Die Kunst, von oben zu leben - Florian Kronbichler - E-Book

Die Kunst, von oben zu leben E-Book

Florian Kronbichler

3,9

Beschreibung

Mit 120 Abbildungen. EINE BEEINDRUCKENDE REISE IN DIE BERGBAUERNWELT SÜDTIROLS Näher bei den Sternen und mit den Beinen fest am Boden - der Autor Florian Kronbichler und der Fotograf Christjan Ladurner haben 21 Südtiroler Bergbäuerinnen und -bauern besucht. Mit bewegenden Worten und beeindruckenden Bildern führen sie in ihren Arbeits- und Lebensalltag ein, schildern Erfahrungen und Denkweisen. Die authentischen Porträts geben vielseitige und faszinierende Einblicke in das Leben am Bergbauernhof. Die Arbeit der Bergbauern ist schwer und die Ernte oft karg, und dennoch ist eines für die meisten von ihnen ganz klar: Sie möchten mit niemandem tauschen. Erfrischend anders, ist 'Die Kunst, von oben zu leben' kein Abgesang auf eine untergehende Welt, sondern stellt Vorbilder für Bauern von morgen vor.

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Seitenzahl: 190

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Die Kunst, von oben zu leben

Die Kunst, von oben zu leben

Bei Südtirols Bergbauern. 21 Porträts

Mit Texten von Florian Kronbichler undFotografien von Christjan Ladurner

© 2014

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3615-3

Umschlag- und Buchgestaltung,Satz:

Cecilia Staffler, Tappeiner Verlag, Lana

Fotografien: Christjan Ladurner

Karte: Autonome Provinz Bozen/Südtirol –

Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung

Diesen Band erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhalt

Vorwort

Mischì – Weiler in Longiarü-Campill/St. Martin in Thurn

„Wenn die Sonne kommt, bin ich zufrieden“

Kuenhof in Tschötsch bei Brixen

Der Wein und sein Mensch

Montfer in Katharinaberg/Schnals

Sesshaft geworden auf hohem Niveau

Kräutergarten Wipptal – Pflersch/Pfitsch

Von Beruf Blumen pflücken

Kleinstahl – St. Johann in Ahrn

Frei und davon leben

Stallwies – Martell im Vinschgau

Von wegen „verdammt“

Pronn in Durnholz/Sarntal

„Uns Bauern geht es gut“

Waldental – Schlanderer Sonnenberg

Wie ich eine Bergbäuerin wurde

Evas-Alm – Lappach/Mühlwald

Berge und Meer

Hienderer – Vernuer/Riffian

„Nein, tauschen tun wir mit niemand!“

Inderster in Oberwielenbach/Percha

Zurück in die Zukunft

Mairing am Nörderberg/Schlanders

„Wir haben uns hineingelebt“

Eckgenn in Laurein/Deutschnonsberg

Mit dem Rücken zu Südtirol

Egger in Pfunders

„Was fällt ihm etwa als Nächstes ein?“

Baumann in Toblach

Der Hof mit System

Ciablun in Wengen

„Bei Mame gelernt“

Scofa in San Lugano/Truden

Der blinde Passagier im letzten Waggon

Unterjochmayr in St. Gertraud/Ulten

Der Stall als Ausstellung

Gogerer im Jaufental/Ratschings

Dass es weitergeht

Lexn in Martell im Vinschgau

Vom richtigen Zeitpunkt

San Marino di Urbino in den Marche

Brot und Wein. Und Ruh

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch, liebe Leserinnen und liebe Leser, ist Frucht eines Missverständnisses, und sie stammt vom Fotografen. Christjan Ladurner wollte ein Bergbauernbuch machen. Fotografen mit Herz haben solche Schwächen. Christjan ist außer ein guter Fotograf auch Berg- und Schiführer und hat selber ein kleines, na gut, heißen wir es nicht Berghöfl – ein Steilwand-Gütl hat er, und es heißt sogar so. Nichts zum davon Leben. Darum ist der Mann auch so vielfältig unterwegs. Er führt im Sommer Klettertouren in den Dolomiten und im Winter Schiabenteuer in den Rocky Mountains, und wenn er Wanderführer und Bildbände macht, fotografiert er diese nicht nur, er schreibt sie sich auch selber.

