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Einen Anschlag auf den Kölner Dom? Unvorstellbar – aber genau das plant eine islamistische Terrorzelle in Köln. Und die Pläne sind schon weit gediehen, stehen kurz vor der Vollendung. Dumm nur, dass eins der Mädchen, die konvertiert ist und eigentlich eine tragende Rolle in diesem Anschlag spielen soll, plötzlich Gewissensbisse bekommt. Dumm auch, dass der Vater des Mädchens sie sucht und den Terroristen in die Quere kommt. Und als wäre dies nicht schon genug an Spannung und Dramatik, tobt auch noch zwischen CIA und Mossad ein mehr privater Krieg, der seine Opfer sucht – und findet. Und auch Pfarrer Diefenstein und sein Freund Bassler mischen munter mit, bis eine private Tragödie alles verändert!
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Seitenzahl: 500
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Thriller
Von Rolf D. Sabel
Rolf D. Sabel
Die Köln-Affäre
Thriller
Cover: Unter Verwendung von 123RF 34317271 und 46453605
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten!
© 2022
Impressum
ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30
Tel.: (0 22 46) 94 92 61
Fax: (0 22 46) 94 92 24
www.ratio-books.de
ISBN E-Book: 978-3-96136-141-0
ISBN Print: 978-3-96136-140-3
published by
Für Ruth und Berthold Sabelin liebevoller Erinnerung
Der Roman beinhaltet die Fortsetzung des Thrillers Die Agenten-Affäre (ratio-books 2021), kann aber auch ohne Kenntnis dieses Romans gelesen werden, weil alle Zusammenhänge erklärt werden.
„Der Fanatismus schafft auch bei ganz ungebildeten Leuten oft eine bedeutende Beredsamkeit und gibt ihren Äußerungen oft eine bemerkenswerte, formelle rednerische Form.“
Cesare Lombroso (1836 - 1909), italienischer Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie, gilt als Begründer der Kriminalanthropologie
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
Epilog
Ein Jahr hatte ich den Monsignore nicht gesehen, aber jetzt war es soweit. Wir hatten uns in meinem Kölner Stammlokal in der Wichterichstraße verabredet und ich musste nicht lange warten.
Monsignore Dr. Peter Diefenstein betrat das Lokal, schaute sich kurz um und steuerte auf meinen Tisch zu. In der Hand trug er eine schmale, schwarze Aktentasche.
Der Pfarrer der Basilika St. Pantaleon war ein stattlicher Mann, wohl gut in den Sechzigern, von hohem, schlankem Wuchs, kurzem, eisgrauen Haar, markanten Gesichtszügen mit buschigen grauen Augenbrauen und einer ausgeprägten Hakennase. Seit unserem letzten Treffen hatte er sich kaum verändert.
Er strahlte, als er mich sah und nahm die Maske ab, die die Coronazeit ihm abverlangte.
„Seien Sie herzlich gegrüßt“, sagte er mit seiner sonoren Stimme und wir schüttelten uns die Hände. Sein Blick fiel auf mein Kölschglas und verriet Interesse. „Auch ein Kölsch?“
„Sehr gerne“, sagte er und setzte sich. Er trug wie gewohnt seinen schwarzen Anzug mit weißem Collar. „Wie ist es Ihnen ergangen?“, wollte ich wissen, während die freundliche Wirtin in gewohnter Schnelligkeit die Kölschstange brachte. Er schüttelte den Kopf. „Die Zeiten ändern sich, die Kirchen werden leerer und besonders hier in Köln scheint ein Glaubenskrieg zu toben. Der Kardinal …“
Er führte den Satz nicht zu Ende.
Ich nickte. „Sie meinen zum Beispiel den synodalen Weg, oder? Aber ist es nicht gut, wenn Laien versuchen, sich mehr in die Kirchenarbeit einzubringen?“
Er wiegte seinen Kopf. „Ein wenig kommt mir das so vor, als wollten die Patienten in die Arbeit der Ärzte eingreifen.“
Ich fand den Vergleich amüsant, schwieg aber. Das sollte heute nicht unser Thema sein.
Und der Monsignore kam auch sofort zur Sache.
„Und was ist aus meinem äh … Manuskript geworden?“
Ja, das Manuskript, seine Aufzeichnungen, die er zu einem Roman ausgearbeitet und mir, dem Schriftsteller, vor einem Jahr anvertraut hatte. Wir hoben die Gläser und prosteten uns zu.
„Nun, ich habe einen kleinen, aber feinen Verlag in Lohmar gefunden, und der hat Ihr Werk veröffentlicht.“
„Aha!“
„Große Reichtümer dürfen Sie freilich nicht erwarten, aber immerhin, Ihr Buch ist auf dem Markt.“
„Welchen Titel hat es denn bekommen?“
„Die Agenten-Affäre!“
„Klingt interessant, so nach James Bond, oder?“
Ich nickte. „Der Verleger fand es jedenfalls interessant, wir müssen abwarten, ob …“
„Ich hab’ es wieder getan“, murmelte Diefenstein und senkte verlegen den Kopf. Ich sah ihn irritiert an und winkte die Wirtin mit einer kurzen Handbewegung weg, die die Speisekarte bringen wollte. Lächelnd legte sie die Karten auf den Tisch und verzog sich.
„Wie jetzt …?“
„Ich habe meine letzten Erlebnisse wieder aufgezeichnet und in eine Romanform gebracht!“
Zunächst war ich sprachlos, dann brach ich in ein lautes Lachen aus, das die Gäste der umliegenden Tische zu uns herüberblicken ließ.
„Das … das ist ja großartig. Das wird ja ein Fortsetzungsroman.“
„Sie meinen …?“
„Wir werden abwarten müssen, wie sich der erste Titel macht. Aber warum soll es nicht einen zweiten geben?“
„Zugleich habe ich mich bemüht, einer lieben Freundin, die vor kurzem gestorben ist, ein äh … kleines literarisches Denkmal zu setzen?“
Ich sah ihn neugierig an.
„Doris Bassler, die Frau meines besten Freundes. Sie starb überraschend schnell an Krebs.“
„Das ist Ihr protestantischer Kollege, nicht wahr? Ein Freund aus Studienzeiten?“
Diefenstein nickte bekümmert und leerte hastig sein Glas.
„Dann lassen Sie mal sehen, lieber Monsignore.“
Diefenstein holte die Aktentasche hervor und kramte eine Sammlung von Schriftstücken hervor, die nachlässig zusammengebunden waren. Ein kurzer Blick genügte mir, um zu zeigen, dass auch wieder der Lektor genügend Arbeit haben würde.
„Ich werde es mir ansehen und dann gerne weitergeben, wenn es so gut ist wie der erste Band. Aber jetzt sollten wir erst einmal etwas essen, oder?“
Diefenstein nickte nur und griff nach der Speisekarte.
Aus den Aufzeichnungen von Monsignore
Dr. Peter Diefenstein,
Pfarrer der Basilica St. Pantaleon – Band II
Dickes, bitteres Bier, schmutzige Gasthäuser, schmutzige, dicke Frauen und viel Speck.(aus dem Kölnbericht eines unbekannten englischen Reisenden, 17. Jahrhundert)
Aber das war vor mehr als zweihundert Jahren! Heute … Ein Schuss! Panisch flattern Tauben davon und suchen ihr Heil auf den nahen Dächern. Menschen schreien auf, blicken sich irritiert um. Der Mann, dem der Schuss gegolten hat, fällt wie vom Blitz getroffen um, sein Schädel explodiert. Blut und Gehirnfetzen verleihen dem Pflaster auf der Domplatte ein neues, bizarres Muster.
Aber wie konnte es dazu kommen?
Ein nahezu tropischer Sommer hatte die Domstadt an diesem frühen Augustabend fest im Griff. Karibik am Dom! Klimaerwärmung am Rhein! Globale Krise. Kennt jeder – fast jeder, wenn man von gewissen amerikanischen Amtsträgern absieht!
Schwüle, heiße Luft hatte sich wie ein Panzer über die Stadt gelegt, erschwerte die meisten sommerlichen Aktivitäten und machte das Atmen schwer. Die meisten Menschen trotteten in übler Laune dahin und warteten auf die Kühle des Abends, wenn sie dann käme.
Allerdings kündeten dunkle Wolken im Westen von einem aufziehenden Gewitter, das tatsächlich etwas Abkühlung bringen mochte und mancher Blick richtete sich zum Himmel, hoffnungsvoll oder furchtsam, je nach Stimmungslage. Wer konnte, verzog sich in die überfüllten Schwimmbäder, suchte die Kühle des umliegenden Grüngürtels auf oder lag zu Hause, die Füße in einen Eimer mit kaltem Wasser getaucht, in der Hand ein kühles Getränk, sorgsam darauf bedacht, im Einflussbereich des Ventilators zu bleiben.
Aber das waren naturgemäß nur wenige. Die, die das nicht konnten, und das waren die meisten, schleppten sich träge dahin, gingen in den Büros und Werkstätten lustlos ihrer Tätigkeit nach und sehnten sich nach dem Feierabend. Nur die meisten Schüler, die jauchzend in den Bädern rumtobten, teilten diese Sehnsucht nicht – sie hatten hitzefrei.
