochter zur Frau gegeben, das wäre billiger gekommen.
»Fathma steht hinten auf der Koppel. Wohlgenährt, gestriegelt und verzogen wie immer. Ein schreckliches Mädchen! Ich werde nie begreifen, wie ihr Männer auf solche Frauen hereinfallen könnt.«
Karl lachte und drückte Franziska einen blitzschnellen Kuss auf die Wange. »Jetzt muss ich aber los, ich habe Hermann noch Sklavendienste zu leisten.« In der Tür drehte er sich um und griff mit der Linken in die Tasche über seiner Holzhand am rechten Arm. »Bevor ich es vergesse, da war so ein zerlumpter Kerl, so ein großer Blonder, ziemlich hässlich und mit laufender Nase, der mir dieses Papier für dich gegeben hat. Ich kann es gern für dich wegwerfen, es sei denn …« Franziska war schon aufgesprungen und hatte ihm den Brief aus der Hand gerissen, bevor er lachend aus der Tür verschwand.
Sie versteckte das Schreiben zunächst in der Tasche ihres Rocks. Die Näherinnen konnten jeden Augenblick in die Werkstatt kommen, und sie wollte nicht von ihnen wegen eines Liebesbriefes gehänselt werden. Sie und Ludwig schrieben einander, sooft Karl als Bote zur Verfügung stand, und Ludwig hatte ihr versprochen, die gelesenen Briefe zu verbrennen, damit sie keinem anderen in die Hände fallen konnten. Ihre Liebe sollte ein Geheimnis bleiben. So lange, bis die Knappenzeit Ludwigs beendet war und er eigene Wege gehen konnte. Sie wusste zwar nicht, wann das sein sollte, aber sie würde darauf warten. Andere Mädchen in ihrem Alter waren schon seit einem oder zwei Jahren verheiratet und hatten Kinder zur Welt gebracht. Erst kürzlich hatte ihre Mutter sie vorsichtig gefragt, ob das nicht auch ihr Wunsch wäre, man würde bestimmt einen guten Mann für sie finden, aber sie hatte nur mit einem wütenden Blick geantwortet, und Nele hatte sich schweigend zurückgezogen.
Die Meisterschaft und Zunft hatte Franziska schon Monate vor ihrem vierzehnten Geburtstag den Gesellenbrief ausgestellt, und der Brautumhang, der jetzt auf ihrem Schoß lag und das Wams des Bräutigams, das bereits entworfen war, sollten ihre Meisterstücke werden. Sie wäre dann die jüngste Meisterin Böhmens, aber die Zunftmeister hatten großzügig eine Ausnahme von ihren sonst strengen Regeln beschlossen, da sie fürchteten, dass Nele als Ehefrau eines wohlbestallten Kaufmanns bald als Betriebsinhaberin ausfallen könnte und die beste Schneiderei der Stadt, die dieser und der Zunft erkleckliche Einnahmen sicherte, plötzlich ihre Arbeit einstellen könnte. In andere Betriebe hätte man gewiss einen männlichen Schneidermeister berufen, aber Neles Werkstatt war ein eingesessener Witwenbetrieb, eine Frauenschneiderei.
Die folgenden Stunden nähte Franziska ohne Unterlass. Der Umhang war beinahe fertig. Er umschloss den gesamten Nacken der Trägerin. Der moderne Kragen stand hoch und steil nach oben, sodass er bis zur Höhe ihres Scheitels reichen würde. Die fast unsichtbare Krümmung von Neles Rücken, von der sie wahrscheinlich nicht einmal selbst wusste, wurde von einem raffiniert fließenden Faltenwurf verborgen. Der dunkelgrüne Umhang mit den schwarzen Verbrämungen umhüllte die zierliche Gestalt der Braut zu drei Viertel, ließ die Vorderansicht aber frei und verlieh der Trägerin ein wenig mehr Größe und Eindruck. Franziska war zufrieden mit ihrer Arbeit und freute sich schon darauf, ihre Mutter in dem Umhang in die Kirche schreiten zu sehen. Zu gern hätte sie auch das dazu passende Brautkleid genäht, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dies selbst zu tun. Bestimmt würde es viel zu hoch geschlossen und langweilig werden, dessen war Franziska sicher. Auf der anderen Seite, und das musste sie zugeben, durfte eine einunddreißigjährige Witwe sich bei ihrer zweiten Hochzeit nicht wie ein junges Ding kleiden. Schließlich war sie bereits im Großmutteralter, auch wenn sie auf Franziska viel jünger wirkte.
*
»Hau ab, ich muss arbeiten!«, sagte Karl zu dem gefleckten Kater mit dem dicken Kopf, der es sich zuerst auf dem Tisch und dann auf Karls Schoß bequem gemacht hatte. Das Tier dachte jedoch nicht daran, sich zu trollen, sondern spielte mit seinen Krallen versonnen in Karls Kleidern. »Gibt es hier keine Mäuse mehr zu fangen oder hast du diese Arbeit an eines deiner unzähligen Kinder übertragen?«, fragte Karl ihn. Der Kater machte noch immer keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Karl stupste ihn mit seiner Rechten an, und das Tier versuchte, seine scharfen Zähne in einen der hölzernen Finger zu schlagen, und schien enttäuscht zu sein, dass ihm das nicht gelang. Er versuchte es weiter.
Das kostbare Katzenpärchen und der junge Kater waren eine der ersten Investitionen gewesen, zu denen Karl den Rosshändler überredet hatte. Eine ordentliche Anzahl von Katzen konnte die Mäuseplage und das Ausbreiten von Ratten spürbar im Zaum halten, und Hermanns Futterlager, Speisekammer und Keller würden es ihm danken. Die Tiere vermehrten sich munter, und bald wurden die kleinen Kätzchen zu einem der Markenzeichen des Rosshändlers.
