Die Lage der arbeitenden Klasse in England - Friedrich Engels - E-Book

Die Lage der arbeitenden Klasse in England E-Book

Engels Friedrich

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Beschreibung

In seinem Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« schreibt Friedrich Engels, dass »Entbehrungen und ungenügende Befriedigung der Lebensbedürfnisse den Körper für die Ansteckung zugänglich und überhaupt die Epidemie erst furchtbar mache und rasch verbreite.« In einem Buch, das bereits 1845 geschrieben wurde, wird die Verbindung zwischen dem schlechten Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse, der schlechten Gesundheit und der leichten Verbreitung von Krankheiten hergestellt. Cholera, Typhus und Pocken flammten in den Städten immer wieder auf. Ein Fieber wütete seinerzeit in London, auch dank »schlecht gebauter, schlecht gepflegter Straßen.« Wer hätte gedacht, dass ein solches Buch heute so nah an der Realität ist? Eine weitere Ähnlichkeit ist die Diskussion über die Luftverschmutzung. Heute wird viel über die Luftverschmutzung in Großstädten geredet, aber Engels schrieb schon vor über 170 Jahren über dasselbe Thema und insbesondere über die Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern. Diese Folgen des Kapitalismus sind nicht neu. Sie haben nach wie vor einen sehr realen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen - am schlimmsten trifft es die Ärmsten der Gesellschaft. In einer aktuellen Einleitung geht Len Shail auf die heutige Lage der arbeitenden Klasse in England ein und wirft die Frage auf, wie Verbesserung erkämpft werden kann.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Lage der arbeitenden Klasse in England.

Die Arbeiterbewegung in Amerika

Vorwort [zur englischen Ausgabe (1892) der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

[Vorwort zur 2. deutschen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

Anhang [zur amerikanischen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

Impressum

Vorwort

Im Jahr 1863, während er an dem arbeitete, was später “Das Kapital” werden sollte, nahm sich Karl Marx eine Auszeit, um sich wieder mit dem frühen Meisterwerk seines Genossen und engsten Freundes Friedrich Engels zu beschäftigen: "Die Lage der Arbeiterklasse in England".

Später, in seinem fast täglichen Briefwechsel mit Engels, kommentierte Marx; "Wie frisch, leidenschaftlich, kühn vorausgreifend und ohne gelehrte und wissenschaftliche Bedenken wird hier die Sache gefasst! Und die Illusion selbst, dass morgen oder übermorgen das Resultat auch geschichtlich ans Tageslicht springen wird"1

Das Buch war das erste, das von einem der beiden großen Schaffenden veröffentlicht wurde. Es ist von bemerkenswertem Timing, dass der Manifest Verlag es für heutige und zukünftige Generationen nachdruckt, angesichts der Bedingungen und Kämpfe, mit denen die Arbeiter*innenklasse in der ganzen Welt heute konfrontiert ist. Sie sind in vielen Fällen identisch mit den entsetzlichen Bedingungen, die von einem erst 24 Jahre alten Engels beleuchtet wurden.

Engels wurde am 28. November 1820 im heutigen Wuppertal, Deutschland, geboren. Seine Familie war wohlhabend, streng christlich und besaß Baumwoll-Textilfabriken in Deutschland und Salford bei Manchester in England.

Doch schon als Jugendlicher lehnte Engels das konservative Leben und die religiösen Konventionen ab, denen er folgen sollte. Er wurde in die deutschen Industriestädte Elberfeld und Bremen geschickt, um den Familienbetrieb zu erlernen. Der jugendliche Engels wurde durch die Schrecken radikalisiert, die die aufstrebenden Arbeiter und Arbeiterinnen in diesen frühen Industriezentren erlebten.

In seinen Briefen aus Elberfeld schrieb er:

"Aber es herrscht ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt.“

"Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht."2

Während seines Militärdienstes in Berlin begegnete Engels den "Junghegelianern" und schloss sich ihnen an, ebenso wie der junge Karl Marx - obwohl sie sich erst 1842 persönlich trafen und erst bei ihrem zweiten Treffen 1844 erkannten, dass ihre Analysen und Schlussfolgerungen zum Kapitalismus übereinstimmten.

Aber es waren Engels' Erfahrungen und seine Arbeit in Manchester und Salford, die ihn fest im Herzen der sich international rasch entwickelnden Arbeiter*innenklasse verankerten und ihn ihre Sichtweise einnehmen ließen.

Als er 1842 nach Salford kam, um als Angestellter in der Fabrik seines Vaters zu arbeiten, verbrachte Engels jede Sekunde seiner Freizeit damit, in das Leben, die Arbeit, die Häuser und die Bars der bettelarmen und unterdrückten Arbeiter*innenklasse der Stadt einzutauchen.

An die britischen Arbeiter gerichtet, schreibt er...

"[...] ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen, Zeuge sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker. Ich verfuhr dabei so: Ich verzichtete auf die Gesellschaft und die Bankette, den Portwein und den Champagner der Mittelklasse und widmete meine Freistunden fast ausschließlich dem Verkehr mit einfachen Arbeitern [...]"3

Hinein in diese Welt half ihm die junge irische Fabrikarbeiterin Mary Burns, die seine Lebens- und Kampfgefährtin werden sollte. Engels lehnte die Normen und Erwartungen seiner Klassenherkunft ab, um mit Mary zu leben.

Während er die Slums von Manchester aus nächster Nähe beobachtete, machte sich Engels Notizen über deren Schrecken, insbesondere über Kinderarbeit, die verwüstete Umwelt und überarbeitete und verarmte Arbeiter*innen. Er schickte eine Trilogie von Artikeln an Marx. Diese wurden in der Rheinischen Zeitung und dann in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht und schilderten die Bedingungen der Arbeiter*innenklasse in Manchester. Als er später nach Deutschland zurückkehrte, wurden sie gesammelt in dem Buch "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" veröffentlicht.

176 Jahre sind vergangen, seit Friedrich Engels sein Meisterwerk vorstellte und damit die britische herrschende Klasse herausforderte, sich für die entsetzlichen Zustände und Leben, die er gesehen und aufgezeichnet hatte, zu rechtfertigen.

"Ich hatte während einundzwanzig Monaten Gelegenheit, das englische Proletariat, seine Bestrebungen, seine Leiden und Freuden in der Nähe aus persönlicher Anschauung und persönlichem Verkehr kennenzulernen [...] Was ich gesehen, gehört und gelesen habe, ist in vor liegender Schrift verarbeitet. Ich bin darauf vorbereitet, meinen Standpunkt nicht nur, sondern auch die gegebenen Tatsachen von vielen Seiten her angegriffen zu sehen, besonders wenn mein Buch in die Hände von Engländern gerät [...] aber ich stehe keinen Augenblick an, die englische Bourgeoisie herauszufordern: mir auch nur bei einer einzigen Tatsache, die irgendwie von Bedeutung für den Standpunkt des Ganzen ist, eine Unrichtigkeit nachzuweisen - nachzuweisen mit ebenso authentischen Belegen, wie ich sie angeführt habe."

Und doch, so viele Jahre später, existiert vieles von dem Leid und den Zuständen der Engels-Zeit noch heute in allen Ecken der Welt.

Jüngste Zahlen zeigen, dass 689 Millionen Menschen in extremer Armut leben und mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen müssen. 1,3 Milliarden Menschen - 22 % der Weltbevölkerung - leben in vielseitiger Armut, darunter 644 Millionen Kinder.

Es sind Erfahrungen wie diese von einem chinesischen Wanderarbeiter in Shenzhen: "Es gibt keine festen Arbeitszeiten. Ein 12-Stunden-Arbeitstag ist das Minimum. Uns tun immer die Beine weh. Es gibt keinen Platz zum Sitzen in der Werkhalle. Die Maschinen stehen während unserer Mittagspausen nicht still. Drei Arbeiter in einer Gruppe wechseln sich beim Essen ab, einer nach dem anderen ... Der Boden in der Werkstatt ist mit dickem Staub bedeckt. Unsere Körper werden schwarz, wenn wir Tag und Nacht in der Halle arbeiten. Wenn ich von der Arbeit komme und spucke, ist alles schwarz." Die tägliche Plackerei von Millionen arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt im Jahr 2021 unterscheidet sich wenig von den erschreckenden Szenen, die der junge Engels im Manchester der 1840er Jahre erlebte.

"In vielen Zimmern der Baumwoll- und Flachsspinnereien fliegt eine Menge faseriger Staub umher, [...] Die gewöhnlichsten Folgen dieses eingeatmeten Staubes sind Blutspeien, schwerer, pfeifender Atem, Schmerzen in der Brust, Husten, Schlaflosigkeit, [...] Die Arbeit zwischen den Maschinen veranlaßt eine Menge Unglücksfälle." .

Doch nicht nur in der neokolonialen Welt lassen sich solche Ähnlichkeiten finden,

"Er [Dr. Alison] behauptet, daß Entbehrungen und ungenügende Befriedigung der Lebensbedürfnisse den Körper für die Ansteckung zugänglich und überhaupt die Epidemie erst furchtbar mache und rasch verbreite.", kommentiert Engels die elenden Verhältnisse in den neuen urbanisierten Städten Großbritanniens um 1800. In einem Buch, das bereits 1845 geschrieben wurde, wird der Zusammenhang zwischen dem schlechten Lebensstandard der Arbeiterklasse, der schlechten Gesundheit und der leichten Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen hergestellt. Cholera, Typhus und Pocken flammten in den Städten immer wieder auf. Engels berichtet von einem Fieber, das in London wütete, verursacht durch "schlechtgebaute und -gehaltene Straßen".

