Die Lady und der Butler – Das Geheimnis des Rosenzimmers - Pauline Peters - E-Book
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Die Lady und der Butler – Das Geheimnis des Rosenzimmers E-Book

Pauline Peters

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Beschreibung

Dieser Roman ist in einer früheren Ausgabe bereits unter dem Titel "Das Geheimnis des Rosenzimmers" erschienen.

Im Dienste Ihrer Majestät

London, 1907: Vor Victoria liegt eine strahlende Zukunft mit Jeremy, den sie über alles liebt. Doch Jeremy ist nicht nur Journalist, sondern auch Geheimagent für Scotland Yard. Als auf ihn ein Anschlag verübt wird, muss er untertauchen - und er bittet Victoria, England sofort zu verlassen. Diese reist daraufhin nach Bad Ems zu ihrer Großmutter. Auf ihrer Reise trifft sie den jungen russischen Arzt wieder, der Jeremy nach dem Angriff versorgt hat - ein Zufall? Mit Hilfe ihres treuen Butlers Hopinks deckt Victoria auf, dass ausgerechnet in Bad Ems das Mordkomplott, das in London begann, seinen tragischen Höhepunkt erreichen soll ...

Eine starke junge Frau, ein traditionsbewusster Butler und einer der ersten Geheimagenten Ihrer Majestät - lassen Sie sich verzaubern von diesem fesselnden Roman!

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Seitenzahl: 567

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

EPILOG

NACHWORT

DANK AN …

Weitere Titel der Autorin

Die Lady und der Butler – Das Rätsel der rubinroten Kammer

Die Lady und der Butler – Mord im Zedernhaus

Die Lady und der Butler – Das verborgene Cottage

Über dieses Buch

London, 1907: Vor Victoria liegt eine strahlende Zukunft mit Jeremy, den sie über alles liebt. Doch Jeremy ist nicht nur Journalist, sondern auch Geheimagent für Scotland Yard. Als auf ihn ein Anschlag verübt wird, muss er untertauchen – und er bittet Victoria, England sofort zu verlassen. Diese reist daraufhin nach Bad Ems zu ihrer Großmutter. Auf ihrer Reise trifft sie den jungen russischen Arzt wieder, der Jeremy nach dem Angriff versorgt hat – ein Zufall? Mit Hilfe ihres treuen Butlers Hopinks deckt Victoria auf, dass ausgerechnet in Bad Ems das Mordkomplott, das in London begann, seinen tragischen Höhepunkt erreichen soll …

Über die Autorin

Pauline Peters, geboren 1966, ist Journalistin. Ihre Leidenschaft gilt der britischen Lebensart. Sie liebt Landhäuser und Parks sowie den Afternoon Tea. In ihren mitreißenden Romanen entführt sie die Leser in eine Welt voll englischen Flairs. Das Geheimnis des Rosenzimmers spielt neben London im Bad Ems des frühen 20. Jahrhunderts, ein damals überaus beliebter Kurort bei Engländern.

PAULINE PETERS

Das Geheimnisdes Rosenzimmers

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der Originalausgabe: »Das Geheimnis des Rosenzimmers«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins Photography; © MF_Orleans/shutterstock ; © Black Creator 24/shutterstock; © tab62/shutterstock; © JETACOM AUTOFOCUS/shutterstock; © StudioByTheSea/shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0757-2

be-ebooks.de

lesejury.de

ERSTES KAPITEL

London, 1907

Die Eingangstür von Melbury Hall schwang auf, und ein Diener trat auf den sonnenbeschienenen kiesbestreuten Vorplatz. Die Besucherschlange setzte sich in Bewegung. Victoria Bredon war nun doch aufgeregt. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, ihr Vorhaben, das Anwesen heimlich zu erforschen, in die Tat umzusetzen.

In der Eingangshalle war es erstaunlich kühl. Die Wanderung vom Bahnhof der kleinen Stadt Sevenoaks in der Grafschaft Kent den steilen Hügel nach Melbury Hall hinauf hatte Victoria erhitzt. Nun war sie froh über den leichten Sommermantel, den zu tragen sie sich am Morgen entschieden hatte. Neugierig blickte sie sich um und versuchte, den kreisrunden Raum mit den Augen einer Fotografin oder Malerin zu erfassen. Ein Vorfahre des zwölften Earls of Melbury, der der derzeitige Titelinhaber war, hatte das Anwesen mit einer Kuppel im Stil des Taj Mahal ausstatten lassen, doch die Eingangshalle war klassizistisch schlicht gestaltet. Der Goldgrund der Decke bildete die einzige Extravaganz. In die Wände waren hohe Spiegel eingelassen, und für einen Moment fing Victoria ihr Spiegelbild auf – das einer jungen zierlichen Frau mit einem Strohhut, unter dem einige Strähnen lockigen roten Haares hervorlugten.

Ein Butler durchquerte nun die Halle und stellte sich auf einem der geschwungenen Treppenflügel in Positur. Der Blick, mit dem er die Besucher bedachte, war alles andere als begeistert. Er hält sicher nichts davon, dass Melbury Hall an den Augustsonntagen für die Allgemeinheit geöffnet ist, dachte Victoria amüsiert. Ein anderer Vorfahre des derzeitigen Earls hatte dies verfügt. Eine Bestimmung, die ähnlich exzentrisch war, wie einen englischen Landsitz mit einer indisch anmutenden Kuppel versehen zu lassen.

»Ladys und Gentlemen«, der Butler erhob seine Stimme, und das Getuschel der Besucher erstarb, »Lord Melbury und seine Gemahlin freuen sich, Sie auf Melbury Hall begrüßen zu dürfen. Es ist ihnen ein Anliegen, die bedeutende Kunstsammlung des achten Earls of Melbury der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich habe das Vergnügen, Sie durch fünf Räume führen zu dürfen, beginnend mit dem blauen Speisesaal und endend mit der großen Galerie. Viele der dort ausgestellten Gemälde, Möbel und sonstigen Gegenstände sind von großem Wert. Ich muss Sie bitten, sich dementsprechend zu verhalten und nichts zu berühren.«

Der Butler sah strafend einen kleinen Jungen an, der an der Hand seiner Mutter auf und ab hüpfte, dann glitt sein Blick zu einer älteren Dame in einem rosafarbenen Kleid, die sich mit ihrem Lorgnon einer Statue an der Wand näherte, und er räusperte sich laut vernehmlich. Die Lady zuckte zurück und schloss sich wieder der Gruppe an. Während der Butler die Stufen hinunterschritt, erschienen zwei Diener, die die Besucher, ähnlich wie Hütehunde eine Schafherde, zu einer Tür dirigierten.

Victoria murmelte eine Verwünschung. Mit so strengen Vorkehrungen hatte sie nicht gerechnet. Lord Joshua, der derzeitige Earl of Melbury, war ein einflussreicher Gönner der Konservativen Partei. In einem Monat würde eine Versammlung der Parteiführung auf Melbury Hall stattfinden. Die Frauenrechtlerinnen planten, das zu erwartende Presseecho zu nutzen und in das Anwesen einzudringen, um für ihre Ziele zu demonstrieren. Da Victoria unbedingt für das Frauenwahlrecht war, engagierte sie sich bei den Suffragetten. Sie hatte sich bereit erklärt, das Gebäude und den Park zu erkunden.

In dem blauen Speisesaal, der seinen Namen von der dunkelblauen Farbe der Tapete, den Vorhängen und der Seidenbespannung der Stühle hatte, ließ der Butler sich in hochmütig näselndem Tonfall über das kostbare chinesische Porzellan in dem Geschirrschrank und die niederländischen Landschaftsmalereien aus. Der in Grün gehaltene angrenzende Raum war der Salon der Familie. Victoria wurde immer ungeduldiger, während der Butler selbstgefällig auf die Porträts, die dort an den Wänden hingen, wies und erklärte, welche Mitglieder der Familie Melbury von Thomas Gainsborough verewigt worden waren.

»Lord Henry und Lady Virginia Melbury hatten zusammen sechs Kinder, von denen alle das Erwachsenenalter erreichten«, sagte der Mann jetzt und wandte sich einer Reihe von Kinderbildern an einer Wand zu, die mit dunkelgrüner Seidentapete bespannt war.

»Wie reizend die Kleinen doch sind.«

Unter den Besuchern – überwiegend Damen aus der Middleclass in gesetztem Alter – wurde entzücktes Gemurmel laut. Tatsächlich blickten die Kinder mit rosigen Wangen engelsgleich auf sie herunter. Wahrscheinlich hat der Maler sie ziemlich idealisiert dargestellt, dachte Victoria innerlich seufzend. Kein Kind ist so sanft und unschuldig.

Ach, es musste ihr gelingen, während der Führung zu entwischen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in das Anwesen eindringen sollte, wenn nicht jetzt. Aber die Diener ließen die Besucher nicht aus den Augen.

»Ladys und Gentlemen, wenn Sie mir bitte weiter folgen würden.«

Der Butler hob würdevoll seine Hand und öffnete dann eine zweiflügelige Tür, die in den nächsten Raum führte. Die Gruppe setzte sich gehorsam in Bewegung. Frustriert folgte Victoria den anderen Besuchern.

Plötzlich ertönte ein lautes Scheppern. Die Dame in dem rosafarbenen Kleid war zu nah an die Absperrung getreten, wohl um durch ihr Lorgnon einen letzten Blick auf das silberne Teegeschirr werfen zu können, das auf einem Beistelltisch dekoriert war. Dabei hatte sie einen Kerzenleuchter umgestoßen, der gegen eine Zuckerdose und ein Milchkännchen geprallt war, und im Fallen auch noch ein Marmeladenschälchen mit sich gerissen, das nun auf den Parkettboden polterte.