Die Gegend um den Kölner Dom dagegen war wie immer mit Touristen aus aller Welt überfüllt. Die Kölner überließen das Zentrum der Stadt zu dieser Zeit gerne kampflos den ausländischen Besuchern, die keine Wahl hatten. Sie waren an ihrem heutigen Ziel angekommen, und Wetter hin und Hitze her, jetzt galt es, das touristische Pflichtprogramm abzuwickeln, denn morgen war man schon auf der Kö in Düsseldorf, oder am Brandenburger Tor oder in einem der Märchenschlösser in Bayern oder …
Und so standen sie schnatternd vor der imposanten Kathedrale, machten mit langen Sticks ihre Selfies, tranken in den anliegenden Brauhäusern ungewohntes Bier aus seltsamen Gläsern und beobachteten mit verzückten Blicken die Ober in ihren blauen Schürzen, die für ihren rheinischen Charme gleichermaßen bekannt waren wie für ihre barsche Art.
Dä Köbes!
Und die, die nicht nur drei Stunden durch die Stadt hetzten, sondern sie mit aufmerksamem Blick durchstreiften, nahmen eine Menge Dinge wahr. Sie nahmen mit Erstaunen wahr, dass schwule Pärchen hier völlig unbehelligt durch die Menge flanierten, dass neben wunderschönen Altbauten Neubauten von erschreckender Hässlichkeit standen, dass die Straßen vielfach recht schmutzig waren, dass Kölsch offenbar nicht nur ein Getränk, sondern auch eine Sprache war, dass die wenigen Einheimischen, mit denen sie manchmal in Kontakt kamen, eben komisch, aber mit liebenswürdigem Akzent sprachen und von überbordender, leider aber auch meist oberflächlicher Freundlichkeit waren, dass es so viele Einheimische aber auch gar nicht mehr gab, weil ein hoher Anteil der Menschen hier einen Migrationshintergrund zu haben schien. Dass es viele wunderschöne Kirchen gab, aber die meisten leer waren, dass die Kölner auch auf Beerdigungen schon mal Karnevalslieder sangen und Trauer deshalb hier auch schon mal schnell in Frohsinn überging.
Dass das Verkleiden und Absingen seltsamer Lieder zu einer bestimmten winterlichen Jahreszeit, neuerdings sogar im Sommer üblich war und die Straßen zu dieser Zeit voller feiernder Menschen waren, von denen allerdings viele total betrunken waren und sich auch nicht scheuten, an Kirchen und Denkmäler zu urinieren.
Und dass es zu dieser Zeit nur hier eine Jungfrau gab, die eindeutig männliche Geschlechtsmerkmale hatte, dass es auch einen bekannten Fußballverein gab, der aber schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte und dass das alles in einer Stadt möglich war, wofür eigentlich mehrere Städte nötig gewesen wären.
Das alles nahmen Touristen in Köln wahr, wenn sie nur lange genug da blieben.
Aber es waren ja nicht alle Touristen auf der Domplatte.
Der Mann, der mit eiligem Schritt über die Domplatte ging, jene Domplatte, die Silvester vor zwei Jahren Schauplatz unsäglicher Ausschreitungen gewesen war und im Bewusstsein der aufnahmewilligen Bevölkerung so vieles verändert hatte, gehörte zweifellos nicht zur Gattung der Touristen.
Er hatte keinen Stadtplan unter dem Arm, keine Wasserflasche in der Hand und keinen Rucksack auf dem Rücken. Er machte keine Selfies und fragte niemanden nach irgendwelchen Wegen. Ihn interessierten nicht die Pflastermaler und nicht die Bettler, die mit gekrümmten Händen und Mitleid heischendem Gesicht um den Dom herum saßen.
Er war etwa Mitte Dreißig, von durchschnittlicher Größe, mit vollem schwarzem Haar, einem markanten Gesicht und kräftiger Figur. Sein beigefarbiger Anzug passte genau und verhüllte diskret die Pistole P226 X-Six Classic, die er in einem Schulterhalfter trug. Er war nur wenige Schritte vom Domhotel entfernt, dem ältesten und prächtigsten Grandhotel Kölns aus dem Jahr 1893, das nach den Zerstörungen im Krieg vereinfacht wieder aufgebaut worden war, aber wegen erheblicher Baumängel, die bei einem Sanierungsversuch vor einigen Jahren aufgetaucht waren, nun schon seit Jahren geschlossen war. Hier in Köln dauert so etwas eben länger als geplant und übersteigt die veranschlagten Kosten gerne um das Dreifache. Aber das stört den Kölner an sich nicht, er lebt nach der Devise:
Et hätt noch immer jot jejange!
Aber dann passierte es.
Ein Schuss, laut hörbar, offenbar aus geringer Entfernung abgegeben. Er traf den Mann in den Hinterkopf, ließ seinen Schädel förmlich explodieren und verteilte Blut und Gehirnmasse in bizarren Mustern auf dem Pflaster. Ohne einen Laut sank der Mann zusammen, während die Menschen in seiner Nähe in Panik schreiend auseinander stoben und die beiden japanischen Touristinnen, die gerade das Hotel fotografieren wollten, in namenlosem Entsetzen die Hände vor den Mund schlugen.
Nur wenige Minuten später eilten die Beamten von der nahen Wache der Bundespolizei am Bahnhof herbei. Wenige Minuten später rasten drei Streifenwagen der Kölner Polizei auf die Domplatte, ihr zuckendes Blaulicht spiegelte sich in den zahllosen Fenstern des verlassenen Hotels, schien ihnen für kurze Zeit ein geisterhaftes Leben zu verleihen.
Die neuen Beamten lösten die Kollegen der Bundespolizei ab, die nur für den Bahnhofsbereich, nicht aber für die davor liegende Domplatte zuständig waren und kurze Zeit später hatte sich die Szene in einen veritablen Tatort verwandelt, wie ihn die Gaffer aus dem Fernsehen zu kennen schienen.
„Dat is ja wie im Fernsehen“, rief ein Taxifahrer seinem Kollegen zu und biss genussvoll in sein Salamibrötchen.
Mit rot-weißen Bändern, mit grimmigen Beamten, die den Tatort großräumig absperrten, mit zwei Stellwänden um das Opfer und einem Notarztwagen der Kölner Feuerwehr, deren Besatzung freilich schnell einsah, dass hier weniger ein Arzt als vielmehr ein Bestatter zum Zuge kommen würde.
Hinter der Stellwand kniete ein schmaler Mann um die vierzig, schlank und hoch gewachsen, mit kurzem schwarzem Bart, grauen stechenden Augen und einem schlecht sitzenden, karierten Jackett, das er schon in den Tagen der Polizeischule getragen haben muss. Hauptkommissar Leo Breuer musterte den Toten aufmerksam.
Mit Handschuhen fischte er vorsichtig die Brieftasche des Mannes aus der Jacke und blickte überrascht auf das Siegel mit dem Adler, das auf dem Ausweis des Mannes prangte: Gordon Rush, Central Intelligence Agency C18 Field Agent Er pfiff leise durch die zusammengepressten Lippen. CIA!
Was macht ein Agent dieses ausländischen Dienstes hier bei uns? Und weshalb wurde er umgebracht? Da wartet eine Menge Arbeit auf uns! Oder auch nicht? Vermutlich wird das LKA die Sache an sich reißen. Oder der BND. Egal, erst mal weitermachen!
Ohne weiter etwas zu berühren, wandte er sich an seinen uniformierten Kollegen: Spurensicherung und Rechtsmedizin verständigt?“
„Sind in fünf Minuten da?“
Breuer nickte. Jetzt galt es, die Kollegen abzuwarten und darauf zu achten, dass der Tatort nicht kontaminiert wurde, aber wie sein Blick zeigte, hatten die Kollegen ganze Arbeit geleistet.
Fünfzehn Minuten später bog ein grauer Mazda auf die Domplatte, die sich inzwischen mit Gaffern und neugierigen Touristen gefüllt hatte. Ein Polizist winkte sie durch. Eine Frau in einem grauen Hosenanzug stieg aus, die langen grauen Haare zu einem Zopf gebunden, in der Hand trug sie einen schwarzen Ärztekoffer. Mit festem Schritt bahnte sie sich ihren Weg durch die Gaffer und eilte auf die Stellwände zu.
„Ah, Frau Dr. Wendler. Schön, dass Sie so schnell hier sein konnten.“
„Herr Breuer.“
Die angesprochene Rechtsmedizinerin, eine resolute Endvierzigerin in einem altmodischen, grauen Kostüm, nickte knapp, zog ihre Handschuhe an und machte sich an die Arbeit.
Sie drehte den Kopf des Opfers, betrachtete die grässliche Wunde am Hinterkopf und unterzog den restlichen Körper einer kurzen Untersuchung. Dann machte sie einige Fotos vom Kopf des Toten. Dachte einen Augenblick nach.
„Tod durch Gewehrschuss. Projektil ausgetreten, sollte hier in der Nähe zu finden sein. Nach der Größe der Wunde vermute ich, dass es sich um ein großes Kaliber gehandelt hat, vielleicht 12 mm. Der Schütze war kaum mehr als hundert Meter entfernt. Tod trat unmittelbar ein. Alles Weitere nach der Obduktion.“
Sie vermaß den Schusswinkel und blickte auf das Domhotel. „Schuss kam wahrscheinlich von dort“, sie deutete auf das Hotel. „Vielleicht zweiter oder dritter Stock.“
Dr. Wendler war nicht gerade für übermäßige Geschwätzigkeit bekannt, ihre Analysen waren knapp aber zutreffend, weshalb sie bei der Polizei sehr geschätzt wurde.
Breuer nickte und schickte sofort einige Beamten zum Domhotel, auch wenn er ahnte, dass der Täter dort wohl kaum auf die Beamten warten würde.
Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, in einiger Entfernung durchzuckten erste Blitze das drohende Grau der Wolken.