Da traf es sich, dass er bei seinem Vertrauensbuchhändler in Lana den Bildband „Gehen – Andare via“, den ich mit Fotos des berühmten Trentiner Fotografen Flavio Faganello gestaltet habe, in die Hand bekam. Gesehen, und schon geschehen: Christjan, den ich bis dahin nicht kannte, machte mir den Antrag, mit ihm ein Bergbauernbuch zu machen. Aber da traf er bei mir auf den Falschen. Ein Bergbauernbuch? Nein, nicht noch eines! Nicht zu tausend triefenden Nachrufen hinzu noch einen tausendundeinsten. Denn was anderes seien Bergbauernbücher in ihrer großen Mehrzahl als die Verklärung letzter Überlebender einer untergegangenen Welt?

Das gängige Bergbauernbild hat es so weit gebracht, als wären ihre Helden nur noch da, um besungen und vor allem abfotografiert zu werden: erdverwachsen und traditionsgebunden, gegen jede wirtschaftliche und gesellschaftliche Vernunft dort ausharrend, von wo wir alle davonlaufen würden; schlechtes Gewissen von uns Wohlstandssüdtirolern; letzte Eingeborene einer globalisierten Gesellschaft. Das sind die Bergbauernbuch-Bauern. Nein, dafür würde ich mich nicht hergeben. Und – ich bin eitel: Außerdem ist der Klassiker der Südtiroler Bergbauernbücher längst geschrieben. Seit 40 Jahren: „Gli eredi della solitudine – die Erben der Einsamkeit“ von Aldo Gorfer und Flavio Faganello. Es ist nicht ganz ohne Ironie, dass ausgerechnet zwei Auswärtige kommen mussten, noch dazu Trentiner, die wir nie mochten, um das zu beschreiben, was wir für das Ursprünglichste, das Innigste, das Erhaltenswerteste an uns halten.

Man sagt einem guten Fotografen nicht leichtfertig nein. „Egal, welchen Blödsinn du schreibst, Hauptsache mit Foto“, hat mir schon unser Landeshauptmann einmal die Hierarchie öffentlicher Wahrnehmung ungeschminkt erklärt. Wenn ich es nicht schriebe, würde es irgendwer anderer schreiben, was ich schon gar nicht vertrüge. Denn wenn über Bergbauern schon geschrieben sein muss, dann doch am besten von mir. So anmaßend bin ich nun einmal.

Also war mein Widerstand – oder war es nur Eigensinn? – bald gebrochen. Es ging nur noch um das Was und Wie. Und da hatte ich eine kühne Idee. Ob sie außer kühn auch neu und originell genug war, das zu beurteilen sei den Leserinnen und Lesern belassen. Folgendes sollte unsere Aufgabenstellung sein: Beispiele liefern, die beweisen, dass Bergbauern vom Hof leben können. Vom Hof, wohlgemerkt. Nicht nur am Hof. Denn dieses ist keine Kunst. Am Hof leben tun heut viele. Möchte ich auch. Es gilt in der gängigen Wirtschafts- und Sozialdiskussion doch für bewiesen, und Bauernfunktionäre selber pflegen den lieben Gemeinplatz, dass „der Bauer vom Hof allein nicht leben kann“. Mit dieser „Wahrheit“ werden Sonderrechte verteidigt, Beiträge erpresst, Mitleid mobilisiert, und werden andererseits Neid geschürt, Vorurteile gepflegt und Schuld erlassen. Für die einen sind die Bergbauern die Märtyrer für Heimat und Identität, selbstausbeutend nur den „Werten“ zu Diensten, für die anderen, weniger erbaulich Denkenden sind sie Arbeiter, die darüber hinaus einen Hof besitzen.

Wir, Christjan und ich, entschlossen uns, Bergbauern zu suchen, die es sind und davon leben. So wie das Schreiber-Fotografen-Paar Gorfer-Faganello vor zwei Generationen, im Winter 1971/1972, sich aufmachte, um am Beispiel von einundzwanzig extremen Berghöfen Leben und Leiden einer untergehenden Welt zu dokumentieren, so wollten wir die Widerlegung des Vorurteils von der Aussichtslosigkeit am Berghof aufzeichnen. So wie damals auch an einundzwanzig Hofbeispielen. Nur halt im Sommer, weil ja zum Leben entschlossen und nicht „condannati della solitudine“, zur Einsamkeit verdammt, wie Gorfer seine Reportage ursprünglich heißen wollte.