Nicht viel anders stellt sich die beschleunigte Ausbreitung von COVID 19 in den ärmsten Gegenden Großbritanniens dar, wo immer noch Millionen in beengten und überbevölkerten Verhältnissen leben. Ebenso ist es bei den düsteren, oft illegalen Arbeitsbedingungen, mit denen die ärmsten Arbeiter*innen auch heute noch tagtäglich in Industrien wie der Bekleidungs- und Fleischverpackungsindustrie konfrontiert sind, wo die sie während der gesamten Pandemie zur Arbeit gezwungen wurden, ob sie das Virus haben oder nicht - alles im Namen des Profits!

Engels weist oft auf die schreckliche und tragische Situation der vielen irischen Einwanderer*innen in England hin, die meist in den gefährlichsten Berufen arbeiteten und in den schlimmsten Slums der sich schnell entwickelnden Industriestädte und Zentren des industriellen Großbritanniens lebten. Für die eingewanderten Arbeiter*innen in Großbritannien hat sich heute wenig geändert.

Die Luftverschmutzung in den Großstädten und die Umweltverschmutzung sind eine internationale Krise, aber Engels schrieb schon vor über 170 Jahren über dasselbe Thema und insbesondere über die Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern;

"Er weist in dem intelligenten Bericht des Dr. Barham nach, daß die Einatmung einer wenig sauerstoffhaltigen, mit Staub und dem Rauch des beim Sprengen gebrauchten Pulvers vermischten Atmosphäre, wie sie sich auf dem Grund der Bergwerke findet, die Lunge ernstlich affiziert, die Tätigkeit des Herzens gestört und die Verdauungsorgane erschlafft."

Diese Folgen des Kapitalismus sind nicht neu. Sie haben nach wie vor einen sehr realen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen - am schlimmsten trifft es die Ärmsten der Gesellschaft.

Es gibt eindeutig große Unterschiede zwischen dem Leben der meisten Menschen der Arbeiter*innenklasse in Großbritannien im 19. Jahrhundert im Vergleich zu heute. Eine große Anzahl von Menschen lebten ohne Schuhe, Häuser hatten keine Möbel, stattdessen Heuhaufen in der Ecke, die als Bett für ganze Familien dienten, Familien waren gezwungen, Stühle für Feuer zu zerschlagen, um sich warm zu halten.

Abwässer säumten die Straßen und die Menschen aßen verrottendes Fleisch oder verhungerten. Der extrem eingeschränkte oder gar fehlende Zugang zu medizinischer Versorgung führte dazu, dass die Menschen an vermeidbaren Krankheiten starben. Viele Kinder starben vor ihrem ersten Geburtstag.

Schon bei der Ausgabe des Buches von 1895 hatten sich die Bedingungen der Arbeiter*innenklasse drastisch verändert. In den folgenden Jahrzehnten holte die technische, wirtschaftliche und medizinische Entwicklung - verbunden mit der Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse - die Menschen zumeist aus diesen Verhältnissen heraus.

Krankengeld, NHS4, freie Wochenenden und der Wohlfahrtsstaat wurden entweder durch Kämpfe mit den Bossen und der Regierung erkämpft oder aus Angst vor einer Massenrevolte gewährt.

Doch selbst in den reichsten Volkswirtschaften der Welt ist die extreme Armut noch nicht ausgerottet. Weltweit leben Milliarden von Menschen in entsetzlichen Verhältnissen. Einer von drei Menschen hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Im Jahr 2018 starben in Großbritannien 600 Obdachlose auf der Straße. In den letzten 10 Jahren ist die Kinderarmut mit über dreißig Prozent eskaliert - in den innerstädtischen Gebieten steigt diese Zahl auf über fünfzig Proeztn. Die Unterernährung der Ärmsten in Großbritannien hat sich erneut zu einer großen Krise entwickelt, und viele tragische Todesfälle aufgrund von Hunger werden zunehmend in ganz Großbritannien gemeldet.

Engels kommentierte die Misere der Obdachlosigkeit;

"Aber bei alledem sind diejenigen noch glücklich, die nur noch ein Obdach irgendeiner Art haben - glücklich gegen die ganz Obdachlosen. In London stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen."

In Großbritannien ist die Zahl der Obdachlosen seit 2010 um 52 Prozent gestiegen, und die Zahlen aus dem Jahr 2019 zeigen, dass allein in England über 280.000 Menschen obdachlos sind, Corona wird diese Zahl noch weiter erhöht haben!

Seit 2010 wurden die Kürzungen im Gesundheits- und Sozialwesen mit 120.000 Todesfällen in Verbindung gebracht. Hinzu kommt die Pandemie, bei der die ärmsten Gebiete die höchsten Todesraten zu verzeichnen hatten.

Engels sagte: "Die Wut der Krankheit [ist] fast ausschließlich auf die arbeitende Klasse gefallen", und das gilt auch heute. Bei den systemrelevanten Arbeiter*innen, wie z. B. den Busfahrer*innen, ist die Sterblichkeit etwa dreimal so hoch wie im Durchschnitt.

Neben dem schlechten Lebensstandard und der Überbevölkerung, die Krankheiten gedeihen lässt, untersucht Engels detailliert die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen von Armutslöhnen. Die Auswirkungen auf die Körpergröße, die Entwicklung und die Gesundheit der Menschen werden behandelt. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und die Folgen für Arbeiterinnen.

Viele Menschen konnten nicht viel länger als bis zu einem Alter von 45 Jahren arbeiten. Der Grund dafür war schlechte Ernährung und gleichzeitig lange Arbeitstage. Vom Londoner East End bis zu den nördlichen Städten werden die elenden Lebensbedingungen aufgedeckt.

Es gab so viel Krankheit und Seuchen, dass die "Sanitätspolizei" eingeführt wurde. Aber selbst wenn sie mögliche Ausbruchsgebiete sperrten und säuberten, konnte sie das die riesigen Probleme von Armut, Überbelegung und mangelnder Gesundheitsversorgung nicht lösen.

Von Engels verfasst, als er gerade 24 Jahre alt war, war es nie als Manifest gedacht. Es war eine frühe Erkundung von Engels zu dieser sich neu entwickelnden Arbeiter*innenklasse ins Zentrum der industriellen Revolution - die erste Fabrik in Großbritannien war erst 1769 gebaut worden.

Engels selbst kommentierte diesen Umstand im Vorwort der ersten englischen Ausgabe im Jahr 1892 und machte deutlich, dass ein Großteil der Analyse im Buch fehlte und Ausdruck seiner eigenen politischen Entwicklung war.

"Es wird wohl kaum nötig sein zu bemerken, daß der allgemein theoretische Standpunkt dieses Buchs - in philosophischer, ökonomischer und politischer Beziehung - sich keineswegs genau deckt mit meinem heutigen Standpunkt. Im Jahre 1844 existierte der moderne internationale Sozialismus noch nicht, der seitdem, vor allem und fast ausschließlich durch die Leistungen von Marx, zu einer Wissenschaft ausgebildet worden. Mein Buch repräsentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Entwicklung. Und wie der menschliche Embryo in seinen frühesten Entwicklungsstufen die Kiemenbögen unserer Vorfahren, der Fische, noch immer reproduziert, so verrät dies Buch überall die Spuren der Abstammung des modernen Sozialismus von einem seiner Vorfahren - der deutschen Philosophie. So wird großes Gewicht gelegt auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Klasse der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos."

Natürlich weist Engels trotzdem auf den Reichtum und die Ressourcen hin, die zur Linderung der Armut verwendet werden könnten. Er verurteilte den von der herrschenden Klasse begangenen "sozialen Mord" - die Arbeiter in solcher Armut leben zu lassen, während die Reichen reicher werden - und sagte, dass die einzige wirkliche Lösung darin bestehe, "die Verwaltung der allgemeinen Interessen an die arbeitende Klasse ab[zutreten]".

Dieses Buch enthüllt die schrecklichen Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen im damals fortschrittlichsten kapitalistischen Land, aber damit auch ein klassisches Beispiel für die Entwicklung der Industrie und einer wachsenden Arbeiter*innenklasse, die "Totengräber*innen des Kapitalismus", die Engels hervorhebt. Es ist eine Lektion für die Arbeiter*innenklasse, dass ein Kampf gegen den Kapitalismus notwendig ist, um unsere Lebensbedingungen zu ändern;

"Aber der Proletarier, der gar nichts hat als seine beiden Hände, der heute verzehrt, was er gestern verdiente, der von allen möglichen Zufällen abhängt, der nicht die geringste Garantie für seine Fähigkeit, sich die nötigsten Lebensbedürfnisse zu erwerben, besitzt - jede Krisis, jede Laune seines Meisters kann ihn brotlos machen -, der Proletarier ist in die empörendste, unmenschlichste Lage versetzt, die ein Mensch sich denken kann. Dem Sklaven ist wenigstens seine Existenz durch den Eigennutz seines Herrn gesichert, der Leibeigne hat doch ein Stück Land, wovon er lebt, sie haben wenigstens für das nackte Leben eine Garantie - aber der Proletarier ist allein auf sich selbst angewiesen und doch zugleich außerstande gesetzt, seine Kräfte so anzuwenden, daß er auf sie rechnen kann. [...] Entweder sucht er sich in diesem Strudel oben zu halten, seine Menschheit zu retten, und das kann er wieder nur in der Empörung gegen die Klasse, die ihn so schonungslos ausbeutet und dann seinem Schicksal überläßt, die ihn zu zwingen sucht, in dieser, eines Menschen unwürdigen Lage zu bleiben.”

