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Er wollte nichts Böses. Nur ein wenig Sightseeing in Italien. Ein Kölner Pfarrer kauft eine alte Schriftrolle - angeblich aus dem verschütteten Teil von Pompeji. Der Gelegenheitskauf entpuppt sich als sensationelle Rarität. Was der gute Geistliche nicht ahnen kann: Sein Fund zieht ihn unweigerlich in einen Strudel von Geheimnissen, Verrat und Mord – nicht nur in der Vergangenheit, beim Ausbruch des Vesuv. Auch in der Gegenwart ...
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Seitenzahl: 346
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ISBN 978-3-7751-7109-0 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5266-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Witten.Weiter wurden verwendet: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.
© Copyright der deutschen Ausgabe 2010 bySCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.deE-Mail: [email protected] von Pompeji: Timo Roller, www.morija.deUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chTitelbild: Archiv OHA Werbeagentur GmbHSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Für meinen tollen Bruder Hans-Jürgen,in vielem Vorbild und stets geliebt
Galiläa, 1. Jahrhundert nach Christus
Mühsam tasteten sich die Schritte durch den glutheißen Sand. Der Mann blieb stehen und ließ seine Augen über die karge, von steter Sonnenglut gegerbte Landschaft schweifen. Sein müder Blick streifte die dürren Ölbäume, die ausladenden Palmen und Myrten, die vereinzelten, wie hingeworfenen Hütten und die wenigen Menschen, die in nicht enden wollendem Gleichmut versuchten, dem Boden das Nötigste abzuringen. Aber das Herz des Mannes war schwer und voller Trauer.
Abschied! Sein ganzes Herz atmete Abschied. Von seinen Reisen abgesehen hatte er sein ganzes Leben hier verbracht, hier war ihm die größte Gnade Gottes zuteil geworden, hier aber hatte er auch den größten Schmerz empfunden, der einem Menschenherz zugefügt werden kann. Wie Bilder flogen Gedanken an Tod, Verrat und Hoffnungslosigkeit an ihm vorbei, dann wieder an unendliche Freude und maßloses Glück.
Er schüttelte den weißhaarigen Kopf, als wollte er die Gedanken der Vergangenheit abschütteln. Seine kraftvolle Gestalt straffte sich. Fest schloss sich die Hand um den Wanderstab.
Er war noch nicht am Ziel angekommen. Im Gegenteil: Er wusste, welch große, fast unmenschliche Aufgabe vor ihm lag. Und um dieser Aufgabe willen galt es, Abschied zu nehmen, und zwar jetzt. Sie duldete keinen weiteren Aufschub.
Sein Blick heftete sich auf das kleine, geduckte Haus vor ihm. Aus massivem Stein gemauert, das Dach mit ineinander verflochtenen Zweigen und Holzbohlen abgedeckt, auf die eine feste Schicht Lehm aufgetragen worden war, bot es den Einwohnern den nötigen Schutz vor den Stürmen, die mitunter über den öden Landstrich fegten. Einige Ziegen suchten im dürren Gras rund um den Brunnen ihre Nahrung und schauten nur kurz auf, als der Besucher an sie herantrat. Die Tür stand offen und der Mann trat ein. Das Haus war klein, einfach, sparsam eingerichtet, aber sauber.
Eine Frau von zarter Gestalt, das lange braune Haar in ein blau schimmerndes Tuch gehüllt, stand an dem Tisch vor dem Ofen und knetete einen Teig. Als sie die Schritte hörte, drehte sie sich um. Ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie den Besucher erkannte. Rasch putzte sie die Hände an dem Wolltuch ab, das ihr als Schürze diente, und eilte dem Besucher entgegen.
»Simon«, ihr Gesicht strahlte voller Freude, »es ist lange her, dass sich unsere Wege kreuzten.«
Der Mann, den eine spätere Welt nur noch Petrus nennen würde, ergriff die Hände der Frau und drückte sie herzlich, aber behutsam. »Die Freude ist bei mir, Maria. Es erfüllt mich immer wieder mit tiefer Freude, die Mutter unseres Herrn zu sehen, mit Freude, mit Stolz, und mit …« Seine Stimme geriet ins Stocken.