Was dabei herausgekommen ist? Sie halten es hier in Händen: in Wort und Bild eine Wanderung von Bergbauer zu Bergbäuerin, Jungen und Älteren, quer durchs Land, keinem festen Kriterium folgend, sondern einfach so. Nach Gespür und Augenmaß. Realitäten und Schicksale, bunt, überraschend, zu Tränen rührend wie zu Lustsprüngen verführend, gewunden alles wie zu einem großen Wiesenblumenstrauß. Meine Liebe zur Bauerschaft ist mir von Kindesbeinen an ungebrochen bis heute erhalten geblieben, und in meinem langen journalistischen Berufsleben habe ich mich immer wieder der Berglandwirtschaft und ihren Menschen gewidmet. Kritisch, und oft mit Zorn, aber immer mit dem Vorsatz, dass es hilft. Ich hab nie auf Bauer studiert, habe mich aber viel umgehört unter Bauern und solchen, die vom Fach was verstehen.

Mit diesem Erfahrungsschatz in Kopf und Herz habe ich zusammen mit Christjan „unsere“ Bauern ausgewählt. Auswählen heißt zwangsläufig ausschließen. Unsere Auswahl ist keine objektive und schon gar nicht eine wissenschaftliche. Um uns in unseren persönlichen Vorlieben nicht gänzlich zu vergaloppieren, haben wir uns jedoch beraten lassen. Leiter der verschiedenen landwirtschaftlichen Dienststellen waren uns behilflich. Nicht immer trafen sich unsere Einschätzungen, aber der amtliche Rat war uns ein Kompass.

So begeben Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, selber auf unsere Spur nach der „Kunst, von oben zu leben“. Denn es ist eine Kunst. So bunt und reich und vielfältig, wie nur Kunst sein kann: Der Unterjochmayr in Ulten lebt „von oben“, weil er ein so außerordentlich tüchtiger Züchter ist; Margareth, eigentlich aus Leifers, ist Bäuerin in Jaufental geworden, „damit es die Kinder schön haben“; Bernhard lebt in Pflersch vom Blumenpflücken; die Inderster in Oberwielenbach lehren uns, wie konservativ leben und fortschrittlich wirtschaften vereinbar sind; Mutter Mischì in Longiarü-Campill ist schon glücklich, wenn die Sonne kommt; der Baumann in Toblach ist der bessere Landwirtschaftsingenieur; die Pronner-Familie hat ein besonders raffiniertes, ja alternatives Prinzip zum erfolgreich Wirtschaften entdeckt: nämlich die Zufriedenheit. Übrigens: Südtirol hat auch einen italienischen Bergbauern. Und einer ist sogar ausgewandert und Bergbauer geblieben. Ich hab schon viel zu viel verraten.

Florian Kronbichler

Amalia Mischì, 88: „Es wird schon weitergehen.“

 

„Wenn die Sonne kommt, bin ich zufrieden“

Mischì in Longiarü-Campill. Es ist der höchst gelegene Weiler im Tal und wohl auch der am reinsten erhalten gebliebene. Diese ursprünglichste bäuerliche Siedlungsform prägt die Kulturlandschaft Ladiniens. Die 88-jährige Amalia Mischì erzählt von Leben und Hausen in Nachbarschaften. Und davon, „dass es weitergeht“.

Wir haben den Talschluss von Campill erreicht und stehen vor Mischì: ein Knäuel aus weiß gekalkten Wohnhäusern und sonnenverbrannt lärchenen Ställen und Stadel. Ihrer sechs Bauern sind sie, erfahren wir später. Selber würde man das nie feststellen können. Zu verwinkelt und zu ungleich hat hier eine Jahrtausend lange Geschichte die Menschen zusammengepfercht. Wie ein letzter Knopf der Zivilisation ist der Weiler in die unberührte Landschaft hineingesetzt. Rundum blank gemähte Wiesen, der Lärchenwald dahinter nur noch schütter und bald auch das nicht mehr. Bergweiden und darüber mächtiges Dolomitengestein.