„Danke, Dr. Wendler. Wir sehen uns bei der Obduktion. Sie geben meinem Büro den Termin?“
„Morgen früh, zehn Uhr!“, lautete die knappe Antwort, bevor die Ärztin so unauffällig verschwand, wie sie gekommen war. Sofort machte sich die Spurensicherung an die Arbeit und die Blitze der Fotoapparate hellten die zunehmende Dunkelheit auf.
Kurz darauf leitete ein Donnerschlag einen heftigen Regenguss ein, der Gaffer und Touristen vertrieb und Spuren zunehmend verwischte. Nur Breuer und seine Kollegen standen im Regen und machten ihre Arbeit, während ihnen das Wasser über die grauen Wangen lief.
Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.(Paracelsus)
Die polnische Hauptstadt lag friedlich in der Abendsonne, froh, einen weiteren Tag kaum erträglicher Hitze überstanden zu haben.
Unweit vom Kulturpalast, dem Warschauer Wahrzeichen, das die Sowjetunion im Jahre 1952 dem polnischen Volk zum Geschenk gemacht hat (die Alternative wäre der Bau einer U-Bahn gewesen, was weniger prestigeträchtig, aber praktischer gewesen wäre), der im Baustil des sozialistischen Klassizismus immer noch alle anderen Bauwerke Warschaus wie auch Polens überragt, liegt die Ul.Grzybowska. Sie verbindet das Geschäfts -und Bankenviertel Wola mit der Innenstadt und der Zlote Tarasy, dem modernen, großen Einkaufszentrum, ist Tag und Nacht belebt und von zahllosen Geschäften, Bars und Restaurants aller Ausrichtungen gesäumt.
Viele der Bars und Diners verfügen über eine Außengastronomie und die Menschen gönnen sich nach einem heißen Arbeitstag gerne einen kühlen Drink an den kleinen, mit bunten Decken gedeckten Tischen. Hier trifft man den Banker ebenso wie den Handwerker, die Studentin sitzt neben dem Touristen, der Busfahrer neben dem Versicherungsangestellten. Die Hausfrau hat ihre Einkäufe abgestellt und schlürft Hugo, der Arzt, der bemüht ist, Abstand von seiner Praxis zu bekommen, trinkt genüsslich seinen Weißwein.
Dazwischen Jugendliche, die neben ihren Eltern sitzen und unbekümmert auf ihre Smartphones hämmern, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie haben der Welt ihre Belanglosigkeiten mitzuteilen oder spielen ihre Spiele, immer in dem Bemühen, ein Leben mehr zu erreichen. Andere checken ihren Account bei Facebook und kontrollieren die Zahl ihrer Follower. Schon wieder fünf neue! Wieder andere, die unvermeidlichen Kopfhörer in den Ohren, nippen gedankenverloren an ihrer Cola und wippen im Takt berauschender Töne mit, von ihrer Umwelt nehmen sie kaum noch etwas wahr.
An einem der Tische saß eine attraktive junge Frau, die die vierzig noch nicht erreicht hatte. Ihr langes blondes Haar fiel in Locken weit über die Schulter. Sie trug einen engen, schwarzen Rock, der ihre sportliche Figur vorteilhaft betonte und eine weiße Bluse, die einen dezenten Blick auf ihre schmalen Brüste zuließ. Ihr Gesicht war ebenmäßig, aber herb, weil sich an den Mundwinkeln Falten eingegraben hatten, die von vielen, wohl auch leidvollen Erfahrungen zeugten.
Die hochhackigen Pumps hatte sie ausgezogen und neben den Tisch gestellt.
Sie zog an ihrer Zigarette, nippte an einem Cocktail, blätterte durch ein englisches Modejournal und ignorierte völlig die interessierten Blicke, die die Männer ihr zuwarfen. Ein Bild völliger Entspannung, wie es nur jemand bieten kann, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Eher keine gestresste Touristin, vielleicht eine entspannte, einheimische Urlauberin? Oder eine erfolgreiche Geschäftsfrau?
Von der Straße näherte sich ein Mann von mittlerer Größe und untersetzter Figur.
Sein beigefarbener Anzug war ein wenig zu groß und verdeckte die sehnige Gestalt.
Die stechenden grauen Augen waren unter einem gleichfarbigen, breitkrempigen Sommerhut und einer schmalen Sonnenbrille verborgen. Er schien einen Tisch zu suchen und steuerte den Tisch neben der Frau an.
„Autsch! Can’t you be careful?“
„Oh, I am so sorry, Madam!“ Englisch mit deutlichem Akzent. Der Mann hatte die Frau angerempelt und die Frau hatte einen kurzen, stechenden Schmerz in der Seite gespürt, der sie zu dieser unwirschen Bemerkung veranlasst hatte.
Der Mann murmelte einige weitere Worte der Entschuldigung, entfernte sich aber dann wieder, ohne an einem der Tische Platz zu nehmen. Irritiert blickte die Frau ihm nach, griff nach ihrer juckenden Hüfte, maß dem Vorfall aber keine Bedeutung bei. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre.
Minuten später, der Mann war längst aus dem Blickfeld verschwunden, griff die Frau plötzlich an ihren Hals. Die Zigarette glitt aus ihren Fingern, Schaum trat aus ihrem Mund und sie begann zu röcheln. Ihr Gesicht wurde weiß wie ein Tischtuch, verkrampfte sich zu einer grauenhaften Fratze.
Die Kellnerin ließ vor Schreck einen Cappuccino auf das Bein eines russischen Touristen fallen, der empört aufschrie und fluchend mit seiner Zeitung nach der Kellnerin schlug.
Ein kleines Mädchen starrte entsetzt auf die Frau und fing in Panik an zu schreien.
An den Nebentischen sprangen Männer auf und eilten zur Hilfe.
Aber jede Hilfe kam zu spät!
Die Frau verdrehte ihre Augen, die Hände verkrampften sich und das Modejournal fiel auf den Boden. Sie schrie vor Schmerzen auf und sank auf den Boden.
„Tut doch was!“
„Holt die Ambulanz“
„Die Polizei! Alarmiert die Polizei!“
„Lockert den Kragen!“
Die Männer überschlugen sich in blindem Aktionismus und dem vergeblichen Versuch Hilfe zu holen.
Und während die Frau ihre letzten Atemzüge tat, stand der Mann mit den stechenden Augen und dem breitkrempigen Sommerhut keine zweihundert Meter entfernt im Eingang eines Wohnhauses und betrachtete die Szenerie mit unverhohlener Befriedigung.
Zufrieden verließ er den Tatort.
Rache ist keine Zierde für eine große Seele.(Lessing)
Das Nicolai-Viertel im Ostteil gilt als der historische Kern der Stadt, eine romantische Altstadt, schon zu DDR-Zeiten liebevoll restauriert, eine überraschende Oase der Ruhe in der Hektik der Großstadt. Hier findet man sorgsam restaurierte Häuser aus der Barockzeit, die älteste Kirche, die kürzeste Gasse, um die dreißig Gaststätten jeglicher Couleur, fünf Museen und vierzig Läden. In den verkehrsberuhigten Gassen kann man entspannt bummeln oder einkaufen oder am Ufer der Spree die Seele baumeln lassen. Und das alles nur wenige Minuten vom Alex entfernt, dem pulsierenden Alexanderplatz, der früheren Mitte Ostberlins, der Hauptstadt der DDR. Dieses Viertel ist nicht nur das älteste, sondern nach Ansicht vieler auch das schönste der deutschen Hauptstadt. Kein Schmutz auf den Straßen, keine Junkies, die herumhängen und Passanten belästigen. Ein Bild des Friedens – in der Hauptstadt eher ungewöhnlich.
Für all das hatte der Mann, der an diesem Abend seelenruhig auf seinem Bett in einem Hotel unweit vom Nikolaikirchplatz lag, keine Augen. Weder für das Wohnhaus des berühmten Dichters Lessing, der um die Ecke gewohnt hatte, noch für das Ephraim-Palais, einen beeindruckenden Bürgerpalast aus dem 18. Jahrhundert, der gegenüber lag oder den Gasthof Zum Nussbaum, der 1507 erbaut, später zerstört und originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Immerhin hatte er dort schon gegessen und war von der Qualität angenehm überrascht. Das war nicht der übliche Touristenfraß, das war exzellente Küche.
Eisbein mit Sauerkraut und Klößen!
Die Hälfte musste er zurücklassen, köstlich aber zuviel! Das hätte seiner Figur geschadet, und die war für seinen Job wichtig, lebenswichtig. Er maß 180 Zentimeter, war schlank und durchtrainiert, sein markantes Gesicht zierte ein Oberlippenbart, sein blondes Haar war voll und dicht. Ein gut aussehender Mann.
Zum Schluss hatte er sich einen Calvados gegönnt und das Lokal hochzufrieden verlassen.
Aber der Mann war kein Tourist.
Er war Feldagent Second Grade der CIA und er war hier, um einen Job zu erledigen.
Und er hatte ihn erledigt.
Er hatte eine Liste besorgt, die man in Langley hocherfreut zur Kenntnis nehmen würde. Eine Liste von Agenten des russischen FSB, dem früheren KGB, die hier in Deutschland aktiv waren, und zwar so aktiv, dass sie auch seiner Regierung schaden könnten. Man würde sich um sich kümmern müssen. Der Kalte Krieg war zwar vorbei, nicht aber die Tätigkeit der Agenten auf beiden Seiten. Vieles hatte sich geändert und die Dienste waren heute oftmals mehr an wirtschaftlichen als an militärischen Informationen interessiert, trotzdem konnte es nicht schaden, wenn man wusste, wer da unterwegs war und mit welchem Ziel. Und es hatte ihn nicht einmal eine Kugel gekostet! Nein, für läppische zehntausend Dollar hatte er die Liste bekommen.