»… und mit Schmerz, wolltest du sagen, nicht wahr? Glaubst du, ich wüsste nicht, wie es dir ums Herz ist? Und doch hat er uns gezeigt, dass sein Tod einen Sinn hatte. Wenn jemals ein Tod einen Sinn hatte, dann war es seiner. Schau nur, wie die Gemeinde in Jerusalem blüht, und nicht nur dort. Seine Worte fallen auf fruchtbaren Boden, in Jerusalem und in vielen anderen Gemeinden, die du und deine Freunde besucht haben. Aber ich gerate ins Plappern. Sicher bist du hungrig und durstig vom langen Weg. Ich werde dir rasch einen Imbiss …«
Simon Petrus verneinte. Seine Miene verriet großen Schmerz.
»Aber ich habe ihn verraten«, flüsterte er atemlos. »In der Situation, in der er mich am meisten gebraucht hätte, habe ich gefehlt. Ich habe …«
Behutsam legte Maria ihre Arme um den erschütterten Mann, dessen Stimme am Ende zu versagen schien.
»Treuer Simon, du magst in dieser Situation, in der Unmenschliches von dir verlangt wurde, allzu menschlich gehandelt haben. Wer könnte dich dafür tadeln? Aber seitdem hast du deine Treue tausendfach bewiesen. Du bist der Fels geworden, als den mein Sohn dich bezeichnet hat. Ohne das Feuer deines Glaubens, ohne die Kraft deiner Liebe hätte seine Botschaft nie verbreitet werden können.«
Sie wischte seinen Schweiß von der Stirn und schaute ihn voller Liebe an.
»Möchtest du nicht doch etwas zu dir nehmen? Sieh, ich habe frisches Brot gebacken und dazu steht eine kräftige Suppe vom Huhn auf dem Feuer.«
Sie zeigte zur Feuerstelle, wo sie goldbraune Fladen noch dampfend aus der ummauerten Feuerstelle geholt hatte. Über der offenen Feuerstelle daneben dampfte ein Topf, der verführerische Düfte aussandte.
Aber Petrus schüttelte den Kopf. »Die Karawane, der ich mich angeschlossen habe, wartet. Sie bringt mich nach Caesarea. Dort werde ich ein Handelsschiff besteigen, das mich nach Rom bringt. Die Brüder dort erwarten mich mit Sehnsucht. Ich werde sofort aufbrechen.«
Maria verstand. Schweigend nahm sie ihn in den Arm. Sie sollte ihn nie mehr wiedersehen.
Pompeji nuova, Ausgrabungsgelände, 13. März nachts
Für März war es entschieden zu kalt und zu neblig. Der Mond schien sich beleidigt hinter die dichten Wolken zurückgezogen zu haben und gewährte der Welt nur ungnädig einen blassen, mageren Schein. Giuseppe Baldoni warf die angerauchte Zigarette fluchend auf den Boden und zog seinen Schal fester um den Hals. Umständlich griff er nach seinem Taschentuch und schnäuzte lautstark hinein. Elende Erkältung! Er war mit sich und der Welt unzufrieden, nicht nur mit diesem lausigen Wetter. Weit hatte er es gebracht: Nachtwächter im Ausgrabungsgelände des antiken Pompeji. Ha! Hatte ihm so etwas sein Vater nicht immer vorhergesagt?
»Giuseppe«, hatte er gesagt und nicht einmal dann die filterlose Zigarette aus dem Mund genommen, »du wirst irgendwo bei den Adettos landen und den Müll anderer Leute wegräumen, oder als Nachtwächter oder … Tankstellenkassierer. Was kannst du schon, du jämmerlicher Versager? Du bist dumm und faul, in der Schule hast du nie was gelernt, obwohl ich dich immer …«, an dieser Stelle unterbrach der unvermeidliche Raucherhusten meist die väterlichen Unterweisungen.