Der Peitlerkofel müsste rechts über dem Hang stehen, aber wir sind schon zu nah dran, um ihn zu sehen. Links in einer der Felsschluchten müsste die Antersasc-Alm liegen, jene Hochalm im Unesco-Naturerbe-Gebiet des Puez, die zum Symbol des Südtiroler Widerstands gegen Übererschließung und Spekulation geworden ist. Ihr Besitzer, ein Bauer aus der Brunecker Gegend, hat sich in den Kopf gesetzt, es bräuchte einen Fahrweg auf seine Alm. Seine Pächter, die dort seit Jahrzehnten ihre Schafe almen, haben einen solchen Fahrweg nie vermisst. Haben Brennholz, Leckmehl und Salz immer am Rücken hinaufgetragen. Sie sagten, es sei ihnen recht so, wie es ist. Den Bauer interessiert das nicht, er hat den Landeshauptmann und den Bürgermeister auf seiner Seite, und den widersprechenden Schäfern hat er die Pacht gekündigt. Der Streit um die Straße auf Antersasc behängt seither bei den Gerichten.

Ach, die Weiler! Viles heißen sie auf Ladinisch, und sie prägen die bäuerliche Siedlungsform ganz Ladiniens. Es sind frühe, ins Hochmittelalter zurückreichende, auf Waldrodungsinseln angelegte Höfegruppen. Ein halbes oder ein Dutzend Häuser zusammengeduckt um ein freies Plätzchen. Darauf steht der Brunnen, Wasser für Mensch und Vieh; ein Backofen auch oder zwei; an der sonnigsten Stelle eine Harpfe, die „Favà“, das ist der hohe Holzständer zum Trocknen von Getreide, vor allem aber von Erbsen und Bohnen. Die Mühlen fürs Getreide hatten die Bauern von Mischì und Seres dem Bach entlang stehen, der die beiden Weiler trennt. Heute sind diese eine Touristenattraktion, und die „Roda dles viles“, die alljährlich stattfindende Weilerrunde, ein sportlicher Wettlauf, führt auch durchs „Mühlental“.

Mischì, der hinterste Weiler von Longiarü- Campill: ein Knäuel aus weiß gekalkten Wohnhäusern und sonnenverbrannt lärchenen Stadeln.

Mischì ist der hinterste Weiler im Campill-Tal. Der älteste, und vielleicht noch schönere, ist drei Steinwurf daneben „Seres“. In einem Bergbauernbuch, das Lebenschancen zeigen will, darf ein Weiler nicht fehlen, sagten wir uns, und auf Mischì fiel unsere Wahl, weil hier die Familie des Giovanni Mischì lebt. Giovanni ist Sprachwissenschaftler und Historiker und gilt als einer der engagiertesten Erforscher und Bewahrer der ladinischen Kultur. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ladinischen Kulturinstituts „Micurá di Rü“ im nahen St. Martin in Thurn, dem Hauptort der Gemeinde, zu der Campill gehört. Seine Wissenschaftlerlaufbahn hat ihn nicht davon abgebracht, sein Heimathöfl, den Moar in Mischì, weiterhin selber zu bewirtschaften und sich ehrenamtlich um „die Schreibereien“ in der Weiler-Nachbarschaft zu kümmern. Giovanni Mischì ist, was man einen studierten Bauern nennt. Einer, den Studium und wissenschaftliches Arbeiten nicht der Scholle entfremdet hat.

Heute überlässt er uns aber seiner Mutter. „Weil du ihr eher glauben wirst“, sagt Giovanni mir tags zuvor am Telefon. Absichtlich hat er sich an diesem Tag von der Arbeit frei genommen und ist mit seiner Frau Maria und den drei Kindern Anna, Ruben und Lea zu einem Ausflug aufgebrochen. Es ist nicht leicht, sich in ladinischen Weilern zurechtzufinden, wenn die wenigen Jungen weg sind. Bei all ihrer Kleinheit sind es doch Labyrinthe. Nicht immer ist auf den ersten Blick auszumachen, was Feuer- und was Futterhaus ist, welcher Stall zu welchem Wohnhaus gehört, und was überhaupt noch besiedelt ist. „Das größte Haus“, wurde uns gesagt, sei es. Groß ist hier relativ. Alle Häuser sind groß. Es waren überall viele Kinder, und dazu Dienstboten. Dirnen und Knechte, die es zur Heuarbeit auf den Bergwiesen und im Winter im Holz brauchte.

