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Ismail Küpeli

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Beschreibung

Der Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung hat eine lange und verwobene Geschichte. Um die gegenwärtigen Spannungen und die Konsequenzen der staatlichen Politik verstehen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Ismail Küpeli nimmt sich dieses Komplexes an und analysiert vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen die autoritäre und gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit in der Türkei. Auf dieser Grundlage formuliert er darüber hinaus Empfehlungen für eine politische Bildung, die einen Beitrag zur Anerkennung von Pluralität und Diversität sowie zu einem gesellschaftlichen Friedensprozess liefern kann.

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Ismail Küpeli, geb. 1978, forscht zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind nationalistische Ideologien und identitäre Tendenzen – sowohl in den Mehrheitsgesellschaften als auch innerhalb der jeweiligen Minderheiten.

Ismail Küpeli

Die kurdische Frage in der Türkei

Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit

Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Februar 2022 angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NoDerivatives 4.0 Lizenz (BY-ND). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, gestattet aber keine Bearbeitung. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de) Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen oder Derivate einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

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Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Ismail Küpeli

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6275-7

PDF-ISBN 978-3-8394-6275-1

EPUB-ISBN 978-3-7328-6275-7

https://doi.org/10.14361/9783839462751

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Vorwort

1.Einleitung

1.1Untersuchungsgegenstand und Fragestellungen

1.2Stand der Forschung und Quellenlage

1.3Anmerkungen zu den Übersetzungen und Transkriptionen

1.4Danksagung

2.Theoretischer und methodischer Rahmen

2.1Nation, Nationalismus und Nationalstaat

2.2Politikwissenschaftliche Konfliktanalyse

2.3Kritische Dokumenten- und Quellenanalyse

3.Historischer Kontext der sogenannten kurdischen Frage

3.1Die politische und soziale Ordnung des Osmanischen Reiches und die Stellung der Kurd_innen

3.2Der türkische Unabhängigkeitskrieg und die Rolle der Kurd_innen

4.Die Gründung des türkischen Nationalstaats

4.1Die Errichtung der Autokratie

4.2Entwürfe der Nation und des Nationalstaats

4.3Die Nation und die Anderen

5.Die sogenannten kurdischen Aufstände (1925-1938)

5.1Der Scheich-Said-Aufstand 1925

5.2Kriegsrecht und Sonderverwaltung

5.3Weitere Militäroperationen 1925-1938

5.4Der Ararat-Aufstand 1930

5.5Die Operationen in Dersim 1937-1938

5.6Zwischenbilanz der Ereignisse zwischen 1925 und 1938

6.Ausblicke

6.1Die Fortsetzung der Homogenisierungspolitik in der Türkei nach 1938

6.2Die sogenannten kurdischen Aufstände in der türkischen Geschichtsschreibung

6.3Auswege und Empfehlungen

6.4Historisch-politische Bildung als Werkzeug gegen Nationalismus?

6.5Aspekte der historisch-politischen Bildung zur sogenannten kurdischen Frage in der Türkei

7.Fazit

Literatur

Vorwort

»Türkei: Selbst Tote werden zu Gefängnisstrafen verurteilt« – unter dieser Überschrift berichtet die Online-Zeitung Telepolis am 9. Oktober 2021 darüber, dass der frühere HDP1-Politiker Ahmet Öner wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu über acht Jahren Haft verurteilt wurde. Jedoch: Ahmet Öner, der in der kurdischen Provinz Hakkari in der HDP aktiv war, verstarb bereits 2017. Mit der Verurteilung eines bereits verstorbenen oppositionellen Politikers endete der Prozess gegen eine Organisation namens »Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans«. Bereits zuvor waren dreißig Angeklagte zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Wie in zahlreichen anderen politischen Prozessen dieser Art gab es auch bei diesem Prozess keine soliden Beweise für die Anklagen. Das gilt auch für tausende von HDP-Mitgliedern, die derzeit inhaftiert sind. So sind gegenwärtig zahlreiche kurdische Politiker_innen, Journalist_innen, Menschrechtler_innen und nicht zuletzt Akademiker_innen unterschiedlichen Repressionen, wie z.B. Festnahmen, Haft, Verurteilung, Kriminalisierung und Flucht ausgesetzt.

Ein Teil dieser Repressionspolitik richtet sich seit 2016 auch gegen zahlreiche Akademiker_innen in der Türkei, die sich im Rahmen der Initiative »Akademiker_innen für den Frieden« (Barış İçin Akademisyenler, BAK) mit einer Petition gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung in den kurdischen Provinzen positionierten und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage forderten. Die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan denunziert(e) diese Petition als »terroristische Propaganda« und »Beleidigung des türkischen Staats«, so dass gegen zahlreiche Unterzeichner_innen straf- und disziplinarrechtlich vorgegangen wurde (und weiterhin wird). Die Folge waren Festnahmen, Haftstrafen und Verurteilungen von Akademiker_innen. Um einer Inhaftierung zu entgehen, sahen sich zahlreiche politisch Verfolgte zu einer Flucht gezwungen und suchten Schutz in anderen Ländern.

Diese Beispiele lassen deutlich werden, dass die kurdische Frage in der Türkei keineswegs eine rein historische ist. Im Gegenteil: In der Republik Türkei, wo Recep Tayyip Erdoğan Mustafa Kemal Atatürk beerben will, ist die Frage nach Menschen- und Minderheitenrechten sowie Meinungsfreiheit nach wie vor eine der drängendsten Fragen.

Somit ist die sogenannte kurdische Frage gegenwärtig eines der Schlüsselthemen, welches die Türkei auf der innenpolitischen ebenso wie auf der internationalen Ebene sehr stark belastet und nicht zuletzt auch die benachbarten Länder Irak, Iran und Syrien. Zahlreiche wissenschaftliche Studien und Untersuchungen belegen, dass kaum ein anderer »Konflikt« die Türkei und den gesamten Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahrzehnten so beeinflusst hat, wie die sogenannte kurdische Frage. Zugleich können wir beobachten, dass die gegenwärtige türkische Gesellschaft diesen Konflikt weiterhin ausblendet und verdrängt.

Ismail Küpeli will die Geschichte des Konflikts zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung aufarbeiten, um auf diese Weise zu einem Verständnis der gegenwärtigen Konflikte beitragen zu können. Während sich die bisherige politische und wissenschaftliche Beschäftigung auf die Gegenwart konzentriert habe, so Ismail Küpeli, würden die inneren Verbindungen zwischen der türkischen Homogenisierungspolitik und den sogenannten kurdischen Aufständen der 1920er und 1930er Jahre weitgehend ausgeblendet. Vernachlässigt würden somit die möglichen Auswirkungen dieser Zusammenhänge auf die gegenwärtige politische Lage. In Abgrenzung zu einer geschichtsvergessenen Herangehensweise betrachtet Küpeli die 1920er und 1930er Jahre als entscheidend für die Entwicklung des türkischen Staates und als Schlüssel für das Verständnis der Beziehung des türkischen Nationalstaates zur kurdischen Bevölkerung. Seine zentrale These lautet, dass die Phase zwischen der Gründung der Republik Türkei 1923 und den Vernichtungsoperationen in der Region Dersim in den Jahren 1937-1938 entscheidend seien für die ungelöste kurdische Frage.

Bezugnehmend auf Debatten um Nation und Nationalismus, die vor allem in den 1980er und 1990er Jahren die Sozial- und Geschichtswissenschaften umtrieben, konstatiert Ismail Küpeli eine Forschungslücke: In den Forschungen sei nicht – oder unzureichend – berücksichtigt worden, wie es innerhalb einer Vielzahl von Gruppen ausgerechnet einer Gruppe gelingen konnte, die Staatsmacht zu erlangen. Oder anders formuliert: Wie gelingt Nationalstaaten die Durchsetzung eines ethnisch homogenen Territoriums? Theoretisch rekurriert Küpeli auf Zygmunt Bauman, der in seinem Werk »Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust« den Begriff des »modernen Gärtnerstaates« geprägt hat. Der »Kampf gegen die Ambivalenz« war, so Bauman, das zentrale Element der Moderne. Um in diesem Bild zu bleiben: Der »moderne Gärtnerstaat« kultiviert seine Beete, er jätet das (menschliche) Unkraut aus seinen Beeten, die er säuberlich anlegt und pflegt.

In dem Kapitel »Theoretischer Rahmen« widmet sich Küpeli der Nationalismustheorie, indem er Begriffe wie Nation, Staat und Nationalstaat erörtert. Auch will er prüfen, welche Konzepte die »politikwissenschaftliche Konfliktforschung« anbietet, um die Beziehung zwischen dem türkischen Nationalstaat und der kurdischen Bevölkerung zu analysieren. Ferner diskutiert er Ansätze der Genozid- und der Kolonialismusforschung.

Charakteristisch für dieses Kapitel ist, dass er sich nicht allgemein mit Nation, Staat und Nationalstaat befasst, sondern diese Begriffe und Konzepte am Beispiel der Türkei exemplifiziert. Diese Fokussierung auf die Türkei macht die Lektüre der Passagen interessant, da Benedict Anderson, Eric Hobsbawm u.a. Theoretiker, die maßgeblich die neueren Nationalismustheorien geprägt haben, ihre Theorien nicht am Beispiel des türkischen Nationalismus entwickelt haben. Insofern erbringt Ismail Küpeli eine wertvolle Transferleistung, da er zentrale Erkenntnisse der Nationalismustheorien auf die Türkei überträgt. Diese Passagen sind innovativ und überzeugend, da hier Theorien mit Empirie verknüpft werden.