Die Dame kreischte bestürzt auf. »Oh, das tut mir leid.«

»Madam, ich muss doch sehr bitten …« Die Stimme des Butlers zitterte vor Entrüstung. Mit ausgestreckten Armen bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die beiden Diener eilten ihm zu Hilfe. Auch die Besucher blickten vorwurfsvoll zu der unglücklichen Delinquentin, die errötete und einem Ohnmachtsanfall nahe schien.

Victoria nutzte die Gelegenheit, um zurück in den Speisesaal zu eilen. Dort angekommen, verbarg sie sich sicherheitshalber hinter einem schweren dunkelblauen Samtvorhang, doch niemand war ihr gefolgt. Durch die Tür hörte sie den Butler schelten und über »Vandalismus« und »tölpelhaftes Benehmen« klagen. Victoria musste lächeln. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr Butler Hopkins über diesen Vorfall ebenso entsetzt gewesen wäre, auch wenn er sich zu einer derartigen Tirade gewiss nicht hätte hinreißen lassen.

Als sich die Stimme des Butlers, der seine Führung nun fortsetzte, entfernte, wagte Victoria sich hinter dem Vorhang hervor. Neben dem großen Geschirrschrank aus Mahagoniholz befand sich eine Tür. Sie war ihr zuvor schon aufgefallen. Vorsichtig betätigte sie die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt. Sie führte auf eine Hintertreppe. Victoria lauschte, doch kein Geräusch war zu hören. Mit angehaltenem Atem hastete sie die schmale Treppe hinunter. Sie endete in einem weiß gekalkten Gang, von dem zwei Türen abzweigten. Durch die Scheibe der einen konnte man in einen Wirtschaftshof sehen.

Victoria schlüpfte nach draußen und versuchte, sich zu orientieren. Ihr gegenüber befand sich eine Backsteinmauer mit einem Tor darin. Dahinter musste der Park liegen. Als sie das Tor geöffnet hatte, sah sie weitläufige Rasenflächen, die zu einem See hinunterführten. Die Terrasse von Melbury Hall war von Blumenrabatten umgeben. Zu ihrer Erleichterung war weit und breit kein Mensch zu sehen. Victoria rannte zu den hohen Hainbuchenhecken auf der anderen Seite des Gebäudes. In deren Schutz holte sie ihre Kodak-Kamera aus ihrer Handtasche und schoss rasch einige Bilder von dem Gelände.

Die Hecke umschloss einen kleinen Garten. In der Mitte eines Teiches, umgeben von Lilien, stand ein steinerner Elefant, der einen Wasserstrahl in die Luft spie. Auch diesen fotografierte Victoria, ehe sie ihren Notizblock zur Hand nahm und rasch eine Skizze anfertigte.

Ein Durchgang in der Hecke führte in einen weiteren Garten, den eine Mauer auf drei Seiten vor kalten Winden schützte. Ein Häuschen am anderen Ende war wie ein indischer Tempel gebaut, die Kuppel auf dem Dach schien eine kleinere Version der von Melbury Hall zu sein. In einem rechteckigen Bassin entdeckte Victoria wunderschöne Seerosen, zwischen denen Goldfische umherschwammen. Große Azaleen beschatteten das Wasser. Sie skizzierte auch diesen Teil der Anlage.

Trotz ihrer Anspannung konnte Victoria sich dem Charme des Ortes nicht entziehen. Der Garten würde bestimmt auch Jeremy gut gefallen, dachte sie. Jeremy …

Unwillkürlich hielt sie inne. Sehnsucht und ein warmes Gefühl der Zuneigung durchfluteten sie.Sie hatte Jeremy Ryder ein halbes Jahr zuvor kennengelernt, als sie ein lange gehütetes Familiengeheimnis gelüftet hatte. Jeremy arbeitete offiziell als Journalist und inoffiziell für die Geheimabteilung von Scotland Yard. Ihr Verhältnis war kompliziert. Victoria liebte ihn, aber sie hatte sich noch nicht entschließen können, ihm zu sagen, dass sie ihn gern heiraten würde – was auch an ihrem Engagement für die Suffragetten lag. Nein, Jeremy würde ganz sicher nicht begeistert darüber sein, dass sie sich unerlaubt im Park von Melbury Hall aufhielt und für die Frauenrechtlerinnen spionierte.

Victoria hatte eben den Auslöser der Kodak betätigt, als sich die Tür des Gartenhauses öffnete und drei Männer heraustraten. Panisch blickte sie sich um. Ach, wie hatte sie nur so unaufmerksam sein können! Rasch versteckte sie sich hinter einem Rhododendron. Doch die Männer bemerkten sie nicht, sondern gingen, in eine leise Unterhaltung vertieft, weiter.

Victoria spähte zwischen den Blättern hindurch. Der große Mann um die vierzig mit den strengen Gesichtszügen musste Lord Melbury sein. Victoria kannte ihn von Fotografien aus der Presse. Der Begleiter zu seiner Rechten war dunkelhaarig und hatte einen Schnurrbart. Er sah blendend aus, trotz der Narbe auf seiner Wange. Ja, diese verlieh ihm etwas Verwegenes, das ihn sogar noch attraktiver machte. Er trug einen maßgeschneiderten braunen Tweed-Anzug, der bestimmt von einem der teuersten Schneider in der Savile Row angefertigt worden war. Ganz offensichtlich war er ein reicher Mann, wenn nicht gar auch ein Adliger.

Der Kontrast zur Kleidung des dritten Mannes hätte kaum größer sein können. Dessen Anzug war abgetragen und ganz sicher in einem einfachen Laden oder auf einem Markt erworben. Dazu passte die Schiebermütze, die er auf dem Kopf trug. Er war muskulös und hatte ein kantiges Gesicht, auf dem sich ein Bartschatten abzeichnete. Victoria vermutete, dass er ein Arbeiter war. Trotzdem verhielt der Mann sich dem Lord und dem Aristokraten gegenüber keineswegs unterwürfig. Im Gegenteil zeugte seine Körperhaltung von Selbstbewusstsein.

Der Lord und seine Begleiter verschwanden hinter der Hecke, und Victoria wartete noch einige Minuten in ihrem Schlupfwinkel, bis sie sicher war, dass die drei Männer nicht zurückkehrten. Dann setzte sie ihren Erkundungsgang durch den Park fort. An den indisch inspirierten Garten schloss sich ein Wäldchen aus Rhododendren an, die so alt waren, dass ihre Wurzeln aus der Erde ragten und fantastisch anmutende Formen bildeten.

Dieser Rhododendronwald wird mir und meinen Mitstreiterinnen bestimmt gute Verstecke bieten, überlegte Victoria. Den Küchengarten und das Areal mit den Gewächshäusern wagte sie nicht zu betreten, denn dort würde sie gewiss der Dienerschaft begegnen. An einem warmen Tag wie diesem mussten die Pflanzen gewässert werden. Stattdessen folgte sie einem schmalen Weg, der sich an einem Bach entlang einen Hügel hinunterschlängelte und schließlich in ein kleines Tal führte. Dieses wurde durch die hohe Mauer, die den Park umgab, durchschnitten.

Victoria hatte eben wieder auf den Auslöser ihrer Kamera gedrückt, als sie sah, dass das Tor in der Mauer nur angelehnt war. Rasch lief sie näher und blickte durch den Spalt. Wie schön wäre es, wenn sie durch das Tor entwischen könnte und nicht den gefährlichen Weg zurück durch den Park und das Haus auf sich nehmen müsste. Doch auf der schmalen Landstraße vor dem Tor stand Lord Melbury vor einer Kutsche. Augenscheinlich sagte er etwas zu jemandem im Inneren des Gefährts. Als sich die Pferde in Bewegung setzten, sah Victoria seine beiden Begleiter hinter dem Fenster. Hastig wich sie zurück. Keinen Moment zu früh, denn nun kehrte der Lord in den Park zurück. Victoria presste sich gegen die Mauer. Lord Melbury schob den Riegel des Tores vor und ging dann in Richtung Haus, gleich darauf verschwand er hinter einer Wegbiegung.

Victoria klopfte das Herz bis zum Hals. Wie seltsam, dass der Lord die beiden Männer zu diesem abgelegenen Ort gebracht hat, dachte sie, und versuchte, den Riegel zu öffnen. Aber er klemmte, und sosehr sie auch daran rüttelte, er gab nicht nach. Frustriert biss sich Victoria auf die Lippen. Also musste sie doch durch das Haus entkommen.

Sie hatte das kleine Tal etwa zur Hälfte durchquert, als sie hinter sich eine männliche Stimme vernahm, die sehr verärgert klang.

»Hey, Miss, was tun Sie hier?«

Da es zwecklos war davonzulaufen, blieb Victoria stehen und drehte sich um. Ein hagerer alter Mann, der eine Harke wie eine Waffe in der Rechten hielt, marschierte auf sie zu. Er hatte einen weißen Vollbart, trug einen Bowlerhut zu Hose und Weste und strahlte Autorität aus, was Victoria vermuten ließ, dass er der Obergärtner war.

»Ich besichtige den Park. Ist das denn verboten?« Sie blickte ihn unschuldig aus ihren großen Augen an.

»Ich kann gut verstehen, dass Mr. Walters für diese Besuchstage nichts übrig hat«, knurrte der Gärtner. Mr. Walters war, nahm Victoria an, der Butler. »Jedes Mal strolcht einer der Besucher im Park umher und richtet irgendein Unheil an, trampelt über meine Beete, pflückt Blumen oder gräbt meine Pflanzenzwiebeln aus. Zeigen Sie mir bitte den Inhalt Ihrer Handtasche, Miss.«

Herrje, wie sollte sie dem Gärtner nur die Kodak und die Skizzen des Parks erklären? Zögernd öffnete Victoria die Tasche.