Ihr Wert? Sehr viel größer!
Und für diese Summe gab ein geldgieriger russischer ExAgent gerne mal Informationen, die er keinesfalls hätte geben dürfen. Wenn man das in Moskau wüsste, wäre das sein Todesurteil.
Oder zwanzig Jahre in einem Gulag, einem der berüchtigten Arbeitslager.
Wie auch immer!
In vier Stunden ging sein Flug nach Washington und er freute sich auf seine Familie, seine Frau Judith und den kleinen Dean. Er hatte ihm einen kleinen deutschen Polizeiwagen gekauft und Dean würde das kleine Mitbringsel lieben. Er liebte alles, was mit der Polizei zusammenhing, und ein Wagen aus Deutschland war etwas Besonderes.
Der Mann schloss die Augen. Noch ein Stündchen Ausruhen. Er hatte den Wecker in seinem Smartphone gestellt, er würde nicht verschlafen. Er dämmerte langsam ein. Seine Pistole lag griffbereit auf dem Nachttisch. Man konnte nie wissen, obwohl er sich hier sehr sicher fühlte.
Deutschland kam ihm sehr sicher vor, sauber, ordentlich und sicher.
Zu sicher?
Er ahnte nicht, dass zum gleichen Augenblick ein Mann langsam die Treppe heraufkam und vor seiner Tür stehen blieb. Unten in der Empfangshalle war der Teufel los. Die einen reisten ab, die anderen kamen an. In diesem Durcheinander war es kein Problem, sich unauffällig an der Rezeption vorbei zur Treppe zu schleichen.
Und unauffällig war der Mann auch. Unauffälligkeit war sozusagen sein Markenzeichen, sein zweiter Vorname. Der Mann war von untersetzter Figur, aber sehnig und schlank. Er trug einen schwarzen Regenmantel und Sportschuhe. Was an ihm vielleicht am meisten auffiel, waren seine grauen stechenden Augen. Augen, die Furcht einflößen konnten.
Der Mann holte aus seiner Tasche einen Dietrich und öffnete leise und problemlos die Tür, das gehörte zu den vielen Fertigkeiten, die sein Beruf mit sich brachte.
Behutsam betrat er den Raum, leise und geräuschlos wie ein Leopard beim Anschleichen an seine Beute. Er blickte sich um, alles war aufgeräumt, bereit zum Aufbruch. Aber dieser Gast würde nie mehr aufbrechen, dafür würde er sorgen.
Er sah sein Zielobjekt auf dem Bett liegen. Er schlief wie erhofft. Er hatte ihn den ganzen Tag beobachtet, hatte die Übergabe beobachtet und ahnte, dass sein Opfer jetzt müde sein würde.
Er schlief – zum letzten Mal und für immer! Seine Pistole lag neben ihm, aber die würde ihm nichts nützen.
Er holte aus seinem Mantel eine CZ 2075 Rami Pistole 9mm Luger, seine Lieblingswaffe. Leicht und handlich, eine subkompakte Pistole mit Leichtmetallgriffstück, fester Visierung und 10 Schuss Magazin, der Schalldämpfer war bereits aufgeschraubt.
Er nahm Maß.
Unerbittliche Augen richteten sich auf das Opfer.
Plopp! Plopp!
Zwei Schüsse in Stirn und Herz!
Das Opfer gab einen leisen Laut von sich, während sich Blut und Gehirnfetzen auf dem Kopfkissen verteilten. Der Schütze gab einen grunzenden Laut der Zufriedenheit ab. Dann zog er Handschuhe an und holte eine Brieftasche aus der Jacke des Toten.
Er schlug sie auf.
Phil Peterson, Central Intelligence Agency C34 Fieldagent, darüber das Siegel des amerikanischen Geheimdienstes mit dem grimmig guckenden Adler und dem roten Stern.
Außerdem achtzig Euro und zweihundertfünfzig Dollar in Scheinen und ein Flugticket der Deutschen Lufthansa, Flug LH 9233, Platz 34 C. Der Platz würde wohl leer bleiben!
Voller Befriedigung steckte er die Brieftasche zurück, an Geld hatte er kein Interesse.
Die brisante Liste, die daneben steckte, übersah er allerdings. Auftrag erledigt!
Yaakov Goodman hatte seinen Job getan. Diesmal war es kein Job seines Arbeitgebers, des Mossad, gewesen. Diesmal hatte er auf eigene Rechnung gehandelt, aber die Befriedigung war umso größer.
Still und unauffällig verließ er das Hotel, während in Amerika bald eine Witwe in Tränen ausbrechen würde.
Das Leben ist voller Leid, Krankheit, Schmerz – und zu kurz ist es übrigens auch.(Woody Allen)
Genau da, wo einst das malerische Pantaleonstor als Teil einer mittelalterlichen Befestigung stand, das zusammen mit anderen Toren und Mauerabschnitten 1881 einem unseligen Abriss aus Gründen der Stadterweiterung zum Opfer fiel, steht heute die einzige altlutherische Kirche Kölns. Im Krieg wurde der schöne, neugotische Bau aus dem Jahre 1900 völlig zerstört und durch einen schmucklosen Neubau Anfang der fünfziger Jahre ersetzt.
Eine für Köln leider alltägliche Erscheinung! Andere Städte …, aber lassen wir das!
Die Kirche verfügt im Erdgeschoss über einen großen Raum, der für Gottesdienste genutzt wird, und im Obergeschoss über eine Dreizimmerwohnung, die der Pfarrer mit seiner Familie bewohnt.
In der Küche dieser Wohnung stand Doris Bassler und schnibbelte mit müden Händen an den Zutaten eines Salats. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre Arbeit, um mit ihren Händen über den Leib zu fahren. Schon seit Wochen wurde sie von Übelkeit und Erbrechen geplagt, Appetitlosigkeit und ständige Müdigkeit kamen dazu. Dazu kam ein steter Gewichtsverlust, eine Erscheinung, die sie in früheren Zeiten begrüßt hätte. Aber jetzt? Sie war kein ängstlicher Mensch, aber ihr desolater Zustand beunruhigte sie zunehmend.
Sie hatte Markus, ihrem Mann, diese Probleme bis jetzt verschwiegen, aber sie ahnte, dass ein Gang zum Arzt unausweichlich war, ein Gang, den sie höchst ungern hinter sich brachte. Ärzte waren ihr ein Gräuel. Beim Gedanken an ihren Mann nahm ihr Gesicht einen liebevollen Ausdruck an. Seit fast dreißig Jahren waren sie verheiratet und sie hatte die Verbindung mit dem jungen stürmischen Theologiestudenten nie bereut. Sie hatten sich auf einer landesweiten Protestdemo gegen die Erhöhung der Studiengebühren kennengelernt,
schnell verliebt und noch schneller geheiratet, auch wenn die Eltern zunächst mit dem bärtigen Revoluzzer, wie Vater ihn nannte, nicht einverstanden waren.
Leider blieb ihnen die Erfüllung ihres Kinderwunsches verwehrt, aber auch ohne diese Erfüllung, die ihnen als Höhepunkt ihrer Partnerschaft erschienen wäre, führten sie eine sehr harmonische Partnerschaft, eine Partnerschaft, ohne die ihr bester Freund, Monsignore Dr. Peter Diefenstein von der benachbarten Basilika St. Pantaleon, auskommen musste.
Es tat gut, einen solchen Mann zum Freund zu haben und sie pflegten diese Freundschaft über alle Konfessionsgrenzen hinweg schon seit Studienzeiten.
Doris Bassler hatte seinerzeit ihren Lehramtsabschluss in Theologie, Geschichte und Italienisch gemacht, ohne je ein Klassenzimmer betreten zu haben. Irgendwie war es nie dazu gekommen und sie fühlte sich als Frau eines Pfarrers mit all den Tätigkeiten, die das rege Gemeindeleben mit sich brachte, vollkommen ausgelastet.
Sie leerte das Brett mit den geschnittenen Tomaten, Gurken und Zwiebeln in eine Schüssel, gab Öl und Essig, Salz und Pfeffer dazu und durchmischte den Salat. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Markus sicher bald von seinem Besuch bei einem schwer erkrankten Gemeindemitglied zurückkehren würde.
Es schellte.
Hat Markus etwa seinen Schlüssel vergessen?
Mit schweren Schritten eilte sie zur Tür, ihr Magen regte sich wieder.
Sie öffnete die Tür und hatte keine Ahnung, dass sich mit der jetzigen Begegnung ihr Leben für immer ändern würde.
„Ja?“
Vor der Tür stand eine verhärmte Frau, schlank, fast dürr, das lange, strähnige Haar zu einem Zopf gebunden. Sie trug ein verschlissenes Sommerkleid und ihre Hände klammerten sich an eine Louis-Vitton-Tasche, die so wenig zu ihr passte, wie eine Nerzstola zu einem Eisbär.
Ein billiger Fake aus China, durchzuckte es sie, während die Frau sie ängstlich ansah.
„Ich … ich bin Frau Mundorf, Elke Mundorf.
Doris Bassler blickte die Besucherin irritiert an. Wer ist das denn?
„Sie kennen mich nicht mehr, oder?“
Doris Bassler kramte in ihrem Gedächtnis. Irgendwo hatte sie die Frau schon mal gesehen. Aber wo?
„Ehrlich gesagt nicht. Und was kann ich für Sie tun? Oder wollen Sie zu meinem Mann?“
Die Frau versuchte sich in einem Lächeln und offenbarte ein krummes, stark pflegebedürftiges Gebiss.