Ein weiteres Kapitel fokussiert den historischen Kontext der sogenannten kurdischen Frage. Ausgehend von einer Darstellung der politischen und sozialen Ordnung des Osmanischen Reiches gelingt es Küpeli sehr gut, den historischen Prozess bis hin zum türkischen Unabhängigkeitskrieg nachzuzeichnen. Bei der Darstellung des historischen Kontextes lässt er sich von der Frage leiten, welche Rolle die Kurd_innen in diesem Prozess gespielt haben.

Seine Darstellung der »Gründung des türkischen Nationalstaats« umfasst eine Darstellung der Errichtung eines autokratischen Systems, eine Darlegung des Konzepts von Nation und Nationalstaat sowie eine Auseinandersetzung mit dem Othering (»Die Nation und die Anderen«). Der Verfasser arbeitet in diesem Kapitel die Widersprüche heraus, die einem jeden Nationalismus innewohnen. So stellt er in dem Unterkapitel »Außenpolitik im Dienste des Nation Building« dar, dass der Kemalismus außenpolitisch nicht offen expansiv agierte (»außenpolitische Zurückhaltung sollte Konflikte mit anderen Staaten vermeiden«), dass jedoch staatliche Bildungseinrichtungen und Wissensproduzenten (Schulen, Hochschulen, Forschungsinstitute) maßgeblich dazu beitrugen, die Idee einer großen türkischen Nation – unter dem Vorzeichen des Turanismus – zu pflegen und am Leben zu erhalten. Offen bleibt die Frage, ob und wenn ja wie der Konflikt zwischen Nation Building (in Bezug auf die Türkei) und Turanismus gelöst werden kann. Die Passagen, in denen sich der Verfasser mit der Türkischen Geschichtsthese und der Sonnensprachtheorie auseinandersetzt, sind sehr materialreich und machen deutlich, dass sich rassistische oder völkisch-nationalistische Ideologien immer wieder der gleichen argumentativen Figuren bedienen.

Zahlreiche diskursive Stränge, die Ismail Küpeli herausgearbeitet hat, finden sich auch in Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, die Fichte ab Dezember 1807 in Berlin zur Zeit der französischen Besatzung gehalten hat. Auch in diesen »Reden an die deutsche Nation« wird eine Überlegenheit der Deutschen und des deutschen Geistes behauptet; und diese vermeintliche Überlegenheit wird ursächlich darauf zurückgeführt, dass das Volk der Deutschen über die Ursprache der Menschheit verfüge. Insofern arbeitet Ismail Küpeli bestimmte Argumentationsfiguren heraus, die nicht nur für den türkischen Nationalismus gelten, sondern konstitutiv sind für alle Nationalismen unterschiedlicher Couleur.

Sehr überzeugend stellt Ismail Küpeli dar, welche Strategien gegenüber den nicht-muslimischen Minderheiten (Armenier_innen, Griech_innen, Christ_innen) angewandt wurden, und wie sich diese Strategien von jenen unterschieden, die gegenüber den muslimischen Minderheiten (Kurd_innen) zum Einsatz kamen. Insofern kann das Kapitel »Die Nation und die Anderen« durch die klare Argumentation, die Differenziertheit und den Materialreichtum beeindrucken.

Mit dem Kapitel »Die sogenannten kurdischen Aufstände« wechselt Ismail Küpeli die Perspektive. Hier geht es nicht mehr in erster Linie um ideologische Strategien, die die Homogenisierung und Türkisierung der Republik Türkei flankiert haben, sondern um historisch konkrete Militäroperationen gegen kurdische Dörfer und Provinzen. Basierend auf Quellen und Dokumenten (u.a. Berichte des Generalstabs) sowie unter Rekurs auf Sekundärliteratur rekonstruiert Küpeli den Scheich-Said-Aufstand (1925), befasst sich mit dem Kriegsrecht und der Sonderverwaltung, beschreibt die weiteren Militäroperationen in dem Zeitraum 1925 bis 1938, zeichnet den Ararat-Aufstand (1930) nach und analysiert die Operationen in Dersim 1937-1938. Nachdem er sehr ausführlich die zahlreichen Aufstände in dem Zeitraum rekonstruiert und analysiert hat, kommt er zu der Einschätzung, dass nur in Bezug auf zwei Ereignisse von einem »geplanten und organisierten Aufstand mit klar benennbaren Akteur_innen« gesprochen werden kann. Namentlich handelt es sich hier um den Scheich-Said-Aufstand (1925) und den Ararat-Aufstand (1930). Bei allen weiteren Ereignissen, die in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung häufig als Aufstände bezeichnet worden sind (oder immer noch werden), handele es sich, so Ismail Küpeli, um Erziehungs- oder Vernichtungsoperationen. Die Stärke dieses zentralen Kapitels liegt nicht nur in der historischen Konkretion, sondern auch darin, dass Küpeli in Bezug auf die historisch konkreten Ereignisse den Übergang von den Erziehungs- zu den Vernichtungsoperationen sehr nachvollziehbar und überzeugend darstellt. Das Kapitel »Ausblicke« wagt einen Blick, der über das Jahr 1938 hinausgeht. Dieses Kapitel kann nur noch kursorisch ausfallen. Interessant sind vor allem die Passagen zur türkischen Geschichtsschreibung, in denen einige Historiker_innen zu Wort kommen, deren Aussagen und Äußerungen die Erziehungs- und Vernichtungsoperationen legitimieren.

Mit dem Kapitel »Historisch-politische Bildung als Werkzeug gegen Nationalismus« spannt Ismail Küpeli den Bogen hin zu den daraus resultierenden Herausforderungen, vor denen die politische und historisch-politische Bildung in der Migrationsgesellschaft steht. Sehr überzeugend legt er dar, dass sich historisch-politische Bildung keineswegs auf rassismuskritische Bildung beschränken darf. Vielmehr müsse historisch-politische Bildung die Verflechtung von Rassismus und Nationalismus in den Blick nehmen und sich notwendigerweise auch kritisch mit Nationalismen auseinandersetzen. Vor diesen Herausforderungen stehen vor allem Bildungseinrichtungen in der Migrationsgesellschaft, denn hier bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit allen Formen des Nationalismus (nicht nur des deutschen, auch des türkischen).

Die Stärke dieser Monografie liegt darin, dass sich der Verfasser einem Thema widmet, das in der Forschung weitgehend ausgeblendet wurde – oder aber affirmativ im Sinne der Geschichtsschreibung des türkischen Nationalstaates gedeutet worden ist. Besonders originell ist die Rahmung der Thematik kurdische Frage in der Türkei durch die Nationalismustheorie (Anderson, Hobsbawm), verbunden mit dem Begriff des »modernen Gärtnerstaates« (Bauman). Ismail Küpeli hat somit eine theoretisch anspruchsvolle und aufschlussreiche Studie vorgelegt, die sich durch ein hohes Niveau auszeichnet. Es erfolgt eine kritische Durchsicht und Analyse der historischen Prozesse und eine Rückbindung an theoretische und historische Perspektiven.

Im Sinne eines Theorie-Praxis-Transfers bezieht er seine Erkenntnisse auf die schulische und außerschulische historisch-politische Bildung. Eine Migrationsgesellschaft steht vor der Herausforderung, sich kritisch mit Nationalismus zu befassen – ganz gleich, ob es sich um einen deutschen oder einen türkischen Nationalismus handeln mag. Dies gilt gleichermaßen für die formale, nonformale und informelle Bildung. Mit dieser Studie gelingt es dem Verfasser, reflexiv und analytisch ein komplexes Thema geschichtlich aufzuarbeiten und einen wichtigen Beitrag für die historisch-politische Bildung und Erinnerungspolitik in der Migrationsgesellschaft zu leisten. In diesem Sinne wünschen wir der Studie eine weite Verbreitung.

 

Köln, im Februar 2022

Prof. Dr. Gudrun Hentges

Prof. Dr. Kemal Bozay

1Die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) ist eine linke Oppositionspartei in der Türkei.

1.Einleitung

Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bevölkerung in der Türkei ist einer der prägenden Faktoren für die Geschichte und Gegenwart des Landes. Die politischen Debatten und Entscheidungen in vielen, sehr unterschiedlichen Bereichen – von der Bildungspolitik bis hin zur Außenpolitik – lassen sich auf diese sogenannte kurdische Frage1 zurückführen. Darüber hinaus ist der Konflikt auch bedeutend für die geschichtliche Entwicklung und die aktuelle Lage des gesamten Nahen und Mittleren Ostens; nicht zuletzt, weil in vielen dieser Staaten kurdische Bevölkerungsgruppen leben und zum Teil politisch relevante Akteur_innen sind, wie etwa in Syrien und im Irak.

Diese Arbeit will die Geschichte des Konflikts zwischen der Türkei und ihrer kurdischen Bevölkerung aufarbeiten und dadurch zum Verständnis der gegenwärtigen Konflikte beitragen. Bisher konzentriert sich die politische und wissenschaftliche Beschäftigung mit der sogenannten kurdischen Frage auf die Gegenwart – ohne die historische Perspektive adäquat zu berücksichtigen. So bleiben etwa vielfach die Verbindungen zwischen der türkischen staatlichen Homogenisierungspolitik und den sogenannten kurdischen Aufständen2 in den 1920er- und 1930er-Jahren unterbelichtet und deren mögliche Auswirkungen auf die gegenwärtige politische Lage unbeachtet. Diese Arbeit hingegen betrachtet die 1920er- und 1930er-Jahre als entscheidende Phase für die Entwicklung des türkischen Nationalstaats und seiner Beziehung zur kurdischen Bevölkerung und stellt sie ins Zentrum der Analyse.