»Was ist das denn?«, fragte der Mann prompt, als er das Notizbuch mit den Skizzen sah.

»Ich … ich interessiere mich für Gartenarchitektur«, improvisierte Victoria. »Genau genommen absolviere ich eine Ausbildung zur Gärtnerin in Kew Gardens. Ich habe den Park gezeichnet, um mich davon inspirieren zu lassen.«

»Ausbildung zur Gärtnerin …« Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Was für ein Unsinn. Keine Frau ist in der Lage, die harte Arbeit körperlich zu verrichten, und an wirklichem Verständnis für die Botanik mangelt es ihnen auch. Und jetzt kommen Sie, Miss. Ganz in der Nähe gibt es eine Pforte, durch die verlassen Sie schön den Park.«

Victoria unterdrückte ein Lächeln und folgte dem Gärtner zu dem Ausgang. Sie hielt es für besser, den alten Mann nicht darauf hinzuweisen, dass Gertrude Jekyll eine bedeutende Gartenarchitektin war und mittlerweile einige Frauen die Ausbildung in Kew Gardens erfolgreich abgeschlossen hatten …

Victoria schob ihr Fahrrad aus dem Bahnhof Charing Cross. Dank der unfreiwilligen Hilfe des Gärtners hatte sie den Park von Melbury Hall gänzlich ungehindert verlassen können. In Sevenoaks hatte sie den Zug nach London genommen. Während sie durch die sommerlich grüne Landschaft Kents gewandert und dann mit dem Zug durch die Vororte der Metropole gefahren war, hatte sie überlegt, wie schön es wäre, sich mit Jeremy zu treffen. Sie hatte ihn jetzt seit über einer Woche nicht mehr gesehen, was ungewöhnlich war. Sie trafen sich häufig, und sie vermisste ihn, sobald sie sich trennten. Doch für diesen Tag hatte sie sich dagegen entschieden, sich mit ihm zu verabreden. Wenn Jeremy sie fragen würde, wie sie den Morgen verbracht hatte, würde er ganz sicher bemerken, dass sie ihm etwas verschwieg.

Hohe viktorianische Häuser säumten die Straße The Strand, an der der Bahnhof lag. Sonntäglich gekleidete Menschen flanierten auf den Gehsteigen. Victoria wollte eben auf ihr Fahrrad steigen, als sie im Schaufenster einer Buchhandlung einen großen Stapel Bücher entdeckte. Der Umschlag kam ihr bekannt vor. Neugierig ging sie näher. Die Bücher waren in elegantes graublaues Leinen gebunden, das mit stilisierten Lilien bedruckt war. Dazwischen stand in verschnörkelten Buchstaben Mrs. Ellinghams Haushaltsratgeber. Über dem Bücherstapel hing ein Plakat, das Mrs. Ellingham als äußerst erfolgreiche Autorin pries, deren Werk mittlerweile Hunderttausenden von Hausfrauen das Leben erleichterte.

Victoria lächelte. Die Werbung amüsierte sie, denn natürlich war sie in das Geheimnis eingeweiht, dass Mrs. Ellingham ein Pseudonym war, hinter dem sich kein anderer als Hopkins, Victorias Butler, verbarg. Seit zwei Monaten war der Haushaltsratgeber nun auf dem Markt und verkaufte sich bestens. Victoria bahnte sich ihren Weg durch die Passanten zur Straße und fuhr endgültig los.

Als Victoria die Wohnung am Green Park betrat, in der sie seit nun schon fünfzehn Jahren lebte, kam Hopkins aus der Küche. Er trug eine Schürze und Ärmelschoner, was sie vermuten ließ, dass er gerade sein geliebtes Silber polierte.

»Soll ich den Tee zubereiten, Miss Victoria?«, erkundigte er sich und half ihr aus dem Mantel.

»Ich würde mich gern frisch machen und danach Fotos entwickeln, Hopkins. Würde es Ihnen mit dem Tee in eineinhalb Stunden passen?«

»Selbstverständlich, Miss Victoria.« Der Butler verstaute ihre Handschuhe und den Hut auf der Ablage im Korridor. »Was das Abendessen betrifft, dachte ich bei diesem warmen Wetter an kalten Braten und Salat.«

»Das hört sich wunderbar an.«

Im Bad, das an ihr Zimmer grenzte, zog Victoria sich aus und wusch sich. Während sie ihr Haar kämmte, entdeckte sie ein paar neue Sommersprossen auf ihrer hellen Haut. Und das, obwohl ich einen Strohhut getragen habe, dachte sie seufzend und betrachtete ihr herzförmiges Gesicht eingehender. Ihre grünen Augen leuchteten, und ihr schön geschwungener Mund verzog sich erneut zu einem Lächeln. Victoria wusste, dass viele Menschen sie für sehr hübsch hielten. Im Allgemeinen war sie auch ganz zufrieden mit ihrem Aussehen. Aber manchmal wünschte sie sich, eine weniger empfindliche Haut zu haben und ein weniger niedliches, puppenhaftes Gesicht. Außerdem wäre es ihr lieber, weniger jung auszusehen. In eineinhalb Jahren würde sie endlich volljährig werden.

In ihrem Zimmer inspizierte Victoria ihren Kleiderschrank. Dank des Erfolgs von Mrs. Ellinghams Haushaltsratgeber hatte sich ihre und Hopkins’ prekäre finanzielle Situation entspannt, und sie hatte sich endlich ein paar neue Teile für ihre Sommergarderobe leisten können – worüber sie sehr glücklich war, denn sie liebte schöne Kleider. Victoria entschied sich für eines aus hellgrau und grün gestreiftem Musselin, das um den Ausschnitt spitzenbesetzt war.

An ihrem Schreibtisch vervollständigte sie die Karte des Parks, dann ging sie in ihre Dunkelkammer, nahm den Film aus der Kamera und entwickelte ihn. Sie kam zu dem Schluss, dass sie mit der Ausbeute dieses Nachmittags wirklich zufrieden sein konnte. Natürlich würden sich während der Versammlung der Konservativen viele Polizisten auf dem Gelände aufhalten. Trotzdem konnte es ihr und den anderen Frauen gelingen, in das Anwesen einzudringen und die Versammlung zu stören.

Jeremy wird nicht gerade glücklich sein, wenn ich festgenommen werde, überlegte Victoria. Ganz zu schweigen von meinem Großvater und Großtante Hermione … Der Duke of St. Aldwyn und Lady Glenmorag missbilligten ihr Engagement bei den Suffragetten zutiefst. Aber das war ihr gleichgültig. Nein, sie wollte nicht in einem Land leben, das Frauen in Abhängigkeit hielt und zu Bürgern zweiter Klasse degradierte, indem es ihnen das Recht zu wählen verweigerte.

Victoria sah sich die Negative rasch an. Verwundert stellte sie fest, dass sie auch Lord Melbury und seine Begleiter aufgenommen hatte. In dem Moment, als die drei Männer den indisch inspirierten Garten betreten hatten, musste sie unbewusst auf den Auslöser gedrückt haben. Nachdenklich betrachtete sie das Negativ und entschied dann, es mit den anderen Bildern zu belichten.

Während die Fotografien an der Leine trockneten, sah Victoria sie noch einmal durch. Ja, sie gaben den Park gut wieder und zeigten mögliche Verstecke. Ganz davon abgesehen fand Victoria sie auch in künstlerischer Hinsicht gelungen. Sie bedauerte es ein bisschen, dass sie die Bilder nicht an den Morning Star verkaufen konnte, für den sie häufig professionell fotografierte.

Ihr Blick blieb an der Aufnahme von Lord Melbury und seinen Begleitern hängen. Ja, etwas ist seltsam an ihnen, dachte sie. Sie entschloss sich, das Bild Hopkins zu zeigen.

Als Victoria kurze Zeit später die Tür der Dunkelkammer öffnete, wehte ihr schon der Duft frisch gebackener Scones entgegen. Auf dem langen Küchentisch standen eine Etagere, die mit Gebäck bestückt war, sowie zwei Gedecke aus feinem Porzellan. Englische Rosen in einer Kristallvase bildeten einen roten Farbtupfer. Nach dem Tod von Victorias Vater hatten sie und Hopkins es sich nicht leisten können, mehr als die Küche zu heizen. Deshalb hatten sie es sich angewöhnt, hier zu speisen. Was den Butler aber nicht daran hinderte, eisern einen gewissen Standard aufrechtzuerhalten. Er deckte stets sorgfältig ein und ließ es auch nie an einer Dekoration fehlen.

»Miss Victoria …«

Hopkins rückte ihr den Stuhl zurecht, ehe er an den Herd trat und den Kessel von der Gasflamme nahm. Victoria legte die Fotografie auf den Tisch und sah ihm zu, wie er das Wasser in die frisch polierte silberne Teekanne goss. Er war, obwohl schon Ende sechzig, ein gut aussehender Mann. Mit seinen silbergrauen Haaren und seinem würdevollen Auftreten hätte man ihn ohne Weiteres für einen im Dienst gealterten Diplomaten halten können. Victoria kannte ihn seit ihrem fünften Lebensjahr, denn er war der Butler ihres Vaters gewesen. Er hatte sie bei Kümmernissen getröstet und sie gegenüber ihren Gouvernanten in Schutz genommen.

