Die Körper, die sich bewegen - Bunye Ngene - E-Book

Die Körper, die sich bewegen E-Book

Bunye Ngene

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Beschreibung

"Aber welche anderen Möglichkeiten hatte man, wenn man mitten im Mittelmeer in einem winzigen Beiboot festsaß, als über sein Leben nachzudenken und darüber, wie die Entscheidungen, die man getroffen hatte, einen dorthin gebracht hatten?" "Die Körper, die sich bewegen" erzählt die fesselnde Geschichte eines Mannes, der sich auf eine Reise nach einem besseren Leben begibt. Mitten auf dem Mittelmeer gestrandet, denkt Nosa über die Ereignisse nach, die ihn in seine jetzige Lage gebracht haben. Als Kind von seinem Vater im Stich gelassen und von der Perspektivlosigkeit in Nigeria entmutigt, beschließt Nosa, nach Europa auszuwandern. Um dies zu erreichen, nimmt er die Dienste von Schmugglern in Anspruch. Seine Reise führt ihn durch Transitstädte, Unterschlüpfe und Internierungslager in Nigeria, Niger und dem kriegsgebeutelten Libyen. Auf seiner Reise trifft er auf andere Reisende, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Sie alle eint jedoch der Wunsch nach einem besseren Leben in Europa.

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Zum Autor

Bunye Ngene, Jahrgang 1985, wuchs in Lagos, Nigeria, auf. Nach einem Bachelorabschluss in Germanistik an der Universität von Ibadan zog er nach Deutschland, um an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen Masterabschluss in Deutsch als Fremdsprache zu erlangen.

Die Körper, die sich bewegen ist sein erster Roman. Die englische Ausgabe unter dem Titel The Bodies That Move war Finalist des Next Generation Indie Book Awards 2021 und Semifinalist des BookLife Prize 2021

Zurzeit lebt er in München.

Für all die Körper, die sich noch bewegen.

Und für die, die es nicht mehr tun.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Teil 2

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Teil 3

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Epilog

Prolog

Nosa saß im Boot und starrte auf das schimmernde Wasser. Die Sonne spiegelte sich darin und gab ihm eine schöne, fast übernatürliche Beschaffenheit. Es erinnerte ihn an den Fluss in seinem Dorf, in dem er und sein Bruder als Kinder gebadet hatten. Auch seine Schwestern hatten in dem Fluss gebadet, aber auf der anderen Seite, abgeschirmt von hohen, ungezähmten Elefantengräsern und üppigen Sträuchern. Es war dieser Fluss, der in ihm die Liebe zum Schwimmen weckte. Er sollte später der beste Schwimmer unter seinen Freunden werden. Im Wasser zu sein, gab ihm ein Gefühl von Freiheit. Vielleicht war es die schwerelose Vollkommenheit. Seine Mutter pflegte zu sagen: „Manchmal frage ich mich, ob du in deinem früheren Leben ein Fisch warst oder der Mann von Olokun.“ Obwohl Nosa die Vorstellung, mit der verehrten Flussgöttin in irgendeiner Weise verbunden zu sein, lächerlich fand, dachte er immer gern, dass es eine gewisse Verständigungsebene zwischen ihm und dem Wasser gab. Aber in diesem Moment, in diesem Boot, konnte er sich nichts Beängstigenderes vorstellen.

Hinter Nosa steigerte sich ein anhaltendes Gemurmel plötzlich zu einem lauten Schrei. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Er kannte die Quelle. Sie schrie aus Leibeskräften, brüllte Worte, die er nicht verstand, und schlug ihre Hände gegen die Brust des kleinen leblosen Körpers auf ihrem Schoß, als ob der Schmerz, der ihm zugefügt wurde, ihn irgendwie wieder zum Leben erwecken würde. Niemand im Boot versuchte, sie aufzuhalten oder zu trösten. Das lag wahrscheinlich daran, dass niemand sie wirklich hörte. Alle schienen wie betäubt zu sein und starrten in die schimmernde See. Nosa konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie lange es her war, dass das Baby gestorben war. Es musste kurz nach dem Ausfall des Bootsmotors gewesen sein. Die ganze Nacht hindurch hatte sie versucht, ihn zu stillen, drückte auf ihre Brust, während sie mit zitternder Stimme immer wieder „keine Milch“ murmelte. Nachdem es stundenlang geweint hatte, hörte das Schniefen des Babys langsam auf. Alle nahmen an, dass es sich in den Schlaf geweint hatte, auch seine Mutter.