Doch Engels Beobachtungen über das Leben und die Verhältnisse sind nicht alles, was sich auf das Heute beziehen lässt.

Engels widmet ein Kapitel der Frage der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung, er wirft die Frage der Gewerkschaftsbürokratie auf und es sind einige seiner frühesten Analysen und Ideen zu der Frage, wie Sozialist*innen innerhalb der Gewerkschaften arbeiten.

Viele der von Engels aufgeworfenen Fragen und Aufgaben, vor denen die Arbeiter*innenklasse steht, haben auch heute noch Gültigkeit, vieles aus Engels' und Marx' Schriften ist auch heute noch äußerst relevant - zum Beispiel Engels' Beobachtungen über die Entwicklung der nationalen Tendenzen der Gewerkschaften im Kapitalismus. Das CWI5 ist stolz darauf, diese Tradition und das Verständnis für die Bedeutung und zentrale Rolle der Gewerkschaften und des Arbeiterkampfes für die Sozialisten fortzuführen

Eine erhellende Beobachtung von Engels gibt einen Einblick in die potenzielle gigantische Stärke der britischen Arbeiter*innenklasse, die auch heute noch gilt;

"Diese Strikes sind allerdings erst Vorpostenscharmützel, zuweilen auch bedeutendere Gefechte; sie entscheiden nichts, aber sie sind der sicherste Beweis, daß die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie herannaht. Sie sind die Kriegsschule der Arbeiter, in der sie sich auf den großen Kampf vorbereiten, der nicht mehr zu vermeiden ist; [...] man [wird] finden, daß alle Arbeiter der Städte und der ländlichen Industrie sich zu Assoziationen vereinigt und von Zeit zu Zeit durch allgemeines Feiern gegen die Herrschaft der Bourgeoisie protestiert haben..

Und als Kriegschule sind sie von unübertrefflicher Wirkung. In ihnen entwickelt sich die eigentümliche Tapferkeit des Engländers. Es heißt auf dem Kontinent, die Engländer [Engels mein die britischen Arbeiter*innen] und besonders die Arbeiter seien feig, sie könnten keine Revolution machen, weil sie nicht gleich den Franzosen jeden Augenblick Emeuten machen, weil sie sich das Bourgeoisie-Regime so scheinbar ruhig gefallen lassen. Dies ist ganz falsch. Die englischen Arbeiter geben keiner Nation an Mut etwas nach, sie sind ebenso unruhig wie die Franzosen, aber sie kämpfen anders."

In dem Buch wirft Engels auch die Frage nach der Notwendigkeit einer unabhängigen politischen Vertretung für die Arbeiter*innenklasse auf und stellt die Notwendigkeit für Sozialist*innenen heraus, eine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, um für die Veränderung der Gesellschaft entlang sozialistischer Linien zu kämpfen, was für die Socialist Party und ihre Genoss*innen im Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale auch heute noch zentral und dringend ist.

Das Buch enthält einige der ersten und frühen Punkte von Engels darüber, wie Sozialist*innen unter den Massen arbeiten und wie eine solche Partei entstehen könnte. In vielerlei Hinsicht berührt er Elemente der Übergangsmethode, die Trotzki später in den 1930er Jahren entwickelt hat und um die wir im CWI unsere Methode der Programmgestaltung zentriert haben.

"Wir sehen also, daß die Arbeiterbewegung in zwei Sektionen gespalten ist, in die Chartisten und Sozialisten. Die Chartisten sind am weitesten zurück, am wenigsten entwickelt, dafür aber echte, leibhaftige Proletarier, die Repräsentanten des Proletariats. Die Sozialisten weiterblickend, praktische Mittel gegen die Not. vorschlagend, aber ursprünglich von der Bourgeoisie ausgegangen und dadurch nicht imstande, sich mit der Arbeiterklasse zu amalgamieren. Die Verschmelzung des Sozialismus mit dem Chartismus, die Reproduktion des französischen Kommunismus auf englische Weise wird das nächste sein und hat teilweise schon angefangen. Dann erst, wenn dies bewerkstelligt, wird die Arbeiterklasse wirklich die Herrscherin von England sein - die politische und soziale Entwicklung wird inzwischen vorwärtsgehen und diese neuentspringende Partei, diesen Fortschritt des Chartismus begünstigen."

In seinem späteren Vorwort zur englischen Ausgabe von 1892 teilt Engels seine Ausführungen über die frühe Entwicklung dessen, was die Arbeiter*innenpartei werden sollte. Vieles von dem, was Engels zu diesen frühen Phasen sagt, wie eine Arbeiter*innenpartei den Durchbruch schaffen könnte, gilt auch heute noch, da sich die Arbeiter*innenpartei (die Sozialdemokratie Anm. d. Ü.) im späteren 20. Jahrhundert zu einer vollwertigen kapitalistischen Partei entwickelt hat und nicht mehr die Arbeiter*innenpartei ist, die Engels beschreibt und auf die er sich bezieht.

"Seit ich Vorstehendes vor sechs Monaten schrieb, hat die englische Arbeiterbewegung wieder einen guten Schritt vorwärts getan. Die Parlamentswahlen, die seit einigen Tagen hinter uns liegen, haben den beiden offiziellen Parteien, den Konservativen wie den Liberalen, die Kundmachung in aller Form zugestellt, daß sie beide von nun an mit einer dritten Partei, der Arbeiterpartei, zu rechnen haben. Diese Arbeiterpartei ist erst in der Bildung begriffen; ihre Elemente sind noch damit beschäftigt, überkommene Vorurteile aller Art - bürgerliche, altgewerkschaftliche, ja selbst schon doktrinär-sozialistische - abzuschütteln, damit sie sich endlich auf dem ihnen allen gemeinsamen Boden zusammenfinden können. Und doch war der sie zusammenführende Instinkt schon jetzt so groß, daß er Wahlresultate erzeugte, wie sie bisher in England unerhört. In London stellen sich zwei Arbeiter |James Keir Hardie und John Burns| zur Wahl, und zwar offen als Sozialisten; die Liberalen wagen nicht, ihnen einen der ihrigen entgegenzustellen, und die zwei Sozialisten gehn mit überwältigender und unerwarteter Majorität durch"

"Der Aberglaube an die "große liberale Partei", der die englischen Arbeiter fast vierzig Jahre beherrscht hat, ist gebrochen. Sie haben an schlagenden Beispielen gesehn, daß sie, die Arbeiter, die entscheidende Macht in England sind, wenn sie nur wollen und wissen, was sie wollen; und die Wahlen von 1892 waren der Anfang des Wissens und des Wollens.[...] die englische Arbeiterpartei [...] auch wohl hinreichend konstituiert sein, um dem Schaukelspiel der beiden alten, einander an der Regierung ablösenden und eben dadurch die Bourgeoisherrschaft verewigenden Parteien demnächst ein Ende zu machen."

1895, nach Engels' Tod, fasste Lenin prägnant zusammen, was ihn auszeichnete: "Engels aber hat als erster gesagt, daß das Proletariat nicht nur eine leidende Klasse ist; daß gerade die schmachvolle wirtschaftliche Lage, in der sich das Proletariat befindet, es unaufhaltsam vorwärtstreibt, und es zwingt, für seine endgültige Befreiung zu kämpfen. Das kämpfende Proletariat aber werde sich selbst helfen."

In mancher Hinsicht nahm Engels Marx hinsichtlich der Rolle der Arbeiter*innenklasse und des Sozialismus vorweg. Dies geschah durch seine Erfahrungen in England, insbesondere in den frühen 1840er Jahren, mit der Chartistenbewegung - der ersten unabhängigen Bewegung der Arbeiter*innenklasse in der Geschichte.

Engels' Erfahrungen in Nordwestengland und die anschließende Veröffentlichung dieses Buches trugen dazu bei, den Eckpfeiler der Arbeit von Marx und Engels zu begründen - dass die Arbeiter*innenklasse die entscheidende Kraft in der Gesellschaft sein würde und dass sie, wenn sie zu einer Klasse für sich selbst wird, die Gesellschaft entlang sozialistischer Linien umgestalten könnte - eine Idee, die für ihre Zeit an sich revolutionär war und in der Analysemethode von Marx und Engels verwurzelt war.

Marx und Engels hatten sich fast gleichzeitig von der Annahme der "idealistischen" Philosophie ihres großen Lehrers Hegel zu den Ideen des "dialektischen Materialismus" entwickelt. "Dialektik" ist die Denkmethode, die den allseitigen Charakter, die Widersprüche und die Wechselwirkung von Ereignissen und Prozessen zu verstehen sucht. Sie "drehten Hegel um" und stellten ihn "vom Kopf auf die Füße" und verwarfen damit Hegels idealistischen Standpunkt.

Hegel glaubte, Ideen und Gedanken kämen von außerhalb der Evolution der Natur, der Menschheit und der sozialen Beziehungen und seien quasi-religiös. Aber Marx und Engels argumentierten, dass Ideen und das Bewusstsein der Menschen Ausdruck der materiellen Kräfte sind, die Individuen und Gesellschaften formen. Das heißt, sie sind Produkte von sozialen Kämpfen, Ereignissen, Entwicklungen in der Wirtschaft, Beziehungen zwischen sozialen Klassen usw. Diese sind der treibende Impuls der Geschichte.