»Schau mich an. Ich hätte etwas werden können, wenn der Krieg nicht gewesen wäre …«
Und dann schwadronierte er wieder von seiner Zeit bei der Resistenza, als er ganz allein einen Proviantzug der Nazis in die Luft gesprengt hatte, fabulierte von Abenteuern und tapferen Taten, und schließlich von seiner Gefangennahme durch die vermaledeiten Deutschen bei Perugia und …
Halt, war da nicht ein Geräusch?
Baldoni blieb stehen und griff nach seiner Koppel, an der sein Schlagstock befestigt war. Eine wirksamere Waffe hatte man den Nachtwächtern vom alten Pompeji dann doch nicht zugestehen wollen, so gefährlich war der Job nicht. Ha! Erst vor einer Woche hatten sie eine Bande von Jugendlichen geschnappt, die mitten zwischen den Ruinen eine von ihren verrückten Kokspartys feierte. Nicht gefährlich! Der eine hatte eine halb volle Wodkaflasche nach ihm geworfen, die ihn nur äußerst knapp verfehlt hatte.
Wieder ein Geräusch, ein Rascheln. Unzweifelhaft links von ihm, in der Nähe des Vicolo Di Mercurio. Aber er konnte nichts sehen, zum einen wegen der nebelverhangenen Dunkelheit, dann aber auch wegen der kleinen Zypressen und der dichten Holunderbüsche, die dazwischen lagen. Vielleicht war es auch nur ein Tier? Die Anlage war voller Kleintiere, Ratten, Kaninchen, Katzen, Füchse, wilder Hunde, allerlei Getier war hier in den stillen Nächten unterwegs. Und nachts war es besonders gespenstisch, wenn sie sich gegenseitig jagten und …
Oder waren es doch Menschen? Merda, dass es nur so dunkel war! Seine Taschenlampe mochte er nicht anmachen, das hätte die Schurken gewarnt. Und das wollte er nicht riskieren. Die spröden Lippen verzogen sich kurz zu einem stolzen Lächeln. Sein Traum war es, auf der Titelseite des Messaggero abgebildet zu werden. Er, Giuseppe Baldoni, mit einer Titelzeile wie:
Tapferer Nachtwächter stellt todesmutig Bande von Grabräubern!
Dann würde seine Lucia große Augen machen und ihn endlich ernst nehmen!
Waren es doch wieder marodierende Jugendliche oder gar Grabräuber, die versuchten, die armen Toten der verschütteten Stadt zu berauben?
Auf jeden Fall würde er das nicht zulassen, auch wenn er mit fünfundsechzig schon ein Alter erreicht hatte, in dem man an so einem Abend lieber bei seiner Frau auf der Couch säße.
Stimmen. Leise zwar, mehr zu ahnen als zu hören. Ihm war, als flüstere jemand im schweren Akzent Kampaniens.
Vorsichtig schlich sich Baldoni an und bog leise die Zweige eines Holunderbusches zur Seite. Jetzt konnte er sie im fahlen Mondlicht sehen: Mehrere dunkle Gestalten von kräftiger Statur, mit Kapuzen vermummt, die nicht gerade wie Halbwüchsige aussahen. Und irgendetwas verstauten sie flüsternd in einem Sack. Hätte er doch bloß das Funksprechgerät bei sich gehabt. Aber das lag auf dem Tisch im Wachzimmer am Eingang des Geländes. Er nahm es nie mit, weil es so schwer war und er es ohnedies nie brauchte. Außerdem funktionierte es meist sowieso nicht, hätte halt mal wieder neue Batterien nötig. Porca Miseria, jetzt hätte er es gebrauchen können!
Halt! Was war das? Ein leises Lachen tönte zu ihm herüber, als wollten sich die Burschen über ihn lustig machen. Basta! Er erhob sich zu voller Größe, obwohl die bei 160 Zentimetern nicht gerade beeindruckend war, und schritt mit amtlicher Miene auf diese illegale Versammlung zu. Mutig baute er sich vor der Gruppe auf. Seine nikotingelben Finger tasteten nach der Trillerpfeife in seiner Tasche, die er für Notfälle bei sich hatte. Würden seine Kollegen ihn hören? Aber zunächst wollte er dem schändlichen Treiben ein Ende bereiten.