»So, und jetzt sorge entweder für neuen Nachwuchs oder tu sonst was Nützliches. Ich kann dich hier nicht gebrauchen.« Sachte setzte Karl den schweren Körper auf den Boden und gab ihm einen leichten Schubs. Der Kater sah kurz beleidigt zu ihm hoch, bevor er sich betont langsam und mit stolz erhobenem Haupt und emporgerecktem Schwanz aus der Tür begab.
Zahl um Zahl trug Karl in Hermanns Kassenbuch ein. Im Lauf der Jahre hatte er einen gewissen Spürsinn dafür entwickelt, wie die Geschäfte des Händlers üblicherweise abliefen, und er musste den Meister schon lange nicht mehr wegen jeder Einzelheit seiner Abschlüsse um Auskunft fragen. Eines Tages hatte die damals dreizehnjährige Franziska plötzlich neben Karls Schreibpult gestanden und ihm über die Schulter gespäht. Schnell hatte sie sein System begriffen. Karl teilte jede Seite in vier Spalten. In die erste trug er die Verkäufe und ihre Geldeingänge ein, in eine weitere die Einkäufe neuer Tiere, in die dritte die Kosten, die der laufende Betrieb verursachte, und in die letzte die Ausgaben für Hermanns Haushaltsführung. Unten auf jeder Seite fand sich der jeweilige Kassenstand, den er gemeinsam mit Hermann wöchentlich überprüfte.
Ab diesem Tag leistete Franziska Karl öfter Gesellschaft, wenn er für den Rosshändler arbeitete, und es dauerte nicht lange, bis sie die Buchführung ebenso beherrschte und genauso sorgfältig wie er. Auch Nele hatte sich des jungen Mannes immer wieder bedient, wenn größere Aufträge oder die Zunftabgaben zu berechnen waren, und stets hatte er ihr gute Dienste geleistet. Umso mehr staunte sie, als sie eines Tages Franziska über die Bücher gebeugt vorfand, Tintenfass und Abakus neben sich und an den Summen für eine Brautausstattung nebst Aussteuer tüftelnd. Fortan erledigte Franziska diesen Teil der Arbeit, den ihre Mutter mit ihren geringen Schriftkenntnissen nur mangelhaft beherrschte.
»Wie schlimm ist es denn heute, Beherrscher meines Geldes?«, hörte Karl nun den Hausherrn poltern. »Nage ich schon am Bettelstab oder kann ich dir noch eine warme Mahlzeit spendieren?«
»Für einen Teller Suppe könnte es noch reichen, aber nur, wenn ich vor den anderen drankomme«, antwortete Karl grinsend. »Ich bin bald fertig hier, nur noch die Konten auf dieser Seite. Morgen gehe ich nochmals die Bestellungen und die Kosten für die Hochzeit durch. Was ich so gesehen habe, scheinst du ja mit dem König wetteifern zu wollen!«
»Ach was! Es wird nur eine einfache Bürgerhochzeit und außerdem – wie oft hat unsereiner denn schon Gelegenheit zum Feiern? Aber es soll keiner mit leerem Magen nach Hause gehen!« Karl lachte wieder und vertiefte sich erneut in die Papiere. Es dämmerte bereits, als er die letzte Zahlenreihe abschloss und etwas Sand auf die noch feuchte Tinte streute. Sorgfältig verstaute er den dicken Folianten und das Schreibzeug in einer dafür vorgesehenen Schublade. Er ging in die Küche, um sich einen Krug Bier geben zu lassen, den er sich auf einer Bank vor dem Haus schmecken lassen wollte.
Gerade hatte er den ersten langen Schluck genommen, als Franziska auf ihn zukam. »Das nennt dieser Kerl also arbeiten. Sitzt gemütlich auf der Bank mit dem größten Humpen in der Hand, der im ganzen Haus zu finden ist. Unfassbar!«
Mit strengem Kopfschütteln ließ sie sich auf den Platz neben Karl sinken. »Könntest du am Sonntag«, flüsterte sie, als sie ihm den klein gefalteten Zettel zuschob, den er unauffällig in seiner Tasche verschwinden ließ. Karl überlegte kurz, ob er sie noch ein wenig necken sollte, beließ es aber nur bei einem freundschaftlichen Nicken. »Danke«, sagte Franziska leise. »Ich weiß nicht, wie …«
»Schon in Ordnung«, sagte der Junge nur. »Erzähl mir lieber von den Hochzeitsvorbereitungen und von den geladenen Gästen. Schließlich muss ich die Kosten noch zurechtstutzen, sonst heiratet die brave Nele einen Habenichts.«
»Also, fangen wir mit den Speisen an …«, begann Franziska und zählte auf, was sie in den letzten Tagen mitbekommen hatte. Kapaune und Enten sollte es geben, fette Karpfen aus den Fischteichen der Umgebung, Hasen und anderes Niederwild und natürlich Braten. Der Bäcker sollte einen ganzen Handkarren Brotlaibe liefern und noch einiges an Süßgebäck. Roter und sogar goldener Wein warteten bereits im Keller, das Bier würde am Vortag des Festes geliefert werden. Um die hundert Menschen sollten verköstigt werden und jeder nach Herzenslust tafeln und zechen. Die Überreste, auch die der teuren und ausgefallenen Speisen und Getränke, sollten an die Bettler und sonstigen Hungerleider der Stadt verteilt werden. Karl überschlug kurz im Kopf die Kosten und pfiff durch die Zähne. »Meine Güte, ich muss schon sagen! Also, wenn ich das dem alten Zacharias erzähle …« Mit bedauernder Bankiersmiene schüttelte er den Kopf.