Nachdenklich fragte sich Nosa, wie eine Reise, die mit so viel Hoffnung begonnen hatte, eine so tragische Wendung nehmen konnte. Vielleicht ... nein, es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, was hätte sein können. Aber welche anderen Möglichkeiten hatte man, wenn man mitten im Mittelmeer in einem winzigen Beiboot festsaß, als über sein Leben nachzudenken und darüber, wie die Entscheidungen, die man getroffen hatte, einen dorthin gebracht hatten? Seine Gedanken führten ihn acht Jahre zurück, in die Zeit, als er siebzehn war. Als sein Leben einfacher war.

Teil 1

Kapitel Eins

Die Würdenträger, gekleidet in Agbadas und schlechtsitzende Anzüge, saßen unter Baldachinen, während die Schüler auf Plastikstühlen saßen, der Mittagssonne ausgesetzt mit rasierten, glitzernden Köpfen. Einer nach dem anderen hielten die Würdenträger abgedroschene Reden mit echolastigen Mikrofonen.

Als bester Abschlussschüler saß Nosa unter einem Baldachin, auf beiden Seiten flankiert von der Zweit-und dem Drittplatzierten. Das Mädchen, das den zweiten Platz belegte, trug ihre Schuluniform, einen marineblauen Rock und eine karierte Bluse, eine Entscheidung, die Nosa nicht verstehen konnte. War das Ablegen der Uniform nicht einer der Gründe, warum sich die Teenager auf ihren Schulabschluss freuten? Die meisten ergriffen die Gelegenheit, zu zeigen, dass sie auch andere Farben und Designs tragen konnten. Vor allem Mädchen, die nun Make-up tragen durften, stellten ihre Malfähigkeiten zur Schau. Das war bei dem Mädchen neben ihm nicht der Fall. Die baumelnden Ohrringe waren die einzigen Zeichen dafür, dass sie keine Schülerin mehr war. Sie sah jünger aus als er. Fünfzehn? Nicht mehr als sechzehn. Der Junge, der an dritter Stelle kam, kratzte sich ständig am Sack. Nosa war sich nicht sicher, ob das daran lag, dass er nervös war, oder an etwas Ernsterem.

Nosa war ein Einser-Schüler gewesen. Es fiel ihm leicht, gute Noten zu bekommen. Natürlich lernte er dafür, aber nicht mit der gleichen quälenden Anstrengung, die andere Schüler aufbringen mussten. Es war daher weder für ihn noch für andere eine Überraschung, als er die Sekundarschule als bester Schüler des Landes abschloss. Um diese Leistung zu würdigen, hatte die Landesregierung diese Preisverleihung organisiert.

Er richtete sich auf und stellte plötzlich fest, dass die Rückenlehne seines Monobloc-Stuhls wahrscheinlich nicht richtig gereinigt worden war. Außerdem wollte er sein weißes Hemd nicht zerknittern. Seine Mutter hatte es in mühevoller Kleinarbeit gebleicht, gestärkt und gebügelt. Er konnte immer noch den herben Geruch der Bleiche riechen.

Er ging auf das Podium zu, sobald sein Name aufgerufen wurde. Er erinnerte sich, dass jemand ein Foto von ihm mit dem Gouverneur des Staates gemacht hatte. Er lächelte gummiartig in die Kamera, seine Linke umklammerte die Urkunde für den Nationalen Förderpreis, der mit einem Geldbetrag von 20.000 Naira verbunden war, während seine Rechte die schweißnasse Hand des Gouverneurs festhielt. Am nächsten Morgen kaufte seine Mutter eine Tageszeitung von einem Kiosk um die Ecke. Sie hatte vorher noch nie Zeitungen gekauft. Im Bildungsteil war ein Foto von ihm mit dem Gouverneur, darunter ein Interview, das er einem Journalisten gegeben hatte, in dem er seinen Namen, seinen Bundesstaat und seine Zukunftswünsche genannt hatte, nämlich Bauingenieurwesen zu studieren, um ein „besseres Nigeria“ zu schaffen und dabei seine Rolle als „die Zukunft des Landes“ wahrzunehmen. Dies waren Worte und Ausdrücke, die er, wie viele andere Schüler auch, in faden Reden von trägen Lehrern und anderen Beamten im Bildungssektor gehört hatte. Wie genau er Nigeria zu einem „besseren Ort“ machen wollte, blieb ihm ein Rätsel. Das lag daran, dass er sich nicht wirklich darum kümmerte, Nigeria zu einem besseren Ort zu machen. Das Einzige, was er wollte, war, viel Geld zu verdienen, um seiner Familie zu einem besseren Leben zu verhelfen.