»Fermate vi!«, schrie er. Stammte dieses ängstliche Krächzen etwa von ihm?
Im blassen Mondschein gewahrte er drei kräftige Gestalten, die sich lässig zu ihm umdrehten. Täuschte er sich oder grinsten sie ihn frech an?
»Was macht ihr da, Gesindel? Wollt ihr wohl …«
Zu spät hatte er das warnende Knirschen der Schuhe hinter sich wahrgenommen. Er versuchte noch, sich umzudrehen, und erhielt im gleichen Augenblick einen harten Schlag auf den Kopf.
Merda!, zuckte es ihm durch den Kopf. Seine Taschenlampe polterte zu Boden, dann umhüllte ihn gnädige Schwärze und er sank mit einem seufzenden Laut zu Boden.
Pompeji, 23. August 79 n. Chr., dritte Stunde
Die Sonne brennt schon zu früher Stunde ohne Erbarmen auf das Forum von Pompeji nieder. Ein wunderschöner Tag im August, ganz Pompeji scheint im flüssigen Gold einer verschwenderischen Sonne zu schwimmen, vielleicht ist es schon ein wenig zu heiß.
Die Perle Kampaniens liegt ergeben in den sengenden Strahlen und kein kühlender Hauch mildert die Glut. Gleißend brechen sich die Strahlen an den schneeweißen Wänden und Säulen der Tempel und Amtsgebäude, die nach dem letzten Erdbeben erst vor Kurzem wieder fertiggestellt worden sind, jedenfalls zum größten Teil. Einige Baugerüste hinter dem Forum künden davon, dass noch nicht alle Arbeiten erledigt sind. Am Augustustempel steht noch das Gerüst, mit dem die Statue des neuen Kaisers Titus errichtet wurde, der Zement ist noch nass.
Auf dem prachtvollen Forum stehen schon wieder die Statuen früherer Kaiser wie Augustus, Tiberius, Claudius und Vespasian auf ihren Säulen aus blendend weißem Marmor und überwachen mit kaiserlicher Autorität das geschäftige Treiben. Ein Imperator wie Nero ist freilich aus guten Gründen der Rache behördlichen Vergessens anheimgefallen, ein Schicksal, das er mit Kaiser Caius teilt, den alle Welt – jedenfalls hinter seinem Rücken – Caligula genannt hatte.
Trotz der frühen Stunde ist das Forum von Menschen aller Art bevölkert. Der Lärm mischt sich mit den Ausdünstungen von Menschen und Tieren, Obst und Gemüse zu einem undurchdringlichen Inferno. An zahlreichen Ständen versuchen die Händler mit wildem Geschrei und einladenden Gesten die Kundschaft auf ihre Waren aufmerksam zu machen. Herrinnen mit ihren Sklaven im Gefolge betasten kritisch die angebotenen Waren und feilschen lauthals um die Preise. Sklaven fordern die Umstehenden lauthals auf, Platz zu machen für den edlen Herrn, den sie in teurer Sänfte durch die Menge tragen. Adlige Herren mit ihren Klienten im Gefolge betrachten das chaotische Geschehen nicht ohne eine gewisse Abscheu und genießen doch den Respekt, den man ihnen entgegenbringt.
Dazwischen schlendern Müßiggänger in sinnlose Gespräche vertieft und lassen ihre Blicke nach links oder rechts schweifen, je nachdem, wo der Lärm am größten ist. Eitle Gecken, geschminkt und mit gefärbten Haaren in schreiend bunten Tuniken – der neueste Schrei! – stellen ihren Hochmut zur Schau. Gladiatoren der nahen Gladiatorenschule genießen die verzehrenden Blicke der Mädchen, die voller schamlosen Verlangens über ihre muskulösen Körper streifen. Die Beamten des Aedils mustern mit strengem Blick das Treiben und greifen ein, wenn die Waage sich allzu deutlich zugunsten des Händlers verschiebt.