»Wird es zu teuer?«, fragte Franziska besorgt. »Vielleicht könnte man …«
»Lass gut sein«, sagte Karl. »Hermann kann sich das schon leisten. Er darf nur nicht zu oft heiraten.«
Mittlerweile war es ziemlich dunkel geworden. Franziska verabschiedete sich und lief den kurzen Weg zu Neles Grundstück. Karl trank sein Bier aus und ging in die große Stube des Hauses, wo bereits das Abendmahl aufgetragen wurde.
*
Karl hatte sich für den heutigen Sonntag einiges vorgenommen. Bereits im ersten Morgengrauen stand er auf, kleidete sich an und lief zu Hermanns Hof. Da er später die Messe besuchen wollte, verzichtete er auf ein Frühstück und trug stattdessen seinen Sattel zur Koppel. Fathma kam auf seinen Pfiff sofort angetrabt und streckte den Kopf nach dem Apfel, den er ihr mitgebracht hatte. Willig ließ sie sich striegeln, satteln und zäumen. Sie hatte gelernt, während dieser Prozedur ganz still zu stehen, was für den Einhändigen eine große Erleichterung war. Dann saß Karl auf und ließ die Stute im Schritt aus dem Hof laufen. Nachdem er sicher war, dass die Muskeln des Tieres sich ausreichend erwärmt hatten, ließ er es zügig durch ein Waldstück traben, bevor er ihm auf einem freien Wegesstück die Sporen gab und in gestrecktem Galopp vorwärts stürmte. Er liebte es, den Wind im Gesicht zu spüren und sich Fathmas Bewegungen anzupassen. Die Stute streckte sich, schien dabei länger und niedriger zu werden, während ihre Hufe einen Trommelwirbel auf den Boden schlugen. Sie schien niemals zu ermüden, und erst als ihr silbernes Fell sich langsam dunkel färbte, ließ Karl sie wieder in einen gemütlichen Trab fallen.
Er legte die Strecke rasch zurück, denn er wollte das Kloster wie bei all seinen Besuchen rechtzeitig bis zum Hochamt erreichen. Fathmas Hufe klapperten auf dem gepflasterten Weg, der durch das Tor in das Innere des Klosters und zur Kirche führte. Ein kleiner Junge bot an, sich um das Pferd zu kümmern und es zu tränken, und Karl warf ihm eine Kupfermünze zu, die der Kleine grinsend in seinen Hosentaschen verschwinden ließ.
Die Messe zog sich in die Länge, und wie so oft in Gottesdiensten wunderte Karl sich über die Hingabe der Besucher, die doch die lateinischen Worte des Priesters und die Gesänge der Nonnen und der Novizinnen ohnehin nicht verstehen konnten. Genaues Hinhören zeigte ihm, dass es mit dem Latein des Pfaffen auch nicht weit her war, und er war froh, in einem dunklen Winkel zu stehen, sodass niemand sah, wie er gegen das Schmunzeln ankämpfen musste.
Die älteren und ranghohen Ordensfrauen hatten die Bänke des Gestühls eingenommen, das sich in Längsrichtung gleich vor dem Altar befand. Die jüngeren Schwestern und die Novizinnen, bewacht von ihrer Meisterin, standen in zwei Reihen dahinter, und Karl konnte hin und wieder einen Blick auf Maria werfen, die ebenfalls, so unauffällig wie sie nur konnte, immer wieder nach ihm Ausschau hielt. Sie musste sein Pferd gesehen haben, als sie mit ihren Kameradinnen die Kirche betreten hatte. Schließlich erblickte sie ihn, und ihr Gesicht strahlte. Ein kurzes kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, um den Stiefbruder zu begrüßen, doch gleich gab sie sich wieder Mühe, ein ernstes und gläubiges Gesicht zu machen. Karls Augen hafteten auf ihrem Gesicht. Wie hübsch seine Schwester doch war! Maria sah für ihn aus wie ein unschuldiger Engel. Sie war etwas größer als die meisten anderen Mädchen und hatte die blonden Haare zu einem Kranz geflochten, eine kleine Eitelkeit, die man den jungen Klosterbewohnerinnen aber durchgehen ließ. Ihr Gesicht war ebenmäßig, und ihre großen blauen Augen erinnerten Karl an ihre Mutter, der die Vierzehnjährige wie aus dem Gesicht geschnitten war. Karl bemerkte, wie einige Männer nach den Novizinnen schielten und wie so mancher Blick auf den jungen und festen Körpern ruhte. Die Mädchen trugen die unförmigen, langen, dunklen Kittel, die in Klöstern üblich waren und fast den ganzen Körper bedeckten, doch sie waren sauber, gut genährt und wirkten ausgeruht und gesund. Die Ordensmädchen wuchsen unter gänzlich anderen Bedingungen als die Dorfkinder auf, schließlich waren Klosterschulen und Frauenklöster den Töchtern guter und wohlhabender Familien vorbehalten, die sich das behütete Heranwachsen der Kinder und ihre spätere Versorgung eine hübsche Stange Geld kosten ließen. Karl hatte auf Weisung Rochus' die jährliche Summe aus dem von Zacharias verwalteten Treuhandvermögen bezahlt und über die Höhe des Betrags immer wieder den Kopf geschüttelt. Er überschlug kurz die Summe, die die Äbtissin alleine durch die Zahlungen für die Noviziate einnehmen musste und für die prächtige Gestaltung des Stifts und das Wohlergehen der vornehmen Bewohnerinnen aufwenden konnte. Im Vergleich zur Außenwelt war das Kloster eine Insel des Wohlstandes und der Sorgenfreiheit. Den einfachen Leuten musste es wie das Paradies erscheinen.