Wir treten in ein sehr großes, altes, ehrwürdiges ein, rufen im Hausgang, „Hallo, hallo“, öffnen die Tür, hinter der wir ein laut gestelltes Radio hören, und tatsächlich: In der pechschwarzen Küche ist eine alte Frau dabei, den Tirtlteig auszuwälzen. „Frau Mischì?“, frage ich. Die Frau bejaht, versteht aber sofort, dass nicht sie die Gesuchte sein kann. Sie sei die Emma, sagt sie, Emma Mischì, und wir würden „eher wohl den Giovanni suchen oder seine Mutter, die Amalia“. Sie selber sei „nur eine Verwandte“ von denen, und die würden „im großen Haus dort wohnen, beim Moar“. Emma lebt allein im Haus. Die Kinder haben weggeheiratet, „kommen aber schon fleißig auf Besuch“. Vieh ist keines mehr im Stall. Die Wiesen mäht der Schwiegersohn. Das Heu bringt er nach Abtei, wo er arbeitet und nebenbei den Hof der Frau bewirtschaftet. Emma Mischì zeigt uns das Haus der Mischì, die wir suchen. Wenn wir ein Tirtl möchten, in anderthalb Stunden sei sie so weit, wir bräuchten nur zu kommen.

Amalia, Giovannis Mutter, ist längst vorgewarnt. Zwei Fremde streunen nicht unbeobachtet durch den Weiler. Sie erwartet uns schon in der Haustür. Eine große Frau vor einem großen Haus. 88 ist sie, über 50 Jahre schon hier am Hof. Dem Aussehen nach ist sie jünger und könnte Lehrerin gewesen sein. Amalia spricht schönes Deutsch. Bei Gadertalerinnen ihrer Generation ist das nicht die Regel. Sie tun sich leichter auf Italienisch. Das lernten sie in der Schule, und Italienisch war weitgehend auch die Sprache der Kirche. Mutter Mischì hat ihr gutes Deutsch wohl auch vom Lesen. Ein gewisses Bildungsflair weht durchs Haus: die lesende Mutter, der studierte Sohn, die Schwiegertochter ist Lehrerin, die Enkel“ singen und musizieren ... „Das Musikalische hat erst Maria ins Haus gebracht“, sagt bescheiden die Schwiegermutter.

Amalia ist eine wunderbare Erzählerin und weiß alles von Mischì: wie viele Menschen hinter welcher Tür leben, wer eine Frau gefunden hat und wer nicht, den jeweiligen Viehstand bis auf die letzte Klaue ... Mir bleibt im Gedächtnis nur, dass der Weiler sich aus sechs Höfen zusammensetzt: dem Moidl-Hof, dem Pice, dem Jager, dem Moar, dem Mezdel und den Jarone. „In ein paar Häusern lebt nur mehr ein Mensch allein.“ Amalia ist zu mitfühlend, als dass sie uns verraten würde, in welchen genau. Das „von Tante Emma“ haben wir selber entdeckt. „Früher lebten 50 Leute hier, heute sind es noch 16. So wenige gedenkt niemand.“ Die Frau bemüht sich, nicht deprimiert zu wirken. Erstmals fährt heuer kein Schulbus mehr. Das einzige schulpflichtige Kind, das es in Mischì und Seres zusammen gibt, wird von seinen Eltern nach Campill gebracht. Der Viehstand nimmt auch ab. Zu den besten Zeiten hatten sie beim Moar acht Stück. Jetzt hält Giovanni noch vier. Er hat zwei Hektar Mähwiesen beim Haus, dazu eine Bergwiese am Peitler und zwei auf Medalges.

Von der Bauerschaft allein lebt hier auf Mischì niemand mehr. Hat auch nie eine Familie gelebt. Von jeher musste zugearbeitet werden. Amalia bedauert die Männer und Frauen, die heute „so früh aufstehen müssen“, um arbeiten zu gehen. Bei den Schiliften, in den Hotels, als Handwerker. „Dann müssen sie schnell wieder heim, zu füttern oder weil auf die alten Leute geschaut werden muss.“ „Die Leute arbeiten zu viel“, ist die Mama Mischì der festen Überzeugung. Auch Seres, der Nachbarweiler, „ist leer“. Drei Häuser seien unbewohnt. Zwei junge Familien lebten noch dort. Die alte Frau nennt es „ein Glück“, dass Michil Costa, der schrille Hotelier und Ökofreak aus Corvara, sich ein Haus in Seres zu seinem Wohnsitz erwählt hat. „So lebt es weiter“, findet sie, „und sonst hätte es irgendein Fremder gekauft.“