Herrenlose Hunde jagen mit hängender Zunge durch die Menge und versuchen ein Stück Fleisch zu erhaschen, das von überladenen Tischen fällt. Völlig ungezwungen spazieren auch die Taschendiebe umher, ihre Sica, den kurzen Dolch unter der schäbigen Tunika verborgen, um sich, wenn sich die Gelegenheit nur bietet, mit einem kurzen Schnitt in den Besitz der Geldbörse zu bringen, die der Besitzer allzu sorglos um sein Gewand hängen hat. Alles bietet das Bild unbeschwerten Wohlstands, die ganze geschäftige Stadt treibt fröhlich lärmend ihrem Unheil entgegen – und ahnt doch nichts davon!
Gelegentlich lässt ein dumpfes Grollen die Menschen aufhorchen, wie ferner Donner hallt es dann vom Berg, der bis oben hin mit prachtvoll reifenden Weinstöcken bedeckt ist. Aber das ist schnell vergessen und man wendet sich wieder den Dingen des Alltags zu.
Nur wenige scheinen eine Vorahnung von den Dingen zu haben, die da kommen.
»Hast du gesehen, Flavius? Das neue Prätorium hat schon wieder Risse bekommen!«, ruft ein dicker Fischhändler seinem Standnachbarn zu. Der nickt und sortiert seine Kohlköpfe, die alten nach oben, die frischen nach unten.
»Und am Forum ist eine Statue runtergefallen. Die Erde hat wohl wieder gebebt. Ist doch nichts Neues, mach dir keine Sorgen, Quintillus. Sorg lieber dafür, dass du deinen alten Fisch loswirst. Bei Mercur, der stinkt ja erbärmlich.«
Eine alte Frau in einem abgewetzten blauen Kittel mischt sich ein. Sie blickt von den Kräutern auf, die sie eben noch zum Trocknen ausgelegt hat. »Der Brunnen vom alten Catulus ist wieder versiegt. Wie damals vor dem großen Erdbeben. Und schaut doch mal nach oben.« Ihre knochigen Finger weisen zum Himmel, wo große Vogelschwärme davonfliegen. Die Stimme nimmt ein unheilvolles Krächzen an: »Die wissen Bescheid, sie fliehen. Die Götter zürnen uns. Es wird noch ein schlimmes Ende nehmen. Man muss Vulcanus ein Opfer bringen, sonst wird er sich rächen.«
Was sie weiter vor sich hinsabbert, versteht keiner, will aber auch keiner wissen.
Für solche düsteren Prophezeiungen haben die anderen nur ein geringschätziges Lachen übrig, solange nur die Geschäfte gut gehen.
»Kümmere dich um deine verfaulten Datteln, alte Hexe«, lacht Flavius und wendet sich wie die anderen wieder seinen Geschäften zu.
Dem aufmerksamen Betrachter wäre freilich ein abgerissener Bursche von zwergenhaftem, missgestaltetem Wuchs in einer äußerst verschlissenen, schäbigen und völlig durchgeschwitzten Tunika nicht entgangen, dessen ausgemergelte Gestalt sich ohne Ziel rastlos durch die Menge schiebt. Ein noch aufmerksamerer Betrachter hätte in ihm einen entlaufenen Sklaven entdeckt, weil der Abdruck des gewaltsam entfernten Sklavenreifs auch jetzt noch deutlich den dürren Hals verunstaltet.
Servulus war der Name dieses armen Burschen, den sowohl die jämmerliche Erscheinung als auch der despektierliche Name sofort als Sklaven auswiesen.
Misstrauisch blickte sich die Jammergestalt nach allen Seiten um. Jetzt erwischt zu werden, würde den Tod bedeuten. Entlaufene Sklaven fanden keine Gnade. Servulus wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn, aber schon Sekunden später bahnten sich neue Tropfen ihren Weg über sein ausgemergeltes Gesicht und verloren sich auf seiner schäbigen Tunika.