Die bisherige Äbtissin war eine unbeugsame Geschäftsfrau gewesen, die den klösterlichen Besitz, die dazugehörenden Ländereien und die angeschlossenen Betriebe mit eiserner Hand verwaltete. Sie hatte ein großes Hospital errichten lassen, in dem bereits vielen Menschen geholfen wurde. Gern hatte sie Ratschläge von Karl entgegengenommen, wenn es um kaufmännische Dinge ging; von ihren Forderungen betreffend der Schutzbefohlenen war sie jedoch nie auch nur um ein Jota abgewichen. Die Frau war höchstens dreißig Jahre alt gewesen, von hoher Geburt und, wie Karl richtig vermutete, nicht ganz freiwillig hinter Klostermauern gelandet.
Wie Karl von einem fahrenden Händler erfahren hatte, war die Äbtissin zu Beginn dieses Monats jedoch abberufen worden und hatte, was unüblich war, das Kloster verlassen. Ihrer Nachfolgerin, die umringt von den anderen Schwestern in der Mitte der rechten Bank saß, ging kein allzu guter Ruf voraus. Karl beobachtete sie genau und was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Die Äbtissin war ein streng und verschlossen wirkender alter Drachen mit dem wenig passenden Namen Innozentia, die Unschuldige. Sie kniff die Lippen fest zusammen, öffnete sie nur dann und wann zum Singen und ließ dabei ein schlechtes Gebiss sehen. Streng musterte Innozentia die Frauen und Mädchen ihr gegenüber und schien sich jede kleine Unaufmerksamkeit genau einzuprägen.
Karl hatte ihr bestellen lassen, dass er sie sprechen müsse, und sie hatte eingewilligt, ihn nach dem Gottesdienst zu empfangen.
Als die Messe zu Ende war, wurden die Mädchen wieder zurück zu ihren Diensten geführt, die zumeist in der Krankenpflege bestanden. Karl wartete vor dem Empfangsraum, den er von seinen früheren Besuchen her kannte, bis ihm eine schüchterne Bedienstete mitteilte, dass er nun der Schwester Oberin seine Aufwartung machen könne.
Im Gegensatz zu seinen früheren Besuchen befand sich in dem kleinen Empfangsraum nur noch ein einziger Stuhl, auf dem die gewichtige Frau bereits saß, die Ellenbogen auf die Platte des Tisches gestützt, der als Barriere zwischen ihr und dem Besucher diente.
»Es trifft sich gut, dass Ihr um das Treffen gebeten habt. Ich bin gerade dabei, die Angelegenheiten der Mädchen zu regeln, die demnächst ihre Profess ablegen werden.«
Karl setzte eine demutsvolle Miene auf und schwieg. Oberin Innozentia sprach weiter. »Nicht alle von ihnen halte ich für geeignet, eine klösterliche Laufbahn einzuschlagen. Ich werde einige von ihnen nach Ende ihrer Ausbildung zu ihren Familien zurückschicken. Für Maria von Montardier habe ich indes entschieden, dass ihr zukünftiger Platz hier sein soll. Sie ist nicht dumm und durchaus gelehrig. Die für unser Stift so wichtige Heilkunde scheint ihr zu liegen, besonders was die Behandlung von Frauenleiden betrifft. Sie geht seit längerem der Hebamme zur Hand, natürlich nur, soweit dies für ein junges Mädchen schicklich ist. So viel ich weiß, seid Ihr von ihrem Vormund bevollmächtigt, die Bedingungen ihres Eintritts anzunehmen. Ist dies so?«
»Gewiss. Ein entsprechendes Dokument hat Eure Vorgängerin erhalten. Meine eigene Mündigkeit wurde von unserem Vormund bereits vor zwei Jahren erklärt.«
Die Frau nickte. »Bei Marias Einkehr vor beinahe acht Jahren wurde schon die damals vorhandene Mitgift besprochen. Rochus von der Enns hat ihr Vermögen mit dreihundert Goldflorin beziffert. Das entspricht etwa vierhundert Gulden. Hat sich an diesem Vermögen etwas geändert?« Karl schüttelte den Kopf. Innerlich staunte er, dass Rochus Marias Vermögen mit weniger als der Hälfte des tatsächlichen Werts angegeben hatte. So viel Weitblick hatte er dem harmlosen Kerl gar nicht zugetraut.
»Nun denn. Das Kloster benötigt dringend Grundbesitz. Gehören noch Liegenschaften irgendwelcher Art zu dem Vermögen?«
»Nein«, antwortete Karl. »Unsere Eltern lebten im Heiligen Land und unser Vater war ein Drittgeborener. Auch die Mutter brachte keinen Grundbesitz mit in die Ehe.«
»Nun, die Mitgift ist gering. Geringer als üblich. Streng genommen ist sie sogar lächerlich. Dies hier ist eines der führenden Frauenklöster Böhmens, wenn nicht des ganzen Reiches. Es ist eine große Ehre für jede Familie, eine Tochter hier unterzubringen. Ich kann bei weitem nicht jedem Antrag stattgeben. Wenn die Ausbildung Eurer Schwester vorangetrieben werden soll, wird diese Summe keinesfalls genügen.«
»An welchen Betrag denkt Ihr?«, fragte Karl gerade heraus.