„Ihr Mann, der Herr Pfarrer, hat meine Anne, das ist meine Tochter, konfirmiert. Vor zwei Jahren war das.“
„Aha.“
Doris Bassler war immer noch nicht klar, was die Frau wollte und sie hatte wenig Lust, sie hereinzubitten um das herauszufinden. Sie fühlte sich krank und die Frau war ihr wenig sympathisch.
„Probleme. Wir haben große Probleme mit Anne, und da haben wir gedacht … wir haben gedacht, mein Mann und ich, der Herr Pfarrer könnte uns vielleicht helfen. Er war doch damals so freundlich zu Anne … und zu uns.“
Unwillig gab Doris Bassler den Weg frei.
„Kommen Sie doch herein, Frau äh … Mundorf.“
Die Frau nickte erleichtert und hauchte ein Dankeswort, zögernd betrat sie die Wohnung.
„Ich störe Sie doch wohl nicht?“
Und wie!, dachte Doris Bassler, setzte aber ein Lächeln auf.
„Nein, keineswegs, bitte nehmen Sie Platz.“
Sie führte die merkwürdige Besucherin in das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer und wies auf einen der bequemen Sessel.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Ein Glas Wasser vielleicht, wenn es keine Umstände macht.“
„Gerne.“
Doris Bassler stand auf, um kurze Zeit später mit einem Glas Wasser und einer Flasche zurückzukehren. Sie stellte es vor die Besucherin und schaute sie aufmerksam an. Ihr Unwillen und ihre Müdigkeit waren mit einem Schlag verflogen. Wenn Hilfe gebraucht wurde, war sie zur Stelle, das hatte sie in den vielen Jahren an der Seite ihres Mannes gelernt.
Die Frau nahm einen hastigen Zug aus dem Glas, nestelte nervös an ihrer gefakten Tasche herum und begann zögernd und mit leiser Stimme.
„Unsere Anne ist jetzt sechzehn Jahre alt. Vor zwei Jahren, als sie hier konfirmiert wurde, war alles mit ihr in Ordnung. Sie ging zur Realschule und hatte gute Noten, sie trieb sich nicht mit Jungs herum, half mir im Haushalt und guckte nach ihrem Bruder.“
Sie leerte das Glas in einem Zug und atmete tief ein.
„Sie müssen wissen, wir haben noch einen Sohn. Den Guido. Der ist jetzt sieben.“
Doris Bassler nickte ihr aufmunternd zu und füllte das Glas erneut.
„Aber jetzt hat sich alles geändert.“
„Wieso?“
„Wegen Samira!“
„Samira?“
„Anne hat in der Schule ein Mädchen kennengelernt. Aus dem Iran. Sie trägt ein Kopftuch und komische Kleider. Die anderen Kinder lachen sie oft aus, aber das macht ihr nichts aus. Die Eltern sind vor einem Jahr aus dem Iran geflohen, weil der Vater für eine Zeitung gearbeitet hat, kritische Kommentare über diese äh … Agatollas, oder wie das heißt, geschrieben hat. Mit der ganzen Familie sind sie geflohen, Hals über Kopf bei Nacht und Nebel. Sie sind eigentlich nicht besonders gläubig, nur die Tochter. Sie wollte ihr Kopftuch nicht ablegen, sie betet dauernd und sagt, Allah habe sie auserwählt.“
Sie brach ihre Rede ab, Tränen standen in ihren Augen. Ihre Finger fuhren fahrig über das Kleid. Sie trank hastig weiter und das Wasser rann aus ihrem Mundwinkel.
„Samira war ständig mit meiner Tochter zusammen und sie hat meiner Anne Flausen in den Kopf gesetzt. Auf einmal bestand Anne darauf, auch ein Kopftuch zu tragen und hat uns gesagt, sie wolle zum Islam konvertieren. Sie wolle einen Gebetsteppich und weigert sich in die Kirche zu gehen. Sie hat sich einen Koran gekauft, in dem sie dauernd blättert und uns Sachen vorlesen will. Sie lernt sogar Sachen auswendig. Uns nennt sie Ungläubige, die Allah strafen werde. Stellen Sie sich das vor. Vor zwei Jahren konfirmiert und jetzt zum Islam. Im Ramadan hat sie gefastet und vier Kilo abgenommen, und sie ist doch ehe schon nur Haut und Knochen. Mein Mann hat getobt und ihr den Umgang verboten, aber es hat nichts genutzt. Ständig hingen die Mädchen zusammen und haben getuschelt.
Und wenn sie nicht zusammen waren, hingen sie am Handy. Sie hat kaum noch für die Schule gelernt, keine anderen Freundinnen getroffen, Jungs spielten überhaupt keine Rolle.“
Sie seufzte laut auf.
„Dabei hat sie doch vorher für den Mark von nebenan geschwärmt, obwohl mein Mann das verboten hat. „Ist doch erst 16“, hat er gesagt, „mein kleines Mädchen.“
Schließlich hat mein Mann ihr das Handy weggenommen. Anne hat geweint, gefleht, getobt, dann hat sie es geschluckt. Ich habe aber den Verdacht, dass sie sich heimlich ein neues besorgt hat.“
„Ihr Mann ist wohl recht streng zu ihr?“
„Mein Mann? Er ist seit fünf Monaten arbeitslos. Sie haben ihn entlassen. Seitdem ist er … anders. Er ist nur noch zu Hause und er trinkt zu viel. Ja, er ist streng, aber er meint es nur gut mit Anne. Sie ist …“, sie stockte kurz, „sie war immer seine kleine Prinzessin!“
Es entstand eine kurze Pause, während Doris Bassler ihre Besucherin nachdenklich betrachtete.
„Und jetzt?“
„Jetzt ist sie weg!“
„Wer ist weg?“
„Samira! Seit einer Woche kommt sie nicht zur Schule und die Eltern haben keine Ahnung, wo sie ist. Sie waren bei der Schule, bei der Polizei, haben überall gefragt, aber keiner weiß was. Und ich habe Angst, dass Anne auch so was macht. Man kann doch dabei nicht zusehen, oder? Vielleicht kann Ihr Mann mit ihr sprechen. Den hat sie doch damals im Konfirmandenunterricht so toll gefunden. Cool sei er gewesen, hat sie damals gesagt, richtig cool. Aber das war, bevor sie mit dieser … Samira zusammen war!“
Sie schluchzte laut auf, griff nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich vernehmlich.
Bevor Doris Bassler antworten konnte, hörte sie, wie ein Schlüssel im Türschloss gedreht wurde.
Markus, Gott sei Dank!
Sie fühlte sich mit dieser Situation doch leicht überfordert und war froh, dass ihr Mann kam. Der würde eher wissen, was zu tun war.
Ein Spion am rechten Ort ersetzt 20.000 Mann an der Front.(Napoleon)
Langley/Virginia ist nicht nur ein Vorort von Washington D.C., sondern auch Sitz des wenig bekannten Turner-Fairbank Highway Research Centers, eines Forschungsinstituts der US-Straßenverkehrsbehörde und der noch weniger bekannten Claude Moore Colonial Farm, eines von privater Hand betriebenen Landschaftsparks der US-Nationalparkverwaltung. Außer diesen beiden Institutionen, die der amerikanischen Öffentlichkeit in etwa so bekannt sein dürften wie die Fortpflanzungsgewohnheiten südamerikanischer Faultiere, gibt es in Langley nichts, fast nichts.
Nichts? Ja gut, da wäre noch der Stamm- und Ausbildungssitz der Central Intelligence Agency, kurz CIA genannt, des berühmten, mitunter auch berüchtigten, wohl aber mächtigsten Auslandsgeheimdienstes der Welt, auch wenn er durch die Maßnahmen einiger Präsidenten der Vergangenheit zum Teil herbe Einbußen in seiner Machtausübung hinnehmen musste. Wenn man aber vor den ausladenden Gebäuden der Agency steht und genau hinsieht, kann man vielleicht immer noch den Schleier sehen, der die Gebäude zu umgeben scheint und den Insider gerne als die Aura der Macht bezeichnen.
Ihre häufig recht rigorosen Mitarbeiter werden wegen des besonderen Abhängigkeitsverhältnisses vom Präsidenten auch schon einmal die Bluthunde des Präsidenten genannt. Mit einem Etat von rund fünfzehn Milliarden Dollar jährlich, etwa zwanzigtausend Mitarbeitern intern und möglicherweise hunderttausend Mitarbeitern weltweit darf der Dienst dieses Attribut exklusiv für sich in Anspruch nehmen.
Der Dienst wird von Ausschüssen des Senats und des Repräsentantenhauses kontrolliert, aber es scheint nicht schwierig, pikante Aufträge vor diesen beiden Kontrollgremien zu verbergen, zumal die Agency im Gegensatz zu anderen staatlichen Behörden ihren Haushalt nicht veröffentlichen muss. Auf Weisung des US-Präsidenten, und nur auf dessen Weisung, darf die Agency durch geheime Operationen politischen und militärischen Einfluss in ausländischen Staaten ausüben, was der Öffentlichkeit freilich meist verborgen bleibt.
Der Sturz des iranischen Premierministers Mossadegh im Jahre 1953 darf dafür ebenso als Beispiel gelten wie der Sturz des Präsidenten Guzman von Guatemala im darauf folgenden Jahr oder die Ermordung Che Guevaras in Bolivien 1967.