Engels starb im Jahr 1895. Wie sein bester Freund und Genosse Karl Marx sind seine Beiträge zu den Kämpfen der Arbeiter*innenklasse heute so wichtig und entscheidend wie zu ihrer Zeit.

Der Kapitalismus hat die Gesellschaft immens vorangebracht. Überall um uns herum sehen wir die riesigen Fortschritte in Technologie, Wissenschaft und Verständnis. Dennoch leben wir in einer Welt, in der Lebensstandard, Lebenserwartung, Gesundheit und die Fähigkeit, das Leben zu genießen, zurückgedrängt werden. In vielen Teilen der Welt sind die schrecklichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Engels in Manchester erlebte, heute nicht viel anders.

Eine Lektüre oder erneute Lektüre der “Lage der Arbeiterklasse in England” wird eine größere Entschlossenheit stiften, im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Armen zu kämpfen, so wie es Engels und Marx getan haben hat.

Das Buch trug dazu bei, Engels und Marx zu den Analysen, Ideen und Methoden zu führen, die ihre späteren großen Werke wie das “Kommunistische Manifest” und “Das Kapital” prägten. Und die Aufgaben, die Marx und Engels vor über 170 Jahren für Sozialist*innen zum Aufbau von Arbeiter*innenparteien auf der ganzen Welt stellten, um für die Veränderung der Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen zu kämpfen, sind für die Socialist Party und ihre Genoss*inen im Komitee für eine Arbeiterinternationale auch heute noch zentral.

Nur durch eine erfolgreiche sozialistische Revolution, für die Engels und Marx gekämpft haben, kann die Menschheit beginnen, all die enorme Wissenschaft, Technologie und den Reichtum, der durch das Werk der Arbeiter*innen in der Klassengesellschaft existiert, zu nutzen und zu planen. Dann, wenn "sich die Proletarier*innen aller Länder vereinigen", wird es möglich sein, eine harmonische Welt zu schaffen, in der die Schrecken des Kapitalismus entschlossen “auf den Müllhaufen der Geschichte” geworfen werden.

Len Shail im März 2021

Mitglied im Bundesvorstand der Socialist Party England und Wales und regionaler Organiser in den West Midlands

Friedrich Engels

(Brief an Engels vom 9. April 1863)↩

Aus: Briefe aus dem Wuppertal, März 1839 in: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 413-432.↩

In der Sprache seiner Zeit schloss "Arbeiter" arbeitende Frauen ein.↩

Das nach dem 2. Weltkrieg errichtete öffentliche Gesundheitssystem in Großbritannien.↩

Committee for a Workers‘ International – Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale, der die Socialist Party in England und Wales angehört, die deutsche Sektion ist die Sozialistische Organisation Solidarität – Sol.↩

Die Lage der arbeitenden Klasse in England.

Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen

Geschrieben Mitte November 1844 bis Mitte März 1845 in Barmen.

Die erste Ausgabe des Buches erschien 1845 in deutscher Sprache in Leipzig. Eine "Zweite durchgesehene Auflage" in die Engels die mit (1892) gekennzeichneten Fußnoten einfügte, erschien 1892 in Stuttgart. Zu dieser Zeit waren auch zwei autorisierte Übersetzungen des Buches in englischer Sprache herausgekommen (New York 1887 und London 1892). Die Vorreden zur amerikanischen Ausgabe von 1887 und zur deutschen Ausgabe erscheinen chronologisch später.

Die Arbeiterbewegung in Amerika

[Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

["Der Sozialdemokrat" Nr. 24 und 25 vom 10. und 17. Juni 1887]

Zehn Monate sind verflossen, seit ich, auf Wunsch der Übersetzerin1, den "Anhang" zu diesem Buch schrieb. Während dieser zehn Monate hat sich in der amerikanischen Gesellschaft eine Revolution vollzogen, die in jedem andern Lande mindestens zehn Jahre gebraucht hätte. Im Februar 1886 war die öffentliche Meinung Amerikas einstimmig in diesem einen Punkt: daß in Amerika eine Arbeiterklasse - im europäischen Sinn - überhaupt nicht bestehe2; daß folglich ein Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten, wie er die europäische Gesellschaft entzweireißt, in der amerikanischen Republik unmöglich sei; und daß daher der Sozialismus ein von außen eingeführtes Gewächs sei, unfähig, im amerikanischen Boden Wurzel zu fassen. Und doch warf gerade damals der hereinbrechende Klassenkampf bereits seinen Riesenschatten vor sich her in den Streiks der pennsylvanischen Kohlengräber und vieler andern Gewerke, und ganz besonders in den Vorbereitungen - in allen Gegenden des Landes - zur großen Achtstundenbewegung, die für den Monat Mai angesetzt war und im Mai auch wirklich erfolgte. Daß ich schon damals diese Anzeichen richtig erkannte, daß ich eine Bewegung der Arbeiterklasse auf nationalem Maßstab voraussah, zeigt mein "Anhang". Was aber niemand voraussehn konnte, das war, daß die Bewegung in so kurzer Zeit mit solch unwiderstehlicher Kraft losbrechen, daß sie um sich greifen werde mit der Schnelligkeit eines Präriebrandes, daß sie schon jetzt die amerikanische Gesellschaft erschüttern werde bis in ihre Grundfesten.

Die Tatsache ist da, unangreifbar, unbestreitbar. Welchen Schrecken sie unter den herrschenden Klassen Amerikas verbreitet hat, wurde mir, in erheiternder Weise, offenbar durch amerikanische Journalisten, die mich vorigen Sommer mit ihrem Besuche beehrten; die neue Bewegung hatte sie in einen Zustand hülfloser, jammervoller Angst versetzt. Und doch war damals die Bewegung noch erst im Entstehen, bestand nur erst aus einer Reihe verworrener, scheinbar zusammenhangsloser Zuckungen jener Klasse, die durch die Unterdrückung der Negersklaverei und durch die rasche, industrielle Entwicklung zur untersten Schicht der amerikanischen Gesellschaft geworden war. Aber schon vor Ablauf des Jahres zeigte sich, wie diese fremdartigen sozialen Krampfanfälle mehr und mehr nach einer bestimmten Richtung hin verliefen. Die spontanen, instinktiven Bewegungen dieser ungeheuren Arbeitermassen, ihre Verbreitung über ein ungeheures Landgebiet, der überall gleichzeitige Ausbruch ihrer gemeinsamen Unzufriedenheit mit einer elenden gesellschaftlichen Lage, überall dieselbe und denselben Ursachen geschuldet - alles das brachte diesen Massen die Tatsache zum Bewußtsein, daß sie eine neue, besondere Klasse in der amerikanischen Gesellschaft bildeten, eine Klasse von tatsächlich mehr oder weniger erblichen Lohnarbeitern, Proletariern. Und mit echt amerikanischem Instinkt führte dies Bewußtsein sie sofort zum nächsten Schritt zu ihrer Befreiung: zur Bildung einer politischen Arbeiterpartei mit eigenem Programm und mit der Eroberung des Kapitels und des Weißen Hauses als Ziel. Im Mai die Kämpfe um den achtstündigen Arbeitstag, die Unruhen in Chicago, Milwaukee usw., der Versuch der herrschenden Klassen, die aufkeimende Arbeiterbewegung durch rohe Gewalt und brutale Klassenjustiz zu unterdrücken; im November die junge Arbeiterpartei schon organisiert in allen großen Zentren, die Wahlen in New York, Chicago und Milwaukee. Mai und November erinnerten bisher den amerikanischen Bourgeois nur an die Verfallzeiten der Kupons der amerikanischen Staatsschuld; Mai und November werden sie von nun an auch an die Verfalltage erinnern, an denen das amerikanische Proletariat zum ersten Mal seine Kupons zur Zahlung präsentierte.

In europäischen Ländern brauchte die Arbeiterklasse Jahre und abermals Jahre, bis sie vollständig begriff, daß sie eine besondere und, unter den bestehenden Umständen, ständige Klasse der modernen Gesellschaft bildet. Und wiederum brauchte sie Jahre, bis dies Klassenbewußtsein sie dahin führte, sich zu einer besonderen politischen Partei zusammenzutun, einer Partei, die allen alten, von den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klassen gebildeten Parteien unabhängig und feindlich gegenübersteht. Auf dem begünstigteren Boden Amerikas, wo keine feudalen Ruinen den Weg versperren, wo die Geschichte anfängt mit den im 17. Jahrhundert schon herausgearbeiteten Elementen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, hat die Arbeiterklasse diese beiden Stufen ihrer Entwicklung in nur zehn Monaten durchgemacht.

Trotzdem ist das alles nur der Anfang. Daß die arbeitenden Massen die Gemeinsamkeit ihrer Beschwerden und Interessen fühlen, ihre Solidarität als Klasse gegenüber allen anderen Klassen; daß sie, um diesem Gefühl Ausdruck und Wirksamkeit zu geben, die zu solchem Schritt in jedem freien Lande bereitgehaltene politische Maschinerie in Bewegung setzen - das ist immer nur der erste Schritt. Der nächste Schritt besteht darin, das gemeinsame Heilmittel für diese gemeinsamen Leiden zu finden und in dem Programm der neuen Arbeiterpartei zum Ausdruck zu bringen. Und dieser Schritt - der wichtigste und schwierigste der ganzen Bewegung - ist in Amerika noch zu tun.