Seine Mutter hatte die Seite mit seinem Bild und dem Interview sorgfältig ausgeschnitten und laminieren lassen. Sie legte es in denselben roten Koffer, in dem sie auch ihre Stromrechnungen und Geburtsurkunden aufbewahrte. Wann immer sie Besuch bekamen, holte sie seine laminierte Trophäe heraus und legte sie auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer. Normalerweise tat sie das ein paar Minuten vor der Ankunft der Gäste. Sobald sie den Köder geschluckt hatten und fragten: „Ist das nicht ein Bild von Nosa in der Zeitung?“, sagte sie: „Oh, ich habe ganz vergessen, dass das noch da ist!“ und täuschte Überraschung vor. Dann rief sie Nosa ins Wohnzimmer und schimpfte mit ihm, weil er so leichtsinnig gewesen war und ein so wichtiges Dokument herumliegen ließ. Aber natürlich war der Köder bereits geschluckt worden. Für seine tolle Leistung bekam Nosa Lob von den Gästen, die ihn gleichzeitig mit ihren eigenen Taugenichts-Kindern vergleichen, die nicht mal im Stande waren, Mali von Bali zu unterscheiden. Die ganze Zeit über wiederholte seine Mutter mit leicht gesenktem Kopf sotto voce: „Es ist das Werk des Herrn.“

An der Universität hielt er sich finanziell über Wasser, indem er Sekundarschülern Privatunterricht in Physik und Mathematik gab und Aufnahmeprüfungen für reiche Kinder schrieb, die zu dumm und ängstlich waren, um selbst die Prüfung abzulegen. Die Unmoral eines solchen Vorgehens war ihm bewusst, aber er war der festen Überzeugung: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Auf jeden Fall wurde der Großteil dieser verwöhnten, reichen, begriffsstutzigen Studenten immer bald der Universität verwiesen, nachdem sie sich in die eine oder andere Form von Schwierigkeiten gebracht hatten. Das System hatte also seine eigene Art, sich von unqualifizierten Elementen zu reinigen. Außerdem, wie sollte er sonst die zahlreichen inhalts- und wissenschaftsleeren Handouts und Lehrbücher bezahlen, die die Dozenten den Studenten aufzwangen?

Nach seinem Abschluss hatte seine Mutter sein Zeugnis genommen und es allen Freunden in der Nachbarschaft gezeigt. Sie hielt es in den Händen wie eine heilige Opfergabe an die Götter, während sie singend und tanzend von einem Haus zum nächsten zog. Er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, war bei diesem Exodus demütig hinter ihr hergelaufen. Er war mitgegangen, weil er dazu bestimmt war, aber auch, um sicherzustellen, dass die Urkunde ihre Odyssee unbeschadet überstand. Er war sich sicher, dass die Universität keine zweite ausstellen würde, zumindest nicht ohne viel Federlesens. Es hatte ihm viel Freude bereitet, seine Mutter so glücklich und stolz zu sehen. Jeder wusste, wie sehr sie sich bemüht hatte, für ihn und seine anderen drei Geschwister zu sorgen, nachdem sein Vater mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Der allgemeine Konsens war, dass sein Vater von dieser anderen Frau mit Juju „gefesselt“ worden war. Es gab keine andere rationale Erklärung dafür, warum ein vernünftiger Mann eine schöne Frau, die ihm zwei Söhne und zwei Töchter geboren hatte, für eine andere verlassen würde, die ihm keine Kinder schenken konnte. Also freuten sich alle für Mama Nosa und zeigten dies, indem sie mit ihr tanzten und sangen, als sie ihnen sein Zeugnis vorhielt.