In die Geschichtsbücher eingegangen ist auch die misslungene, desaströse Invasion in der Schweinebucht, die 1961 unter Präsident Kennedy die Revolutionsregierung Castros auf Kuba stürzen sollte und auch diverse misslungene Attentate auf den Revolutionsführer dürften auf ihr Konto gehen. Die CIA hat sich von solchen Rückschlägen in ihrer Aktivität nicht zurückhalten lassen, sondern mischt in aller Welt munter mit, und nur böse Gerüchte sagen, dass es mitunter auch ohne Weisung des Präsidenten geht. Allerdings besagte Erlass Nr. 12033 von Präsident Ford aus dem Jahre 1976, dass der Dienst keine Morde mehr begehen dürfe.
So what?
Daraus kann man zum einen schließen, dass dies vorher der Fall war, zum anderen wird von denen, die glauben, dass der Dienst sich daran hält, auch vermutet, dass sie die Erde für eine Scheibe halten.
Aber in manchen Fällen steht selbst die mächtige Agency vor einem Rätsel, einem Rätsel, das sie allerdings mit allen Mitteln zu lösen versucht.
DCI Francis D. Lead, der mächtige Direktor of Central Intelligence, der Chef der noch mächtigeren CIA war ein imposanter Mann. Er maß fast 190 Zentimeter, seine mächtigen Schultern zeugten von einer sportlichen Vergangenheit, sein markantes, glattes Gesicht wies am Kinn ein Grübchen auf, das in früheren Zeiten seine Wirkung auf das andere Geschlecht nicht verfehlt hatte. Sein Haar war voll und an den Seiten ergraut, er trug es jetzt etwas länger als früher und achtete auf einen akkuraten Seitenscheitel. Und da er auch jetzt noch regelmäßig Sport trieb, hatte er jede Gewichtszunahme vermeiden können und das Gewicht behalten, das er einst gehabt hatte, als er noch Zweisternegeneral im United States Marine Corps war. Als Major General hatte er im Irak an der Operation Desert Storm teilgenommen und die Mutter aller Schlachten mitgemacht. Nicht in der Etappe am Schreibtisch, sondern in vorderster Front, was seine Soldaten mit hohem Respekt quittierten.
Er wurde mit dem Silver Star und der Iraq Campaign Medal ausgezeichnet und kam unverletzt in die Heimat zurück.
Von da bis zum Chefposten bei der CIA war ein kurzer Weg gewesen, worum ihn einige der Sesselfurzer in Washington, die nie eine Waffe in der Hand gehabt hatten, sehr beneideten. Seine hübsche Frau Lorraine und zwei gut gelungene Jungs rundeten sein Glück ab, weshalb er auch in schwierigen Situationen wie der jetzigen stets gelassen und cool wirkte. Lead hatte in Besprechungsraum E 112 kurzfristig eine Versammlung zusammengerufen. Es gab Probleme, Probleme, die keinen Aufschub duldeten. Aber bevor er die Unterredung eröffnete, drückte er auf einen Knopf unterhalb seines Schreibtisches. Metallplatten schoben sich mit einem leichten Summton vor die Fenster und vor die Tür, selbst die Belüftungsschächte blieben von dieser Maßnahme nicht verschont. Die Anwesenden, die im Vorraum ihre Handys abgegeben hatten, wussten, was das zu bedeutet hatte. Der DCI hatte den Raum damit in eine SCIF, eine Sensitive Compartmented Information Facility verwandelt, einen Raum, der höchsten Ansprüchen der Geheimhaltung genügte und jede Form von ungebetener Beteiligung ausschloss. Das geschah nicht so häufig, und so schauten die Anwesenden ihren Chef mit einer Mischung aus Irritation und Erstaunen an.
„Ist absolut notwendig“, meinte Lead lapidar, „Sie werden schon sehen!“
Er klopfte auf den Tisch, aber er hatte auch ohne diese Geste die Aufmerksamkeit der anderen drei Gesprächsteilnehmer. „Mr. Sanders, Ihren Bericht bitte.“
Horacio Sanders räusperte sich. Er war der neue Direktor der SAD, der Special Activities Division, jener geheimen Abteilung der CIA, die verdeckte Operationen in aller Welt ausführte und im Bedarfsfall über paramilitärische Einheiten verfügte, was der Öffentlichkeit und sogar dem Kongress weitgehend unbekannt war, weil die Kosten meist aus anderen, völlig unverdächtigen Etats abgezogen wurden.
Sanders war der einzige Farbige in diesem Kreis, im Dienst ergraut, von schlanker, hoher Gestalt. Seine hohe Stirn und seine goldene Nickelbrille verliehen ihm etwas Professorales und sein scharfer Intellekt bestätigte den äußeren Eindruck nachdrücklich.
Er war ursprünglich Analyst gewesen, kein Agent, was seiner Beförderung einen gewissen Überraschungseffekt verlieh. Er hatte nie im Militär gedient, nie eine Pistole in der Hand gehabt, nie einen Gegner getötet. Seine Waffen waren Computer und ein messerscharfer Verstand und wenn seine Finger wie rasend über die Tastatur flogen, schauten die Umstehenden mit offenen Mündern zu. Vor kurzem war es ihm gelungen, gewaltige Finanzströme von Saudi Arabien zu einigen Terrororganisationen aufzudecken, was dem arabischen Ölstaat einigen Ärger und ihm erhebliche Meriten eingetragen hatte.
Einige dieser Ströme hatte er sogar auf Offshore-Konten der Agency umgeleitet, was die Saudis gehörig geärgert und dem Präsidenten ein Schmunzeln abgerungen hatte.
Da aber für die Saudis auch ein zweistelliger Millionenbetrag kaum mehr als Peanuts bedeutet und die guten Beziehungen zu den USA den Scheichs sehr viel wichtiger waren als ein paar Gelder, die ohnedies weg gewesen wären, hielt man sich im Wüstenstaat mit Nachforschungen oder verärgerten Reaktionen zurück und ließ die Sache auf sich beruhen.
Nicht zuletzt diese Erfolge hatten zu seiner überraschenden Beförderung beigetragen, bei der der Präsident persönlich mitgewirkt hatte.
Sein Vorgänger Philipp McAllister war vor kurzem über eine Affäre, insgeheim Marschbefehl-Operation genannt, gestolpert, die das Missfallen des Präsidenten erregt und McAllister einen vorzeitigen Ruhestand eingebrockt hatte, freilich bei vollen Bezügen. Und statt Agenten mit dubiosen Aufträgen durch die Welt zu schicken, stand er jetzt mit Vorliebe am Potomac River und angelte nach Barschen.
Sic transit gloria mundi!
Sanders sonore Stimme erfüllte den Raum.
„Nun Sir, wir haben mehrere ungeklärte Todesfälle unter unseren Agenten.“
„Ja, und ich möchte wissen, wer unsere Agenten jagt! Berichten Sie!“
„Beim ersten Fall handelt es sich um die nach wie vor ungeklärte Ermordung der Agentin Cathy Meywether in Bern. Obwohl wir hart daran arbeiten, haben wir immer noch keine Ahnung, was da passiert ist.“
„Die schwarze Cathy“, murmelte Lead, „Operation Marschbefehl, oder?“
„Ja, Sir.“
„Weiter!“
„Der zweite Fall betrifft die Tötung unseres Stationschefs in London.“
„Tom Brendan, nicht wahr? Und haben wir da wenigstens irgendwelche Erkenntnisse?“
„Nein Sir, wir sind auch da noch keinen Schritt weitergekommen, aber die Umstände lassen vermuten, dass der Täter ein Insider war. Der Täter kannte den Code und hat gewartet, bis die Sekretärin in ihre Mittagspause ging. Er kannte also die Abläufe dort genau.“
„Insider, ja? Ärgerlich, sehr ärgerlich. Aber das sind Altlasten, die Sie von Ihrem Vorgänger übernommen haben. Trotzdem, ich erwarte, dass das so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Weiter!“
„Der dritte Fall betrifft den Feldagent Second Grade Phil Peterson. Er wurde vor drei Wochen in Ostberlin ermordet, in seinem Hotel erschossen. Wir arbeiten mit der deutschen Polizei zusammen, haben aber keinerlei Hinweise auf den Täter, aber immerhin konnte die Liste sichergestellt werden, die er von einem russischen Informanten besorgt hatte.“
Leads Augen blickten zornig, im Geist sah er vor sich, wie ein weiterer, goldener Namensstern an die Marmortafel im Eingangsbereich seines Gebäudes angebracht wurde.
„Was nutzt mir die Scheißliste, wenn sie einen weiteren Agenten gekostet hat. Der Mann war verheiratet, hatte ein Kind. Wie soll man das der Frau beibringen?“
„Nun, mit Verlaub, Sir, das gehört zum Berufsrisiko und die Frau wird es verstehen. Sie kriegt schließlich eine ansehnliche Witwenpension.“
„Sanders, werden Sie nicht zynisch!“
Lead bemühte sich, seinen Abteilungsleiter empört anzublicken. In Wahrheit teilte er dessen Meinung – jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad.
„Weiter!“, sagte er mürrisch.
Sanders war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er fuhr sachlich fort.
„Der vierte Fall betrifft den Tod des Agenten Second Grade Gordon Rush. Er wurde vor einer Woche in Köln erschossen, das liegt in Deutschland …“
„Ich weiß, wo Köln liegt“, meinte Lead unwirsch, „den Kölner Dom kennt ja schließlich jeder!“
Sanders ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
„Natürlich, Sir. Und genau vor diesem Kölner Dom wurde er erschossen. Die Umstände sind noch ungeklärt, die Kölner Polizei hat noch keine Erkenntnisse über Täter oder Motiv weiß aber, dass das Opfer einer von uns war.“
„Weil …?“
„… er seinen Ausweis in der Tasche hatte!“
Lead nickte. Das war nicht ungewöhnlich und verstieß gegen keine Regel, solange er nicht verdeckt arbeitete. Das Bild des toten Agenten tauchte vor seinen Augen auf.