Die Republik Türkei wurde 1923 auf dem Restgebiet des Osmanischen Reiches gegründet. Zuvor hatte die jungtürkische Regierung (1908-1918) versucht, das multiethnische und multireligiöse Reich durch die Vernichtung der armenischen Bevölkerung, die Vertreibung anderer christlicher Bevölkerungsgruppen sowie die Türkisierung der muslimischen Bevölkerung in einen türkischen Nationalstaat umzuwandeln. Während mit dem Genozid 1915 die Vernichtung der Armenier_innen weitgehend vollzogen war, scheiterte die vollständige Transformation in einem homogenen Nationalstaat, nicht zuletzt aufgrund der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg. Die Kemalist_innen als nachfolgende türkisch-nationalistische Bewegung agierten geschickter. Unter kemalistischer Führung vertrieb der junge Nationalstaat im sogenannten Türkischen Befreiungskrieg (1919-1923) einen Großteil der übrig gebliebenen christlichen Bevölkerung des Osmanischen Reiches und sicherte so eine deutliche muslimische Dominanz innerhalb der verbleibenden Bevölkerung. Unter den Vertriebenen waren neben Überlebenden des Genozids an den Armenier_innen die christlichen Bewohner_innen Westanatoliens sowie der Schwarzmeerküste. Sowohl der Genozid 1915 als auch die Vertreibungen zwischen 1919 und 1923 wurden von den muslimischen Eliten und Bevölkerungsgruppen getragen. Spätestens mit Gründung der Republik 1923 wurde diese muslimische Einheit in der Spätphase des Osmanischen Reiches abgelöst durch die Idee einer homogenen türkischen Nation, in der es für andere Bevölkerungsgruppen keinen Platz gab. Das Haupthindernis für die Schaffung dieser einheitlichen türkischen Nation waren nun die Kurd_innen. Diese stellten zwar keine politische oder gesellschaftliche Einheit dar, wurden aber vom türkischen Nationalstaat dennoch als homogene Gruppe behandelt, die eindeutig anders und nicht-türkisch ist.

Die vorliegende historische Fallstudie charakterisiert den türkischen Nationalstaat und analysiert, welche Politiken gegenüber der kurdischen Bevölkerung er verfolgte, aber auch, wie die verschiedenen kurdischen Akteur_innen auf den türkischen Nationalstaat und die ihnen zugedachte Rolle in dem neuen Staat reagierten. Dabei wird deutlich werden, dass die historische Phase zwischen der Gründung der Republik 1923 und den Vernichtungsoperationen in der Region Dersim 1937-1938 entscheidend für die ungelöste sogenannte kurdische Frage war. Die historische Analyse liefert darüber hinaus Erkenntnisse für aktuell relevante sozialwissenschaftliche Debatten. Mit einer Überprüfung politikwissenschaftlicher Kategorien und Begriffe auf ihre Tauglichkeit für eine historische Konfliktanalyse liefert diese Studie weiteren wissenschaftlichen Mehrwert.

Seit einigen Jahren ist in politikwissenschaftlichen Debatten nach der jahrzehntelangen Fokussierung auf Global Governance und parastaatliche Strukturen eine Renaissance des Nationalstaats feststellbar. Der Nationalstaat als Idee und Praxis ist wieder ins Zentrum gerückt, wenn es um die Herbeiführung und Durchsetzung politischer Entscheidungen geht. Anders als in den Debatten der 1990er und 2000er-Jahre wird der Nationalstaat in Diskussionen nicht länger als Problem oder Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit begriffen, sondern vielmehr als ein Akteur verstanden, der in der Lage ist, die Probleme der Welt zu lösen; als ein Ordnungsprinzip, das auch in Zukunft erhalten bleiben wird. Damit gewinnen auch entsprechende sozialwissenschaftliche Debatten der 1980er-Jahre über Nation, Nationalismus und Nationalstaat wieder an Relevanz. Ein wichtiger Teil dieser Debatten war die kritische Prüfung früherer Nationalismustheorien und Konzeptionalisierungen von Nation, Volk und Ethnizität. Ein mehrheitlich primordiales Verständnis von Nation wurde zunehmend abgelöst von konstruktivistischen Ansätzen (vgl. Anderson 1983/2005, Balibar 1990, Hobsbawm 1990/2005). Nationen, Völker und Ethnien wurden zunehmend als vorgestellte Gemeinschaften verstanden, d.h. als soziale Konstruktionen mit weitreichenden realen und politischen Auswirkungen. Einige Aspekte blieben dabei jedoch unterbelichtet – etwa die Frage, wie es sich innerhalb einer Vielzahl ethnischer Gruppen einer bestimmten Gruppe gelingt, sich eine Staatsmacht anzueignen oder wie Nationalstaaten die Vorstellung eines ethnisch homogenen Territoriums praktisch durchsetzen. Auch den oftmals als selbstverständlich angenommenen Zusammenhang zwischen Nation und Nationalstaat gilt es noch weiter zu beleuchten (vgl. Spencer/Wollmann 2002: 151-153). Zu den bisher unterbelichteten Aspekten gehören auch die Prozesse um die Entstehung, Durchsetzung und Konsolidierung des türkischen Nationalstaats, mitsamt der Konflikte um die staatliche Homogenisierungspolitik der Türkei.3 Um diese theoretischen Lücken und empirischen Leerstellen der Analyse staatlicher Homogenisierungs- und Bevölkerungspolitik zu füllen, greift die vorliegende Arbeit auf das Konzept des »Gärtnerstaats« (vgl. Bauman 1995: 35) zurück. Zudem wird ein Perspektivwechsel bei der Analyse vollzogen, indem die Kennzeichnung der Beziehungen zwischen Nationalstaaten und ihren jeweiligen Bevölkerungen als Vertragsbeziehung infrage gestellt wird.

Ein weiterer konzeptioneller und begrifflicher Mehrwert neben dieser Vertiefung und Komplettierung einer Analyse der Nationalstaatsbildung ist eine Überprüfung der Begriffe und Konzepte der Konfliktforschung (vgl. Bonacker/Imbusch 2005). Diese Überprüfung ist über politikwissenschaftliche Debatten hinaus von Interesse, da die beschriebene Renaissance des Nationalstaats gemeinsam mit dem Begriffsapparat einer nationalstaatlich orientierten Konfliktforschung eine ideelle Grundlage für derzeitige sicherheitspolitische und konfliktbearbeitende Maßnahmen bildet. Dies ist insbesondere der Fall bei Auseinandersetzungen zwischen Nationalstaaten mit widerständigen Bevölkerungsgruppen. Anders formuliert: Sowohl die Politikwissenschaften im Allgemeinen als auch die Konfliktforschung im Besonderen definieren den Nationalstaat als den zentralen Akteur, dessen Machtanspruch als legitim gilt und daher gegenüber nichtstaatlichen Akteur_innen seine Durchsetzung beanspruchen darf und soll. Auf dieses Staatsverständnis gründet sich auch die reale Politik vieler Akteur_innen außerhalb der Wissenschaft.4 Ausgehend vom Begriff des Konflikts selbst skizziert diese Arbeit, inwiefern die Narrative über den Konflikt in der Konfliktforschung eine spezifische Perspektive auf politische Prozesse impliziert und zur Durchsetzung verhilft. Die Konfliktforschung begreift Konflikte in der Regel als Auseinandersetzung oder Konkurrenz zweier Parteien um bestimmte Ressourcen (welcher Art auch immer). Diese in der Konfliktforschung hegemoniale Konzeption von Konflikt soll hier infrage gestellt werden. Ausgehend von dem bisherigen Stand der Konfliktforschung wird im Verlauf der historischen Fallstudie überprüft, ob Begriffe wie Konflikt oder Aufstand überhaupt angemessen sind, um die untersuchten Prozesse zu beschreiben. Dazu werden Ansätze der Genozidforschung herangezogen, um die staatliche Gewalt im Kontext der Fallstudie mit adäquateren Begriffen – wie Genozid oder Vernichtungskrieg – zu analysieren. Als Werkzeug für die Analyse der theoretischen Begriffe und Konzepte, aber ebenso der empirischen Darstellungen stützt sich die Arbeit auf Überlegungen der Kritischen Diskursanalyse. Mit deren Hilfe kann aufgezeigt werden, »was als normal und nicht normal zu gelten habe, was sagbar (und tubar) ist und was nicht« (Jäger 2009: 223). Die Kritische Diskursanalyse betrachtet Äußerungen über nicht-diskursive Ereignisse nicht bloß als neutrale Lieferanten von Informationen, sondern versucht, deren sprachliche Wirkungen zu entschlüsseln. Dabei wird davon ausgegangen, dass neben den nicht-diskursiven Ereignissen auch diskursive Ereignisse relevant sind und ebenfalls analysiert werden müssen.

1.1Untersuchungsgegenstand und Fragestellungen

Die vorliegende Studie gliedert sich in zwei Teile. Den Rahmen bildet eine umfassende Analyse der türkischen Nationalstaatsbildung und -konsolidierung in den 1920er- und 1930er-Jahren. Diese soll die Kontinuitäten und Brüche zwischen der jungtürkischen und der kemalistischen Politik aufzeigen. Ausgehend davon werden anschließend vor dem Hintergrund der Entwicklung des türkischen Nationalstaats die sogenannten kurdischen Aufstände in den 1920er- und 1930er-Jahren5 im Einzelnen analysiert. Eine solche Untersuchung existiert bisher nicht. Der Fokus auf diese vermeintlichen Aufstände erklärt sich dadurch, dass sich die staatliche türkische Homogenisierungspolitik6 nach dem Genozid an den Armenier_innen 1915 und der Vertreibung der christlichen Bevölkerung zwischen 1919 und 1923 auf die kurdische Bevölkerungsgruppe konzentrierte. Daraus ergeben sich zwei Fragen für die historischen Fallstudien:

a) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den sogenannten kurdischen Aufständen einerseits und der Schaffung eines türkischen Nationalstaates sowie der damit einhergehenden staatlichen Homogenisierungspolitik andererseits?

b) Welche Konsequenzen hatten die sogenannten kurdischen Aufstände für die Konsolidierung der Republik Türkei im Allgemeinen und für ihre staatliche Homogenisierungspolitik im Besonderen?