Da Hopkins’ Sohn Richard, ein Soldat, während der Kämpfe des Mahdi-Aufstandes im Sudan gefallen war, hatte der Butler Victorias Vater gewissermaßen an Sohnes statt angenommen – seine Frau war damals schon lange verstorben gewesen. Dr. Bernard Bredon, der nachgeborene Sohn eines Herzogs und ein Lord, war ein sehr bedeutender Gerichtsmediziner gewesen. Hopkins hatte ihm bei seiner Arbeit assistiert und ihn vor seinem Tod infolge von Lungenkrebs aufopferungsvoll gepflegt. Fast zwei Jahre war das nun schon her. Da Victorias Vater ihr, außer der Wohnung, nichts hinterlassen hatte, arbeitete er unentgeltlich für sie, und sie liebte ihn wie einen exzentrischen Onkel. Auch wenn sie sich niemals die Freiheit herausgenommen hätte, ihm dies offen zu sagen.

Ja, Hopkins und Mrs. Dodgson sind meine Familie, dachte Victoria voller Zuneigung. Mrs. Dodgson, die resolute Zugehfrau, weigerte sich ebenfalls, Geld für ihre Dienste anzunehmen.

»Hopkins, ich habe einen ganzen Stapel Ihres Buches im Schaufenster einer Buchhandlung gegenüber dem Bahnhof Charing Cross gesehen«, sagte Victoria, als der Butler an den Tisch trat.

»Ich muss zugeben, ich bin durchaus zufrieden mit dem Anklang, den mein bescheidenes Werk gefunden hat.«

Hopkins räusperte sich. Was bedeutete, dass auch er vom Erfolg seines Buches überwältigt war. Er schenkte ihnen beiden Tee ein und setzte sich dann zu ihr. Es hatte Victoria einiges an Überredungskunst gekostet, ihn dazu zu bringen, denn nach seiner Ansicht war dies für einen Butler nicht schicklich. Ihren Vorschlag, ihn »Mr. Hopkins« zu nennen, hatte er höflich, aber entschieden zurückgewiesen, denn es war üblich, dass ein Butler lediglich beim Nachnamen genannt wurde.

Victoria nahm eines der Gurkensandwiches von der Etagere. »Hopkins …«, begann sie zögerlich, während sie in ihrem Tee rührte, »… ich habe heute Vormittag das Landgut von Lord Melbury besucht. Wie Sie ja wahrscheinlich wissen, sind Teile des Hauses an den Augustsonntagen für die Allgemeinheit geöffnet …«

»Eine sehr unerfreuliche Vorstellung, wenn ich dies einmal so deutlich sagen darf.«

»Der Butler von Lord Melbury und der Obergärtner sind bestimmt einer Meinung mit Ihnen …« Victoria lächelte. »Ende September wird dort eine große Versammlung der Konservativen Partei stattfinden. Ich plane, mich mit anderen Suffragetten einzuschleichen und für das Frauenwahlrecht zu demonstrieren …« Hopkins’ rechte Augenbraue wanderte ein wenig in die Höhe. Victoria hatte nie herausgefunden, was er von der Forderung nach dem Frauenwahlrecht hielt. Wenn er es darauf anlegte, konnte Hopkins undurchschaubar sein. Aber sie vermutete, dass er kein so strikter Gegner der Suffragetten war wie Mrs. Dodgson, ihr Großvater und die Großtante. »Im Park wäre ich beinahe Lord Melbury in die Arme gelaufen. Zwei Männer waren bei ihm. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig verstecken. Es ist wahrscheinlich völlig unwichtig, aber … etwas an dem Lord und seinen Begleitern kam mir merkwürdig vor. Sie wirkten so heimlichtuerisch. Und dann hat Lord Melbury die beiden auch noch zu einer abgelegenen Pforte im Park gebracht, vor der eine Kutsche wartete. Als wollte er nicht, dass jemand sie sieht …«

»Ich glaube zwar nicht, dass Lord Melbury über die Verfügung seines Vorfahren sehr glücklich ist. Aber dass seine Abscheu so weit geht, dass er während der Öffnungszeiten das Haus nicht betritt, kann ich mir auch nicht vorstellen.«

»Dann finden Sie sein Benehmen also ebenfalls seltsam?«

»Ja, das tue ich.«

»Ich habe den Lord und seine Begleiter fotografiert. Würden Sie sich die Aufnahme einmal ansehen?« Victoria zeigte Hopkins die Fotografie. »Ich dachte, vielleicht kennen Sie ja den dunkelhaarigen Mann in dem maßgeschneiderten Anzug.«

Hopkins’ Interesse war sofort geweckt. Er wischte seine Hände an der gestärkten Leinenserviette ab und studierte das Bild eingehend. »Nein, den dunkelhaarigen Gentleman kenne ich nicht«, sagte er schließlich. »Trotz seiner vornehmen Kleidung wirkt er ein bisschen … wie soll ich es formulieren … zwielichtig, nicht wahr?«

»Jetzt, wo Sie es sagen … Man könnte ihn sich gut in der Rolle eines Falschspielers oder eines triebhaften Verführers in einem Boulevardstück vorstellen.« Victoria nickte.

»Genau …« Hopkins gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. »Lord Melbury in der Gesellschaft eines Arbeiters zu sehen ist ebenfalls seltsam. Der Lord ist dafür bekannt, im Hintergrund der Politik geschickt zu manipulieren, auch wenn er als Mitglied des Oberhauses keinen direkten Einfluss ausüben kann. Vielleicht hat er den Mann ja als Spion unter den Sozialisten angeheuert. Wenn Sie mich bitte einen Moment entschuldigen würden …« Er verließ die Küche und kehrte gleich darauf mit einem Vergrößerungsglas in der Hand zurück. Wieder studierte er die Fotografie eingehend.

»Diese Narbe auf der Wange des dunkelhaarigen Gentlemans. Unter deutschen Studenten, vor allem den adligen, herrscht doch dieser barbarische Brauch, mit Degen zu fechten. Da fügt man sich schnell Verletzungen im Gesicht zu. Schmisse nennt man sie, wenn ich mich recht erinnere«. »Ihr Vater hatte einmal den plötzlichen Tod eines deutschen Aristokraten in London zu untersuchen. Jener Adlige trug genauso eine Narbe von Fechtkämpfen aus seiner Studienzeit im Gesicht.«

»Sie meinen, die Verletzung könnte einer Mensur geschuldet sein?«, fragte Victoria verblüfft.

»Genau …«

»Als Freund des Kaiserreichs ist der Lord auch nicht gerade bekannt«, sagte Victoria nachdenklich. »Was hat er mit einem Arbeiter und einem deutschen Adligen zu tun? Falls Ihre Vermutung stimmt …«

»Ich kann mich gern ein wenig umhören«, erbot sich Hopkins.

»Das wäre sehr nett.«

»Vielleicht könnte auch Mr. Ryder in dieser Frage weiterhelfen …« Hopkins’ Stimme klang eine Spur zu beiläufig.

»Ich möchte Mr. Ryder damit lieber nicht behelligen.«

»Ich verstehe.« Hopkins bestrich einen Scone mit Butter und vermied es, sie anzusehen.

Victoria unterdrückte einen Seufzer. Sie wusste, dass ihr Butler und Mrs. Dodgson Jeremy sehr mochten und es begrüßen würden, wenn sie sich endlich mit ihm verlobte. Wobei sie – abgesehen von ihrem komplizierten Verhältnis zu Jeremy – das Wort »Verlobung« furchtbar altmodisch fand.

Zu Victorias Erleichterung vermied Hopkins es, über Jeremy zu sprechen. Sie beschloss, die Zeit bis zum Abendessen zu nutzen und ihre Fotografien zu sortieren. In der Dunkelkammer standen etliche Kartons mit Aufnahmen der letzten Monate. Auf dem Teppich der Bibliothek breitete Victoria diese aus. Zwischen unzähligen Fotografien vom Themseufer entdeckte sie auch eine von Jeremy. Vor wenigen Wochen hatte sie ihn fotografiert, als sie zusammen am Embankment spazieren gegangen waren, wie sie es oft während seiner Mittagspause taten. Es war warm gewesen an diesem Tag. Es hatte Flut geherrscht, die Themse hatte fast ihren höchsten Wasserstand erreicht. Eine leichte Brise hatte geweht, und die Luft war erfüllt gewesen vom Duft nach Tang und Salz.

Mit der Fotografie in der Hand setzte Victoria sich auf das Ledersofa. Gedankenverloren betrachtete sie Jeremy. Sein hellbraunes Haar war recht kurz geschnitten, wirkte jedoch immer ein wenig verstrubbelt. Er hatte ein ebenmäßiges, sympathisches Gesicht mit kleinen Lachfalten um Mund und Augen. Das für ihn so charakteristische schiefe Lächeln ließ einen ganzen Schmetterlingsschwarm in Victorias Bauch auffliegen.

Im Hintergrund der Fotografie war ein Schiff zu sehen, das zufällig im Moment der Aufnahme den Fluss hochfuhr, aber es erschien Victoria sehr passend. Denn bei ihrem allerersten Spaziergang an der Themse hatte Jeremy ihr halb scherzhaft, halb im Ernst gestanden, dass er, wenn er in einem anderen Jahrhundert geboren worden wäre, wahrscheinlich Seefahrer oder Entdecker geworden wäre. Diese Abenteuerlust hatte ihn auch dazu veranlasst, für die Geheimabteilung von Scotland Yard zu arbeiten.

Victoria liebte Jeremys Humor, seine Selbstironie und seinen Wagemut. Und sie verdankte ihm so viel. Im Frühjahr hatte Sir Francis Sunderland, ein hochrangiger Beamter des Innenministeriums, Victoria gegenüber mysteriöse Andeutungen über ihren verstorbenen Vater gemacht. Kurz darauf war Sir Francis ermordet worden. Als sie versucht hatte, das Geheimnis, das ihren Vater umgab, zu lüften, war sie Sir Francis’ Mörder gefährlich nahe gekommen. Um nicht entdeckt zu werden, hatte er versucht, auch Victoria zu töten, und sie in der Wohnung überfallen. Wenn Jeremy sie nicht gerettet hätte, wäre sie bei lebendigem Leibe verbrannt.