»Nun, die Summe müsste schon verdoppelt werden. Auch dann ist die Mitgift noch nicht als angemessen zu bezeichnen, aber ich würde eine Ausnahme machen.«
Du Gaunerin, dachte Karl, schacherst schlimmer als jeder Rosshändler. Ich wette, die Eltern der meisten anderen Mädchen kriegst du damit herum. Gut, dass ich rechtzeitig gekommen bin. Keinen Kreuzer werfe ich in deinen gierigen Rachen, wenn Maria es nicht ausdrücklich wünscht.
Karl gab sich betont nachdenklich. »Ihre Familie erwägt, sie nicht in den Schwesternstand eintreten zu lassen, sondern sie zu verheiraten. Wir haben noch nicht endgültig entschieden.«
»Sie zu verheiraten?« Die Ordensfrau ließ ein kurzes, falsches Lachen hören. »Wie könnte das in Frage kommen? Ihre Eltern waren Edelleute, gewiss, doch waren sie Ausländer und niemand hierzulande kennt die Familie. Ein Erstgeborener scheidet somit als Gemahl aus. Obendrein ist die Mitgift winzig. Ein Nachgeborener könnte damit kein standesgemäßes Leben aufbauen. Und letztendlich – mit einem Mauren in der Familie, der in den Diensten eines Juden steht …«
Karl machte sich nicht die Mühe, sie darüber aufzuklären, dass die Mauren eigentlich in Spanien und Nordafrika lebten. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, wo diese Orte waren. Stattdessen senkte er demutsvoll das Haupt.
»Mit Verlaub. Ich verstehe Eure Ansicht und bewundere Euren Weitblick – sie zeugen von großer Weisheit und Erfahrung. Ich werde mich nochmals mit ihrem Vormund und mit ihrem ältesten Bruder besprechen. Vielleicht bestehen bereits Pläne für eine passende Verbindung. Ich sehe Rochus von der Enns zwar nur sehr selten, werde aber Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Ihr werdet keinen Erfolg haben. Maria ist nirgendwo so gut aufgehoben wie hier. Doch gewiss kann ich Euch nicht daran hindern, nach Eurem Gutdünken zu verfahren. Wenn ihr sie unbedingt verheiraten und ihr die klösterliche Laufbahn verwehren wollt, steht Euch das frei. Die Abfindung für ihre Ausbildung beträgt zweihundert Silberpfund.«
»Die Abfindung?«, fragte Karl ungläubig und hätte angesichts dieser Dreistigkeit beinahe die Fassung verloren. »Es wurde jedes Jahr pünktlich der geschuldete Betrag beglichen. Von Abfindungen bei ihrem Austritt war nie die Rede.«
»Ihr scheint nicht rechtskundig zu sein, doch ich will Euch aufklären: Gewiss wurde für die Unterbringung und die Verköstigung des Mädchens bezahlt, auch für die Grundausbildung an der Klosterschule. Doch hat Maria eine weiterführende Ausbildung in der Heilkunde genossen, in die das Kloster beträchtliche Mittel hat fließen lassen, in Erwartung eines allseitigen Nutzens, wie zu betonen ist. Wir können und dürfen nicht die Gaben anderer und das Vermögen der Kirche nutzlos vergeuden. Eine Abfindung ist rechtens und aus unserer Sicht unabdingbar.« Mit diesen Worten lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte Karl mit siegesgewissem Blick ins Angesicht. Er sah keinerlei Wanken oder Nachgiebigkeit in den kleinen Schweinsaugen der Frau. Er musste sich etwas einfallen lassen, auf jeden Fall musste er zunächst ausgiebig mit Maria sprechen. Schließlich nickte er.
»Ich danke Euch für Eure Angebote und Eure Großzügigkeit.« Ein huldvolles Lächeln huschte über das triumphierende Gesicht der Nonne. »Ich werde mich bemühen, Euch die Entscheidung von Marias Familie ehestens zukommen zu lassen. Noch heute besuche ich die Burg Restwangen, um mich mit meinem Bruder zu besprechen. Ich habe allerdings noch eine Bitte an Euch.« Die Frau sah ihn verwundert an, doch schließlich ließ sie ihn weitersprechen.
»Gewährt Maria einige Tage Urlaub.«
»Urlaub? Wie kommt Ihr auf den Gedanken, dass das möglich sei?«
»Mein zweiter Dienstherr verheiratet sich. Maria ist zusammen mit Ludwig und mir zu der Hochzeit geladen. Es werden hohe Gäste erwartet, und mein Herr trug stets Sorge um unsere Familie. Vielleicht kennt Ihr ihn. Er ist der größte Pferdehändler von Budweis.«
Innozentia dachte kurz nach. Einerseits war es gänzlich unüblich, dass eine Novizin das Kloster verließ, es sei denn, es wären klösterliche Aufgaben außerhalb wahrzunehmen, bei denen sie einer älteren Schwester zur Hand gehen musste. Andererseits war Hermann ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann, dessen Großzügigkeit bekannt war. Wenn dieser Mann dem Kloster einen Gefallen schuldete, könnte sich das vorteilhaft für künftige Geschäfte mit ihm erweisen.
»Wann findet diese Hochzeit statt?«
»In zwei Wochen. Ich könnte Maria am kommenden Sonntag abholen und sie nach den Feierlichkeiten wieder hierher geleiten. Sie kann sich bei den Vorbereitungen nützlich machen.«
»Ich werde Euch die Entscheidung am kommenden Sonntag mitteilen. Bis dahin wird der Orden geklärt haben, ob eine Dispens erteilt werden kann. Findet Euch nach der Messe wieder hier ein.« Ihr Blick zeigte, dass das Gespräch für sie beendet war.