Zwei Jahre nach dem Abschluss trudelten die Ablehnungsschreiben der Baufirmen so schnell ein, wie die Bewerbungsschreiben verschickt worden waren. Nosa beschloss, dass ein Perspektivwechsel wahrscheinlich die beste Option war. Banken, vor allem die so genannten „New Generation Banks“, schossen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden und waren bekannt dafür, dass sie kulanter waren als andere Wirtschaftszweige. Jeder mit einem Universitätsabschluss konnte in einer Bank arbeiten, vorausgesetzt, er hatte eine überdurchschnittliche Abschlussnote. Die erste Bank, bei der er sich bewarb, lud ihn zu einem Vorabtest ein, der aus Fragen bestand, die den IQ in den Bereichen mathematisches und quantitatives Denken testen sollten.

Drei Wochen später erhielt er eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Es sollte um elf Uhr morgens beginnen, aber er kam schon um zehn Uhr in der Bank an. Er trug ein weißes Hemd, eine dunkelblaue Krawatte und eine formelle Hose. Eigentlich wollte er einen zweiteiligen Anzug tragen, aber da er weder einen hatte noch sich leisten konnte, hoffte er, dass sein erstklassiges Ergebnis und seine Eloquenz ausreichen würden, um ihm den Job zu verschaffen.

„Guten Tag, mein Name ist Herr Nosa Obaseki und ich habe ein Vorstellungsgespräch beim Personalleiter.“ Die Dame an der Rezeption schenkte ihm eines dieser plastischen Lächeln, wie man sie nur von Stewardessen und Empfangsdamen kannte.

„Willkommen Herr Obaseki. Korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege, aber war Ihr Termin nicht für elf Uhr morgens angesetzt?“

Er war sich nicht sicher, was ihn mehr irritierte: die dumme rhetorische Frage oder die Art, wie die Dame seinen Namen aussprach, mit einem falschen nasalen amerikanisch-britischen Akzent. Er entschied, dass die dumme Frage weniger irritierend war.

„Ja, das war er. Aber ich dachte, lieber zu früh als zu spät“, antwortete Nosa mit einem höflichen Lächeln.

„Oh, aber natürlich“, kam die vorhersehbare Antwort. „Bitte setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee vielleicht?“

Er konnte an einer Hand abzählen, wie viele Nigerianer Kaffee tranken. „Nein, danke. Alles gut.“

Als er Platz nahm, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, warum man für einen Raum von etwa zweiunddreißig Quadratmetern drei Standklimageräte brauchte. Er hatte die verrückte Besessenheit der Nigerianer für Klimaanlagen nie verstanden. Natürlich war das Wetter immer heiß und feucht. Aber in der Nacht zuvor hatte es geregnet, so dass es in dem Raum nicht besonders warm war. Nosa überlegte, ob er das Angebot der Rezeptionistin für einen Kaffee doch hätte annehmen sollen. Stattdessen griff er nach einer Ausgabe des Time-Magazins, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er las gerade einen Artikel über die Wirtschaftskrisen in den Vereinigten Staaten, als ein unaufhörliches Klicken von Absätzen seine Aufmerksamkeit erregte. Die Übeltäterin war eine zierliche Gestalt in einem schmal geschnittenen purpurfarbenen Hosenanzug. Die Hose endete an ihren Knöcheln, als ob sie Angst vor ihren schwarzen Pumps hätte. Durch die aufgeknöpfte Jacke erhaschte Nosa einen Blick auf eine cremefarbene Seidenbluse. Ihre Zöpfe wurden hinten locker zusammengehalten und gaben den Blick auf glitzernde Ohrstecker frei. Er wusste nicht genug über Schmuck, um ihren Wert zu schätzen, was in diesem Fall, ehrlich gesagt, ziemlich überflüssig war. Diese Dame konnte sich zwei kleine wertlose Steine an die Ohrläppchen stecken und trotzdem schön aussehen. Dies war keine dieser „Schönheit-liegt-in-den-Augendes-Betrachters“-Angelegenheiten. Nein, das war Schönheit in ihrer ganzen objektiven Pracht. Sie stolzierte in den Raum, jeder zierliche Schritt durchdrungen von der unmissverständlichen Zuversicht von jemandem, der sich der Wirkung, die er auf seine Umgebung hatte, genau bewusst war.

„Wie war deine Reise?“, fragte die Empfangsdame die Frau. Nosa war schockiert, dass ihr britisch-amerikanischer Akzent nicht mehr zu hören war. Ihre Intonation hatte etwas sehr Nigerianisches angenommen. Die nasale Stimmlage war verschwunden.