Eine neue Partei muß ein bestimmtes positives Programm haben, ein Programm, dessen Einzelheiten wechseln mögen mit den Umständen und mit der Entwicklung der Partei selbst, aber immerhin ein Programm, worüber die Partei in jedem gegebenen Augenblick einig ist. Solange dieses Programm noch nicht herausgearbeitet ist, solange wird auch die Partei nur noch als Keim existieren; sie mag lokale Existenz haben; aber keine nationale; sie mag eine Partei sein ihrer Bestimmung nach, aber noch nicht in der Wirklichkeit.

Welches aber auch die ursprüngliche Gestalt dieses Programms sein mag, so muß es sich stets fortentwickeln in einer Richtung, die im Voraus bestimmt werden kann. Die Ursachen, die zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse eine abgrundtiefe Kluft gerissen haben, sind dieselben in Amerika wie in Europa; die Mittel, diese Kluft auszufüllen, sind gleichfalls überall dieselben. Und daher muß das Programm des amerikanischen Proletariats, je weiter die Bewegung sich entwickelt, umso mehr zusammenfallen mit dem, welches nach sechzig Jahren des Zwistes und der Debatten das allgemein angenommene Programm des europäischen streitbaren Proletariats geworden ist. Es wird, wie dieses, als schließliches Ziel proklamieren die Eroberung der politischen Herrschaft durch die Arbeiterklasse als Mittel zur direkten Aneignung aller Produktionsmittel - Boden, Eisenbahnen, Bergwerke, Maschinen usw. - durch die Gesellschaft und zur gemeinsamen Benutzung dieser Produktionsmittel durch und für die Gesamtheit.

Nun erstrebt in der Tat die neue amerikanische Partei, wie alle und jede politische Partei, kraft der bloßen Tatsache ihrer Bildung, die Eroberung der politischen Herrschaft. Aber sie ist weit entfernt davon, mit sich einig zu sein über das, wozu diese politische Herrschaft gebraucht werden soll. In New York und den anderen Großstädten des Ostens hat die Arbeiterklasse sich nach Gewerkschaften organisiert und in jeder Stadt eine mächtige Central Labor Union gebildet. In New York speziell erkor die Central Labor Union vorigen November Henry George zu ihrem Bannerträger; infolgedessen war ihr damaliges Wahlprogramm stark von Henry Georges Ansichten durchtränkt. In den großen Städten des Nordwestens wurde die Wahlschlacht auf Grundlage eines ziemlich unbestimmten Arbeiterprogramms ausgekämpft, worin der Einfluß der Georgeschen Ideen kaum, wenn überhaupt, sichtbar war. Und während in diesen großen Mittelpunkten der Bevölkerung und der Industrie die Bewegung eine entschieden politische Form erhielt, finden wir daneben, über das ganze Land zerstreut, zwei weit verbreitete Arbeiterorganisationen: die Arbeitsritter und die Sozialistische Arbeiterpartei, von denen nur die letztere ein mit dem oben skizzierten, modernen europäischen Standpunkt übereinstimmendes Programm besitzt.

Von diesen drei mehr oder weniger bestimmten Formen, in denen die amerikanische Arbeiterbewegung uns gegenübertritt, ist die erste - die von Henry George geführte Bewegung in New York - für den Augenblick von vorwiegend nur lokaler Bedeutung. Unzweifelhaft ist New York bei weitem die wichtigste Stadt des Landes; aber New York ist nicht Paris, und die Vereinigten Staaten sind nicht Frankreich. Und es scheint mir, daß das Programm Henry Georges in seiner jetzigen Gestalt zu knapp ist, um die Grundlage zu bilden für mehr als eine lokale Bewegung, oder, im besten Fall, für mehr als eine kurzlebige Übergangsstufe der allgemeinen Bewegung. Für Henry George ist die Enteignung der Volksmasse vom Grundbesitz die große, allgemeine Ursache der Spaltung des Volks in Reiche und Arme. Das ist aber geschichtlich nicht ganz richtig. Im asiatischen und klassischen Altertum war die herrschende Form der Klassenunterdrückung die Sklaverei, d.h. nicht sowohl die Enteignung der Massen von Grund und Boden, als vielmehr die Aneignung ihrer Personen durch Dritte. Als beim Verfall der römischen Republik die freien italienischen Bauern von ihren Heimstätten expropriiert wurden, verwandelten sie sich in eine Klasse von "verlumpten Weißen" ("poor whites", "white trash"), wie sie in den südlichen Sklavenstaaten der Union vor 1861 bestand; und zwischen Sklaven und verlumpten Freien, zwei zur Selbstbefreiung gleich untüchtigen Klassen, ging die alte Welt in die Brüche. Im Mittelalter war keineswegs die Enteignung der Volksmassen vom Boden, sondern vielmehr ihre Aneignung an den Boden die Grundlage des feudalen Drucks. Der Bauer behielt seine Heimstätte, wurde aber als Leibeigner oder Höriger an sie gefesselt und hatte dem Grundherrn Tribut in Arbeit oder in Produkten zu leisten. Erst bei Anbruch der neuen Zeit, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, wurde die Expropriation der Bauern auf großer Stufenleiter durchgeführt, und zwar diesmal unter geschichtlichen Bedingungen, welche die besitzlos gewordenen Bauern allmählich in die moderne Klasse der Lohnarbeiter hinüberführten, in Leute, welche nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft und nur leben können von dem Verkauf dieser Arbeitskraft an andere. Wenn aber die Enteignung von Grund und Boden diese Klasse ins Leben rief, so gehörte die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, die moderne Großindustrie und die moderne Großackerwirtschaft dazu, sie zu verewigen, zu vermehren und sie in eine besondere Klasse mit besonderen Interessen und einer besonderen geschichtlichen Aufgabe zu verwandeln. Alles dies ist ausführlich dargestellt von Marx. ("Kapital", I. Bd. Abschn. VII: "Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation.") Nach Marx liegt die Ursache des gegenwärtigen Klassengegensatzes und der gegenwärtigen Erniedrigung der Arbeiterklasse in ihrer Enteignung von allen Produktionsmitteln, worin der Boden natürlich einbegriffen ist.

Nachdem Henry George einmal die Monopolisierung des Bodens zur einzigen Ursache der Armut und des Elends gemacht hat, findet er begreiflicherweise das Heilmittel darin, daß die Gesellschaft als solche den Boden wieder in Besitz nimmt. Nun verlangen die Sozialisten der Marxschen Schule ebenfalls, daß die Gesellschaft den Boden wieder in Besitz nimmt, und nicht nur den Boden, sondern alle anderen Produktionsmittel ebenfalls. Aber selbst wenn wir hiervon absehen, so bleibt noch ein anderer Unterschied. Was soll mit dem Boden gemacht werden? Die heutigen Sozialisten, soweit Marx sie repräsentiert, verlangen, daß er gemeinsam besessen und gemeinsam für gemeinsame Rechnung bearbeitet werde, und daß dasselbe mit allen andern gesellschaftlichen Produktionsmitteln, Bergwerken, Eisenbahnen, Fabriken usw. geschehen soll. Henry George dagegen ist damit zufrieden, daß der Boden, ganz wie jetzt, an Einzelne stückweise verpachtet wird, sobald nur die Verpachtung geregelt und die Bodenrente, statt wie jetzt in Privattaschen, in die öffentliche Kasse fließt. Die Forderung der Sozialisten schließt eine vollständige Umwälzung des gesamten heutigen Systems der gesellschaftlichen Produktion ein. Die Forderung Henry Georges dagegen läßt die heutige gesellschaftliche Produktionsweise unberührt und ist auch in der Tat schon vor Jahren von der extremsten Richtung der Ricardianischen bürgerlichen Ökonomen aufgestellt worden. Auch sie verlangten die Konfiskation der Bodenrente durch den Staat.

Natürlich wäre es unbillig, anzunehmen, daß Henry George schon ein für alle Mal sein letztes Wort gesagt hat. Aber ich muß seine Theorie eben nehmen, wie ich sie finde.

Die zweite große Abteilung der amerikanischen Bewegung bilden die Arbeitsritter. Und in ihnen scheint sich der augenblickliche Entwicklungsstand der Bewegung am treuesten widerzuspiegeln, wie sie denn auch unzweifelhaft weitaus die zahlreichste der drei Abteilungen bilden. Ein riesenhafter Verein, verbreitet über unermeßliche Landstriche in unzähligen "assemblies", worin alle Schattierungen individueller und lokaler Ansichten innerhalb der Arbeiterklasse vertreten sind; sie alle vereinigt unter dem Dach eines Programms von entsprechender Unbestimmtheit, und zusammengehalten weit weniger durch ihre unausführbare Verfassung als durch das instinktive Gefühl, daß die bloße Tatsache ihres Sichzusammentuns für ihre gemeinsamen Strebeziele sie zum Rang einer großen Macht im Land erhebt; ein echt amerikanisches Widerspruchsrätsel, das die modernsten Bestrebungen mit dem mittelalterlichen Mummenschanz umkleidet und den demokratischsten und selbst rebellischsten Geist verbirgt hinter einer scheinbaren, aber in Wirklichkeit ohnmächtigen Despotie - das ist das Bild, das die Arbeitsritter einem europäischen Beobachter darbieten. Lassen wir uns aber nicht durch bloß äußerliche Absonderlichkeiten aufhalten, so können wir nicht umhin, in dieser kolossalen Arbeiteranhäufung eine ungeheure Masse schlummernder, potentieller Energie zu sehen, die im Begriff steht, sich langsam aber sicher in lebendige Kraft umzusetzen. Die Arbeitsritter sind die erste von der gesamten amerikanischen Arbeiterklasse geschaffene nationale Organisation. Einerlei was ihr Ursprung und ihre Geschichte, was ihre Mängel und kleinen Verrücktheiten, was ihr Programm und ihre Verfassung - hier sind sie, tatsächlich das Werk der gesamten amerikanischen Klasse der Lohnarbeiter, das einzige nationale Band, das sie zusammenhält, das ihre Stärke ihnen selbst nicht minder als ihren Feinden fühlbar macht, das sie mit der stolzen Hoffnung künftiger Siege erfüllt. Und es wäre keineswegs richtig zu sagen, daß die Arbeitsritter entwicklungsunfähig |Im "Sozialdemokrat": entwicklungsfähig| sind. Sie sind fortwährend in vollem Gang der Entwicklung und Umwälzung begriffen, eine wogende, gärende Masse bildsamen Stoffs, der daran arbeitet, die seiner Natur angemessene Form und Gestalt zu finden. Diese Form wird sich finden, so gewiß die historische Entwicklung, ebenso gut wie die der Natur, ihre eignen innewohnenden Gesetze hat. Ob dann die Arbeitsritter ihren jetzigen Namen beibehalten oder nicht, ist gleichgültig. Aber der Beobachter aus der Ferne wird kaum umhinkönnen, in ihnen den Rohstoff zu sehen, aus dem die Zukunft der amerikanischen Arbeiterbewegung, und damit die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft überhaupt, herausgearbeitet werden muß.