Mit verzogenen Lippen blickte Servulus an seiner kleinwüchsigen Gestalt herab. Die kräftigen schwarzen Locken hingen schweißnass in seiner Stirn, über die sich eine feuerrote Narbe zog. Seine schäbige Tunika in verwaschenem Grün schlotterte in Fetzen um seine dünnen Glieder. Seine Sandalen verdienten diesen Namen nicht mehr.
Nein, die Natur hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Oder waren es doch die unsterblichen Götter, die diesen Anblick des Jammers zu verantworten hatten?
Nur die flinken blauen Augen irrten unstet umher, schienen alles zu registrieren, waren unermüdlich auf der Jagd, denn Servulus hatte immer Hunger, großen Hunger.
Und wenn die Pompejaner nicht so sehr mit ihrer Lieblingstätigkeit beschäftigt gewesen wären, der Vermehrung ihres Reichtums, hätten sie dem armen Burschen eine Münze, vielleicht nur ein paar Asse oder etwas Obst zukommen lassen.
Aber so kümmerte sich niemand um den entlaufenen Sklaven. Mitleid war eine teure Gunst, die sich niemand leistete. Schon mehrfach hatte er bei den Kaufleuten um etwas Brot gebettelt, aber jedes Mal schrien sie angewidert:
»Abscide, nequissime! – Hau ab, Taugenichts. Oder wir hetzen die Hunde auf dich!«
Aus einer Garküche war er gar mit der Peitsche vertrieben worden, die Hiebe spürte er jetzt noch auf seinem knochigen Rücken.
Auch wenn er nur ein Sklave und Schläge gewohnt war, so fühlte er sich nun frei, und eine solche Behandlung ärgerte ihn. Nein, sie erregte Zorn in ihm. Zorn und das Gefühl, sich dafür rächen zu müssen. Ja, das Gefühl der Rache wurde so stark in ihm, dass es mitunter sogar den beißenden Hunger verdrängte. Wieso haben die einen so viel und ich gar nichts?
Im Gegensatz zu früher empfand er diesen Zustand zunehmend als sehr ungerecht.
Das können die Götter nicht wollen!
Und so keimte in ihm nicht nur das Verlangen nach Rache, sondern auch das Gefühl, etwas an diesen ungerechten Besitzverhältnissen ändern zu müssen. Seine Hände tasteten nach der Sica, dem kurzen Dolch, den er seinem Herrn gestohlen hatte. Sie würde ihm bei seinem Feldzug nützlich sein.
Sein erster Versuch gelang problemlos. An einem Obststand schaffte er es immerhin, zwei Äpfel zu stibitzen, ohne dass der Händler ihn mit der Peitsche dafür belohnt hätte. Voller Gier und stolz auf seine erfolgreiche Tat biss er in die frische Frucht. Der herbe Saft lief über seine verdörrten Lippen und tropfte auf sein schmutziges Gewand.
An einem Brunnen am Rande des Marktes ließ er sich erschöpft nieder. Höhnisch starrte ihn das Gesicht des Wasserspeiers an. Tief tauchte er die dürren Arme in das kühle Nass, formte die Hände zu einem schmalen Becken und ließ einen erfrischenden Schwall Wasser über seinen Kopf laufen, immer wieder, bis er prustend den Kopf schüttelte wie ein durchnässter Hund.
Passanten beobachteten den Zwerg, der so ausgelassen mit dem Wasser spielte, und machten abschätzige Bemerkungen. Aber Servulus ließ sich davon nicht beirren, jetzt ging es ihm besser.
Seltsam, aber der Wasserspiegel zitterte in feinen Wellen, auch wenn er seine Hand nicht hineintauchte. Gleichzeitig meinte er, für Sekunden ein leichtes Beben des Bodens zu spüren, aber er hatte keine Zeit, sich solch sinnlosen Betrachtungen hinzugeben, denn plötzlich näherte sich ein potenzielles Opfer, das arglos an ihm vorbeischlenderte.
Ein wohlgenährter älterer Herr von hohem Wuchs und edlen Gesichtszügen. Sein Haar war so schlohweiß wie seine Toga, offenkundig ein Patrizier. Er humpelte leicht, und dennoch hatte der alte Sklave, der ihn begleitete, noch Mühe, seinem Herrn zu folgen.