Unwillkürlich berührte Victoria die Narbe auf ihrer Handinnenfläche – das einzige äußere Zeichen, das ihr von den Flammen geblieben war. Zu erfahren, dass ihr Vater, der für sie immer ein strahlender Held gewesen war, auch eine dunkle Seite gehabt hatte, hatte sie tief erschüttert. Deshalb hatte sie Jeremy gebeten, ihr Zeit zu geben.

Mittlerweile hatte Victoria ihrem Vater vergeben. Aber sie wusste nicht, wie sie und Jeremy eine Beziehung oder gar eine Ehe leben sollten. Ihr Engagement bei den Suffragetten und seine Arbeit für die Geheimabteilung von Scotland Yard waren einfach nicht miteinander vereinbar.

Victoria war froh, dass Hopkins in der Küche den Gong fürs Abendessen schlug und sie von ihren Grübeleien ablenkte.

Lord Melbury schenkte Portwein in sein Glas. Es wunderte ihn, dass seine Hand nicht zitterte und er keinen Tropfen verschüttete. Zusammen mit seinen männlichen Gästen hatte er sich nach dem Dinner in die Bibliothek zurückgezogen. Wie schon während des ganzen Abends nahm er sie wie durch einen Schleier wahr. Das, was er am Vormittag mit dem Arbeiter Walther Jeffreys und dem deutschen Adligen – instinktiv vermied er dessen Namen, denn auch wenn er wusste, dass es Unsinn war, fürchtete er, einer der Anwesenden könnte seine Gedanken lesen – vereinbart hatte, konnte seine Familie, ja sein ganzes Land in den Abgrund reißen.

»Nun, Melbury, Sie sind wahrscheinlich heilfroh, dass Sie Ihr Zuhause wieder für sich haben, nicht wahr?« Lord Kingston, ein alter Mann mit geplatzten Äderchen auf den Wangen, gesellte sich zu ihm. Er hatte den schnarrenden Tonfall des hohen Offiziers, der er gewesen war, beibehalten. »Hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, aber ich danke dem Himmel, dass keiner meiner Ahnen auf so eine absurde Idee verfallen ist. Die Vorstellung, dass das gemeine Volk in meinem Heim herumschnüffelt, ist geradezu ekelhaft.« Lord Kingston verzog angewidert den Mund. »In Ihr Schlafzimmer haben Sie den Plebs aber hoffentlich nicht gelassen?«

»Natürlich nicht.« Lord Melbury rang sich ein Lächeln ab. »Auch wenn ich vermute, dass ein Großteil der Besucher nicht wegen der Kunstsammlung gekommen ist. Die Leute wollen wissen, wie der Adel lebt. Aber mir ist lieber, das gemeine Volk, wie Sie es nannten, betritt an den Augustsonntagen Melbury Hall, statt uns ganz daraus zu vertreiben.«

»Wenn die Liberalen noch lange an der Macht bleiben und Lloyd George Premierminister wird, wird es so kommen, mein Guter. Merken Sie sich meine Worte.« Lord Kingston legte seinem Gegenüber die Hand auf den Arm. »Als Schatzkanzler versucht Lloyd George ja jetzt schon Vermögenssteuern festzulegen, die uns Adlige ruinieren. An die Vorgänge in Russland darf ich gar nicht denken. Wenn das Volk dort könnte, wie es wollte, würde es die Oberschicht samt dem Zaren massakrieren. Und ich schätze, in nicht allzu ferner Zukunft wird genau das geschehen. Hoffentlich wird uns das genug Warnung sein, um gegen die verdammten Sozialisten und Liberalen mit harter Hand vorzugehen – falls es dazu nicht schon zu spät ist.«

Lord Melbury klammerte sich an diese Worte. Vielleicht war der Plan, an dem er beteiligt war, ja doch nicht so verwerflich. Vielleicht diente er ja letztlich auch seinem Land.

ZWEITES KAPITEL

Hopkins weckte Victoria am nächsten Morgen um halb acht, indem er an ihre Tür klopfte. Außer in einem dringenden Notfall hätte er niemals das Schlafzimmer einer Dame betreten. Nachdem sich Victoria gewaschen und angezogen hatte – ein weiterer Vorteil ihrer erheblich verbesserten finanziellen Situation war, dass der Heißwasserboiler nun immer angeschaltet war –, ging sie in die Küche. Neben ihrem Platz lag die gebügelte Morgenausgabe der Times. Frisch gerösteter Toast, Butter und Marmelade standen für das Frühstück bereit.

»Guten Morgen, Miss Victoria.« Hopkins hantierte am Herd mit einer Pfanne, in der Eier und Speck brieten. »Mit der Morgenpost kam ein Brief für Sie. Aus Deutschland, der Briefmarke nach zu schließen.«

Erst jetzt bemerkte Victoria das Kuvert auf dem Silbertablett. Auf der Marke war die Germania abgebildet. Um Himmels willen, dieser Brief stammt hoffentlich nicht von meiner Großmutter, durchfuhr es sie.

Im Alter von acht Jahren hatte sie einige Monate bei Fürstin Leontine von Marssendorff in Deutschland verbracht. Victorias Vater war nach Indien gereist, um dabei behilflich zu sein, ein gerichtsmedizinisches Institut in Delhi aufzubauen. Da er Victoria das heiße Klima nicht zumuten und die Mutter seiner verstorbenen Frau ihre Enkelin kennenlernen wollte, hatte ihr Vater sie zu ihr geschickt. Die Zeit auf ihrem Schloss in Franken war Victoria nach all den Jahren immer noch in schlechtester Erinnerung. Ihre Großmutter war eine strenge und kaltherzige Frau. Victoria war schon als Kind sehr eigenwillig gewesen, und die Fürstin hatte geglaubt, darauf mit Bestrafung reagieren zu müssen. Schließlich hatte sie es nicht mehr bei ihr ausgehalten und war davongelaufen.

Beklommen nahm sie den Brief in die Hand. Doch die Schrift der Adresse ähnelte nicht der ihrer Großmutter. Und richtig, Rosalyn von Langenstein war als Absender angegeben. Neugierig schlitzte Victoria das Kuvert auf. Rosalyn war eine Internatsfreundin, die zwei Jahre zuvor einen deutschen Grafen geheiratet hatte und seitdem mit ihm am Rhein lebte. Schon seit Längerem hatte sie nichts mehr von ihr gehört.

Liebe Victoria, stand in Rosalyns ein wenig kindlicher Handschrift auf dem Briefbogen, ich habe unzählige Briefe an dich begonnen, habe sie dann aber alle wieder vernichtet. Das, was ich dir mitzuteilen habe, muss ich mündlich tun. Nur so viel: Ich benötige ganz dringend deine Hilfe, das musst du mir glauben. Wenn es nicht so unendlich wichtig wäre, würde ich dich nicht behelligen. Es handelt sich in gewisser Weise um eine Sache auf Leben und Tod. Bitte, bitte, wenn du es irgendwie einrichten kannst zu verreisen, dann besuche mich. Ich werde überglücklich sein, wenn du ein Kommen möglich machen kannst, deine Rosalyn.

»Sie haben hoffentlich keine schlechten Nachrichten erhalten?«, erkundigte sich Hopkins, stellte einen Teller mit einem kreisrund ausgestochenen Spiegelei vor sie und setzte sich dann zu ihr. Er hatte schon vor einer Weile gefrühstückt, aber es war mittlerweile ein lieb gewordenes Ritual für sie beide, dass er noch eine Tasse Tee mit ihr trank.

»Eine Freundin aus dem Internat bittet mich reichlich dramatisch, sie in Deutschland zu besuchen. Sie lebt in der Nähe von Coblenz.« Victoria butterte einen Toast und schnitt ein Stück von ihrem Spiegelei ab. Es war wachsweich, wie sie es liebte.

»Nun, eine solche Reise ließe sich momentan durchaus aus der Haushaltskasse finanzieren, sogar in der zweiten Klasse. Eine Fahrt von London per Schiff und Bahn über Köln nach Coblenz dürfte nicht mehr als vierzehn, fünfzehn Stunden dauern. Deutschland soll landschaftlich durchaus pittoresk sein und auch kulturell sehr viel zu bieten haben.«

In Hopkins’ Stimme schwang eine gewisse Reserviertheit mit. Victoria unterdrückte ein Lächeln. Wie für so viele ihrer Landsleute stellten auch für ihn England und die Kolonien den Inbegriff der Zivilisation dar, alle anderen Länder betrachtete er mit einer gewissen Skepsis.

»Rosalyn neigt zu Übertreibungen.« Victoria schüttelte den Kopf. »Bevor ich mich für eine Reise entscheide, werde ich erst einmal versuchen, sie telefonisch zu erreichen und Näheres zu erfahren.«

»Ganz, wie Sie meinen, Miss Victoria.« Hopkins nickte zustimmend. »Wie ich gestern bereits ankündigte, habe ich mich am späteren Abend in den Pubs des Regierungsviertels ein wenig umgehört.«

»Ich hörte, wie Sie die Wohnung verließen.«

Obwohl sie wusste, dass Hopkins über ein beträchtliches schauspielerisches Talent verfügte, fiel es ihr schwer, sich ihn locker plaudernd in einem Pub vorzustellen.