Die dritte Abteilung ist die Sozialistische Arbeiterpartei. Sie ist eine Partei nur dem Namen nach, denn nirgendwo in Amerika ist sie bis jetzt wirklich im Stande gewesen, als politische Partei handelnd aufzutreten. Sie ist zudem bis zu einem gewissen Grad ein ausländisches Element in den Vereinigten Staaten; sie hat bis ganz neuerdings fast ausschließlich aus eingewanderten Deutschen bestanden, die sich ihrer eigenen Sprache bedienen und mit der englischen Landessprache nur wenig vertraut sind. Dafür aber, daß sie von fremder Wurzel kam, kam sie auch bewaffnet mit der Erfahrung, die sie in langjährigem Klassenkampf in Europa erworben, und mit einer Einsicht in die allgemeinen Bedingungen der Emanzipation der Arbeiterklasse, wie sie bei amerikanischen Arbeitern bis jetzt nur ausnahmsweise zu finden ist. Es ist dies ein Glück für das amerikanische Proletariat, das hiermit in den Stand gesetzt wird, den intellektuellen und moralischen Gewinn des vierzigjährigen Kampfs ihrer europäischen Klassengenossen sich anzueignen und zu benutzen und so seinen eigenen Sieg zu beschleunigen. Denn, wie gesagt, darüber kann kein Zweifel sein: das schließliche Programm des amerikanischen Proletariats muß und wird im Wesentlichen dasselbe sein wie das jetzt vom gesamten streitbaren Proletariat Europas angenommene, dasselbe wie das der deutsch-amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Damit, und soweit, ist diese Partei berufen zu einem sehr wichtigen Anteil an der Bewegung. Aber um diesen Beruf zu erfüllen, wird sie auch ihre ausländische Tracht bis auf den letzten Rest abzustreifen haben. Sie muß durch und durch amerikanisch werden. Sie kann nicht verlangen, daß die Amerikaner zu ihr kommen; sie, die eingewanderte Minderheit, muß zu der ungeheuren Mehrheit der eingeborenen Amerikaner gehen. Und dazu muß sie vor allen Dingen Englisch lernen.

Der Verschmelzungsprozeß dieser verschiedenen Elemente der gewaltigen wogenden Masse - Elemente, in Wirklichkeit einander nicht widerstreitend, aber wohl Kraft ihrer verschiedenen Ausgangspunkte einander entfremdet -, dieser Prozeß wird einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht ohne mannigfache Reibung abgehen, wie sie sich schon jetzt an verschiedenen Punkten zeigt. So sind die Arbeitsritter in den Städten des Ostens hier und da in lokalem Kampf mit den organisierten Gewerkschaften. Aber eben diese Art Reibung existiert auch innerhalb der Arbeitsritter selbst, in deren Mitte Frieden und Harmonie keineswegs herrscht. Das sind aber keineswegs Anzeichen des Verfalls, worüber die Kapitalisten ein Recht hätten zu jubeln. Es sind vielmehr nur Beweise, daß die zahllosen Scharen von Arbeitern, die jetzt endlich in einer und derselben Gesamtrichtung in Bewegung geraten, bis jetzt weder den angemessenen Ausdruck für ihre gemeinsamen Interessen, noch die geeignetste Organisationsform gefunden haben. Bis jetzt sind sie nur noch die ersten Massenaushebungen des großen Revolutionskriegs, versammelt und ausgerüstet in einzelnen, noch selbständigen Lokalgruppen, alle bestimmt, ein einziges großes Heer zu bilden, aber noch ohne regelmäßige Organisation und gemeinsamen Feldzugsplan. Noch kreuzen sich hie und da die auf einen Sammelpunkt hin marschierenden Kolonnen; Verwirrung, Zank und Streit, selbst Drohung ernstlichen Zusammenstoßes wird laut. Aber schließlich überwindet die Gemeinsamkeit des Endzieles alle kleinen Schwierigkeiten; es dauert nicht lange, und die verzettelten und lärmenden Bataillone tun sich zusammen zu einer festgegliederten Schlachtlinie voll Waffenglanz und drohendem Schweigen, gedeckt durch verwegene Plänkler in der Front und durch unerschütterliche Reserven im Rücken.

Dies Resultat zu erreichen, die Vereinigung dieser verschiedenen unabhängigen Körperschaften zu einer einzigen nationalen Arbeiterarmee mit einem gemeinsamen Programm - und sei dies Programm noch so unreif, solange es nur ein echtes Klassenprogramm von Arbeitern ist -, das ist der nächste große in Amerika zu vollziehende Schritt. Dies Ziel zu erreichen und das Programm zu einem diesem Ziel angemessenen zu machen, dazu kann niemand mehr beitragen als die Sozialistische Arbeiterpartei, wenn sie sich nur entschließt, dieselbe Taktik zu befolgen, die die europäischen Sozialisten befolgten zu der Zeit, als sie nur noch eine geringe Minderheit der Arbeiterklasse ausmachten. Diese Taktik wurde zuerst dargelegt im "Manifest der Kommunistischen Partei" von 1847 in folgenden Worten:

"Die Kommunisten" - das war der Name, den wir damals angenommen, und den wir auch heute noch weit entfernt sind, zurückzuweisen - "die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien.

Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.

Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß einerseits sie in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats zur Geltung bringen; andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.

Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus ...

Sie kämpfen also für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung."

Das ist die Taktik, die der große Begründer des modernen Sozialismus, Karl Marx, und mit ihm ich und die Sozialisten aller Nationen, die mit uns arbeiteten, seit mehr als vierzig Jahren befolgt haben, die uns überall zum Siege geführt und die es bewirkt hat, daß heute die Masse der europäischen Sozialisten, in Deutschland wie in Frankreich, in Belgien und Holland wie in der Schweiz, in Dänemark und Schweden wie in Spanien und Portugal, als eine einzige große Armee unter einer und derselben Fahne kämpfen.

London, 26. Januar 1887

Friedrich Engels

Florence Kelley-Wischnewetzky↩

Eine englische Ausgabe meines 1844 geschriebnen Buchs fand gerade darin ihre Rechtfertigung, daß die industriellen Zustände des heutigen Amerikas den englischen der vierziger Jahre, also den von mir geschilderten, fast genau entsprechen. Wie sehr dies der Fall, bezeugen die Artikel über "The Labor Movement in America" von Edward und Eleanor Marx-Aveling in der Londoner Monatsschrift "Time", März, April, Mai und Juni. Ich beziehe mich auf diese vortrefflichen Artikel um so lieber, als mir dadurch Gelegenheit geboten wird, gleichzeitig die elenden Verleumdungen über Aveling zurückzuweisen, die die Exekutive der Soz. Arbeiterpartei Amerikas sich nicht entblödet hat, in die Welt zu schicken. [Anmerkung von Engels zum Separatabdruck.]↩

Vorwort [zur englischen Ausgabe (1892) der "Lage der arbeitenden Klasse in England"]

Nach: "The condition of the working-class in England in 1844", London 1892. Aus dem Englischen.

Das Buch, dessen englische Übersetzung hiermit aufs Neue veröffentlicht wird, wurde zuerst in Deutschland 1845 herausgegeben. Damals war der Verfasser jung, vierundzwanzig Jahre alt, und sein Werk trägt den Stempel seiner Jugend im guten wie im schlechten, wessen er sich keineswegs schämt. Es wurde 1886 von einer Amerikanerin, Frau F. Kelley-Wischnewetzky, ins Englische übersetzt und im folgenden Jahr in New York veröffentlicht. Da die amerikanische Ausgabe so gut wie vergriffen ist, ja auf dieser Seite des Atlantiks niemals weite Verbreitung gefunden hat, wird in vollem Einvernehmen mit allen interessierten Seiten die vorliegende autorisierte Ausgabe herausgebracht.

Zur amerikanischen Ausgabe schrieb der Verfasser ein neues Vorwort sowie einen Anhang in englischer Sprache. Das Vorwort hatte wenig mit dem Buch selbst zu tun; es befaßte sich mit der modernen amerikanischen Arbeiterbewegung und ist deshalb hier als nicht zur Sache gehörig weggelassen worden; der Anhang - das ursprüngliche Vorwort - ist in den vorliegenden einleitenden Bemerkungen weitgehend benutzt worden.