„Sie war in Ordnung“, antwortete die Dame und winkte abweisend mit der Hand.

„Was ist denn los? Sag bloß nicht, du bist mit leeren Händen zurückgekommen?“, fragte die Rezeptionistin.

„Nein, ganz und gar nicht! Es ist nur so, dass ich mehr erwartet hatte, als ich bekommen habe.“

„Hast du Chief denn nicht gesehen?“

„Vergiss den Taugenichts“, spuckte die Dame aus. „Er hat meine Hand fallen lassen“, sagte sie, ein nigerianischer Ausdruck, der Enttäuschung ausdrücken sollte.

„Stell dir vor, er hat mir nur zwei gegeben! Nach allem, was ich getan habe“, fuhr sie fort. Irgendetwas sagte Nosa, dass die Zahl „zwei“ eine Kurzform von etwas viel Längerem war. Etwas, das dem gerecht wurde, was diese Frau „getan“ hatte.

„Kümmere dich nicht um diese geizigen Männer. Du wirst ein anderes Mal Glück haben“, tröstete die Empfangsdame.

Die Frau wollte gerade eine Antwort geben, als das Telefon der Rezeptionistin klingelte. Nach ein paar „Jas“ und „Okays“ wandte sie sich an Nosa.

„Der Manager wird Sie jetzt empfangen.“

Nosa ließ die Zeitschrift auf dem Tisch und die plaudernden Frauen an der Rezeption zurück und ging zu dem ersten Vorstellungsgespräch, das er je hatte.

„Bitte nehmen Sie Platz. Ich bin gleich bei Ihnen“, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch, seine Augen klebten an dem Blatt Papier in seiner Hand, über das er die Stirn runzelte.

Nosa setzte sich auf den Stuhl, der ihm direkt gegenüberstand. In der Ecke des Büros stand eine weitere Standklimaanlage, die er fühlte, bevor er sie sah. Der Boden des Büros war mit einem samtigen roten Teppich ausgelegt. An der Wand hing ein Gemälde einer schwarzen Frau, ein Baby auf den Rücken geschnallt und etwas, das wie ein Tontopf aussah, perfekt auf ihrem Kopf balancierend. Im Hintergrund war eine wilde, karge Landschaft abgebildet. In fetten kursiven Buchstaben standen die Worte „Die Stärke von Mama Afrika“ triumphierend in der unteren linken Ecke des Kunstwerks. Nosa hasste das Gemälde auf Anhieb. Es empörte ihn, dass jedes Bild über Afrika mit den gleichen Klischeemotiven gespickt sein musste: Tiere, verdorrte Landschaften, spärlich bekleidete Kinder, lächelnde Menschen. Er schaute eine Weile missbilligend auf das Gemälde, dann riss er den Blick los und richtete ihn auf den Mann, der vor ihm saß.

Er trug einen schwarzen dreiteiligen Anzug mit einer lilafarbenen breiten kurzen Krawatte. Sein bauchiger Kopf saß erstaunlich gut auf seinen breiten Schultern, da er keinen Hals hatte, der ihn stützen konnte. Der goldene Siegelring mit einem quadratischen schwarzen Onyx am kleinen Finger der linken Hand schien zu eng zu sitzen. Nosa fragte sich, ob der Ring schon immer zu eng gewesen war oder ob der Finger des Mannes zu dick geworden war.

„Also, Herr Obaseki. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie haben einen sehr beeindruckenden Lebenslauf.“

„Ich danke Ihnen, Sir.“

Das folgende Gespräch bestand aus vorhersehbaren Fragen: Warum wollte Nosa ausgerechnet bei dieser Bank arbeiten? Was waren seine Stärken und Schwächen? Wo sah er sich in zehn Jahren, und so weiter und so fort.

„Beeindruckend, beeindruckend. Wie ich schon sagte, Sie haben einen sehr guten Lebenslauf. Und Sie sind auch ein sehr gut aussehender junger Mann. Haben Sie reiche Freunde?“

Nosa versuchte, das unerwartete Kompliment zu verstehen, während er gleichzeitig nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Kompliment und der darauffolgenden Frage suchte.

„Äh ... nein. Nicht wirklich, Sir“, stotterte er schließlich.