»Darüber, dass Lord Melbury mit deutschen Adligen gesellschaftlich verkehrt, ist nichts bekannt. Aber einige meiner Gesprächspartner, Ministeriumsmitarbeiter und Sekretäre von Parlamentariern, waren der Ansicht, es sei durchaus möglich, dass der Lord Spione in der Arbeiterschaft angeheuert habe. Schließlich besitzt er Anteile an einigen Fabriken …«

»Oh, das wusste ich gar nicht«, sagte Victoria verblüfft.

»Nachdem im vergangenen Jahrhundert die Getreidepreise wegen billiger Importe stark fielen, waren die Melburys so vorausschauend, ihr Kapital in die Industrie zu investieren. Was sie davor bewahrte, wie viele andere Landadlige, weite Flächen ihres Besitzes verkaufen zu müssen. Tatsächlich stammt mittlerweile ein großer Teil ihres Vermögens aus ihren Fabrikanteilen. Da dies nicht gerade eine Geldquelle ist, die einem Aristokraten angemessen wäre, hängen sie das allerdings nicht an die große Glocke.« Hopkins’ missbilligender Gesichtsausdruck zeigte, dass auch er diese Form des Gelderwerbs als unpassend für einen Aristokraten erachtete.

»Von Lord Melburys Warte aus gesehen, wäre es natürlich klug, Spione anzuheuern, um über mögliche aufrührerische Bestrebungen in der Arbeiterschaft rechtzeitig informiert zu sein. Ich weiß nicht recht …« Victoria unterbrach sich, während Hopkins aufstand, das benutzte Geschirr und Besteck wegräumte und ihr frisches für Toast und Marmelade brachte. »… es ist nur ein Gefühl, aber wie ein Spitzel hat der Arbeiter nicht auf mich gewirkt. Ich habe ihn zwar nur kurz gesehen, doch sein Benehmen erschien mir wirklich sehr selbstbewusst, ja zu den anderen beiden Männern ebenbürtig«, fuhr Victoria fort.

»Nun, es kann nicht schaden, wenn ich mich weiter umhöre.«

Hopkins’ blaue Augen leuchteten. Victoria vermutete, dass er sich in den vergangenen Monaten mit seinen Haushaltspflichten nicht ganz ausgelastet gefühlt hatte und dass es ihn freute, endlich wieder seiner kriminalistischen Neigung nachgehen zu können.

»Miss Bredon …« Als Victoria die Eingangshalle durchquerte, winkte Mr. Jarvis sie zu sich. Er war der Portier des eleganten mehrstöckigen Wohngebäudes, ein jovialer Mann in den Dreißigern. »Eben wurde dieser Brief für Sie abgegeben. Ich hätte ihn gleich nach oben gebracht.«

Victoria nahm das Kuvert entgegen und riss es auf. Auf dem Briefbogen stand: Komm nicht zu unserem Versammlungsraum im The Strand. Wir werden von der Polizei beobachtet. Bring deine Unterlagen zu Jemimah Kerry. Darunter war eine Adresse im Stadtteil Shoreditch angegeben.

Zorn stieg in Victoria auf. England mochte ein Parlament besitzen, aber was das Frauenwahlrecht betraf, war es eine Diktatur. Ach, wie sie die selbstgerechten Parlamentarier und die staatlichen Organe – allen voran die Polizei – hasste. Sie trugen dazu bei, die ungerechten Verhältnisse zu stabilisieren.

Doch draußen auf der Straße besserte sich Victorias Laune. Die Nacht war recht kühl gewesen, und obwohl der wolkenlos blaue Himmel einen heißen Tag ankündigte, war es noch angenehm. Ladenbesitzer hatten die Gehsteige vor ihren Geschäften mit Wasser besprengt, um den Staub zu binden.

Victoria genoss die frische Luft, während sie durch die Straßen radelte. Am Piccadilly Circus glitzerte der vergoldete Eros im Morgenlicht. Taubenschwärme umflatterten die Nelsonsäule am Trafalgar Square, ehe sie sich gurrend auf den Rändern der beiden großen Brunnen niederließen. Auch Touristen waren schon unterwegs, die Souvenirs bei den fliegenden Händlern kauften oder sich mit der Säule des berühmten Admirals im Hintergrund fotografieren ließen.

Hinter der St. Paul’s Cathedral bog Victoria nach Norden ab. Je weiter sie sich von der Innenstadt entfernte, desto ärmlicher wurden die Stadtviertel. In der Underwood Road, wo Jemimah lebte, duckte sich ein neugotisches Gebäudeensemble um eine kleine Kirche. Die grauen, rußbeschmutzten Fassaden wirkten so wenig einladend wie die zweistöckigen Backsteinhäuser, die sie umgaben. Jemimahs Wohnung befand sich im Souterrain in einem von ihnen. Victoria war es nicht geheuer, ihr Fahrrad an der Straße stehen zu lassen, deshalb trug sie es die schmale Treppe hinunter und lehnte es an die Wand.

Die Wohnungstür wurde ihr geöffnet, noch bevor sie geklopft hatte. Eine schmale Frau trat heraus. Victoria erschrak, als sie sie ansah. Die linke Gesichtshälfte und der Hals waren von Narbengewebe durchwirkt.

»Du musst Victoria Bredon sein …« Falls Jemimah ihr Entsetzen bemerkt hatte, überspielte sie es. »Komm herein.« Beklommen folgte ihr Victoria in die Wohnung, die aus nur einem einzigen dämmrigen Raum bestand. Vor dem Fenster, dem hellsten Platz, stand ein Tisch mit einer Nähmaschine. Darauf lagen die Teile eines Anzuges. Victoria vermutete, dass sich Jemimah als Heimarbeiterin verdingte, eine Tätigkeit, deren Bezahlung oft kaum zum Leben reichte. Es gab einen Herd, ein Bett, außerdem ein Regal, in dem angeschlagenes Geschirr stand. Die Möbelstücke waren allesamt abgenutzt und schadhaft. Es roch nach Schimmel. Jemimah schob die Nähmaschine zur Seite und lud Victoria mit einer Handbewegung ein, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. »Möchtest du einen Tee?«, fragte sie mit singendem, walisischem Akzent.

Victoria hatte den Eindruck, dass Jemimah gastfreundlich sein wollte und dass es sie kränken würde, wenn sie ablehnte. Deshalb nickte sie. Ihr wurde wieder einmal klar, wie privilegiert sie doch war.

Jemimah schenkte Tee aus einer Blechkanne, die auf dem Herd warm gehalten wurde, in eine Tasse, die sie Victoria reichte, und sich selbst in ein Marmeladenglas – was Victoria vermuten ließ, dass sie nur eine Tasse besaß. Sie nippte an dem Tee, der bitter schmeckte. Dann holte sie die Fotografien und Skizzen der Parkanlage von Melbury Hall aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Tisch. Da es nur den einen Stuhl gab, war Jemimah stehen geblieben. Jetzt, da sich Victorias Augen an das schlechte Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass Jemimah feines braunes Haar und zierliche Hände hatte. Ihr gesundes Auge war groß und dunkel. Victoria schätzte sie auf Mitte zwanzig. Obwohl sie so entstellt war, konnte man sehen, dass sie einmal recht hübsch gewesen war.

»Ich kenne dich nicht«, sagte Victoria, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. »Wie lange engagierst du dich denn schon bei den Suffragetten?«

»Ich hab mich erst vor ’nem Monat entschlossen mitzumachen, als ich Mrs. Pankhurst reden hörte. Die Polizei kennt mich noch nicht. Deshalb hat Mrs. Pankhurst entschieden, dass du die Sachen zu mir bringen sollst.«

Victoria nickte. »Sie ist eine mitreißende Rednerin.«

Emmeline Pankhurst war offenbar darüber informiert gewesen, dass sie den Park von Melbury Hall ausspioniert hatte. Victoria war sich darüber im Klaren, dass sie die Suffragetten wie eine Autokratin leitete und neben sich und ihren Töchtern Christabel, Sylvia und Adela niemanden sonst duldete. Aber sie war auch eine zutiefst charismatische und inspirierende Frau.

»Während Mrs. Pankhurst gesprochen hat, hab ich zum ersten Mal geglaubt, dass es für eine wie mich ein ganz anderes Leben geben kann und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen.«

»Wie ist denn …?«, begann Victoria impulsiv, ehe sie erschrocken abbrach.

Sie hatte Jemimah fragen wollen, wie sie sich die schrecklichen Narben zugezogen hatte. Doch ihr wurde bewusst, wie taktlos dies war.

»Bei ’nem Brand in ’ner Streichholzfabrik vor zwei Jahren. Es macht mir nichts aus, dass du fragst. Zehn Arbeiterinnen sind umgekommen. Ich hör sie manchmal noch in meinen Träumen schreien. Der Besitzer hat behauptet, eine der toten Frauen hätt’ das Feuer verursacht. Aber das ist nicht wahr. Der Phosphor war falsch gelagert und hat sich selbst entzündet.«

»Gab es denn keine gerichtliche Untersuchung?«

»Schon, aber es wurde im Sinne des Besitzers entschieden.«

Wie meistens in diesen Fällen, dachte Victoria bitter. Solange reiche und wohlhabende Männer die Regierung bildeten, würde sich an den schlimmen Verhältnissen in den Fabriken nie etwas ändern. Wobei vor allem Frauen die gesundheitsgefährdenden Arbeiten ausführten.

»Weshalb hast du denn die drei Männer fotografiert?«

Jemimah deutete auf das Bild, das Lord Melbury und seine Begleiter zeigte. Victoria hatte ganz vergessen, dass sie es in die Mappe zu den anderen Aufnahmen gelegt hatte.