»Kann ich meine Schwester noch sprechen?«, fragte Karl unterwürfig.
»Das ist nicht nötig. Sie ist wohlauf und hat Kranke zu versorgen. Wir wollen ihr jetzt keine Flausen in den Kopf setzen.«
Karl verbeugte sich und verließ den Raum. Er überlegte kurz, ob er nicht doch einfach ins Hospital gehen sollte, um Maria zu begrüßen. Natürlich tat er es nicht. Das Risiko, es sich mit Innozentia zu verscherzen, indem er ihre Order missachtete, schien ihm zu groß.
Er tätschelte Fathmas Hals und vergewisserte sich, dass sie zu trinken bekommen hatte. Ihr kleiner Aufpasser hatte sie sogar abgerieben und sie mit ein wenig Heu gefüttert. Er strahlte Karl an, als dieser ihm eine weitere Münze zuwarf.
Zügig wie er gekommen war, ritt er wieder nach Hause und versorgte sein Pferd. Hermann war von seinem Kirchgang noch nicht wieder zurückgekehrt und saß wahrscheinlich in einer der Schänken, in denen er sich sonntags gern mit den anderen Meistern traf. Karl bummelte durch die Stadt und fand ihn bald vor einem großen Bierkrug sitzend. Die Männer luden ihn an ihren Tisch in der Hoffnung, dass er sie wie schon öfters mit kaufmännischen Ratschlägen versorgte, was er stets gern tat. Nachdem er selbst einen Krug Bier getrunken hatte, fragte er seinen Herrn, ob es in Ordnung sei, wenn er seine Schwester zur Hochzeit mitbrachte.
»Was für eine Frage! Natürlich bringst du sie mit. Darf sie denn aus dem Kloster?«
Karl erzählte von dem Gespräch mit der Oberin, und die Männer schüttelten nur den Kopf über die unverschämten Forderungen Innozentias. »Wo wirst du sie unterbringen?«, fragte der Rosshändler.
»Ich dachte bei Zacharias und mir, wir haben eine freie Kammer für sie.« »Eine unschuldige Novizin unter einem Dach mit euch beiden Halsabschneidern? Und ohne eine Frau im Haus? Na, du hast ja Vorstellungen.« Zacharias' Frau war schon vor längerer Zeit verstorben, und der Alte war seitdem unverheiratet geblieben. Aber Hermann hatte Recht. Es würde nur dummes Gerede geben.
»Frag meine Zukünftige, ob sie bei ihr unterkommen kann. Aber tu so, als wäre es ihre Idee …!« Er zwinkerte dem Jungen schelmisch zu.
*
»Also, ein bisschen Reitunterricht hätte man dir schon erteilen können«, hänselte Karl die strahlende Maria, die aus allen Wolken gefallen war, als er sie völlig überraschend für eine ganze Woche aus dem Kloster holte. Dass er ein zweites Pferd mitgebracht hatte, hatte er den Nonnen lieber verschwiegen und seinen kleinen Helfer angewiesen, außer Sichtweite des Klosters auf die beiden Tiere aufzupassen.
»Sehr witzig. Denkst du, wir galoppieren durch das Hospital? Aber so dumm wie du tust, stelle ich mich auch wieder nicht an.« Karl grinste sie an und gab zu, dass sie schön aufrecht im Sattel saß und den gutmütigen Gaul geschickt lenkte. Beim ersten leichten Trab hielt sie sich an der Mähne fest, und als Karl die Tiere zum Galopp antrieb, schrie sie vor Schreck auf. Mit roten Wangen, aber überglücklich ließ sie sich auf Hermanns Hof führen, wo sie die Tiere versorgten und auf die Koppel führten. Den kurzen Weg zu Neles Haus gingen sie zu Fuß.
Die beiden Frauen empfingen Maria freundlich und neugierig. Das junge Edelfräulein gefiel ihnen gut, und auch Maria schien sich auf Anhieb mit ihren Gastgeberinnen zu verstehen. Doch als diese mehrmals verstohlen das Gewand des Klosters musterten, errötete Maria. Acht Jahre hatte sie auf Putz und Zierrat verzichten müssen, auf die ihre Mutter immer großen Wert gelegt hatte und die ihr als kleines Mädchen immer große Freude gemacht hatten. Im Kloster war ihr das egal gewesen, da alle Mädchen dort das Gleiche trugen, lange Kittel aus grobem Wollstoff, oft geflickt und ziemlich alt. Rübensäcke hatten sie ihre Kleider genannt. Im Vergleich zu den einfachen Dorfbewohnern waren sie dennoch gut gewandet; die meisten Menschen Böhmens wären froh gewesen, wenn sie über ausreichend warme und einigermaßen saubere Kleidung verfügt hätten. Aber jetzt, zwischen den beiden sonntäglich elegant gekleideten Schneiderinnen, kam sie sich plötzlich armselig und schäbig vor.
Ihre schöne Kette mit dem fein gearbeiteten Medaillon, das Abschiedsgeschenk ihres Vaters, hatte sie bei ihrer Aufnahme ins Kloster ablegen müssen, doch hatte die frühere Äbtissin sie Karl auf dessen Wunsch bei einem seiner Besuche ausgehändigt. Das Schmuckstück war eine kostbare Erinnerung, denn auf ihm befand sich, kunstvoll in Gold gehämmert, das einzige Bild von Marias Eltern. Innozentia hätte Kette und Anhänger vermutlich einschmelzen lassen. Heute auf dem Nachhauseweg hatte Karl die Kette Maria umgehängt, und sie hatte ein paar Tränen vergossen, als sie das kühle Metall auf ihrer Haut spürte.