Überlebende einer untergehenden Welt: „Wir sind halt da, um zu erhalten, was ist.“

Ach, „die Fremden“! Einmal, das war vor hundert Jahren, hat es glatt danach ausgesehen, als würden Mischì und Seres, diese hintersten und heute unberührtesten Winkel Südtirols, ans Karussell des damals aufkommenden Dolomiten-Tourismus angeschlossen. Es gab Pläne für eine Dolomitenstraße, die vom Würzjoch über die Peitlerkofel-Wiesen durchs Talende von Campill und von dort weiter ins Hochabteital geführt hätte. Campiller Pioniergeister freuten sich schon auf die „Erschließung“. Einer von ihnen war ein Vorfahre der heutigen Mischì. In Erwartung des dann einsetzenden Touristendurchzugs baute er sein Haus aus. Der Erste Weltkrieg bereitete den Hoffnungen ein jähes Ende. Später, in den 1950er Jahren, streifte der Erschließungsspuk noch einmal das stille Tal. Da war es der „Professor Mischì“, ein geistlicher Sprössling der Familie, der das Moarhaus noch einmal für eine touristische Bestimmung aufrüstete. Übrig geblieben sind von dem Traum ein paar Zimmer, die im Hochsommer ihre Liebhabergäste finden, die froh sind, dass Campill von jeder Durchzugsstraße verschont geblieben ist.

Auf der Nachbarwiese treffen wir zwei Männer beim Grumet-Wenden. Die Nacht über hat es dreingeregnet. Jetzt kehren sie es um, damit sie es am Nachmittag gedörrt in den Stadel bringen. Stumm ziehen sie Strang um Strang über den steilen Hang, Isidor voran, Eduard hinten nach. Sie sind Brüder, heißen Daporta. Der eine hat Familie, der andere nicht, und genau das ist auch gleich das Thema: Familie. „Kein Geld, keine Zeit, wir sind angehängt wie das Vieh, da kannst du keine Frau kriegen. Das macht heutzutage keine mit.“ Ich weiß von Amalia, dass einer dieser beiden Brüder keine Frau findet. Welcher, traue ich mich nicht zu fragen. Den Notstand beklagen beide solidarisch. Um vier Uhr früh müsse er, Isidor, aufstehen, das Vieh versorgen, um vor acht Uhr „auf der Arbeit“ in Alta Badia zu sein. Das Schlimmste sei die Einsamkeit. „Die Leute reden nicht mehr miteinander“, antwortet mir Eduard auf meine blauäugige Feststellung, so ein Weiler, wo mehrere Höfe beisammen sind, müsse doch geselliger sein, als irgendein Einzelhof. „Nein, sind alle weg, alle auf Arbeit, von früh bis spät. Da redet keiner.“

Vom Geld ganz zu schweigen. „Die Renten für die alten Leute bringen das meiste Geld auf die Höfe“, findet Eduard. Damit würden Maschinen gekauft. Es reiche aber nicht: „Früher“, macht Isidor einen bildlichen Vergleich, „früher hast du für einen Stier eine Mähmaschine gekauft. Heute reichen dafür zehn Stiere nicht.“ Die Männer müssen weitermachen beim Grumet. „Wir sind halt da, um zu erhalten, was ist.“ Klingt wenig zuversichtlich.

Ganz anders Amalia. Es muss bei ihr eine Herzenssache sein. Natürlich kennt sie alle Leiden im Tal. „Mander allein“, weiß sie, „haben wir in Campill ganz an Haufn.“ Und jedes Mal, wenn das Gespräch ins Negative abdriftet, unterbricht sie mit einem aufmunternden: „Es wird schon weitergehen.“ Ihre Zuversicht schöpft die Frau aus ihrer Erfahrung, dass „es immer schon so war“, dass „es trotzdem immer weitergegangen ist“. Und eher sei es besser geworden. „Heute“, findet die alte Mutter, „kann sich jeder was dazuverdienen, und die alten Frauen leben von der Rente. Weggezogen sei von hier seit je geworden. Die Mädchen gingen als Haushaltshilfen nach Rom, Venedig und Mailand oder als Mägde ins Pustertal hinaus. Die Buben wurden teils schon im Kindesalter zu den Bauern ins Pustertal gegeben. „Deutsch zu lernen“, hieß es schamhaft. Deutsch gelernt werden sie auch haben, aber der Hauptzweck war, einige hungrige Mäuler von der Pfanne daheim wegzuhaben. „Zugezogen“, auch auf diese Feststellung legt Amalia Wert, „zugezogen ist hier früher niemand und zieht heute niemand.“

Die Menschen gehen: „Früher lebten 50 Leute hier, heute sind es noch 16. So wenige gedenkt niemand.“

Gebaute Gemeinwirtschaft: Nachbarschaftshilfe als Überlebensprinzip.