Servulus witterte leichte Beute und beschloss, den beiden Alten in sicherem Abstand zu folgen. Vielleicht konnte man sich hier das Geld für eine Mahlzeit besorgen, sicher trug der feine Herr eine wohlgefüllte Börse unter seiner teuren Toga. Mit dem, was so ein nutzloser Umhang kostet, könnte ich bequem zwei Jahre leben, dachte Servulus geringschätzig.
Gemeinsam tauchten sie in das Gewirr der kleinen Straßen ein, das den Marktplatz umgab. Die beiden vor ihm wandten sich zunächst über die Via Augustalis nach Osten und erreichten die Via Stabia, die sie in nördlicher Richtung heraufgingen. Servulus kannte sich hier nicht aus, aber am Ende der Straße erkannte er die Porta Vesuvia und im Hintergrund den Berg, der dem Tor seinen Namen gab. Ein dünner Rauchfaden stieg aus dem Vulkan, aber dieser Anblick bot sich schon, seitdem Servulus auf seiner Flucht hier angekommen war.
Kein Grund zur Besorgnis!
Langsam beschleunigte der ehemalige Sklave seinen Schritt, während seine Hand nach dem kleinen Dolch tastete, der kaum von der fadenscheinigen Tunika verborgen wurde. Die beiden Männer vor ihm hatten nun den Viculus Mercurius überquert und betraten eine kleine Querstraße zur rechten Seite. Sie passierten eine Taberna, an deren rohen Holztischen weintrunkene Männer saßen und mit lauter Stimme ihr Würfelspiel kommentierten.
Einige Schritte weiter blickte Servulus sich um. Kein Mensch weit und breit, die Taberna hatten sie hinter sich gelassen. Hier gibt es keine Läden, sondern nur die Wohnhäuser Wohlhabender, die verborgen in der Hitze liegen. Hohe, abweisende Mauern umgeben die Grundstücke und schützen sie vor dem Blick des neugierigen Betrachters.
Die soliden Mauern sind sorgsam in strahlendem Weiß verputzt, nur rotglühendes Weinlaub hängt, von schweren Beeren durchsättigt, in frohem Kontrast über dem Weiß oder schmiegt sich gierig an schmale Zypressen.
Die Gelegenheit war günstig. Servulus zog seine Sica und beschleunigte den Schritt.
Nur noch zwei Meter trennten ihn von den beiden.
Pompeji nuova, 15. März früh am Abend
Nein, sicher nicht die Welt-, aber die hier erzählte Geschichte wäre anders verlaufen, wenn Monsignore Dr. Peter Diefenstein an diesem Tag nicht gerade diesen Weg eingeschlagen hätte. Einen Weg, der ihn über die Piazza Anfiteatro geradewegs auf die Via Roma führte, den touristischen Mittelpunkt von Pompeji. Pompeji nuova wohlgemerkt, das neu erbaute Pompeji, nicht so schön, nicht so groß, nicht so eindrucksvoll wie sein antiker Vorgänger, dafür aber unzerstört, laut – und ziemlich hässlich. Hier, wo die Via Plinio in die Via Roma übergeht, drängeln sich auf beiden Seiten unzählige kleine Läden, Hotels und Restaurants mit unscheinbarer Architektur und suchen die Aufmerksamkeit der Touristen, die in großer Zahl hierhin strömen.
Und nach der Besichtigung des antiken Trümmerfelds ist ein Rundgang durch das neue Pompeji unerlässlich, denn der Magen verlangt Nahrung, das gemarterte Gemüt nach einem Glas Wein und der Körper nach einer angenehmen Schlafstatt. Und wer die Stadt nicht wieder nach vierstündigem Besuchsmarathon im Bus verlässt, sondern sich und der antiken Sensation etwas mehr Zeit gönnt, der bleibt einige Tage dort. Wie zum Beispiel Monsignore Dr. Diefenstein, seines Zeichens Pfarrer der Basilika St. Pantaleon in Köln, ein stattlicher Mann, gut in den Sechzigern, von hohem, schlanken Wuchs, kurzem eisgrauen Haar und ausgeprägter Hakennase.