Nele und Franziska warfen sich einen raschen Blick zu. Schließlich hob Nele das Kinn des Mädchens hoch und musterte es von oben bis unten. »So gehst du aber nicht zu meiner Hochzeit«, sagte sie mit gespielter Strenge. Maria schluckte und versuchte, dem Blick der Meisterin standzuhalten.
»Lass dich doch mal genau ansehen … Du bist größer als Franziska und ich, aber ich denke, wir finden etwas Passendes. Franziska soll sich ein bisschen nützlich machen. Geht doch gleich in die Werkstatt.«
Franziska nickte Maria aufmunternd zu. Maria hatte außer der Klosterschneiderei, die ausschließlich nach praktischen Gesichtspunkten organisiert war und in der nur dunkle oder weiße Gewänder gefertigt wurden, noch nie eine Schneiderwerkstatt betreten. Mit großen Augen staunte sie über die vielen Farben und unterschiedlichen Kleidungsstücke, die sie jetzt zu sehen bekam.
»Was ist deine Lieblingsfarbe?«, fragte Franziska sie.
Maria musste nicht lange überlegen. »Blau wie der Himmel.«
»So etwa?« Franziska hielt einen Streifen gefärbten Leinens hoch. »Oder lieber etwas heller? Ungefähr so?« Sie zeigte ihr ein anderes Stück. »Sieh doch selber!« Franziska schob Maria einen Korb zu, in dem Stoffreste in allen Farben fröhlich durcheinanderlagen. »Na los, greif zu!« Sie begann selbst zu wühlen und Maria verschiedene Reste um den Hals zu legen und in die Hand zu drücken. »Das ist eine von Mutters Lieblingsfarben. Sehr gediegen und zurückhaltend, aber ein wunderschöner Stoff. Fühl nur!« Sie drückte Maria fein gesponnenen Wollstoff in die Hand. »Der kommt von weit her, aus Flandern, und ist ziemlich teuer. Gefällt er dir nicht? Dann … wie wäre es damit?« Das nächste Stück nahm im Gegenlicht einen leichten Grünschimmer an. »Angeblich ist es sehr schwer, diese Farbe herzustellen. Sie wird auch nicht so oft gebraucht. Magst du sie?« War Maria zu Beginn von Franziskas überschäumender Begeisterung noch überrascht und beinahe verstockt gewesen, so fing das ganze nun an, ihr Spaß zu machen. Beide knieten neben dem Korb und nahmen ein Stück Stoff nach dem anderen in Augenschein. Franziska schleppte einen weiteren Korb an und schließlich noch einen Sack, dessen Inhalt Nele den Näherinnen schenken wollte, die für jeden noch so kleinen Stoffrest dankbar waren.
Maria sah ihrem Bruder sehr ähnlich. Ihr Gesicht war ebenmäßig und von heller Farbe. Ihr Haar glänzte golden, und ihre Augen waren von noch tieferem Blau als die Ludwigs. Ihre Arme und Beine waren lang, und auch durch den unförmigen Klosterrock konnte Franziska erkennen, dass die Taille der neuen Freundin schmal war, Hüften und Büste aber volle Rundungen zeigten. Maria sollte ein Kleid bekommen, das ihrem eigenen in nichts nachstand, beschloss sie. Sie würden wie Schwestern auftreten und Neles Werkstatt alle Ehre erweisen. Ein wenig boshaft freute sie sich bei dem Gedanken, wie sie alle anderen Frauen auf der Hochzeitsfeier ausstechen würden.
»Jetzt hab ich es«, sagte Franziska. »Wir suchen einen Stoff, der genau die Farben deiner Augen hat.« Sie kramte weiter in den Resten und hielt schließlich ein Stück Leinen und ein Stück Seide an Marias Gesicht. »Das ist es! Wir nähen dein Kleid aus diesen beiden Stoffen. Fühl nur mal die Seide auf deiner Haut. Ist das nicht wie ein Märchen? Wenn ich könnte, würde ich nichts anderes tragen! Und dazu machen wir …« Sie plapperte fröhlich vor sich hin und erklärte genau, wie sie Kleid, Mieder, Hemd und vielleicht noch einen leichten Umhang nähen würde.
»Das Mieder ist ja immer das Wichtigste, finde ich, weil da alle hinglotzen, Männer wie Weiber. Deshalb muss es besonders schön sein«, sagte Franziska. Maria sah sie fragend an.
»Ach so, ich will es dir erklären. Meine Mutter kann die herkömmlichen Cotten, die schnurgerade bis zum Boden fallen und mit einem Gürtel irgendwie in Form gehalten werden, nicht ausstehen und ich ebenso wenig. Um die zu schneidern, braucht es weder Kunstfertigkeit noch Phantasie. Wir arbeiten deshalb so wenig wie möglich nach der alten deutschen, sondern lieber nach der burgundischen Mode und das bedeutet, ein fest anliegendes Mieder wird über einem Hemd mit schönem Kragen getragen und geht in einen fließenden Rock über. Weitgereiste Leute haben uns bestätigt, dass die Damen in Frankreich und Italien diese Mode ebenfalls bevorzugen, deshalb sind Mutters und auch alle meine Kleider nach ihr gefertigt. Mein Festtagskleid hat sogar einen Faltenrock, und dein Kleid machen wir genauso, du wirst staunen, wie schön du aussehen wirst!«
»Aber die Hochzeit ist doch schon bald. Wie soll das Kleid denn bis dahin fertig werden?«, fragte Maria.