»Ach, das war nur Zufall«, erklärte sie und wollte die Fotografie wieder an sich nehmen, als ihr eine Idee kam. »Kennst du Arbeiterinnen aus Lord Melburys Fabriken?«

»Nein, das tu ich nicht.« Jemimah schüttelte den Kopf. »Bevor es um die Versammlung der Konservativen Partei auf seinem Landgut ging, hab ich den Namen auch noch nie gehört.«

Victoria ging durch den Sinn, dass Hopkins gesagt hatte, dem Lord sei wahrscheinlich daran gelegen, dass über seine Besitzverhältnisse möglichst wenig bekannt wurde. Wahrscheinlich wussten die meisten seiner Arbeiter noch nicht einmal, für wen sie tätig waren.

»Könntest du dich einmal umhören, ob jemand ihn kennt?« Victoria deutete auf den breitschultrigen Mann mit der Schiebermütze. »Ich würde gern herausfinden, wer er ist. Möglicherweise ist er ein Spion des Lords.« Diese Erklärung erschien ihr gegenüber Jemimah am plausibelsten.

»Ich glaub zwar nicht, dass ich dir weiterhelfen kann, aber ich hör mich um.«

Jemimahs Blick wanderte zu der Nähmaschine, und Victoria begriff, dass sie sich wieder an die Arbeit setzen musste. Sie notierte ihr ihre Adresse am Green Park. Dann verabschiedete sie sich. Beim Hinausgehen sah sie, dass neben dem Fenster eine Postkarte hing, auf der ein Meeresstrand abgelichtet war. Ob Jemimah beim Nähen ab und zu einen Blick darauf warf und sich in ein anderes Leben träumte?

Als Victoria ihr Fahrrad die Treppe hinauftrug, hörte sie die Nähmaschine schon wieder rattern.

Jemimahs Schicksal verfolgte Victoria auf dem gesamten Weg zurück in die Innenstadt. Ihr Ziel war die Fleet Street, wo sich die großen Londoner Zeitungen befanden, denn sie wollte beim Morning Star um einen neuen Auftrag bitten. Auf der Straße herrschte das übliche Gedränge. Zeitungsjungen riefen die neuesten Schlagzeilen aus. Kaiser Wilhelm II. hatte sich mit dem russischen Zaren Nikolaus II. auf seiner Jacht auf der Ostsee getroffen, und in Manchester hatte ein Freier zwei Prostituierte getötet. Sandwichverkäufer sowie Obst- und Gemüsehändler zogen mit ihren Karren die Straße entlang und priesen ihre Waren an.

Victoria wollte eben das Zeitungsgebäude betreten, als sie eine vertraute Stimme ihren Namen rufen hörte. Hastig drehte sie sich um. Jeremy kam auf sie zu. Sein Hemdkragen stand offen, seine Krawatte war gelockert. Ihn so unverhofft zu sehen, brachte Victoria ganz durcheinander. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, den jungen Mann vor allen Leuten zu umarmen. Gleichzeitig wünschte sie sich plötzlich weit weg.

»Ich wollte mir gerade ein Sandwich zum Lunch holen, Victoria. Hast du Lust, später mit mir zu essen?« Sein Lächeln allein reichte, ihr Herz schneller schlagen zu lassen.

»Ich bin schon mit Constance verabredet. Wie wäre es mit morgen?« Sie bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen.

»Um drei am Bootsanleger am See in Kensington Gardens?«

»Ja, gern.« Victoria nahm wahr, wie ein Kutscher sein Pferd zu einer Tränke am Straßenrand führte und ein Zeitungsjunge wieder und wieder die Schlagzeilen verkündete. Jeremy sah sie immer noch an. Seine braunen Augen waren voller Zärtlichkeit. »Ich … äh … ich muss jetzt zu Mr. Parker«, brachte sie hervor.

»Ja, natürlich. Ich wollte dich nicht aufhalten.« Er trat zur Seite, um einen Passanten vorbeizulassen, unabsichtlich streifte er dabei Victorias Arm. Eine kurze Berührung, die einen Schauer durch ihren Körper jagte. »Victoria, ich dürfte dir das eigentlich nicht sagen …«, Jeremy hob in einer entschuldigenden Geste die Hände, »… aber falls du in irgendwelche ungesetzlichen Aktivitäten mit den Suffragetten verwickelt sein solltest, muss ich dich warnen. Scotland Yard hat den Auftrag erhalten, sehr hart gegen die Frauenrechtlerinnen vorzugehen.«

Victorias Glücksgefühl zerstob schlagartig. »Als ob uns die Polizei jemals mit Samthandschuhen angefasst hätte«, sagte sie unwirsch. »Verzeih, aber ich muss jetzt wirklich gehen.« Sie nickte Jeremy zu und eilte zum Eingang des Morning Star.

Ach, dachte sie unglücklich, während sie die Treppe zu den Redaktionsräumen hinaufstieg, warum können wir nicht in einer anderen Zeit leben – in einem Jahrhundert, in dem Jeremy tatsächlich Seefahrer oder Entdecker hätte werden können oder in dem Frauen die gleichen Rechte wie Männer besitzen?

Mr. Parker, der stellvertretende Chefredakteur des Morning Star, war ein kleiner, stets nervöser Mann. Er überlegte kurz, nachdem Victoria ihm ihr Anliegen vorgetragen hatte.

»Wie wäre es mit dem Thema Urlaub in London, Miss Bredon?«, sagte er schließlich mit einer weit ausholenden Geste. »Ja, Sommerfrische in der pulsierenden Großstadt, Momente des Innehaltens und der Entspannung im Herzen unseres geschäftigen Weltreichs … Das mögen unsere Leser bestimmt.«

Victoria versprach, im Laufe der kommenden Tage die gewünschten Fotografien abzuliefern. Von zu Hause holte sie ihre große Kamera, mit der sich qualitativ bessere Bilder als mit der Kodak aufnehmen ließen. Wie häufig, wenn Mr. Parker ihr einen Auftrag erteilte, hatte sie nicht von Anfang an ein Motiv vor Augen, sondern sie fuhr auf der Suche nach Inspirationen durch die Straßen und Grünanlagen. Allmählich verflog ihre niedergeschlagene Stimmung. Im St. James’s Park entdeckte sie einige Kinder, die mit ihrer Nanny unter einem exotischen Baum saßen und an Eiswaffeln schleckten. Eine Szene, die Victoria an ihre Zeit in Italien erinnerte. Sie hatte das Land zwei Jahre zuvor für einige Monate bereist und dann einen Reiseführer geschrieben. Auch dafür hatte sie fotografiert. Die Bilder waren sehr gut geworden. Rasch machte sie einige Aufnahmen, dann radelte sie weiter durch die geschäftigen Straßen von Mayfair und Marylebone und von dort aus am Regent’s Canal entlang. Sie mochte den Wasserweg mit den großen Gärten und den Villen an den Ufern und den Hausbooten, die dort ankerten.

Allmählich wurde es richtig heiß, und es schien Victoria kaum vorstellbar, dass der Herbst nicht mehr fern war. Ein Hausboot mit rotem Rumpf erregte nun ihre Aufmerksamkeit. Das Vorderdeck stand voller Blumentöpfe. Dazwischen saß ein Schiffer in einem Schaukelstuhl, den Hemdkragen aufgeknöpft, eine Flasche Limonade in der Hand. Er ließ sich von der Sonne bescheinen. Ein kurzer Moment der Rast in einem ansonsten oft harten Leben. Victoria hielt an und machte einige Fotografien, ohne dass der Mann sie bemerkte.

Plötzlich hörte sie eine Kirchturmuhr zweimal schlagen. Ach herrje! Über ihrer Arbeit hatte sie ganz vergessen, auf die Zeit zu achten. Um zwei war sie ja mit ihrer Freundin Constance in der Harley Street verabredet. Victoria verstaute ihre Kamera in ihrer Umhängetasche und radelte los.

Die Praxis von Constance’ Gynäkologen Dr. Fielding befand sich in einem weißen Haus, das Fenstertüren im ersten Stockwerk und einen schmalen schmiedeeisernen Balkon hatte. Victoria stellte ihr Fahrrad vor dem Gebäude ab und hastete zur Eingangstür. In dem Moment, als sie die Tür öffnete, kam ihr ein Mann entgegen. Sie war so in Eile, dass sie mit ihm zusammenstieß. Er strauchelte, sein Zylinder rutschte ihm vom Kopf und rollte die Stufen hinunter.

»O mein Gott, bitte entschuldigen Sie …« Victoria jagte dem Hut nach und bekam ihn auf der Straße zu fassen. »Wie konnte ich nur so ungeschickt sein.«

Sie reichte dem Mann den Hut. Er trug einen Gehrock und grau gestreifte Hosen – die Kleidung der besser situierten Ärzte. Sein schwarzer Vollbart war kurz geschnitten. Der Fremde, Victoria schätzte ihn auf Mitte dreißig, hatte ein attraktives, feinknochiges Gesicht, seine dunklen Augen wirkten freundlich.

»Es besteht kein Grund, sich zu entschuldigen.« Er lächelte sie an. »Es war ebenso mein Fehler wie Ihrer. Außerdem ist mir noch nie ein Hut auf so charmante Weise vom Kopf geschlagen worden.«

»Dr. Prokowski, ist alles in Ordnung?« Eine matronenhafte Krankenschwester erschien auf der Treppe.

»Ja, niemand ist zu Schaden gekommen. Noch nicht einmal mein Zylinder.« Er klopfte den Straßenstaub von seinem Hut und verbeugte sich vor Victoria. »Es war mir ein Vergnügen, Ihnen zu begegnen, Miss.«

»Oh, ganz meinerseits …«, erwiderte Victoria verlegen. Sie sah ihm nach, als er die Straße entlangging, und fragte sich, ob er wohl ebenfalls Gynäkologe war.