„Nun, ich schlage vor, dass Sie sich auf die Suche machen. Sehen Sie, um in dieser Branche erfolgreich zu sein, müssen Sie Kunden anlocken. Kunden mit dickem Portemonnaie. Verstehen Sie, was ich meine?“

Ja, das tat er. Es war bekannt, dass von den Marketingmitarbeitern der meisten Banken erwartet wurde, dass sie nach potenziellen reichen Kunden Ausschau hielten, die bereit waren, ein Konto oder mehrere Konten bei ihnen zu eröffnen. Deshalb war neben einem guten Abschluss auch gutes Aussehen eine Voraussetzung, um einen Job in der Marketingabteilung zu bekommen. Körperliche Schönheit galt als Magnet für reiche Kunden.

Der Manager stand auf, schlenderte auf Nosa zu und setzte sich auf die Tischkante. Nosa war sich nicht sicher, warum dieser Positionswechsel notwendig war. Möglicherweise um einen dramatischen Effekt zu erzielen.

„Schauen Sie, ich mag Sie. Sie scheinen ein wirklich cooler Typ zu sein. Also bin ich bereit, Ihnen eine Chance zu geben. Aber nur, wenn Sie bereit sind zu arbeiten“, fügte er schnell hinzu.

„Natürlich, Sir. Wie viel müsste ich denn einbringen?“

„Nun, innerhalb der ersten sechs Monate sollten Ihre Kunden ein Mindestguthaben von, sagen wir mal, eins haben.“

„Einhunderttausend?“, fragte Nosa mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.

„Nein“, kam die scharfe und zügige Antwort. „Eine Million.“ Das Gesicht des Managers hatte eine ernste und unangenehme Miene aufgesetzt.

„Hören Sie“, fuhr er fort, „wir hatten über siebenhundert Bewerbungen für diese Stelle. Ich verstehe vollkommen, wenn Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind. Ich bin sicher, dass ich jemand anderen finden kann.“

Nosa zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er das könnte.

„Ich bin der Aufgabe absolut gewachsen, Sir, und ich weiß die Gelegenheit zu schätzen.“

„Gut. Da Ihr Lebenslauf so beeindruckend ist und Sie sich bereit erklärt haben, hart zu arbeiten, habe ich beschlossen, Sie in die nächste Runde zu schicken.“ Ein selbstzufriedenes Lächeln erblühte auf seinem prallen Gesicht. Es war dasselbe Lächeln, das man nach einem Akt des Altruismus aufsetzte.

„Vielen Dank, Sir. Ich weiß die Gelegenheit wirklich zu schätzen.“

„Gern geschehen, junger Mann. Sobald wir die Verwaltungsgebühr erhalten haben, werden wir Ihnen den Termin für Ihr nächstes Vorstellungsgespräch mitteilen.“

„Verwaltungsgebühr?“ Nosas Stimme war kaum zu hören.

„Ja, das ist eine Gebühr, die wir nur von vielversprechenden Kandidaten verlangen, die es in die nächste Runde schaffen. Sie können sich also sehr glücklich schätzen, Herr Obaseki. Und außerdem sind fünfzigtausend nur ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu dem, was Sie hier bei uns verdienen werden. Betrachten Sie es als eine kluge Investition in Ihre berufliche Zukunft.“ Mit diesen Worten stand er auf und streckte die Hand aus. Nosa nahm sie und versuchte dabei, eine stoische Haltung einzunehmen.

***

Es war Mittag, als Nosa aus der Bank trat. Es war jetzt wärmer, die Hitze und die Luftfeuchtigkeit machten sich noch stärker bemerkbar aufgrund der Kühle, die er gerade hinter sich gelassen hatte. Er bahnte sich einen Weg durch eine Schlange von Menschen, die vor einem Geldautomaten warteten. Er bewegte sich auf die staubige, ungeteerte Straße zu, voller klappriger, verrosteter Busse und Motorräder, die sich ihren Weg durch die engen Spalten zwischen Fahrzeugen, menschlichen Körpern und öffentlichen Mülltonnen bahnten, wobei ihre Insassen scheinbar unbeeindruckt von dem James-Bond-artigen Anfahren und Ausweichen waren. Er bemerkte eine Frau auf der anderen Straßenseite. Auf ihrem Kopf balancierte sie ein großes Holztablett, das mit ordentlich übereinandergestapelten Broten gefüllt war. Sein Magen knurrte.