Die gemeinschaftliche Bauweise der Viles ist Ausdruck hoch entwickelter Gemeinwirtschaft. Eine Gemeinwirtschaft aus Notwendigkeit, in der Regel. Nachbarschaftshilfe als Überlebensprinzip. Viel ist davon nicht mehr geblieben: Es gibt noch die „Nachbarschaft“, eine Art Nutzungsgemeinschaft von Weide-, Holz- und Wasserrechten. Die „Nachbarschaft“ hat Besitz, unter anderem eine Alm in Eigentumsgemeinschaft mit Seres, und selbstverständlich muss diese verwaltet werden. Dazu trifft man sich bei Bedarf und mindestens einmal im Jahr. Giovanni Mischì führt die Geschäfte. Es gibt keine großen „Geschäfte“. Gott sei Dank, sagt die Mutter und meint damit, dass Frieden ist in der Nachbarschaft. „Nein“, meint sie, „in den 50 Jahren, die ich da bin, wüsste ich von keiner nennenswerten Streiterei. Jedenfalls nicht so, dass jemand einen Advokat genommen hätte. Man redet es sich aus.“ Eine schöne Feststellung aus dem Mund einer 88-jährigen Frau. Und schöner sind nur noch die Worte, die Amalia uns zum Abschied sagt: „Wenn die Sonne kommt, bin ich zufrieden.“ Ich geh noch zu Emma, der anderen Mischì. Sie hat mir drei Tirtln auf die Seite gelegt. Eins für Christjan, eins für mich, „und eins teilt ihr euch“, sagt die Gute.

In den Hang gehauene Landschaft: den Traum von einem eigenen Weg zum Weinbauern verwirklicht.

 

Der Wein und sein Mensch

Der Kuenhof in Tschötsch bei Brixen. Bergbauer ist keine reine Frage der Meereshöhe. Weinbau im steilen Hang, auf schmalen Terrassen über Trockenmauern, ist Landwirtschaft in Extremformat. Peter und Brigitte Pliger haben aus Weinberg und Keller eine Weltanschauung verwirklicht.

Ein Südtiroler Bauern-Kaleidoskop kann nicht ohne Weinbauer bleiben. Auch nicht ein Bergbauern-Kaleidoskop. Aber wie Berg und Weinbau zusammenbringen? Wir haben uns Rat geholt bei Ämtern und Fachleuten. Es gab die ausgefallensten Tipps. An den Sonnenhängen des Vinschgaus, im Unterland und besonders viele: im mittleren Eisacktal. Was tut aber der Laie, wenn er die Qual der Auswahl hat? Er nimmt die Adresse mit den meisten Treffern. Den Kuenhof des Peter und der Brigitte Pliger in Tschötsch bei Brixen haben alle genannt.

Nun stehen wir vor dem Hof, uns unsere Vorurteile bestätigend. Südlich von Brixen, gleich hinter dem berühmten „Wirt an der Mahr“, zweigt ein Sträßchen rechts ab und führt über eine einzige Kehre direkt vor den Hof. An der Hausmauer prangt ein mächtiges Kruzifix. Erst beim Nachhausefahren merken wir, dass dieses schon von sämtlichen Hauptdurchfahrtssträngen des Tales, von Staatsstraße, Autobahn wie Zug, weithin sichtbar ist. Wir hätten uns also das Durchfragen ersparen können. Es ist nämlich gar nicht so einfach, im mehrsprachigen Südtirol auf Anhieb einen Kuenhof zu erfragen. Ein deutscher Tourist, über die Örtlichkeiten hier wie üblich besser informiert als die Einheimischen, fragt zurück, ob wir etwa den „Künhof“ meinten. Italiener, wird uns später die Bäuerin aufklären, fragen gern nach „Cuén“. Die Leute aus der Gegend und die Bauersleute selber sagen „Koan“.