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Ende des dritten Jahrhunderts zogen die ersten Männer in die Wüste, um dort allein zu sein. Man nennt sie die „Wüstenväter“, die sich auf die Suche nach einem authentischen christlichen Leben machten. Die Wüste galt als ein Ort der Dämonen, die die Männer bezwingen und sich in der Stille und Weite der eigenen Wahrheit stellen wollten. Ihre über 1600 Jahre überlieferte Weisheit hat eine bemerkenswerte Aktualität, denn ihr Weg führte sie zu einer tiefen Auseinandersetzung mit sich selbst. Die weisen Erkenntnisse und Gedanken dieser Mönche sind Einladung, das bewusste Alleinsein und den Genuss von Ruhe als Kraftquelle für das eigene Leben zu erschließen.
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Seitenzahl: 83
Anselm Grün
Die Kunst, bei sich
zu bleiben
Was wir von
weisen Mönchen
lernen können
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Der Inhalt dieses Buches entspricht in weiten Teilen
dem Foto-Text-Band »Anselm Grün: In der Wüste ist
der Himmel nah. Die Weisheit der Wüstenväter –
mit Fotos von Jürgen Hohmuth«, Gütersloh 2007.
Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Jürgen Hohmuth, Berlin
Portrait Anselm Grün: © Erol Gurian
Fotos im Innenteil: pixabay.com
ISBN 978-3-641-25009-6V001
www.gtvh.de
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1
Die Spiritualität der Wüstenväter
Kapitel 2
Die bedeutendsten Wüstenväter
Antonius
Evagrius Ponticus
Johannes Cassian
Poimen
Dorotheus van Gaza
Johannes Klimakos
Die Weisheit der Altväter
Kapitel 3
Achtsamkeit
Kapitel 4
Schweigen
Kapitel 5
Freiheit
Kapitel 6
Herzensruhe
Kapitel 7
Einfachheit
Kapitel 8
Leidenschaft
Vorwort
Pater Anselm Grün, geboren 1945, ist Benediktinermönch der Abtei Münsterschwarzach, deren Cellerar (wirtschaftlicher Leiter) er 36 Jahre lang war. Als Kursleiter und geistlicher Begleiter ist er viel unterwegs. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und erreicht mit zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen Millionen von Menschen.
Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe. Doch sobald sie ruhig werden, sobald es um sie herum still wird, halten sie es nicht aus und werden nervös. Diese angespannte Unruhe hängt damit zusammen, dass sie sich selbst nicht annehmen können. Sie sind nicht in der Lage, bei sich zu bleiben, weil sie sich selbst nicht aushalten. Die Menschen haben Angst, in der Stille könnte etwas Unangenehmes in ihnen hochkommen. Sie könnten erkennen, dass ihr Leben nicht stimmt, dass sie an sich selbst vorbei leben. Oder es könnten alte Schuldgefühle auftauchen, oder aber der eigene innere Richter könnte sie verurteilen.
Dieses Buch handelt von den weisen Mönchen der Wüste, den sogenannten »Wüstenvätern«. Schon seit dem 3. Jahrhundert geben sie immer wieder den gleichen Rat:
»Bleib in deinem Zimmer sitzen. Es darf alles sein. Es darf alles in dir hochkommen. Du musst nicht fromm sein, nicht perfekt sein. Nur halte es aus mit dir. Bleib bei dir!«
Doch was sind die Bedingungen, dass wir die Kunst erlernen, bei uns zu bleiben?
Die erste wichtige ist sicher, dass wir uns selbst nicht bewerten, dass wir uns erlauben, alles in uns zuzulassen, weil wir mit allem, was in uns ist, von Gott angenommen sind.
Die zweite Bedingung besteht darin, dass wir Lust dazu haben, uns selbst zu beobachten und wahrzunehmen, was da in uns auftaucht. Denn die Wahrnehmung aller Gedanken und Gefühle, die in uns hochkommen, führt uns zu einer ehrlichen Selbsterkenntnis.