Doch viel stärker als das Knurren des Hungers war die wachsende Angst, dass er die erforderliche Verwaltungsgebühr nicht würde auftreiben können. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt zu versagen, jetzt, wo er so weit gekommen war. Er erstellte im Geiste eine Liste von Leuten, die ihm helfen konnten, und war nicht besonders überrascht, wie kurz sie war. Selbst wenn jeder auf dieser Liste sein finanzielles Gewicht in die Waagschale werfen würde, könnte er den erforderlichen Betrag nicht aufbringen.

„Wie war das Vorstellungsgespräch?“

Er drehte sich leicht erschrocken zu einem sehr angenehmen Augenpaar um: die Frau im purpurfarbenen Hosenanzug. Er muss sehr dumm ausgesehen haben, denn ihr Lächeln verwandelte sich in ein herzhaftes Kichern, wodurch er sich noch dümmer vorkam.

„Es tut mir leid“, brachte sie zwischen dem abklingenden Glucksen hervor, „Sie haben nur so überrascht ausgesehen.“

Inzwischen hatte Nosa die Kontrolle über seinen Verstand wiedererlangt. „Nun, es kommt nicht jeden Tag vor, dass mich eine unbekannte schöne Frau anspricht und mir Fragen stellt.“

Sie starrte ihn unverwandt an und lächelte. Es war das Lächeln einer Frau, die es gewohnt war, Komplimente zu bekommen. Sie stand da, die Hände über der Brust gefaltet, das linke Bein leicht nach vorn gebeugt, während das Gewicht ihres Körpers auf dem rechten Fuß ruhte. Nosa bemerkte, wie leicht ihr Make-up war.

„Und? Wie war’s?“

„Ich habe es in die nächste Runde geschafft.“

„Haben Sie die Verwaltungsgebühr?“

„Ja“, log Nosa.

„Sie wissen, dass das nur ein Weg für den Manager ist, ein paar Extra-Münzen für sich selbst zu verdienen, oder?“

Nein, das wusste er nicht. Aber es wäre sehr naiv von ihm zu sagen, dass er davon überrascht war.

„Spielt es wirklich eine Rolle, wofür das Geld ist?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, ich muss jetzt wieder an die Arbeit.“ Aber sie starrte ihn weiter an und machte keinerlei Andeutungen, dass sie die Absicht hatte, zu gehen.

„Es wäre schön, wenn Sie mir ein paar Tipps für das Marketing geben könnten. Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung davon. Oder von Bankgeschäften überhaupt.“

„Klar. Ich gebe Ihnen gerne meine Nummer.“

„Perfekt. Ich war heute Morgen so aufgeregt wegen des Vorstellungsgesprächs, dass ich mein Telefon zu Hause vergessen habe.“ Auf keinen Fall wollte er dieses elektronische Fossil, das er Telefon nannte, aus der Tasche ziehen und damit seine überraschenderweise wachsenden Chancen bei dieser Frau ruinieren. Nosa fischte ein Stück Papier und einen Stift aus seiner Umhängetasche und reichte ihr beides.

Sie gab ihm den Zettel zurück. Über der langen Reihe von Ziffern stand „Sophia“.

Mit einem Glitzern in den Augen und einem koketten Lächeln auf den Lippen sagte sie: „Einen schönen Tag, Nosa.“ Sie drehte sich um und schlenderte zurück ins Gebäude, bevor er fragen konnte, woher sie seinen Namen kannte.

Kapitel Zwei

D as Tor klemmte, schon wieder. Nosa zog an dem Metall und drückte dann mit mehr Kraft dagegen. Es gab nach. Er machte sich gerade auf den Weg zum Hinterhof, als sich die Tür des Hauptgebäudes öffnete. Herr Ordia kam heraus, rückte seine Melone zurecht und wechselte seinen Gehstock von der linken in die rechte Hand, während er die zwei Stufen vor dem Bungalow hinunterstieg.

„Guten Tag, Herr Ordia.“

„Guten Tag, Nosa. Deiner Kleidung nach zu urteilen, nehme ich an, dass du gerade ein Vorstellungsgespräch hattest.“

„Ja, Sir.“

„Und wie war es?“

„Gut, Sir. Ich habe es in die nächste Runde geschafft.“

„Sehr gut. Aber das überrascht mich kein bisschen. Du bist ein sehr kluger Junge.“

„Danke, Sir.“

Als er näherkam, bemerkte Nosa die goldene Stickerei auf dem blauen Tuch, das um die Taille des Vermieters gewickelt war. Eine passende goldfarbene Kette an seinem schwarzen Hemd verband einen Knopf mit der Vordertasche.