Der in diesem Buch beschriebne Stand der Dinge gehört heute - was England angeht - größtenteils der Vergangenheit an. Obwohl nicht ausdrücklich in den anerkannten Lehrbüchern mit aufgezählt, ist es doch ein Gesetz der modernen politischen Ökonomie, daß, je mehr die kapitalistische Produktion sich ausbildet, desto weniger sie bestehen kann bei den kleinen Praktiken der Prellerei und Mogelei, die ihre früheren Stufen kennzeichnen. Die kleinlichen Schlaumeiereien des polnischen Juden, des Repräsentanten des europäischen Handels auf seiner niedrigsten Stufe, diese selben Pfiffe, die ihm in seiner eignen Heimat so vortreffliche Dienste leisten und dort allgemein angewandt werden, lassen ihn im Stich, sobald er nach Hamburg oder Berlin kommt. Desgleichen erkennt der Kommissionär, Jude oder Christ, der von Berlin oder Hamburg kommt, nachdem er einige Monate lang an der Börse von Manchester verkehrt hat, daß er, um Garn oder Gewebe wohlfeil zu kaufen, sich vor allem jener, um ein geringes verfeinerten, aber immer noch jammervollen Manöver und Kniffe entledigen müsse, die in seiner Heimat für die Spitze aller Geschäftsklugheit galten. Und in der Tat, diese Kniffe bezahlen sich nicht mehr in einem großen Markt, wo Zeit Geld ist und wo eine gewisse Höhe der kommerziellen Moralität sich unvermeidlich entwickelt, einfach, um Zeit und Mühe nicht nutzlos zu verlieren. Und genauso steht es mit dem Verhältnis des Fabrikanten zu seinen Arbeitern.

Die Wiederbelebung des Geschäfts nach der Krisis von 1847 war der Anbruch einer neuen industriellen Epoche. Die Abschaffung der Korngesetze und die dadurch bedingten finanziellen Reformen schufen der Industrie und dem Handel Englands allen erwünschten Ellbogenraum. Gleich darauf kam die Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldfelder. Die Kolonialmärkte entwickelten in steigendem Maß ihre Absorptionsfähigkeit für englische Industrieprodukte. Der mechanische Webstuhl von Lancashire schaffte ein für alle Mal Millionen indischer Handweber aus der Welt. China wurde mehr und mehr eröffnet. Und vor allem entwickelten die Vereinigten Staaten - damals vom kommerziellen Standpunkt lediglich ein Kolonialmarkt, wenngleich bei weitem der größte von allen - ihre Wirtschaft mit einer selbst für dieses Land des schnellen Fortschritts erstaunlichen Schnelligkeit. Zu alledem kam aber noch, daß die neuen, am Schluß der vorigen Periode eingeführten Verkehrsmittel - Eisenbahnen und ozeanische Dampfschiffe - jetzt auf internationalem Maßstab verwirklicht wurden und damit das tatsächlich herstellten, was bisher nur der Anlage nach bestanden hatte: den Weltmarkt. Dieser Weltmarkt bestand zuerst aus einer Anzahl von hauptsächlich oder ausschließlich ackerbauenden Ländern, gruppiert um ein Industriezentrum: England. England verbrauchte den größten Teil ihrer überschüssigen Rohprodukte und versorgte sie dafür mit dem größten Teil ihres Bedarfs an Industrieerzeugnissen. Kein Wunder, daß Englands industrieller Fortschritt kolossal und unerhört war, daß uns der Stand von 1844 heute als vergleichsweise unbedeutend und fast waldursprünglich erscheint. In demselben Grad aber, worin dieser Fortschritt sich darstellte, in demselben Grad wurde auch die große Industrie, dem äußeren Schein nach, moralisch. Die Konkurrenz von Fabrikant gegen Fabrikant, vermittelst kleiner Diebstähle an den Arbeitern, zahlte sich nicht mehr. Das Geschäft war solchen miserablen Mitteln des Geldverdienens entwachsen, für den fabrizierenden Millionär lohnten sich derlei kleinliche Kniffe nicht. So etwas war gut höchstens für kleine geldbedürftige Leute, die jeden Groschen aufschnappen mußten, wollten sie nicht der Konkurrenz erliegen. So verschwand das Trucksystem, die Zehnstundenbill und eine ganze Reihe kleinerer Reformen ging durch - alles Dinge, die dem Geist des Freihandels und der zügellosen Konkurrenz direkt ins Gesicht schlugen, die aber ebensosehr die Konkurrenz des Riesenkapitalisten gegen seine weniger begünstigten Geschäftskollegen noch überlegner machten. Ferner. Je größer eine industrielle Anlage, je zahlreicher ihre Arbeiter, umso größer war der Schaden und der Geschäftsverdruß bei jedem Konflikt zwischen dem Fabrikanten und den Arbeitern. Daher kam mit der Zeit ein neuer Geist über die Fabrikanten, namentlich über die großen. Sie lernten unnötige Streitereien vermeiden, sich mit dem Bestand und der Macht der Trades Unions abfinden, und schließlich sogar in Strikes - wenn nur zur richtigen Zeit eingeleitet - ein wirksames Mittel entdecken zur Durchführung ihrer eignen Zwecke. So kam es, daß die größten Fabrikanten, früher die Heerführer im Kampf gegen die Arbeiterklasse, jetzt die ersten waren im Aufruf zu Frieden und Harmonie. Und aus sehr guten Gründen. Alle diese Konzessionen an die Gerechtigkeit und Menschenliebe waren eben in Wirklichkeit nur Mittel, die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger zu beschleunigen, für die die kleinen Nebenerpressungen früherer Jahre nicht nur alle Wichtigkeit verloren hatten und jetzt geradezu im Weg waren; Mittel, um schneller und sicherer ihre kleineren Konkurrenten zu erdrücken, die ohne solchen Extraverdienst nicht leben konnten. Und so hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein hingereicht, wenigstens in den leitenden Industriezweigen - denn in den weniger wichtigen ist dies keineswegs der Fall - alle jene kleineren Beschwerden zu beseitigen, die in früheren Jahren das Los des Arbeiters verschlimmerten. Und so tritt mehr und mehr in den Vordergrund die große Haupttatsache, daß die Ursache des Elends der Arbeiterklasse zu suchen ist nicht in jenen kleineren Übelständen, sondern im kapitalistischen System selbst. Der Lohnarbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für eine gewisse tägliche Summe. Nach der Arbeit weniger Stunden hat er den Wert jener Summe reproduziert. Aber sein Arbeitsvertrag lautet dahin, daß er nun noch eine weitere Reihe von Stunden fortschanzen muß, um seinen Arbeitstag voll zu machen. Der Wert nun, den er in diesen zusätzlichen Stunden der Mehrarbeit produziert, ist Mehrwert, der dem Kapitalisten nichts kostet, trotzdem aber in seine Tasche fließt. Dies ist die Grundlage des Systems, das mehr und mehr die zivilisierte Gesellschaft spaltet, einerseits in einige wenige Rothschilde und Vanderbilts, die Eigner aller Produktions- und Unterhaltsmittel, und andererseits in eine ungeheure Menge von Lohnarbeitern, Eigner von nichts als ihrer Arbeitskraft. Und daß dies Ergebnis geschuldet ist nicht diesem oder jenem untergeordneten Beschwerdepunkt, sondern einzig dem System selbst - diese Tatsache ist durch die Entwicklung des Kapitalismus in England seit 1847 heute ins grellste Licht gestellt.

Ferner. Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen, falls er nicht mit Familie diesen Seuchen zum Opfer fallen will. Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht. Die Kanalisation ist eingeführt oder verbessert, breite Straßenzüge sind quer durch viele der schlechtesten unter den "schlechten Vierteln", die ich beschreiben mußte, angelegt. "Kleinirland" ist verschwunden, die "Seven Dials" kommen demnächst an die Reihe. Aber was heißt das? Ganze Bezirke, die ich 1844 noch als fast idyllisch schildern konnte, sind jetzt, mit dem Anwachsen der Städte, herabgefallen in denselben Stand des Verfalls, der Unwohnlichkeit, des Elends. Die Schweine und die Abfallhaufen duldet man freilich nicht mehr. Die Bourgeoisie hat weitere Fortschritte gemacht in der Kunst, das Unglück der Arbeiterklasse zu verbergen. Daß aber, was die Arbeiterwohnungen angeht, kein wesentlicher Fortschritt stattgefunden hat, beweist vollauf der Bericht der königlichen Kommission "on the Housing of the Poor" |"über die Behausungen der Armen"|, 1885. Und ebenso in allem andern. Polizeiverordnungen sind so häufig geworden wie Brombeeren; sie können aber nur das Elend der Arbeiter einhegen, beseitigen können sie es nicht.