»Miss, falls Sie einen Termin bei Dr. Fielding haben, kommen Sie bitte herein. Ich kann nicht ewig an der Tür stehen bleiben.« Die Krankenschwester musterte Victoria missbilligend. Victoria vermutete, dass ihr einfacher grauer Baumwollrock und die weiße Bluse nicht dem Standard von Dr. Fieldings Patientinnen entsprachen.

»Ich bin mit Lady Hogarth verabredet«, erklärte sie.

»Lady Hogarth befindet sich noch im Sprechzimmer bei Dr. Fielding. Nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz.« Die Miene der Krankenschwester wurde etwas milder. Sie wies auf eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle.

Die Wände des Wartezimmers waren mit einer dunkelgrünen Seidentapete verkleidet, in die ein Blumenmuster eingewebt war. Die weiße Stuckdecke und die weiße Kamineinfassung bildeten dazu einen eleganten Kontrast. Die Stühle waren mit dem gleichen Stoff bespannt wie die Wände. Auf dem glänzend polierten Mahagonitisch lagen Zeitschriften. Victoria erwartete, die üblichen Modejournale und Gesellschaftsblätter vorzufinden, doch es gab auch die Times und den Spectator. Was, wie Victoria fand, sehr für Dr. Fielding sprach, da er seine Patientinnen anscheinend nicht nur als gebärfähige Wesen, sondern als Geschöpfe mit Verstand und Intelligenz betrachtete.

Ob ich irgendwann einen Gynäkologen aufsuchen werde, weil ich von Jeremy schwanger bin?, fragte sich Victoria, schob den Gedanken jedoch sofort beiseite. Bislang waren sie ja noch nicht einmal ein richtiges Paar. Oder doch?

Sie nahm den Spectator in die Hand. Die Politikseiten befassten sich mit dem Treffen zwischen Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaus. Sie erörterten die Frage, welche Folgen eine eventuelle Annäherung zwischen dem Kaiserreich und Russland für England nach sich ziehen würde. Schließlich hatten England und das Zarenreich kürzlich einen Beistandspakt geschlossen. Mehrere Artikel widmeten sich der angespannten politischen Situation und berichteten von Pogromen gegen Juden und Attentaten in Russland.

Eine ältere Dame, die, ihrer vornehmen Kleidung nach zu schließen, der Oberschicht oder der Aristokratie angehörte und die Victoria vage bekannt vorkam, betrat das Wartezimmer und nickte ihr frostig zu. Sie vertiefte sich in ein Modejournal.

Victoria las die Artikel über Russland. Sie sympathisierte mit den Arbeitern und der jüdischen Bevölkerung und verstand einfach nicht, wie der Zar und seine Regierung glauben konnten, mit ihrer rückständigen, repressiven Politik die Opposition auf Dauer ausschalten zu können.

»Victoria …« Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Constance in das Wartezimmer gekommen war. Die Freundin stand vor ihr und lächelte sie an. Sie trug einen Mantel aus altrosafarbener Spitze und ein farblich darauf abgestimmtes Sommerkleid aus feinem, fließendem Batist. Mittlerweile war deutlich zu erkennen, dass sie im fünften Monat schwanger war. Die ältere Dame ließ das Modejournal sinken und bedachte Constance mit einem indignierten Blick. »Hast du Lust, mit mir in Hampstead Heath spazieren zu gehen und danach bei mir zu Hause zu Abend zu essen?«

Constance hakte sich bei Victoria unter, und sie verließen das Wartezimmer und den Eingangsbereich. Lady Constance Hogarth war nicht eigentlich schön, aber ihr apartes Gesicht mit den Grübchen in den Wangen strahlte Lebendigkeit und Lebensfreude aus, was es sehr anziehend machte. Wie immer gab sie sich keine Mühe, ihren starken amerikanischen Akzent zu verbergen.

»Gern, wenn dir das nicht zu anstrengend wird.« Victoria nickte. Sie freute sich, die Freundin zu sehen.

»Dr. Fielding meinte, mit mir und dem Baby sei alles in Ordnung und Bewegung würde mir guttun.«

Constance verdrehte die Augen und grinste, nachdem die Krankenschwester die Eingangstür hinter ihnen geschlossen hatte. »Hast du bemerkt, wie mich die ältere Dame angesehen hat? Man hätte meinen können, ich sei nackt.«

»Großtante Hermione wäre von deinem Anblick auch schockiert gewesen.« Victoria lachte.

»Ich verstehe einfach nicht, weshalb die meisten englischen Damen der Ansicht sind, eine Schwangerschaft sei etwas Unanständiges und müsse durch ein Korsett versteckt werden. Dr. Fielding sieht das anders. Nun, sonst hätte ich ihn auch nicht als Gynäkologen.«

»Ein weiterer Punkt, der für ihn spricht. Neben der Tatsache, dass die Times und der Spectator in seinem Wartezimmer ausliegen.«

»Ja, ich kann Dr. Fielding uneingeschränkt empfehlen.«

Constance bedachte Victoria mit einem vielsagenden Seitenblick, und die sah verlegen weg.

Der blau-silberne Daimler der Hogarths parkte ganz in der Nähe der Praxis. Barreth, der Chauffeur, begrüßte Victoria und öffnete dann die Türen des Fonds.

»Louis hält sich noch auf Ivy Manor auf?«, erkundigte sich Victoria, während Barreth ihr Fahrrad auf dem Gepäckträger verstaute. Ivy Manor war der Landsitz der Familie Hogarth in den Cotswolds.

»Allmählich bezweifle ich, dass dieser Umbau jemals fertig wird. Ständig gibt es neue Katastrophen.« Constance stöhnte und verzog das Gesicht. »Vorgestern ist ein Wasserrohr geplatzt, was dazu geführt hat, dass der gesamte Westflügel überschwemmt wurde. Louis leistet dem Verwalter seelischen Beistand. Der Arme ist völlig fertig mit den Nerven. Stell dir vor, er hat schon mit Kündigung gedroht. Allmählich fühle ich mich an den Bau einer mittelalterlichen Kathedrale erinnert, die erst nach Jahrhunderten vollendet wurde … Ich habe Louis jedenfalls klargemacht, dass ich Ivy Manor erst mit unserem Kind betreten werde, wenn dieses scheußliche viktorianische Interieur beseitigt ist. Das arme Kleine bekommt sonst einen Schock fürs Leben.«

»Was hat Louis darauf erwidert?«

»Er meinte, er habe die viktorianische Ausstattung in seiner Kindheit auch ertragen müssen. Woraufhin ich sagte, vielleicht erkläre dies ja einige seiner seltsamen Angewohnheiten.« Constance’ Stimme war voller Wärme. Sie und Louis liebten sich sehr. Victoria empfand stets einen Anflug von Neid über ihre glückliche Ehe, wenn sie mit den beiden zusammen war. Wofür sie sich gleich darauf wieder schämte. Der Daimler fuhr jetzt am Regent’s Park entlang, eine Gegend, die von eleganten klassizistischen Reihenhäusern mit schmiedeeisernen Balkonen geprägt war. »Louis ist sehr gespannt auf die Ausstellungseröffnung am Mittwoch, und ich bin es auch.« Constance legte Victoria die Hand auf den Arm. »Du freust dich bestimmt sehr darauf …«

»Ich kann es kaum erwarten, die Gemälde meiner Mutter in der Galerie zu sehen.« Victorias verstorbene Mutter Amelie war eine bekannte Malerin gewesen. Victoria war überglücklich, dass die renommierte Galerie Slater in der Burlington Street ihre Werke ausstellen wollte.

»Denkst du, dass die Verwandten deines Vaters zur Eröffnung kommen werden?«

»Da die Ausstellungseröffnung ein gesellschaftliches Ereignis werden dürfte, ist damit zu rechnen, dass zumindest Großtante Hermione erscheinen wird. Auch wenn ich gut auf sie verzichten könnte.« Victoria seufzte. »Ich hätte übrigens nicht gedacht, dass Louis sich für Malerei interessiert. In Rom, auf eurer Hochzeitsreise, hat er sich ja nicht sehr für Museen und antike Stätten begeistern können. Er war sehr zufrieden, wenn wir beide allein losgezogen sind.« Sie hatte Constance und Louis in Rom kennengelernt.

»Er interessiert sich auch nicht für Malerei.« Constance lachte. »Wie bei so vielen englischen Adligen sind das Reiten und die Jagd seine wahren Leidenschaften, dicht gefolgt von Politik und Geschichte. Aber Louis weiß, wie viel dir diese Ausstellung bedeutet. Deshalb wird er mich zur Eröffnung begleiten.«

»Das ist sehr freundlich von ihm.« Victoria war gerührt.

Der Daimler hatte Primrose Hill mit seinen vornehmen viktorianischen Reihenhäusern passiert und das kleinstädtisch anmutende Viertel Camden durchquert, wo Jeremy in einer stillen Seitenstraße wohnte, und fuhr nun durch den Stadtteil Hampstead.

Hampstead war lange ein Dorf gewesen, wovon die Cottages mit ihren Gärten zeugten. Wenig später parkte Barreth den Wagen auf dem Parliament Hill. Victoria liebte den weiten Blick über die Stadt. Aus einem Dunstschleier ragte die Kuppel der St. Paul’s Cathedral. Während sie in Richtung Heide gingen, hakte Victoria sich bei der Freundin ein. Noch war die Landschaft sommerlich grün, aber in wenigen Wochen würde sie von einem violetten Blütenteppich überzogen sein. Ein Schäfer, der seine Herde weiden ließ, vervollkommnete die pittoreske Szenerie.

»Louis und ich würden übrigens gern nach der Ausstellungseröffnung ein kleines Fest geben, um das Ereignis zu feiern.«

»Wirklich? Das ist sehr nett von euch.«