Sein volles schwarzes Haar, sein markantes Gesicht, seine kräftige Statur, seine offenen, ehrlichen blauen Augen. Erst seit drei Jahren bei der Agency, aber bald wäre eine Beförderung zum First Grade fällig gewesen.
Er hatte Rush gut gekannt und ihn wegen seiner sorgfältigen und gleichzeitig dezenten Arbeitsweise geschätzt. Eine dezente Arbeitsweise ist für eine Agency wie die ihre von höchster Bedeutung, egal, ob es sich dabei um eine Observierung oder eine angeordnete Liquidierung handelt.
Jetzt musste man seiner Frau Nancy und den beiden Kindern diese Nachricht beibringen – ein Scheiß-Job.
Okay, das würde Sanders machen, der kann so was. Eine angemessene Beisetzung in Arlington, kaum zwei Meilen von hier, mit Trompete, Salutschüssen und eingerollter, übergebener Fahne. Eine Pension für die Witwe und ein weiterer Name auf dem Messingschild im Eingangsbereich, auf der die im Einsatz umgekommenen Agenten verewigt waren. Das war alles, was von ihm bleiben würde.
Er zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren.
„Woran hat Rush gearbeitet?“
Tim Bernardini, sein Nebenmann, hob die Hand. Er war noch recht jung, ein untersetzter Mitdreißiger mit leichtem Bauchansatz, einer spitz gebogenen Nase und einer Schildplattbrille, die er gerne auf der Hand balancierte. Die Kollegen verglichen ihn gerne mit dem verstorbenen Schauspieler Robin Williams, ein Vergleich, den er gerne zur Kenntnis nahm. „Rush war zusammen mit Agent Wills auf eine Gruppe von Waffenhändlern angesetzt, die von Westdeutschland über Belgien und Holland Waffen in den Nahen Osten verschiebt, Adressat vermutlich IS-Gruppen im Libanon und in Syrien.“
„Wo ist Wills?“
„Noch in Köln.“
„Haben wir Kontakt zu ihm?“
„Ja, Sir!“
„Okay. Soll erst mal da bleiben. Hat die Ermordung von Rush mit seinem Auftrag zu tun?“
„Eher nicht, Sir“, antwortete Bernardini. „Die beiden Agenten waren erst seit vier Tagen unten und hatten noch keinen Kontakt zu der Gruppe geknüpft. Sie waren noch bei den Vorermittlungen. Von daher glaube ich nicht …“
„Okay!“
Lead unterbrach ihn unwirsch.
„Was ist mit Warschau?“
„Warschau ist noch mysteriöser, unser … äh … fünfter Fall“, Sanders sonore Stimme füllte den Raum.
„Barbara Dudek, Agentin First Grade. Erfahrene Agentin, seit mehr als zwölf Jahren bei uns. Sie war in Warschau auf Urlaub. Wie Sie sicher wissen, stammen ihre Großeltern aus Krakau in Polen. Sie leben noch dort und Agentin Dudek hatte sie besucht. Sie war auf dem Rückweg und machte für zwei Tage Station in Warschau.“
„Also hatte sie dort keinen Auftrag?“
„Nein, Sir, wie schon gesagt, sie war dort auf Urlaub. Hätte gestern zurückkehren müssen. Auch die Polizei in Warschau tappt noch im Dunklen. Allerdings gibt es zwischen den beiden Taten einen erheblichen Unterschied.“
„Nämlich?“
Nun meldete sich der dritte Teilnehmer, der bisher schweigend dabei gesessen hatte.
Agent Herbert Collins war erst seit zwei Jahren bei der Agency, ein schlanker, aber kräftiger, gut aussehender Mann mit vollem schwarzem Haar, energischem Kinn und ausdrucksvollen Gesichtszügen. Er lehnte sich nach vorne, als wolle er die Aufmerksamkeit des Direktors gewinnen, die er ohnehin hatte. „Rush wurde mit einem großkalibrigen Gewehr aus relativ kurzer Entfernung erschossen, Peterson mit einer 9 mm Pistole, aber Dudek wurde vergiftet.“
„Ich habe es in der Akte gelesen. Aber vergiftet? Wie? Weiß man Näheres?“
„Ja, Sir. Mir liegt der Obduktionsbericht aus Warschau vor, die Kollegen waren sehr kooperativ. Bei der Obduktion hat man eine winzige Kapsel aus Platin und Iridium gefunden, die das Gift Rizin freigesetzt hat. Rizin gewinnt man aus dem Samen des Wunderbaums, man kann es aber auch chemisch herstellen. Es gehört zur Gruppe der Lektine, die aus einer zellbindenden und einer giftvermittelnden Komponente bestehen. Seine tödliche Wirkung wird auf eine Hemmung der eukaryotischen Proteinbiosynthese zurückgeführt.“
„Mensch, Collins. Können Sie das auch etwas einfacher darstellen?“
Lead verzog seine Mundwinkel mürrisch nach unten und klopfte mit seinem Füller auf den Tisch.
„Natürlich, Sir. Ich werde mich bemühen, aber es handelt sich um einen durchaus komplexen Vorgang.“
„Also?“
„Bei der Proteinbiosynthese handelt es sich um die Neubildung von Proteinen in Zellen, das ist der für alle Lebewesen zentrale Prozess der Genexpression, durch den die Proteine der Erbinformation gebildet werden. Wird dieser Prozess nachhaltig gestört oder gar verhindert, tritt der Tod ein.“
„So schnell?“
„Normalerweise tritt der Tod erst nach Stunden ein“, ergänzte Sanders nüchtern, „wenn der Tod so schnell eintritt, muss es sich um eine besonders hohe Dosierung gehandelt haben.“
„Dazu kommt, Sir, dass solche Mittel gewöhnlichen Kriminellen nicht zur Verfügung stehen, man kann so etwas weder im Drogeriemarkt kaufen noch im Internet noch nicht einmal im Darknet. Mit diesen Mitteln arbeiten nur wenige Geheimdienste. Wir haben äh … auch schon damit gearbeitet.“
„Welche Geheimdienste arbeiten sonst noch mit … Rizin?“, wollte Lead wissen.
„Nun, soweit wir wissen, waren das der FSB und sein Vorgänger KGB, früher die ostdeutsche Stasi, der bulgarische Geheimdienst DANS, der israelische MOSSAD und zu Zeiten Ghadaffis der libysche Geheimdienst Amn Al-Jamahirya, aber das ist vorbei. In Libyen gibt es, wie Sie wissen, keinen nennenswerten Geheimdienst mehr, nur noch Chaos.
Vom Einsatz bei anderen Diensten ist uns nicht bekannt. Vielleicht arbeiten auch die Chinesen …“
„Bloße Vermutungen bringen uns nicht weiter“, raunzte Lead. „Fassen wir zusammen: Zwei unserer Mitarbeiter wurden in Bern und in London ermordet, das ist ein halbes Jahr her und wir haben keine Ahnung, wer die Täter waren. Das ist höchst unbefriedigend! Wenn der Senat davon erfährt, haben wir ein Problem. Oder besser, ich habe ein Problem. Und dann wurden drei weitere unserer Agenten im Abstand von jeweils einer Woche ermordet, in Köln und in Polen und in Berlin, mit unterschiedlichen Methoden. Zwischen den Opfern und ihren Tätigkeiten scheint kein Zusammenhang zu bestehen und trotzdem glaube ich nicht an einen Zufall. Zudem weist die Tötungsart zumindest in einem Fall auf die Verwicklung eines anderen Dienstes hin. Wer will uns hier an den Karren pissen?“
Keine Antwort, die Männer schwiegen.
Lead schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Verdammte Scheiße. Wir müssen das aufklären, und zwar bald. Dass Agenten im Dienst umkommen, ist normal, Berufsrisiko. Dass sie aber gezielt ermordet werden, ist nicht hinnehmbar, absolut nicht. Und die Öffentlichkeit ist auch schon informiert.
Hier, steht schon was in einer regionalen deutschen Zeitung, dem äh … Kölner Stadtanzeiger und es nur eine Frage der Zeit, bis sie das in der Post auch finden.
Er nahm eine Zeitung aus der Akte und knallte sie auf den Tisch:
Mysteriöser Mord auf der Domplatte
In den frühen Stunden des gestrigen Abends wurde auf der Domplatte ein mysteriöser Mord begangen. Ein Mann, etwa Mitte Dreißig, wurde aus kurzer Entfernung erschossen. Seine Identität ist der Polizei bekannt, wird aber aus ermittlungstaktischen Gründen noch verschwiegen. Wie wir aber aus gut informierten Kreisen erfahren haben, soll es sich bei dem Opfer um einen Mitarbeiter der amerikanischen CIA gehandelt haben. Was macht ein CIA-Agent am Dom und wer hat ein Interesse, ihn zu ermorden? Die Polizei tappt noch im Dunkeln. Zeugen werden gebeten, sich bei der Polizei unter 0221/ 229-0 zu melden.