Im Folgenden wird die staatliche Homogenisierungpolitik aus analytischer Sicht skizziert. Dabei werden erstens die Narrative und Leitbilder betrachtet, die sie legitimieren sollten – etwa das Narrativ einer fehlenden nationalen Einheit, die angeblich eine erfolgreiche Modernisierung verhindert habe. Daneben werden auch Debatten über unterschiedliche Narrative und Leitbilder beobachtet, ebenso wie Veränderungen und Verlagerungen in diesen Debatten. So dominierte etwa während der Herrschaft der Jungtürken die Utopie vom großtürkischen Reich Turan (Turanismus). In der kemalistischen Republik wurde hingegen die Vorstellung einer Türkei hegemonial, die sich im Wesentlichen auf Anatolien beschränkt.

Zweitens werden die politischen Eliten identifiziert, die auf diese beschriebenen Narrative zurückgreifen. Zusätzlich werden deren Strategien und Gesellschaftsentwürfe entschlüsselt. Der diskursive Übergang von einem großtürkischen Reich zu einem türkischen Staat in Anatolien während der Gründungsphase der Republik Türkei ab 1921 lässt sich so erklären: Die kemalistische Strategie bestand darin, die bestehenden Gebiete zu türkisieren, anstatt eine expansive Außenpolitik zu betreiben.

Drittens werden diese Strategien und die daraus abgeleiteten konkreten politischen Maßnahmen untersucht. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Erzählungen über zu bewältigende Defizite und damit einhergehenden Forderungen nach nationaler Homogenisierung sowie den Strategien zu ihrer Erreichung einerseits sowie den konkreten politischen Maßnahmen des türkischen Staates andererseits. Für das vorliegende Fallbeispiel stellt sich beispielsweise die Frage, mit welchem strategischen Ansatz die Utopie einer türkischen Heimat in Anatolien durchgesetzt werden sollte. Eine weitere Frage lautet, mit welchen konkreten Maßnahmen andere Bevölkerungsgruppen verdrängt und eine türkische Dominanz in Anatolien herbeigeführt werden sollte.

Viertens werden die Vernichtungsmaßnahmen, die ethnische Säuberungen, die Massaker, Deportationen und Zwangsumsiedlungen als Bestandteile dieser Strategien des türkischen Staates beschrieben. Dementsprechend wird die Rebellion gegen den türkischen Staat als Widerstand gegen diese Homogenisierungspolitik definiert und einer näheren Betrachtung unterzogen. In unterschiedlichen historischen Phasen hatte der türkische Staat unterschiedliche Hauptgegner_innen. Nach dem Genozid an den Armenier_innen 1915 und der Vertreibung der christlichen Bevölkerung im Zuge des sogenannten Türkischen Befreiungskriegs zwischen 1919 und 1923 standen die Kurd_innen im Fokus der türkischen Homogenisierungspolitik.

Auf die Darstellung dieser staatlichen Homogenisierungspolitik folgt eine Analyse der sogenannten kurdischen Aufstände der 1920er- und 1930er-Jahre. Dabei wird rasch deutlich, dass es sich bei den untersuchten Fällen vielfach um Vernichtungsoperationen des türkischen Militärs handelte. Nur zwei Ereignisse waren tatsächlich Aufstände, nämlich der Scheich-Said-Aufstand 1925 und der Ararat-Aufstand 1930. Diese Feststellung ist ein zentraler originärer Forschungsbeitrag der vorliegenden Arbeit.

Die Studie betrachtet zunächst die sogenannten Aufstände einzeln näher und führt anschließend die jeweiligen Ergebnisse zusammen. Die vermeintlichen Aufstände werden also als einzelne Fälle analysiert, unter Einbeziehung von Kategorien und Konzepten aus der Friedens- und Konfliktforschung.

Anschließend wird das Ergebnis der Nationalstaatsbildung nach Niederschlagung der sogenannten kurdischen Aufstände, also ab 1938, sowie nach der nahezu vollständigen Vertreibung der nicht-muslimischen Minderheiten aus der Türkei näher betrachtet. Dabei ist zu fragen, ob der türkische Nationalstaat sich tatsächlich konsolidieren konnte, ob die Vorstellung der kemalistischen Führung von einer türkischen Nation durchgesetzt werden konnte und wie sich die ethnisch-religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung in der Türkei aufgrund der staatlichen Politik der 1920er- und 1930er-Jahre veränderte. Die vorliegende Studie untersucht, wie die staatliche Homogenisierungspolitik später fortgeführt wurde und welche Veränderungen dabei zu beobachten waren. Zudem wird skizziert, wie die sogenannten kurdischen Aufstände der 1920er- und 1930er-Jahre in der heutigen türkischen Geschichtsschreibung dargestellt werden sowie welche Narrative und Bilder dabei reproduziert werden.

Abschließend soll ein konzeptioneller Mehrwert erzielt werden, indem die Analyse der türkischen Nationalstaatsbildungspolitik und der sogenannten kurdischen Aufstände den bisherigen Debatten über den Nationalstaat und den Begriffen und Konzepten der Konfliktforschung gegenübergestellt wird. Durch eine Skizzierung der Fehlstellen bisheriger theoretischer Zugänge zum Nationalstaat soll die Etablierung neuer, adäquaterer theoretischer Ansätze angeregt werden. Dies betrifft insbesondere Auseinandersetzungen zwischen Nationalstaaten und widerständigen Bevölkerungsgruppen, welche die Konfliktforschung als Konflikte definiert. Dabei sollen in dieser Arbeit verwendete Begriffe wie Nationalstaat, Konflikt oder Aufstand dahingehend überprüft werden, welche Perspektiven und Interessen sie implizieren bzw. zulassen.

1.2Stand der Forschung und Quellenlage

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der staatlichen Homogenisierungspolitik in der Türkei sowie der sogenannten kurdischen Aufstände in den 1920er- und 1930er-Jahren ist sehr stark vorbelastet durch die staatlich gesteuerte Geschichtsschreibung in der Türkei, aber auch durch die Übernahme entsprechender Narrative außerhalb der Türkei. Dabei werden zentrale historische Ereignisse geleugnet oder umgedeutet. Gleichzeitig werden mit Falschbehauptungen und Scheinargumenten Zusammenhänge konstruiert, um die gewaltsame staatliche Bevölkerungspolitik nachträglich zu legitimieren. Beispielhaft hierfür ist der Umgang mit dem Genozid an den Armenier_innen 1915. Die Türkei weigert sich bis heute nicht nur, den Genozid anzuerkennen, sondern übt darüber hinaus international Druck aus, um dessen Anerkennung durch Dritte zu verhindern. Innerhalb der Türkei kann jegliche Äußerung oder Aktivität in Richtung einer Anerkennung des Genozids zum Anlass für staatliche Repression werden (etwa über Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs). Zudem rufen derartige Aktivitäten immer wieder verbale und gewalttätige Angriffe türkischer Nationalist_innen aus, die der türkische Staat entweder duldet oder gar fördert. Zugleich versucht die staatlich gesteuerte Geschichtsschreibung, die staatliche Gewalt gegen die Armenier_innen nachträglich zu legitimieren, etwa indem sie die Armenier_innen zu einer feindlichen und bedrohlichen Macht deklariert. Der Genozid wird zur Umsiedlung einer feindseligen Bevölkerungsgruppe umgedeutet. Zur Untermauerung dieses Narrativs werden reale Aktivitäten armenischer Akteur_innen ebenso herangezogen wie Falschbehauptungen.7 Darüber hinaus wird jegliche Thematisierung der Beziehungen zwischen dem türkischen Nationalstaat und nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen in der Türkei dadurch erschwert, dass deren Existenz schlicht geleugnet wird. So wurde etwa die Existenz der Kurd_innen noch bis in die 1990er-Jahre gänzlich negiert. Kurd_innen als eine eigenständige Bevölkerungsgruppe zu bezeichnen gar ein Eintreten für politische Rechte der kurdischen Bevölkerungsgruppe brachte vielen Journalist_innen, Autor_innen und Wissenschaftler_innen in der Türkei lange Haftstrafen ein. Andere wurden von aufgehetzten türkischen Nationalist_innen ermordet. Gleichzeitig unterstützten staatlich gesteuerte Forschungs- und Bildungseinrichtungen die Leugnungspolitik. Dies hat nicht nur die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Türkei geprägt. Da westliche Autor_innen sich in ihren Darstellungen der türkischen Geschichte und Gegenwart auf türkische Quellen bezogen und deren tendenziöse Ausrichtung selten hinterfragten, wurden viele Narrative und Motive der türkischen staatlichen Wissensproduktion übernommen. Dies ist besonders auffällig bei Darstellungen des Genozids von 1915. Dieser wurde im Anschluss an die türkische Perspektive bis vor wenigen Jahren vielfach nicht als Genozid bezeichnet.

Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit ist zunächst festzustellen, dass das öffentliche Interesse an der sogenannten kurdischen Frage im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Publikationen unterschiedlicher wissenschaftlicher Relevanz über die gegenwärtige Situation hervorgebracht hat (vgl. u.a. Strohmeier/Yalçin-Heckmann 2017, Schamberger/Meyen 2018). Bereits in den 2000er-Jahren entstanden mindestens sieben Monografien, die die sogenannte kurdische Frage im Kontext der EU-Türkei-Beziehungen betrachten (vgl. Kartal 2002, Deschner 2003, Görer 2003, Rolf/Yıldız 2003, Ayboğa 2006, Topçuoğlu 2006, Kesen 2009). Allerdings beschränken sich diese Veröffentlichungen mehrheitlich auf eine Beschreibung der aktuellen Situation und liefern darüber hinaus keine Erkenntnisse für die Fragestellung dieser Arbeit.

Zu den sogenannten kurdischen Aufständen der 1920er- und 1930er-Jahre existieren hingegen bisher fast nur türkischsprachige Publikationen. Es gibt lediglich eine englischsprachige Monografie über den Scheich-Said-Aufstand 1925, die auf existierender Sekundärliteratur sowie einer Auswertung britischer Archive basiert (vgl. Olson 1989)8 sowie eine deutschsprachige rechtswissenschaftliche Arbeit über die Frage, ob es sich bei den Vernichtungsoperationen in Dersim 1937-1938 um einen Genozid handelte (vgl. Boztas 2014). Des Weiteren gibt es vereinzelte englischsprachige Aufsätze (vgl. u.a. Gorgas 2009). Im deutschsprachigen Raum gab es bislang keine dezidierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen. Lediglich die Studie »Agha, Scheich und Staat« (Bruinessen 1989) betrachtet die damaligen sozio-politischen Strukturen und Prozesse in den kurdischen Gebieten näher. Diese Studie ist daher relevant für die Untersuchung der sogenannten Aufstände, auch wenn sie eher die Hintergründe darstellt und weniger die Ereignisse selbst. Auch Publikationen, die sich mit der sogenannten kurdischen Frage seit den 1980er-Jahren beschäftigen, erwähnen die sogenannten kurdischen Aufstände oftmals nur kurz und deuten sie dabei vielfach als Vorläufer der kurdischen Nationalbewegung. Wie es jedoch zu den vermeintlichen Aufständen kam und wer sie mit welchen Zielen führte, benennen sie ebenso wenig benannt wie ihren Zusammenhang mit der türkischen Nationalstaatsbildungspolitik.

Diese kritische Einschätzung trifft auf die türkischsprachige Literatur weniger zu. Hier liegen einige Materialsammlungen und Zusammenstellungen relevanter Archive vor, zudem gibt es einige Monografien zu den sogenannten Aufständen. Während die Material- und Dokumentensammlungen (vgl. u.a. Bayrak 1994, Genelkurmay Harp Tarihi Başkanlığı 2012a, 2012b) als Zusammenstellungen von Primärquellen immens wichtig sind, erscheinen die Monografien (vgl. u.a. Beşikçi 1990, Alakom 2011) aus drei Gründen ergänzungsbedürftig: Erstens war in der Türkei bis vor einigen Jahren eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung über die sogenannten kurdischen Aufstände der 1920er- und 1930er-Jahre kaum möglich. Die erste Monografie über die Umsiedlungen und Deportationen sowie den darauffolgenden sogenannten Dersim-Aufstand 1938 (Beşikçi 1990) wurde unmittelbar nach ihrem Erscheinen verboten. Weitere Veröffentlichungen von Beşikçi über die Politik des türkischen Staates gegenüber den Kurd_innen erlitten das gleiche Schicksal. Eine wissenschaftliche Debatte oder weitere Forschung waren unmöglich. Zweitens führte diese Einschränkung der wissenschaftlichen Forschung dazu, dass die in den letzten Jahren erschienenen Dokumentensammlungen nicht aufgearbeitet wurden. Drittens dienen einige Publikationen eher dazu, im Rahmen der aktuellen sogenannten kurdischen Frage die Position einer der Konfliktparteien zu legitimieren: Einige (kurdische) Autor_innen konstruieren eine jahrhundertealte Geschichte einer kurdischen Nationalbewegung (vgl. Alakom 2011) und ziehen dabei eine gerade Linie von den ersten Anzeichen einer kurdischen Ethnie über die sogenannten Aufstände der 1920er- und 1930er-Jahre bis hin zu gegenwärtigen kurdischen Bewegungen. Dagegen reproduzieren andere (türkische) Autor_innen die Erklärungsmuster des türkischen Staates für dessen Bevölkerungspolitik und die sogenannten kurdischen Aufstände (vgl. Sarınay 1998, Kılınç 2006, Değerli 2008).

Die geschilderte Ausgangslage macht eine kritische Sichtung der türkischsprachigen Dokumentensammlungen erforderlich. Die entsprechenden Quelleneditionen sind auch deshalb unverzichtbar, da die einschlägigen staatlichen Archive in der Türkei nach wie vor nicht zugänglich sind. So sind ist etwa die Archive des Generalstabs für kritische Forscher_innen bis heute verschlossen. Allerdings gibt es eine interne Publikation des Generalstabs namens »Aufstände in der Republik Türkei 1924-1938« von 1972, die 2012 neu veröffentlicht wurde. Dieser Band bietet zumindest einen unvollständigen Einblick in die Berichte und Beurteilungen des Generalstabs und anderer staatlicher Akteur_innen aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Dokumentensammlung des Generalstabs in einer neu gesetzten Fassung nur Dokumente enthält, die der Generalstab selbst ausgewählt hat. Es fehlen also zum einen möglicherweise Dokumente, die aufgrund der politischen Interessen des Generalstabs nicht aufgenommen wurden. Zum anderen ist durch den neuen Satz der Dokumente nicht gewährleistet, dass diese vollständig abgedruckt sind. Diese beiden Aspekte werden insbesondere beim Zilan-Massaker 1930 deutlich, zu dem die Berichte auffällig lückenhaft und inadäquat knapp sind. Es ist sehr gut vorstellbar, dass in den verschlossenen Archiven des Generalstabs in Ankara Dokumente zu den Massentötungen im Zilantal existieren, die nicht in die Dokumentensammlung aufgenommen wurden.

Beim Scheich-Said-Aufstand 1925, dem Ararat-Aufstand 1930 und den Vernichtungsoperationen in Dersim 1937-1938 fallen derartige Lücken etwas weniger ins Gewicht, da es hierzu weitere Berichte und Kommentare anderer staatlicher Akteur_innen, Meldungen zeitgenössischer türkischer Medien sowie Berichte türkischer und kurdischer Zeitzeug_innen gibt. Die Untersuchung der übrigen Militäroperationen ist jedoch erschwert, da hierzu nur wenige Quellen zur Verfügung stehen. Ein weiteres Problem ist, dass die türkischen Medien in jener historischen Phase unter dem Einfluss der Staatsideologie standen. Unabhängiger Journalismus war aufgrund der staatlichen Repression unmöglich. Daher spiegeln die wenigen Presseberichte häufig die Darstellung des Generalstabs lediglich wider und enthalten nur selten zusätzliche Informationen. Trotz dieser Einschränkungen wurde die Berichterstattung der Tageszeitung Cumhuriyet9 für den Untersuchungszeitraum zwischen 1925 und 1938 systematisch ausgewertet – nicht zuletzt, um besser nachvollziehen zu können, wie die staatliche Politik gegen über den Kurd_innen öffentlich dargestellt und kommentiert wurde.

Vorhandene Berichte von Zeitzeug_innen sind von sehr unterschiedlicher Aussagekraft und Belastbarkeit. Berichte von Personen, die damals als Soldaten, Offiziere oder Gendarme an den Militäroperationen beteiligt waren, wurden nur in seltenen Fällen von den Akteur_innen selbst veröffentlicht (beispielsweise Güven 1953/2011). Solche autobiografischen Texte müssen mit Blick auf die Motive der Veröffentlichung kritisch reflektiert werden. Sie könnten etwa dazu gedient haben, das eigene Verhalten in einem Gewaltkontext zu legitimieren. Mehrheitlich wurden derartige Berichte jedoch von kurdischen Publizist_innen gesammelt und veröffentlicht, um damit die gewaltsame Vorgehensweise des türkischen Staates zu belegen (vgl. etwa Kahraman 2004, Bulut 2013). Auch hier muss die politisch motivierte Rahmung der Berichte berücksichtigt werden. Es gilt, die von den jeweiligen Herausgeber_innen forcierte Lesart der Berichte nicht unhinterfragt zu übernehmen. Hierzu ist es hilfreich, diese Berichte mit anderen Berichten abzugleichen und ihre Plausibilität anhand des historischen Kontextes zu überprüfen. Diese beiden Schritte sind auch bei der Nutzung kurdischer Zeitzeug_innenberichten anzuwenden. Diese Berichte fallen in zwei Kategorien: Zum einen gibt es autobiografische Publikationen politischer Akteur_innen, etwa der Organisator_innen des Ararat-Aufstands 1930 (vgl. etwa Nuri 1992). Zum anderen existieren Berichte von Überlebenden der Vernichtungsoperationen (vgl. etwa Laçin 1992). Trotz der genannten kritischen Aspekte müssen all diese Zeitzeug_innenberichte für die Rekonstruktion der Ereignisse herangezogen werden. Insgesamt sind allerdings nur sehr wenige dieser Berichte überhaupt verfügbar.