Während aber England dem von mir geschilderten Jugendstand der kapitalistischen Ausbeutung entwachsen ist, haben andre Länder ihn eben erst erreicht. Frankreich, Deutschland und vor allem Amerika sind die drohenden Rivalen, die, wie ich 1844 vorhersah, mehr und mehr Englands industrielles Monopol brechen. Ihre Industrie ist jung gegen die englische, aber sie wächst mit weit größrer Geschwindigkeit als diese und ist erstaunlicherweise heute so ziemlich auf derselben Entwicklungsstufe angekommen, worauf die englische 1844 stand. Mit Beziehung auf Amerika ist die Parallele besonders frappant. Allerdings sind die äußern Umgebungen für die amerikanische Arbeiterklasse sehr verschieden, aber dieselben ökonomischen Gesetze sind an der Arbeit, und die Ergebnisse, wenn nicht in jeder Beziehung identisch, müssen doch derselben Ordnung angehören. Daher finden wir in Amerika dieselben Kämpfe für einen kürzeren, gesetzlich festzustellenden Arbeitstag, besonders für Frauen und Kinder in Fabriken; wir finden das Trucksystem in voller Blüte und das Cottagesystem, in ländlichen Gegenden, von den "bosses" ausgebeutet als Mittel der Arbeiterbeherrschung. Als ich 1886 die amerikanischen Zeitungen erhielt mit den Berichten über den großen Strike der 12.000 pennsylvanischen Bergleute im Distrikt von Connellsville, kam es mir vor, als läse ich meine eigne Schilderung des Ausstands der Kohlengräber in Nordengland 1844. Dieselbe Prellerei der Arbeiter durch falsches Maß; dasselbe Trucksystem; derselbe Versuch, den Widerstand der Grubenleute zu brechen durch das letzte zermalmende Mittel des Kapitalisten: die Ausweisung der Arbeiter aus ihren Wohnungen, die der Zechenverwaltung gehören.

Ich habe in dieser Übersetzung nicht versucht, das Buch dem heutigen Stand der Dinge anzupassen, d.h. die seit 1844 eingetretenen Änderungen im einzelnen aufzuzählen. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte ich, um es gründlich zu machen, den Umfang des Buches verdoppeln müssen. Und zweitens gibt der erste Band des Marxschen "Kapital", der in englischer Übersetzung vorliegt, eine ausführliche Darstellung der Lage der britischen Arbeiterklasse für die Zeit von etwa 1865, d.h. die Zeit, wo die britische industrielle Prosperität ihren Höhepunkt erreichte. Ich hätte also das wiederholen müssen, was schon in Marx' berühmtem Werk gesagt worden ist.

Es wird wohl kaum nötig sein zu bemerken, daß der allgemein theoretische Standpunkt dieses Buchs - in philosophischer, ökonomischer und politischer Beziehung - sich keineswegs genau deckt mit meinem heutigen Standpunkt. Im Jahr 1844 existierte der moderne internationale Sozialismus noch nicht, der seitdem, vor allem und fast ausschließlich durch die Leistungen von Marx, zu einer Wissenschaft ausgebildet worden. Mein Buch repräsentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Entwicklung. Und wie der menschliche Embryo in seinen frühesten Entwicklungsstufen die Kiemenbögen unserer Vorfahren, der Fische, noch immer reproduziert, so verrät dies Buch überall die Spuren der Abstammung des modernen Sozialismus von einem seiner Vorfahren - der deutschen Philosophie. So wird großes Gewicht gelegt auf die Behauptung, daß der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Klasse der Kapitalisten, aus den gegenwärtigen einengenden Verhältnissen. Dies ist in abstraktem Sinn richtig, aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos. Solange die besitzenden Klassen nicht nur kein Bedürfnis verspüren nach Befreiung, sondern auch der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse sich mit allen Kräften widersetzen, solange wird die Arbeiterklasse nun einmal genötigt sein, die soziale Umwälzung allein einzuleiten und durchzuführen. Die französischen Bourgeois von 1789 erklärten auch die Befreiung der Bourgeoisie für die Emanzipation des gesamten Menschengeschlechts; Adel und Geistlichkeit wollten das aber nicht einsehen; die Behauptung - obwohl damals, soweit der Feudalismus dabei in Betracht kam, eine abstrakte, historische Wahrheit - artete bald aus in pure sentimentale Redensart und verduftete gänzlich im Feuer des revolutionären Kampfs. Heutzutage gibt es auch Leute genug, die den Arbeitern von der "Unparteilichkeit" ihres höheren Standpunkt" einen über allen Klassengegensätzen und Klassenkämpfen erhabenen Sozialismus predigen und danach streben, in einer höheren Menschlichkeit die Interessen beider widerstreitenden Klassen zu versöhnen. Aber diese Leute sind entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben, oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz.

Im Text wird die Kreislaufsperiode der großen industriellen Krisen auf fünf Jahre angegeben. Dies war die Zeitbestimmung, die sich aus dem Gang der Ereignisse von 1825 bis 1842 scheinbar ergab. Die Geschichte der Industrie von 1842 bis 1868 hat aber bewiesen, daß die wirkliche Periode eine zehnjährige ist; daß die Zwischenkrisen sekundärer Natur waren und mehr und mehr verschwunden sind. Seit 1868 hat sich die Sachlage wieder verändert; darüber weiter unten.

Ich habe mir nicht einfallen lassen, aus dem Text die vielen Prophezeiungen zu streichen, namentlich nicht die einer nahe bevorstehenden sozialen Revolution in England, wie meine jugendliche Hitze sie mir damals eingab. Das wunderbare ist nicht, daß so viele dieser Prophezeiungen fehlgingen, sondern daß so viele eingetroffen sind und daß die kritische Lage der englischen Industrie, infolge kontinentaler und namentlich amerikanischer Konkurrenz, die ich damals in einer allerdings viel zu nahen Zukunft voraussah, seitdem wirklich eingetreten ist. In Beziehung auf diesen Punkt ist es mir möglich - und ich bin dazu verpflichtet -, das Buch mit dem heutigen Stand der Dinge in Einklang zu bringen. Ich tue es, indem ich hier einen Artikel reproduziere, der in der Londoner "Commonwealthth" vom 1. März 1885 unter dem Titel "England 1845 und 1885" erschien. Der Artikel gibt zugleich einen kurzen Überblick über die Geschichte der englischen Arbeiterklasse während dieser vierzig Jahre. Er hat folgenden Wortlaut:

"Vor vierzig Jahren stand England vor einer Krisis, die zu lösen allem Anschein nach nur die Gewalt berufen war. Die ungeheure und rasche Entwicklung der Industrie hatte die Ausdehnung der auswärtigen Märkte und die Zunahme der Nachfrage weit überholt. Alle zehn Jahre wurde der Gang der Produktion gewaltsam unterbrochen durch eine allgemeine Handelskrisis, der, nach einer langen Periode chronischer Abspannung, wenige kurze Jahre der Prosperität folgten, um stets wieder zu enden in fieberhafter Überproduktion und schließlich in neuem Zusammenbruch. Die Kapitalistenklasse verlangte laut nach Freihandel in Korn und drohte, ihn zu erzwingen durch Rücksendung der hungernden Städtebevölkerung in die Landbezirke, woher sie kamen; aber, wie John Bright sagte: nicht wie Bedürftige, die um Brot betteln, sondern wie eine Armee, die sich auf feindlichem Gebiete einquartiert. Die Arbeitermassen der Städte verlangten ihren Anteil an der politischen Macht - die Volks-Charte; sie wurden unterstützt von der Mehrzahl der Kleinbürger, und der einzige Unterschied zwischen beiden war, ob die Charte gewaltsam oder gesetzlich durchgeführt werden sollte. Da kam die Handelskrisis von 1847 und die irische Hungersnot, und mit beiden die Aussicht auf Revolution.

Die französische Revolution von 1848 rettete die englische Bourgeoisie. Die sozialistischen Proklamationen der siegreichen französischen Arbeiter erschreckten das englische Kleinbürgertum und desorganisierten die Bewegung der englischen Arbeiter, die innerhalb engerer, aber mehr unmittelbar praktischer Grenzen vor sich ging. Gerade in demselben Augenblick, wo der Chartismus seine volle Kraft entwickeln sollte, brach er in sich selbst zusammen, schon ehe er am 10. April äußerlich zusammenbrach. Die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse wurde in den Hintergrund gedrängt. Die Kapitalistenklasse hatte auf der ganzen Linie gesiegt.

Die Parlamentsreform von 1831 war der Sieg der gesamten Kapitalistenklasse über die grundbesitzende Aristokratie. Die Abschaffung der Kornzölle war der Sieg der industriellen Kapitalisten nicht nur über den großen Grundbesitz, sondern auch über die Fraktionen von Kapitalisten, deren Interessen mehr oder weniger mit denen des Grundbesitzes identisch oder verkettet waren: Bankiers, Börsenleute, Rentiers usw. Freihandel bedeutete die Umgestaltung der gesamten inneren und äußeren Finanz- und Handelspolitik Englands im Einklang mit den Interessen der industriellen Kapitalisten, der Klasse, die jetzt die Nation vertrat. Und diese Klasse machte sich ernstlich ans Werk. Jedes Hemmnis der industriellen Produktion wurde unbarmherzig entfernt. Der Zolltarif und das ganze Steuersystem wurden umgewälzt. Alles wurde einem einzigen Zweck untergeordnet, aber einem Zweck von der äußersten Wichtigkeit für den industriellen Kapitalisten: der Verwohlfeilerung aller Rohstoffe und besonders der Lebensmittel für die Arbeiterklasse; der Verringerung der Rohstoffkosten und der Niederhaltung, wenn auch noch nicht der Herunterbringung des Arbeitslohnes. England sollte 'die Werkstatt der Welt werden'; alle anderen Länder sollten für England werden, was Irland schon war - Märkte für seine Industrieprodukte, Bezugsquellen seiner Rohstoffe und Nahrungsmittel. England, der große industrielle Mittelpunkt einer ackerbauenden Welt, mit einer stets wachsenden Zahl Korn und Baumwolle produzierender Trabanten wie Irland, die sich um die industrielle Sonne drehen. Welch herrliche Aussicht!