Die dritte Bedingung: Wir führen ein Gespräch mit den Gedanken, die in uns auftauchen, und fragen sie, was sie uns sagen möchten.
Die vierte Bedingung ist dann, dass wir all die Gedanken und Gefühle loslassen. Wir haben sie angeschaut, aber wir grübeln nicht über sie nach. Wir lassen sie einfach an uns vorüberziehen.
Als fünfte Bedingung sehe ich die Fähigkeit, mit sich ganz eins zu sein. Das gelingt mir, wenn ich durch alle Gedanken und Emotionen in den Grund meiner Seele vordringe. Dort ist – so sagen die frühen Mönche – ein Raum der Stille. Dort bin ich frei von allen Meinungen anderer Menschen, dort können die verletzenden Worte anderer nicht eindringen. Dort bin ich ohne Schuldgefühle. Dort hat auch der innere Richter keine Macht.
Die frühen Mönche nennen diesen inneren Raum der Stille einen Zufluchtsort. Und nach einem Zufluchtsort sehnen sich heute viele Menschen; nach einem Ort, an dem sie sich wohl und geschützt fühlen, an dem sie einfach sein dürfen, ohne etwas leisten zu müssen. Manche haben in ihrer Wohnung einen solchen Zufluchtsort, andere haben ihn im Wald gefunden oder auf einer Bank, auf der sie sitzen und in aller Ruhe in die Landschaft schauen. Wir haben diesen Zufluchtsort in uns selbst. Wenn wir das glauben, dann sind wir gerne bei uns, denn dort hören die vielen bewertenden und richtenden Gedanken in uns auf. Dann tauchen wir ein in die Stille, die auf dem Grund unserer Seele schon da ist, von der wir aber oft abgeschnitten sind durch den Lärm, den wir mit unseren vielen Gedanken machen und mit den Worten, die wir ständig reden.
Wer die Kunst gelernt hat, bei sich zu bleiben, der genießt die Ruhe als eine Kraftquelle. Für den ist die Stille wie eine innere Reinigung. Er fühlt sich gereinigt von dem Schmutz der vielen Gedanken, die von außen und von innen auf ihn einstürmen. Und er erlebt das Alleinsein nicht als etwas Belastendes und traurig Machendes, sondern als Quelle des Friedens.
Die Kunst, das Alleinsein genießen zu können, besteht nach dem Psychotherapeuten Peter Schellenbaum darin, das Alleinsein in ein All-Eins-Sein zu verwandeln. Wenn ich allein da sitze und vielleicht Traurigkeit und Verlassenheit in mir spüre, dann gehe ich durch die Gefühle hindurch auf den Grund der Seele. Dort fühle ich mich eins mit allen Menschen. Dort bin ich eins mit mir und all den Gegensätzen, die ich in mir wahrnehme. Dort bin ich eins mit der Schöpfung und eins mit Gott, dem Schöpfer. Dann fühle ich mich zugehörig. Und ich erlebe einen tiefen inneren Frieden in mir.
Schon im 17. Jahrhundert sah der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal das Elend des »neuzeitlichen« Menschen darin, dass keiner mehr allein in seinem Zimmer bleiben kann. Wer das nicht kann, wer es nicht bei sich aushält, der ist immer auf der Flucht.
Die Kunst, bei sich zu bleiben, einfach einmal die Ruhe zu genießen, ist heilsam für den Menschen. Allein in seinem Zimmer bleiben heißt aber nicht, dass ich den Fernseher oder den Laptop anschalte und mich mit allerlei äußeren Impulsen zerstreue, sondern dass ich bewusst einmal dort bleibe, ganz ohne mich zu beschäftigen. Ich bin einfach nur da.
Heute meinen wir, alles müsse etwas bringen, sogar die Stille oder das Bei-sich-Bleiben. Aber die Kunst, bei sich zu bleiben, besteht gerade darin, dass sie nichts bringen muss, dass ich mich nicht rechtfertigen oder etwas vorweisen muss. Das reine Sein. Das genügt. Dann erlebe ich eine innere Freiheit und Ruhe, und es ist ein Genuss, einfach bei sich zu bleiben. In diesen Momenten ahne ich etwas von der Erfahrung, die Angelus Silesius in dem schönen Vers ausgedrückt hat:
»Die Rose ist ohn Warum.
Sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.«
So wünsche ich den Leserinnen und Lesern, dass sie bei den Wüstenvätern lernen, wie sie bei sich bleiben und das reine Sein, das von niemandem bewertet wird, genießen können.
Pater Anselm Grün
Abtei Münsterschwarzach, im Frühjahr 2019
Kapitel 1
Die Spiritualität
der Wüstenväter
Ende des dritten Jahrhunderts zogen die ersten Männer in die Wüste, um dort allein zu sein und sich nur der Gottsuche zu widmen. Die Mönche wollten die Glut der Märtyrer wieder neu entfachen, die in der Kirche, als diese unter Kaiser Konstantin zur Staatsreligion wurde, immer schwächer geworden war. Die Mönche hatten Sehnsucht nach einem authentischen christlichen Leben, das ganz und gar vom Geist Jesu geprägt ist und nicht von der Anpassung an den Zeitgeist. So entstand eine Bewegung, die für die Kirche und für die damalige Gesellschaft ein Segen war. Obwohl die Mönche ausgezogen sind aus der Welt, haben sie für die Welt doch eine wichtige Bedeutung bekommen. Sie haben der Welt einen Spiegel vor Augen gehalten und waren so gleichsam wachsame Mahner in einer Gesellschaft, die damals am Ende der Antike dekadente Züge aufwies. So hatte die Mönchsbewegung nicht nur eine spirituelle Wirkung, sondern letztlich auch eine gesellschaftliche Bedeutung.
Warum die Mönche gerade in die Wüste gezogen sind, das hat verschiedene Gründe. Zum einen galt die Wüste als der Ort der Dämonen. Sie wollten die Dämonen dort bezwingen, wo ihr Herrschaftsbereich ist. Sie glaubten, dass sie damit einen Beitrag für die Erhellung der ganzen Welt leisteten. Wenn die Welt in der Wüste vom Geist Jesu erfüllt wird, wo sonst die Dämonen herrschen, dann wird die ganze Welt davon berührt und offen für das Heil, das in Jesus Christus zu uns gekommen ist.
Ein anderer Grund war, dass die Wüste ein Raum der Stille ist, in dem die Mönche sich ganz auf ihre Suche nach Gott konzentrieren konnten.
Und zum Dritten hatten die Mönche die Bibel gelesen, für die die Wüste eine wichtige Rolle spielt. Die Bibel berichtet nicht nur von den 40 Jahren, die Israel durch die Wüste ziehen musste. Gerade die Propheten verherrlichten die Zeit in der Wüste als die Zeit der ersten Liebe zwischen Gott und seinem Volk. Es ist die ideale Urzeit ungetrübter Harmonie und Treue zwischen Jahwe und seinem Volk Israel.
Die Wüste ist also ein spiritueller Ort, ein Ort, an dem uns Gott näher ist, an dem uns der Himmel nahe ist.
Der Prophet Jesaja führt den Verbannten in Babylon das verheißungsvolle Bild vor Augen, dass sie auf einer prachtvollen Prozessionsstraße durch die sich ins Paradies verwandelnde Wüste in ihre Heimat ziehen. Die Wüste ist beides: Ort der Versuchung und Ort der besonderen Nähe Gottes, Ort der Finsternis und des Lichtes, Ort, an dem die Dämonen hausen, und der Ort, an dem der Himmel sich über uns öffnet und wir das Geheimnis unseres Lebens feiern: dass Gott mit uns ist, ja dass der Himmel in uns ist, dass Gott in unserem Herzen Wohnung genommen hat.
Kapitel 2
Die bedeutendsten
Wüstenväter
Antonius
Ein Siegel ist für uns und eine sichere Mauer der Glaube an unseren Herrn.