Für die Analyse der politischen Situation der Türkei und der staatlichen Entwürfe, Strategien und Maßnahmen werden weitere Dokumenten- und Materialsammlungen herangezogen. Diese beinhalten hauptsächlich Gesetze, Verordnungen, Parlamentsprotokolle, interne Schreiben staatlicher Akteur_innen, Berichte staatlich bestellter Inspektor_innen sowie ähnliche Materialien (vgl. etwa Akçura 2008, Yıldırım 2011). Auch diese Sammlungen wurden aus unterschiedlichen Motiven zusammengestellt und neu gesetzt, was eine kritische Überprüfung und Kommentierung erforderlich macht. Da einzelne Dokumente von verschiedenen Herausgeber_innen in verschiedenen Dokumentensammlungen veröffentlicht wurden, können sie auf Abweichungen hin überprüft werden. Dies gewährleistet eine gewisse Belastbarkeit der Quellen. Zusätzlich wurden Gesetze und Verordnungen recherchiert und ausgewertet – und zwar nicht in Dokumentensammlungen, sondern unmittelbar als Primärquellen.10 Dokumenten- und Materialsammlungen wurden nur verwendet, wenn Primärquellen nicht direkt verfügbar waren.

Neben der spezifischen Literatur zu den sogenannten Aufständen sind für die Analyse der Legitimationsdiskurse und -strategien des türkischen Nationalstaats als Primärquellen auch programmatische Schriften der politischen Eliten der 1920er- und 1930er-Jahre von Interesse. Die Schriften von Mustafa Kemal, Reşit Galip und anderer Akteur_innen der politische Elite werden von staatlichen Einrichtungen der Türkei bis heute in regelmäßigen Abständen neu veröffentlicht, da sie noch immer Bestandteile der Staatsideologie sind (vgl. Atatürk Araştırma Merkezi 2006a, 2006b, 2006c, 2006d). Anders als andere Dokumente aus den 1920er- und 1930er-Jahren sind diese Schriften also leicht zugänglich. Sie werden auch herangezogen, um die ideologischen Übergänge und Brüche zwischen den Jungtürken11 im Osmanischen Reich und den Kemalist_innen in der Republik Türkei zu analysieren.

Die Nationalstaatsbildung der Türkei selbst ist Gegenstand weniger englisch- und deutschsprachiger Monografien und Aufsätze. Die Studie »Die Türkei, die Juden und der Holocaust« (Guttstadt 2008) befasst sich mit der Situation der türkischen Jüd_innen bis 1945 und stellt die Politik des türkischen Staates gegenüber der jüdischen Minderheit dar. Allerdings betreibt Guttstadt keine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der türkischen Nationalstaatsbildung. Auch eine Aufarbeitung des Pogroms gegen die nicht-muslimischen Minderheiten in Istanbul 1955 (vgl. Güven 2005) liefert einen Überblick über die staatliche Homogenisierungspolitik mit Schwerpunkt auf den nicht-muslimischen Minderheiten. Allerdings bleiben die Situation der muslimischen Minderheiten, die staatliche Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung sowie die sogenannten kurdischen Aufstände in beiden Publikationen unterbelichtet. Für diese Arbeit wurden auch türkischsprachige Studien (vgl. etwa Tunçay 1989, Aybars 2014) ausgewertet, die in deutsch- und englischsprachigen Publikationen bisher noch nicht umfassend berücksichtigt wurden.

Insgesamt lassen sich nach Sichtung der vorhandenen Literatur zum Thema drei Forschungslücken ausmachen: Erstens existiert keine umfassende Darstellung der türkischen Nationalstaatsbildung und -konsolidierung, welche die bevölkerungspolitischen Maßnahmen des türkischen Staates und den Widerstand der nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen miteinbezieht. Zweitens wurden die sogenannten kurdischen Aufstände der 1920er- und 1930er-Jahre im Kontext der türkischen Nationalstaatsbildung und konsolidierung bisher nicht eingehend untersucht. Nicht-türkischsprachige wissenschaftliche Veröffentlichungen zu diesem Thema gibt es fast überhaupt nicht. Drittens lässt sich die weiter oben formulierte Fragestellung ohne eine umfassende Auswertung türkischsprachiger Literatur und Quellen kaum sinnvoll bearbeiten. Bisher wurden lediglich einzelne Aspekte näher behandelt, etwa türkische Quellen zur Situation der jüdischen und christlichen Minderheiten oder zur türkischen Sprachpolitik. Andere für diese Arbeit relevante Aspekte, wie etwa Quellen zur Bevölkerungspolitik des türkischen Staates, wurden bisher nicht ausgewertet.

1.3Anmerkungen zu den Übersetzungen und Transkriptionen

Die Quellen aus der Zeit vor der Sprachreform von 1928 in der Türkei liegen in osmanischsprachiger Fassung (und damit in arabischer Schrift) vor. Entsprechende Quellen wurden nicht in dieser ursprünglichen Fassung verwendet, sondern als Transkription in die lateinische Schrift und bisweilen mit Übersetzungen ins moderne Türkisch. Alle türkischsprachigen Quellen (d.h. sowohl ursprünglich osmanische als auch türkische) wurden – soweit nicht anders gekennzeichnet – vom Autor ins Deutsche übersetzt. Dabei wurde der Erhalt der inhaltlichen Bedeutung stärker gewichtet als eine wortgetreue Übertragung. Bei den Übersetzungen wurde, wie in der gesamten Arbeit, im Sinne einer gendergerechten Sprache der Gendergap verwendet. Dies ist auch sprachlich näher an den Quellen, da es im Türkischen kein grammatikalisches Geschlecht gibt und eine Übersetzung ins generische Maskulinum daher eher erklärungsbedürftig wäre. Türkischsprachige Sprachbilder, Phrasen und Kollektivsymbole wurden mit entsprechenden deutschsprachigen Formulierungen übersetzt. Dabei werden in relevanten Fällen unterschiedliche deutschsprachige Varianten in Fußnoten erwähnt. Namen von Personen und Orten entsprechen, soweit möglich, den gängigen Verwendungsweisen im Türkischen.12 Lediglich kurdische Personennamen werden, soweit bekannt, in der kurdischen Fassung verwendet. Namen von Organisationen, Gesetzen u. ä. wurden zur besseren Lesbarkeit ins Deutsche übersetzt. Aus demselben Grund wurden einige türkische Begriffe mit äquivalenten deutschen Begriffen ersetzt, wie etwa Stamm (für Aşiret), Fürst (für Emir) oder Zuwanderer_innen (für Muhacir). Auch hier werden eventuelle Bedeutungsvarianten und Abweichungen in Fußnoten erläutert.

1.4Danksagung

Eine wissenschaftliche Arbeit ist nie das Werk einer einzelnen Person, deshalb ist es jetzt an der Zeit, mich bei allen Menschen zu bedanken, die mir die Erstellung meiner Dissertation ermöglicht haben. Zu besonderem Dank bin ich Frau Professorin Gudrun Hentges und Herrn Professor Kemal Bozay verpflichtet, die mit ihrem unerschöpflichen Fundus an thematischem und wissenschaftlichem Wissen wertvolle Hinweise gegeben haben und jederzeit für konstruktive Gespräche zur Verfügung standen. Ohne ihren wertvollen akademischen Rat hätte diese Arbeit nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Ebenso geht mein Dank an zahlreiche Forscher_innen, die mir durch ihre klugen Ratschläge und spannende Diskussionsbeiträge neue Perspektiven eröffnet haben. Nicht zuletzt möchte ich der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die finanzielle Förderung der Promotion im Rahmen eines Stipendiums und die ideelle Förderung im Rahmen der Studienwerkes des Stiftung danken.

1Die Formulierung »sogenannte kurdische Frage« zeigt, dass es sich um einen politischen Konflikt handelt, genauer um den Umgang des türkischen Nationalstaats mit einer multiethnischen und multireligiösen Bevölkerung. Dabei spielten die Kurd_innen aufgrund ihrer Bevölkerungsgröße und ihrer politischen Kraft zwar eine besondere Rolle, doch waren von der nationalistischen Staatspolitik der Republik Türkei auch andere nicht-türkische Bevölkerungsgruppen betroffen. So gesehen müsste eher die Rede von einer Türkeifrage als von einer kurdischen Frage sein.

2Die Rede ist von sogenannten Aufständen, da dieser Begriff zwar in der Literatur verwendet wird, es sich aber nicht um tatsächliche Aufstände handelte, sondern vielmehr um Militäroperationen des türkischen Nationalstaates, die mit angeblichen Aufständen legitimiert wurden.

3Diese Beschreibung beschränkt sich auf die sozialwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte. In Kapitel 2 werden die neueren Nationalismustheorien diskutiert und für die Arbeit relevanten Ansätze und Begriffe näher erläutert.

4Dies beschreibt die dominante Tendenz in den Debatten um Nationalstaatlichkeit. Zur gegensätzlichen Position, welche die als gegeben angesehene Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols sowie der Staatlichkeit selbst infrage stellt, vgl. Tilly 1985.

5Dabei sollen insbesondere die sogenannten Aufstände nach Gründung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 betrachtet werden. Die Konflikte in der Auflösungsphase des Osmanischen Reiches vor diesem Zeitpunkt werden in den Kapiteln 3 und 4 als Teil des geschichtlichen Hintergrunds behandelt.

6Die Begriffe Homogenisierungspolitik und Türkisierungspolitik werden hier synonym verwendet. Sie beschreiben eine staatliche Politik, die auf eine Vereinheitlichung der Bevölkerung im Sinne einer vermeintlich homogenen türkischen Nation abzielt.

7So behauptet etwa Prof. Dr. Süslü in einer Publikation der staatlichen Türkischen Historischen Gesellschaft (Türk Tarih Kurumu, TTK), das vermeintliche Griech_innen und Armenier_innen Massaker an der türkischen Bevölkerung Anatoliens verübt und die Leichen in Massengräbern verscharrt hätten – ohne allerdings dafür stichhaltige Argumente oder Nachweise zu liefern (vgl. Süslü 1993).