„Die Sache hat höchste Priorität, meine Herren. Wir werden unter Ihrer Führung, Collins, eine Gruppe von fünf Agenten zur hausinternen Ermittlung daran setzen. Das alles schmeckt nach einem Maulwurf in unseren Reihen, das Schlimmste, was uns passieren kann. Ich höre schon, wie der Kongressausschuss mir seine peinlichen Fragen stellt, daran darf ich gar nicht denken!“
Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen, bevor er fortfuhr: „Also, höchste Geheimhaltungsstufe und ich erwarte sehr bald Ergebnisse. Berichte unmittelbar an mich und nur an mich! Außerdem werden wir dem Agenten Wills in Köln Verstärkung schicken. Prüfen Sie, Sanders, wer dafür in Frage kommt.“
Er machte eine kurze Pause und griff nach dem Teeglas, das er immer vor sich stehen hatte.
„Wo treibt sich eigentlich Agent Donelli rum?“
„Er ist zurzeit in Mailand und observiert eine Gruppe von Salafisten“, sagte Sanders.
„Ziehen Sie ihn ab, ich will ihn auch in Köln haben, soll was Ordentliches für sein Geld tun. Nehmen Sie für die Observation ein paar junge Nachwuchsagenten.“
„Okay, Sir.“
Lead fixierte seine Mitarbeiter mit einem scharfen Blick, was Komplikationen bedeutete und erhöhte Alarmbereitschaft hervorrief.
„Im Übrigen ist die NSA bereits involviert und wird ihre Kontakte zu anderen Diensten einsetzen und da ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen ist, hat auch das FBI erste Ermittlungen aufgenommen. Und damit nicht genug, auch der Stabschef vom Weißen Haus sitzt mir im Nacken! Ich habe den Eindruck, die halbe Welt steht hier in Langley vor der Tür und wartet darauf, wie wir das Problem lösen. Die Sache bläht sich auf wie Ballon und wir müssen aufpassen, dass wir nicht mitten drin sitzen, wenn er platzt.
Fünf tote Agenten aus unserer Firma!
Ein Albtraum!
In zwei Tagen habe ich ein Meeting mit den zuständigen Abteilungsleitern von NSA und FBI und dem Stabschef. Und dann möchte ich nicht als nackter Mann dastehen.“
Die drei Mitarbeiter nickten. Das war verständlich, diese Peinlichkeit mussten sie ihrem Direktor ersparen.
Aber schon fuhr Lead fort:
„Und noch etwas, Kollegen: Der Präsident persönlich ist beunruhigt, für ihn ist die Sache eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit. Sie wissen, was das bedeutet, meine Herren, also ab an die Arbeit!“
Viele, die bei Kindern sind, tun ihre Pflicht, aber das Herz ist nicht dabei. Das merkt das Kind.(Wilhelm von Humboldt)
Die Merowingerstraße liegt in der Kölner Südstadt, unweit vom mittelalterlichen Severinstor, das im Gegensatz zum Pantaleonstor den Abrisswahn überstanden hat und zum Mittelpunkt der Südstadt wurde. Die Straße verfügt über eine gemischte Bebauung, bei der schöne alte Häuser aus der Gründerzeit neben hastig errichteten, schmucklosen Bausünden aus der Nachkriegszeit stehen. Der türkische Dönerladen findet sich hier ebenso wie die alte kölsche Eckkneipe, der Kramladen neben der Edelboutique, und zu den vielen Wohneinheiten gehören auch etliche Sozialwohnungen für weniger solvente Mieter.
In einer solchen Sozialwohnung saß Pfarrer Markus Bassler am frühen Nachmittag und nippte an einem dünnen Kaffee. Nach einem langen Gespräch mit Frau Mundorf hatte er die Einladung angenommen und versprochen, mit Anne, dem Sorgenkind, zu sprechen.
„Ich kann nichts versprechen, aber ich will es versuchen.“
Frau Mundorf hatte ihm dankbar die Hand gedrückt.
Die Wohnung empfing ihn mit einem durchdringenden Nikotingeruch, ergänzt durch die letzte Mittagsmahlzeit, wahrscheinlich Erbseneintopf.
Bassler saß auf einer Couch, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und eher zum Sperrmüll als in ein Wohnzimmer gepasst hätte und betrachtete die kitschigen, in goldene Kunststoffrahmen gepressten Bilder, die im Original vor langer Zeit von Spitzweg gemalt worden waren. Der „Arme Poet“ hing neben dem „Eremit“, daneben der „Sonntagsspaziergang“ und der „Antiquar“, offenbar liebte man in diesem Haus den Münchener Maler. Aber daneben hing auch ein Hochzeitsfoto der Wohnungsinhaber, auf dem zumindest die Braut einen weniger glücklichen Eindruck machte, und das Foto eines hübschen jungen Mädchens im Konfirmationskleid. Anne in besseren Zeiten.
Couch und Sessel waren ordentlich mit leicht vergilbten Spitzendecken verziert, die bunte Tapete mit großblättrigem Blumenmuster war auch in den 70er Jahren schon sehr beliebt gewesen und der kleine Wohnzimmertisch aus rustikaler Eiche mit Delfter Kachelmuster wies zahlreiche Kerben auf. Auf dem Tisch eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift und ein überquellender Aschenbecher.
Im Hintergrund lief im großformatigen Fernseher eine belanglose Talk-Show, der Ton war abgestellt. Die Teilnehmer schrien sich gerade lautlos an.
Gegen die ungeputzten Fenster klatschten dicke Regentropfen, die wir kleine Perlen herunterliefen, ansonsten beherrschte eine penible Sauberkeit den Raum.
Gegenüber saß schweigend das Ehepaar Mundorf. Eduard, der Mann, Mitte fünfzig, fast zwei Meter groß, grobschlächtig mit zauseligem Bart. Die Schultern breit, aber nicht weniger breit die Hüfte, ein ausgeprägter Bierbauch wölbte sich unter dem T-Shirt.
Zähne und Finger nikotingelb, eine dominante und kompromisslose Erscheinung.
Jemand, mit dem man eigentlich keinen Streit haben möchte. Er trug ein verblasstes T-Shirt mit dem Aufdruck Fortuna Köln und eine alte Jogginghose, die an mehreren Stellen geflickt war. Seine Füße steckten in nagelneuen Adidasschlappen.
Bassler musste an das Zitat des Modeschöpfers Lagerfeld denken, das er vor kurzem beim Friseur in einer Frauenzeitschrift gelesen hatte. (Wo, wenn nicht beim Friseur liest ein Geistlicher auch schon mal in der Freundin):
Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.
Vielleicht war das übertrieben, aber bei Mundorf schien es zuzutreffen und Bassler, der keine einzige dieser Hosen sein Eigen nannte, schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken, so etwas tragen zu müssen.
Abrupt rief er sich zurück in die Gegenwart und fixierte Mundorf.
Seine kleinen Augen wirkten tückisch und drückten deutlich Missfallen aus, Missfallen über die Situation – und den Besucher. Seine narbige, rote Nase zeugte von erheblichem Alkoholkonsum.
Vor langer Zeit muss er einmal ganz gut ausgesehen haben, aber die Zeit und die Umstände haben ihn zu diesem Wrack gemacht, dachte Bassler. Mitleid regte sich in ihm. Es ist schon manchmal tragisch, wie das Leben den Menschen mitunter mitspielt. Wenn der Mann seine Arbeit nicht verloren hätte …
Mundorf drückte gerade seine Zigarette so intensiv aus, als wolle er eine lästige Fliege für alle Zeit beseitigen und warf immer wieder sehnsuchtsvolle Blicke auf den stummen Fernseher.
Daneben seine schmale, ängstlich wirkende Frau. Sie machte auf Bassler einen devoten Eindruck, schien ständig gebückt herumzulaufen und sich für ihr Dasein zu entschuldigen.
Gemeinsam warteten sie auf Anne, die „sich noch schnell fertig machen wollte“.
Und dann erschien sie – und Bassler erkannte sie nicht wieder.
Er hatte extra zu Hause ein Konfirmationsbild von vor zwei Jahren zur Hand genommen und Anne Mundorf herausgesucht, ein lebensfrohes Mädchen mit langem, braunem Haar, blitzenden, schalkhaften Augen und einer für ein vierzehnjähriges Mädchen gut entwickelten Figur.
Und jetzt?
Herein kam ein blasses Etwas mit grauem Kopftuch, darunter trug sie eine wald-grüne, bis auf den Boden reichende Shirt-Tunica, die den Körper und seine Formen völlig verhüllte, aber doch den Grad ihrer Abmagerung ahnen ließ. Nur die Augen blitzten noch so lebhaft wie vorher, allerdings weniger schalkhaft, mehr aggressiv.
Bassler reichte ihr die Hand, aber der Gruß wurde nicht erwidert.
Anne setzte sich auf den letzten freien Sessel und brachte etwas wie ein verkrampftes Lächeln zustande.
„Sicher sind Sie hier, um mich wieder auf den richtigen Weg zu bringen, oder?“
„Anne, sei nicht frech!“, polterte Eduard Mundorf und verzog angewidert seinen Mund.
Bassler hob seine Hand.
„Nein, Anne. Ich bin hier, weil mich deine Eltern darum gebeten haben und ich mich auch um meine Konfirmanden nach der Konfirmation zu kümmern pflege. Es kann mir nicht egal sein, wie sich meine Schützlinge weiter entwickeln. Wie ich sehe, machst du gerade eine Entwicklung durch, eine Entwicklung, die deine Eltern betrübt und die auch mich nachdenklich macht. Vielleicht kann ich helfen, dir und deinen Eltern.“
„Schützling? Helfen? Ich brauche keine Hilfe, meine Eltern vielleicht, ich nicht. Ich habe meinen Weg gefunden.“
In diesem Augenblick kam ein kleiner Junge herein, in der Hand trug er ein Schulheft.
„Kann mir jemand bei den Rechenaufgaben helfen?“