»Das lass nur die Sorge unserer Näherinnen sein. Du wirst sehen, die können zaubern, wenn es sein muss. Jetzt lass uns aber ins Lager laufen und die Stoffe suchen.«
Sie zog die neue Freundin mit sich und zeigte ihr Neles Stofflager. Marias Augen leuchteten angesichts der prachtvollen Farben und der hohen Regale voller Stoffballen. Neben den dunklen Geweben, die die meisten Menschen trugen, sah sie große und kleine Ballen von hellbraunen, honigfarbenen, roten, gelben und blauen Stoffen. Blasses vornehmes Rosa und tiefer Purpur fanden sich in den Fächern, feine und grobe Wolle stapelten sich, auch gewalktes Material, das jedem Regen standhielt, ebenso Leinen in all seinen Webarten und, besonders sorgsam verwahrt, Brokat, Samt und kostbare Seide. Nele liebte es, ihre Kunden mit neuen Ideen zu überraschen. Franziska war sich nicht ganz sicher, ob die unter den Resten gefundenen Farbproben auch tatsächlich zu den Ballen im Lager passten, also half nur ausgiebiges Probieren.
»Versuchen wir diesen. Los, wir tragen ihn nach draußen!« Sie schleppten einen schweren Leinenballen ins Sonnenlicht, und Franziska wickelte ein Ende um Marias Oberkörper. »Die Farbe könnte passen. Vielleicht etwas zu dunkel? Nein? Warte, ich hole die Seide.« Der Seidenballen war deutlich kleiner und leichter. Franziska trug ihn ebenso unbekümmert wie das viel preiswertere Leinen. »Leg die beiden Stoffe doch einmal übereinander. Mit ein wenig Weiß dazu wird das sehr schön! Oder willst du noch etwas anderes versuchen?« Sie brachte einen weiteren Leinenballen, der von einem noch etwas kräftigeren Blau war. »Besser? Ich weiß nicht so recht. Was sagst du?« Maria hatte schon seit einer ganzen Weile nichts mehr gesagt und Franziska auch kaum noch zugehört. Stoffe und Farben wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Schließlich deutete sie auf den ersten Leinenballen und die Seide. »Ich glaube, die beiden. Die Seide sieht wirklich aus wie der Himmel.« Sie trugen die Ballen wieder in das Lager, und Franziska kennzeichnete die beiden ausgewählten mit Kreide.
»So, das wäre erledigt. Jetzt wirst du vermessen. Komm!« Wieder liefen sie in die Werkstatt und Franziska musterte Maria. »Jetzt zieh bitte endlich dieses Monstrum aus.« Maria errötete. Im Kloster wäre es undenkbar gewesen, wenn eine Novizin oder eine Nonne sich den anderen beinahe nackt gezeigt hätte, obwohl manche Mädchen heimlich ihre Körper verglichen hatten. Maria wusste auch von Vorkommnissen zwischen einigen Kameradinnen und manchmal auch der einen oder anderen Nonne, die man der Äbtissin oder dem Beichtvater besser nicht erzählte. Sie selbst hatte sich daran nie beteiligt und war auch von den anderen unbehelligt geblieben.
»Am besten kann ich messen, wenn du nur das Unterkleid anhast«, sagte Franziska.
»Dann machen wir es eben so«, schluckte Maria tapfer.
Franziska griff sich ihre Zollschnur, nahm schnell und geübt Marias Maße und notierte sie auf einer Holztafel.
»So, das hätten wir. Und jetzt zieh dieses Hemd über und warte einen Augenblick. Ich komme gleich wieder.«
Maria setzte sich in ihrem neuen Hemd auf einen Schemel und gab sich Mühe, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Franziska war so fröhlich und unbeschwert und hatte sie vom ersten Moment an wie eine Schwester behandelt. Selbst die Mädchen, mit denen sie im Kloster etwas besser befreundet war, waren nie so herzlich gewesen.
Franziska kehrte mit ein paar Kleidungsstücken zurück. »Bis deine eigenen Kleider fertig sind, kannst du gern meine Sachen tragen. Der Rock wird vielleicht ein bisschen zu kurz sein, aber viele Frauen tragen immer diese Länge. Das Mieder passt bestimmt, und die Schuhe hier sind von meiner Mutter. Probier doch gleich alles an.« Zögernd schlüpfte Maria in den langen dunklen Rock, der aus ebenso gutem Stoff wie Franziskas Sommerkleid war, und ließ sich in das helle Mieder helfen. Sie hatte noch nie eines getragen, konnte sich aber noch gut an die Garderobe ihrer Mutter erinnern, die ebenfalls aus langen Röcken, engen Oberteilen, gebauschten Hemden und Umhängen bestanden hatte. Franziska trat ein paar Schritte zurück und musterte sie. »Drücken die Schuhe? Nein? Sehr schön. Rock und Oberteil sitzen genau. Nicht wiederzuerkennen! Jetzt noch die Haare. Wir flechten ein bisschen und dann setzt du dieses Häubchen auf, es wird dir gefallen.« Franziska kämmte und flocht, und nach einigen Minuten trug Maria eine ähnliche Haartracht wie sie selbst. Die winzige, aus dünnen Fäden geklöppelte und fast durchsichtige Mädchenhaube diente wirklich nur dazu, den Schein zu wahren, ebenso wie Franziska es hielt. »Und jetzt komm vor den Spiegel.«
Der kostbare mannshohe Spiegel war das Prunkstück der Werkstatt. Er war sehr teuer gewesen, und Nele hatte lange gerechnet, bevor sie ihn erworben hatte. Doch die Kundinnen waren begeistert und konnten sich nicht lange genug in ihren neuen Kleidern bewundern.