„Ich habe Sie noch nie mit diesem Tuch gesehen. Es muss neu sein. Sieht umwerfend aus.“

Herr Ordia war ein eitler Mann, der gerne Komplimente für sein Aussehen bekam.

„Dieses Ding?“, sagte er und betrachtete sich, als sähe er das Kleidungsstück zum ersten Mal. „Ich habe es kurz vor meiner Reise nach London gekauft.“ Er dehnte die erste Silbe des Wortes „London“.

Das erste und letzte Mal, dass Herr Ordia im Vereinigten Königreich gewesen war, war 1978. Damals war er als Austauschstudent an einer Universität gewesen. Sein Aufenthalt dauerte ganze drei Monate. Er ließ jedoch keine Gelegenheit aus, jedem zu erzählen, dass er in London gelebt hatte, und fand Wege, diese Information in jedes Gespräch einzuflechten.

„Ich bin auf dem Weg zu einem Clan-Treffen. Einer meiner Cousins ist gerade in Lagos gestorben. Man sagte, er sei zu Bett gegangen und nicht mehr aufgewacht.“

Nosa machte das entsprechende Geräusch, um sein Mitgefühl auszudrücken.

„Jetzt müssen wir die Vorbereitungen für seine Beerdigung treffen. Aber zuerst müssen wir seinen Leichnam zurück nach Benin bringen.“

Nosa wünschte ihm Glück und wollte gerade gehen, als der Vermieter sagte: „Es gibt etwas Wichtiges, worüber ich mit dir sprechen möchte.“ Seine Stimme war leise. Nosa wusste, worum es ging. Sie hatten ihre Miete seit drei Monaten nicht mehr bezahlt.

„Ich weiß, dass die Dinge für dich und deine Mutter schwer sind. Aber vielleicht könntet ihr in Raten zahlen.“

Herr Ordia war mehr als großzügig zu ihnen gewesen. Er hätte sie leicht rauswerfen können, wie es der Vermieter eines ihrer Nachbarn zwei Häuser weiter getan hatte. Dieser hatte es sattgehabt hatte, auf seine Miete zu warten. Eines frühen Morgens kam er mit seinen Söhnen. Nosa erinnerte sich an die geschwärzten Töpfe und Pfannen, die Kleidung und das zerrissene Bettzeug, die überall am Straßenrand verstreut lagen. Die vertriebenen Mieter hatten versucht, ihr Hab und Gut vor den herannahenden Fahrzeugen zu retten. Nosa zitterte.

„Danke für Ihr Verständnis, Herr Ordia. Wir werden Sie bezahlen, sobald wir können.“

„Ich weiß, das werdet ihr. Der Herr ist eure Stärke.“ Er klopfte Nosa auf die Schulter, während er zum Tor ging. Nosa sah ihm hinterher.

„Mach dir keine Sorgen. Mein Vater wird euch niemals rauswerfen.“

Adesuwa lehnte sich an das Geländer der Veranda, ihr fuchsienfarbener Lippenstift glitzerte in der Nachmittagssonne. Sie hatte eine Vorliebe für buntes, schweres Make-up.

„Ich hoffe, du hast recht.“

„Er mag dich. Er wünschte, du wärst sein Sohn. Oder zumindest sein Schwiegersohn.“

Sie flirtete, und sie wollte, dass er es wusste. Adesuwa war die einzige Tochter des Vermieters.

„Hast du schon gegessen? Ich habe Bohnen und Kochbananen gemacht. Ich könnte dir was bringen, wenn du willst“, fuhr sie fort. Nosa liebte Bohnen und Kochbananen.

„Danke. Aber ich habe schon gegessen. Außerdem bin ich müde. Ich muss mich hinlegen“, sagte Nosa und rieb sich den Nacken.

„Ich könnte dir eine Massage geben.“

Der Umgang mit Adesuwa war ein Balanceakt. Er erforderte großes Geschick. Als einzige Tochter und Lieblingskind des Vermieters hatte sie großen Einfluss auf ihren Vater. Ein schlechtes Wort von ihr genügte, um ihn und seine Familie aus der Gunst von Herrn Ordia zu verdrängen. Aber sie mussten in seiner Gunst bleiben, besonders jetzt.