8Olson verwendet keine türkischen oder kurdischen Quellen, sondern verlässt sich weitgehend auf die Berichte des britischen Luftfahrtministeriums und des britischen Kolonialamts. Diese hatten allerdings aber keinen direkten Einblick in die Situation. Darüber hinaus reflektiert Olson kaum, inwiefern der Inhalt der Berichte von den außenpolitischen Interessen Großbritanniens geprägt war.

9Die Tageszeitung Cumhuriyet wurde aus inhaltlichen und recherchepraktischen Gründen exemplarisch ausgewählt. Die Cumhuriyet stand – anders als andere Medien – nicht unter direkter Kontrolle der Staatsführung oder der Staatspartei CHP. Auch wenn sie nicht wirklich unabhängig war und die Staatsideologie des Kemalismus vertrat, tauchten in der Cumhuriyet bisweilen divergente und leicht abweichende Stimmen auf. Darüber erschien die Cumhuriyet seit 1924 kontinuierlich und es gibt vollständig erhaltene Archive der Tageszeitung, was bei anderen Medien aus den 1920er- und 1930er-Jahren nicht der Fall ist.

10Die Zitierhinweise für Gesetze und Verordnungen beinhalten die Nummer des jeweiligen Gesetzes bzw. der jeweiligen Verordnung und das Datum, an dem sie beschlossen wurden. Darüber hinaus ist –soweit ermittelbar – die Veröffentlichung im Amtsblatt der Republik Türkei (bis 1927 Resmi Ceride, ab 1927 Resmi Gazete) angegeben. Anhand dieser Angaben sind die zitierten Stellen nachvollziehbar.

11Der Begriff Jungtürken wird nicht gegendert, da er eine nahezu vollständig männliche Bewegung bezeichnet.

12Davon wird in zwei Fällen abgewichen: Die Region Dersim, die 1935 durch einen staatlichen Akt in Provinz Tunceli umbenannt wurde, wird in der Arbeit weiter als Region Dersim bezeichnet. Ebenso wird das in türkischen Quellen als »Zeylantal« bezeichnete Tal der kurdischen Bezeichnung folgend Zilantal genannt. Der Grund hierfür ist, dass die Frage der Bezeichnung bereits Teil der staatlichen Homogenisierungspolitik gegenüber den Kurd_innen ist, die in dieser Arbeit analysiert und bewertet werden soll. In den entsprechenden Textabschnitten wird dieser Zusammenhang noch einmal näher erläutert.

2.Theoretischer und methodischer Rahmen

In diesem Kapitel werden drei theoretische Themenfelder angesprochen, die für die empirische Fallstudie relevant sind. Für die Analyse des türkischen Nationalstaatsbildung in den 1920er- und 1930er-Jahre und der damit zusammenhängenden sogenannten kurdischen Aufstände muss zuerst erörtert werden, was die Begriffe »Nation«, »Staat« und »Nationalstaat« bedeuten (Kapitel 2.1). Dabei soll der moderne Nationalstaat als Institution im Fokus einer Problematisierung stehen. Anschließend wird besprochen, welche Begriffe die politikwissenschaftliche Konfliktforschung zur Analyse der Beziehungen zwischen dem türkischen Nationalstaat und der kurdischen Bevölkerung anbietet (Kapitel 2.2). Da diese Begriffe sich im Verlauf der vorliegenden Untersuchung als nicht ausreichend herausgestellt haben, werden zudem Ansätze aus der Genozidforschung und der Forschung über die deutschen Kolonialkriege diskutiert. Schließlich muss die Kritische Diskursanalyse herangezogen werden, da politische und gesellschaftliche Prozesse und Ereignisse stets einen doppelten Charakter haben: eine materielle, »nicht-diskursive« Seite und eine diskursive, narrative Seite (Kapitel 2.3). Ohne einen Bezug auf die Kritische Diskursanalyse besteht die Gefahr, dass Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen diesen beiden, miteinander verwobenen Aspekten übersehen werden. Bei allen drei Themenfeldern werden lediglich die für die empirische Untersuchung relevanten Aspekte besprochen. Es wird also nicht beabsichtigt, auf wenigen Seiten einen vollständigen Überblick über die jeweiligen Theorien zu liefern, nicht zuletzt, weil ein solches Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Zudem liegt der Fokus auf theoretische Ansätze, die als kritisch und problematisierend gelten können (vgl. Tilly 1985, Bauman 1995, Hobsbawm 1990/2005).

2.1Nation, Nationalismus und Nationalstaat

Eine theoretische Debatte über Nation, Nationalismus und Nationalstaat scheint die Frage nach historischen Ursprüngen nahezulegen. Diese Frage kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Erstens als Suche nach den historischen Fußabdrücken der Nation, nach Nationalismus als der dazugehörigen Ideologie sowie nach dem Nationalstaat als der folgerichtigen politischen Institution. Hier wäre es etwa wichtig zu analysieren, wann sich bestimmte Bevölkerungsgruppen auf einer ethnischen Basis organisiert haben (Nation), wann sich ihre politischen und sozialen Vorstellungen zu einer bestimmten Ideologie verdichtet haben (Nationalismus) und wann die politische Herrschaft auf Basis dieser Ideologie aufgebaut und durch sie legitimiert wurde (Nationalstaat). Zweitens kann aus der Frage nach dem Ursprung aber auch als chronologische Analyse der Rede über die Nation verstanden werden. In diesem Fall würde man danach suchen, wann die jeweiligen Begriffe implizit oder explizit verwendet wurden, welche Autor_innen sie wie gefüllt haben und wann diese Vorstellungen eine breitere Akzeptanz bei politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten erhalten haben.

Dieser Ansatz, der sich vielfach in Abhandlungen über Nation, Nationalismus und Nationalstaat wiederfindet, wird hier allerdings nicht verfolgt. Stattdessen wird in dieser Arbeit eine Herangehensweise gewählt, dass sich am Untersuchungsgegenstand orientiert. Eine solche Analyse, die die Gründung der Republik Türkei 1923 zum Ausgangspunkt macht, muss sich weniger stark mit der Frage nach den geschichtlichen Ursprüngen von Nation und Nationalstaat beschäftigen und kann sich auf die inhaltliche Bestimmung der Begriffe konzentrieren. Zudem soll hier keine umfassende Wiedergabe unterschiedlicher Nationalismustheorien versucht werden. Stattdessen werden lediglich die für den untersuchten Fall relevanten Ansätze diskutiert. Insbesondere soll es dabei um die Entstehung, Durchsetzung und Konsolidierung des Nationalstaats einerseits gehen sowie die staatliche Homogenisierungspolitik andererseits. Die Frage, ob Nationen lediglich vorgestellte Gemeinschaften sind oder ob sie sich doch auf vorhergehende ethno-politische Konstruktionen beziehen müssen, wird hingegen weniger Raum erhalten.

Eine klare Absage wird jeglichem positiven ideologischen Bezug auf die Nation erteilt, gemäß der Aussage, dass »kein ernsthafter Historiker, der über Nationen und Nationalismus arbeitet, ein überzeugter Nationalist sein kann« (Hobsbawm 1990/2005: 24). Folglich werden Nation, Nationalismus und Nationalstaat in dieser Arbeit nicht als per se natürliche politische Ordnungsformen verstanden, sondern als von spezifischen Akteur_innen mit jeweils spezifischen Interessen formulierte und durchgesetzte Konzepte. Die Absage an eine nationalistische Geschichtswissenschaft ist eine politische Prämisse dieser Arbeit.

Bei einer ersten Annäherung an die Begriffe mag es sinnvoll erscheinen, die Nation zum Ausgangspunkt zu machen, von dem aus Nationalismus und Nationalstaat betrachtet werden. Entsprechend der Feststellung Hobsbawms, dass »nicht die Nationen […] Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt« (Hobsbawm 1990/2005: 21), wird hier jedoch der Nationalstaat zum Angelpunkt der begrifflichen Debatte. Dadurch wird auch deutlich, inwiefern State Building und Nation Building zusammenfallen. Die Erkenntnisse der historischen Forschung über die Entstehungsprozesse von Staaten können so für die Debatten um Nationalismus genutzt werden.

Was ist ein Staat?

Um zu klären, was ein Nationalstaat ist, muss zunächst definiert werden, was ein Staat ist – nicht nur aus semantischen Gründen, sondern auch, da »in almost every case statehood preceded nationhood, and not the other way around, despite a widespread myth to the contrary« (Wallerstein 1991: 81). Eine erste begriffliche Annäherung liefert die bekannte Definition von Max Weber: »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt« (Weber 1922/1980: 29). Deutlich weniger prominent, aber in seiner Systematisierung mindestens ebenso nützlich ist die Definition von Georg Jellinek (1900/1921: 394-434), für den die Übereinstimmung von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt die wesentliche Voraussetzung für Staatlichkeit ist.