Nach einem weiteren, durchaus erschöpfenden Rundgang durch die Reste des alten Pompejis hatte Diefenstein wie üblich die Abendmesse besucht und dann beschlossen, den Tag bei einem guten Glas Wein und einer Portion Spaghetti carbonara ausklingen zu lassen. Mit großem Appetit studierte er zu diesem Zweck die Speisekarten der Gaststätten an der Via Roma. Zwölf Euro für eine simple Portion Nudeln mit etwas Schinken und Käsesoße, dazu das Gedeck noch extra berechnet. Herr im Himmel …
Vielleicht doch eher in der kleinen Trattoria an der Ecke?
Plötzlich zupfte ihn jemand an seinem rechten Ärmel. Erstaunt drehte er sich um. Ein kleiner Junge, nicht älter als zehn Jahre, vor Dreck starrend und mit strengem Geruch, aber blitzenden Zähnen unter einem ungebändigten schwarzen Haarschopf. Mit einem strahlenden Lächeln versuchte er die Aufmerksamkeit des deutschen Besuchers zu erlangen.
»Want to buy? Prego. Du kaufen! Hier, look.Original, very old Schrift from Romans. Molto precioso!« Ein seltsames Sprachengemisch aus Englisch, Deutsch und Italienisch, dazu bittende, klare Augen und ein Lächeln zum Dahinschmelzen.
Diefensteins erste Reaktion war Ablehnung. Ein schroffes »No« wäre vielleicht angemessen gewesen, aber dieser ärmliche Junge!
Gleichzeitig hielt ihm der kleine Bursche ein Stück Papier vor die Nase, nachlässig in eine alte Kunststoffhülle verpackt.
»Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt …« Vielleicht war es diese Bibelstelle, die den guten Monsignore veranlasste, einen kurzen Blick auf das Papier zu werfen.
Ein Stück alten Papyrus', offenkundig gefälscht und auf alt getrimmt, wie sie zu Hunderten auf den Straßen antiker Metropolen kursierten.
Der Junge schien die Zweifel des potenziellen Käufers zu spüren und verdoppelte seine Anstrengungen. »Nur zehn Dollar, Signore, prego, molto antiquo!« Er schien ihn jetzt für einen Amerikaner zu halten und hatte daher die entsprechende Währung gewählt.
Dr. Diefenstein griff resignierend nach seiner Geldbörse, woraufhin ein Strahlen das Gesicht des Kindes verzückte.
»Come ti chiami? – Wie heißt du, Kleiner?«
»Sono Francesco, Mister.«
»Okay, Francesco. Lo prendo. Dollar habe ich nicht, ich gebe dir zehn Euro, capito?«, antwortete er automatisch im gleichen Kauderwelsch.
Der Junge nickte freudig, griff nach dem Schein und drückte Diefenstein den Plastikhefter in die Hand. Sekunden später war er verschwunden.
Diefenstein schüttelte den Kopf. Armut macht erfinderisch. Er warf einen kurzen Blick auf die Hülle und das enthaltene Papier.
»Würde mich nicht wundern, wenn auf der Rückseite ›Made in Hongkong‹ stünde«, murmelte er und verschwand im nächsten Lokal.
Rom, im Herbst 54 n. Chr.
Theophilos grüßt seinen Fronto in brüderlicher Liebe.
Wenn es dir gut geht, mein Freund, freue ich mich. Mir geht es gut.
Du schriebst, du wollest wissen, wie es mir hier geht – hier im Rom der Tempel und Paläste, dem prächtigen Mittelpunkt der Welt. Es ist nun mehr als ein halbes Jahr her, dass ich unser eher beschauliches Pompeji mit dem großen Rom vertauscht habe, und ich kann dir vieles berichten, denn ich werde mich gerne an unser Versprechen halten, dass wir uns zweimal in jedem Jahr einen Brief schreiben. Halte du dich auch daran, lieber Freund, und es wird uns beide erfreuen.
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