In einer Zusammenfassung der Definitionen von Weber und Jellinek wird der Staat hier definiert als Zentralgewalt (Staatsgewalt), die mittels Institutionen in einem abgegrenzten Territorium (Staatsgebiet) legitime Kontrolle über eine eindeutig definierte Gruppe von Menschen (Staatsvolk) ausübt. Allerdings ist diese Definition ein Idealtyp im Sinne von Webers Denktradition. Sie berücksichtigt weder, ob dies tatsächlich die zentralen Merkmale real existierender Staaten sind, noch reflektiert diese Definition historische Entwicklungsprozesse von Staatlichkeit. Ausgangspunkt einer solchen historischen Analyse der Entstehung des modernen Staates ist die Konkurrenz verschiedener Machtzentren. Dabei war oftmals die Fähigkeit, Krieg zu führen, entscheidend: »The building up of war-making capacity likewise increased the capacity to extract. The very activity of extraction, if successful, entailed the elimination, neutralization, or cooptation of the great lord’s local rivals; this, it led to state making« (Tilly 1985: 183). »War making« führte also zu »state making«, wobei ein entstehender Staat nur erfolgreich sein konnte, wenn konkurrierende Machtzentren zerstört oder integriert wurden. Darüber hinaus musste sich ein entstehender Staat nicht nur gegen andere Machtzentren durchsetzen, sondern auch die »eigene« Bevölkerung dazu bringen, Ressourcen für die Kriegsführung bereitzustellen. Diese »capacity to extract« beinhaltete neben der blanken Gewalt, etwa um Steuern einzutreiben, auch Arrangements mit der Bevölkerung, wie beispielsweise die Verpflichtung des Staates, die Bevölkerung zu schützen, die Zusicherung von Rechten oder die Einrichtung repräsentativer Institutionen, durch die die Bevölkerung Einfluss auf den Staat ausüben konnte (vgl. Tilly 1985: 183). Diese Schutzverpflichtung des Staates ist allerdings laut dem Historiker Charles Tilly durchaus problematisch: »Since governments themselves commonly simulate, stimulate, or even fabricate threats of external war and since the repressive and extractive activities of governments often constitute the largest current threats to the livelihoods of their own citizens, many governments operate in essentially the same ways as racketeers« (Tilly 1985: 171). Mit Tillys Hinweisen auf die historischen Ursprünge verliert der Staat seine selbstverständliche und unhinterfragte Legitimität, wie sie in den Definitionen von Weber und Jellinek durchscheinen.

Wenn aber die Legitimität der staatlichen Kontrolle über Staatsvolk und Staatsgebiet nicht per se gegeben ist, so muss sie herbeigeführt bzw. reproduziert werden. Diese Legitimität ist eine notwendige Voraussetzung für dauerhafte staatliche Kontrolle: »Alle Macht strebt nach Rechtfertigung. Legitimation von Herrschaft ist ein Teil ihrer Bestandsvoraussetzung« (Trotha 1995: 7). Der Staat kann Legitimität erlangen, indem er für die Staatsbürger_innen Güter wie Sicherheit, Wohlfahrt und Repräsentation bereitstellt (vgl. Milliken/Krause 2003: 4). Dies kann als Voraussetzung für stabile Staatlichkeit verstanden werden (vgl. Clapham 2003: 28-29). Sicherheit im Sinne eines staatlich bereitgestellten Gutes bedeutet demnach »Schutz des Staatsvolkes gegen Bedrohungen von außen« und »Friedenssicherung im Inneren« (Schubert 2005: 29). Mittel hierzu sind die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols sowie die Verdrängung nichtstaatlicher Gewaltakteur_innen (vgl. Schneckener 2004: 13). Wohlfahrt kann durch zwei Maßnahmen ermöglicht werden: Zum einen durch die Bereitstellung eines Rahmens, in dem Staatsbürger_innen ökonomisch aktiv werden können, etwa durch die Sicherung des Privateigentums und marktwirtschaftlicher Strukturen (vgl. Milliken/Krause 2003: 4). Zum anderen kann Wohlfahrt auch verstanden werden als direkte Bereitstellung von Ressourcen durch den Staat, etwa in Form staatlicher Transferleistungen oder durch die Errichtung von öffentlicher Infrastruktur.

Die Bereitstellung von Sicherheit und Wohlfahrt kann aus einer vertragstheoretischen Sicht als ein einfacher Tausch zwischen der Staatsmacht und Staatsbürger_innen verstanden werden (Sicherheit und Wohlfahrt gegen Akzeptanz und Unterwerfung). Die Frage der Repräsentation ist hingegen deutlich komplizierter (vgl. Spencer/Wollman 2002: 46). Der Staat muss seinen Staatsbürger_innen politische Rechte gewähren und Institutionen schaffen, in denen sie politisch partizipieren können (wie etwa Parlamente). Dies dient dazu, die Staatsbürger_innen an den jeweiligen Staat zu binden. Nur so kann der Staat die Staatsbürger_innen und deren Ressourcen für seine Zwecke mobilisieren – etwa als Steuerzahler_innen oder Wehrpflichtige (vgl. Hobsbawm 1990/2005: 97).

Auffällig ist, dass in vielen theoretischen Debatten über Staatlichkeit das staatliche Gewaltmonopol als Befriedungsinstrument im Innern sowie als Schutz vor externen Bedrohungen verstanden, aber nicht weiter problematisiert wird. Die Zurückdrängung nichtstaatlicher Gewalt wird oftmals einfach mit Frieden gleichgesetzt. Dabei wäre es notwendig, zum einen auf die konstitutive Rolle von Krieg bei der Staatenbildung hinzuweisen (»war makes states«, Tilly 1985: 170). Zum anderen muss diese Gleichsetzung von Zurückdrängung nichtstaatlicher Gewalt mit Frieden hinterfragt werden. In vielen Fällen wurde der Staat »zu einer Agentur […], die das vorherige private Gewaltpotential bei weitem in den Schatten stellt« (Hippler 2006: 34). Zudem war die »Reduzierung der gesellschaftlichen Gewalt« häufig »mit einem Export nach außen« (Hippler 2006: 34) verbunden.

Vom Staat zum Nationalstaat

Auch wenn die Entstehung und Konsolidierung von Staaten nun erklärbar scheint, so lässt sich hieraus noch kein automatischer Übergang vom Staat zum Nationalstaat ableiten. Zentral scheint dabei der Zusammenbruch bisheriger Legitimationsmuster politischer Herrschaft zu sein (vgl. Jansen/Borggräfe 2007: 93). Die Frage, warum und wie es zu einem Bedeutungsverlust dieser alten Legitimationsmuster kam, hier allerdings nicht umfassend beantwortet werden.1 Kurz gesagt verlangte die Transformation der politischen Ordnung, in der aus Untertan_innen Bürger_innen wurden, nach einer entsprechenden Ideologie, die sie als Staatsbürger_innen ansprach und sie als Teile einer gemeinsamen politischen Gemeinschaft definierte (vgl. Hobsbawm 1990, 2005: 102-103). Die gegenseitigen Verpflichtungen zwischen dem Staat und seinen Bürger_innen (Sicherheit, Wohlfahrt und Repräsentation im Tausch gegen Akzeptanz und Unterwerfung) sollten nicht bloß ein Vertrag sein. Darüber hinaus musste eine Ideologie als Ersatz für religiöse und andere traditionelle Verpflichtungen zum Gehorsam geschaffen werden. Daher entwickelte sich beim Nationalstaat zusätzlich zu Sicherheit, Wohlfahrt und Repräsentation ein weiteres Legitimationsmittel: die »Erfindung der Nation« (Anderson 1983/2005) als »Bürgerreligion« (Hobsbawm 1990/2005: 103). Die Idee der Nation beantwortete zum einen die Frage, wer zum Staatsvolk gehört, und damit zum anderen auch die Frage, wer partizipieren darf.

In diesem Prozess konnten »vorhandene Symbole und Gesinnungen einer vornationalen Gemeinschaft« (Hobsbawm 1990/2005: 94) genutzt werden. Jedoch war eine solche »protonationale Grundlage […] keineswegs notwendig für die Herausbildung eines Nationalpatriotismus und einer nationalen Loyalität, sobald der Staat einmal gegründet wurde« (Hobsbawm 1990/2005: 95). Dementsprechend folgen »Nationen der Errichtung eines Staates« (Hobsbawm 1990/2005: 95) und nicht umgekehrt. Insgesamt wird also die Legitimation von Staatlichkeit über die Bereitstellung von Sicherheit, Wohlfahrt und Repräsentation ergänzt durch »nationalism as a societal glue« (Milliken/Krause 2003: 7). In diesem Sinne kann der Nationalismus als vierte Säule für die Legitimität des Staates verstehen werden.

Der Gärtnerstaat

Betrachtet man die Beziehungen eines Staates zu seinen Staatsbürger_innen anhand der Frage der Legitimität (also als Austausch von Sicherheit, Wohlfahrt und Repräsentation gegen Akzeptanz und Unterwerfung), so übersieht man, dass der Staat gleichzeitig noch in einer ganz anderen Beziehung zu seinen Staatsbürger_innen steht. In dieser Beziehung sind die Staatsbürger_innen keine Verhandlungspartner_innen des Staates. Vielmehr stellen sie eine Ressource und ein Mittel für die Strategien und Entwürfe des Staates dar. Dieser hat die »Kapazität […], alle gesellschaftlichen Teilbereiche im Sinne eines gesellschaftlichen Idealzustands zu regulieren« und »die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu kontrollieren« (Baum/Kron 2012: 339). Als Idealtypus eines Nationalstaats kann eine nationalen Einheit in Abstammung, Sprache und Kultur angesehen werden. Diese läuft schlussendlich auf die Formel »der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen […] Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner« (Foucault 1999: 296) hinaus. Die Verbindungen zwischen Nationalismus und Rassismus zeigen sich etwa bei der »Analogie zwischen dem Beharren von Rassismus auf der Bedeutung der Reinhaltung der Rasse und den Schrecken der Rassenmischung einerseits und andererseits [dem] Pochen […] eines sprachlichen Nationalismus auf die Notwendigkeit, die Nationalsprache von fremden Elementen zu säubern« (Hobsbawm 1990, 2005: 129). Um die »rassische« Homogenität zu erreichen und zu stärken, werden sämtliche Mittel als legitim betrachtet. Selbst der Krieg scheint »als Möglichkeit […], nicht nur die eigene Rasse durch Beseitigung der gegnerischen Rasse zu stärken […], sondern die eigene Rasse auch zu regenerieren« (Foucault 1999: 298).