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Der Nr. 1 SPIEGEL-Bestseller von Nele Neuhaus! Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein haben es dieses Mal mit einem kniffligen Fall, mehreren Morden und einem ominösen Richter zu tun… Die Idylle täuscht: Hinter jeder Ecke lauert der Tod… Dezember 2012: Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff will gerade in die Flitterwochen fahren, als sie ein Anruf erreicht: In der Nähe von Eschborn wurde eine ältere Dame aus dem Hinterhalt erschossen. Kurz darauf ereignet sich ein ähnlicher Mord: Eine Frau wird durch das Küchenfenster ihres Hauses tödlich getroffen. Beide Opfer hatten keine Feinde. Warum mussten ausgerechnet sie sterben? Der Druck auf die Ermittler wächst schnell. Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein fahnden nach einem Täter, der scheinbar wahllos mordet – und kommen einer menschlichen Tragödie auf die Spur… *** Atemberaubend spannend und schrecklich schaurig – der Nr. 1 SPIEGEL-Bestseller von Nele Neuhaus! Pflicht für alle Krimi-Begeisterte! ***
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Das Buch
Dezember 2012. Eigentlich will Pia Kirchhoff, die heimlich ihren Lebensgefährten Christoph Sander geheiratet hat, in die Flitterwochen fahren. Doch dann geschieht ein Mord.
Eine ältere Frau wurde beim Hundespaziergang erschossen. Weder ihre schockierte Tochter noch jemand aus ihrem Bekanntenkreis hat eine Erklärung, die ermordete Ingeborg Rohfelder war eine Seele von Mensch und in der ganzen Stadt beliebt. War sie ein Zufallsopfer? Nur drei Tage später wird eine Frau beim Plätzchenbacken durch das Küchenfenster ihres Hauses erschossen – mit derselben Waffe.
Und dann gibt es weitere Tote. In der Bevölkerung macht sich Angst breit. Fieberhaft versuchen Pia und Bodenstein, die Verbindung zwischen den Mordopfern zu finden. Denn sie ahnen bald, dass der Mörder, der sich ‚Der Richter‘ nennt, eine Mission hat. Und noch nicht am Ende ist.
Die Autorin
Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und, unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg, Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 20 Ländern.
NELE NEUHAUS
DIE LEBENDENUND DIE TOTEN
Kriminalroman
Ullstein
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ISBN978-3-8437-0962-0
© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotiv: © plainpicture/Markus Renner (Feld);© plainpicture/Benjamin Schmid (Hochsitz)
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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für Matthias.Forever und for always.
Außentemperatur drei Grad Celsius. Kein Wind. Die Wettervorhersage hatte keinen Regen gemeldet. Perfekte Bedingungen.
8:21 Uhr.
Er sah sie kommen. Ihre pinkfarbene Mütze leuchtete wie ein Signal im schieferfarbenen Zwielicht des anbrechenden Wintertages. Sie war allein, wie jeden Morgen. Nur der Hund trabte neben ihr her, ein dunkler, geschmeidiger Schatten zwischen blattlosen Büschen. Ihre Route war immer dieselbe. Sie ging die Lahnstraße hinunter, am Kinderspielplatz vorbei, dann überquerte sie die hölzerne Fußgängerbrücke, die über den Westerbach führte, bog rechts ab und folgte dem asphaltierten Weg parallel zum Bach, bis er nach links Richtung Schule abknickte. Die Schule bildete den Scheitelpunkt ihrer morgendlichen Runde. Von dort aus ging sie den Dörnweg, der schnurgerade von Eschborn nach Niederhöchstadt durch die Felder führte, zurück, bog nach etwa einem Kilometer nach links ab und ging über die Holzbrücke zurück nach Hause.
Der Hund verrichtete sein Geschäft auf der Grünfläche vor den Schaukeln auf dem Kinderspielplatz, gewissenhaft sammelte sie die Hinterlassenschaft auf und warf den Beutel in den Mülleimer an der Wegkreuzung. Sie ging keine zwanzig Meter an ihm vorbei, bemerkte ihn aber nicht. Aus seinem Versteck blickte er ihr nach, sah, wie sie über die Brücke ging, deren Holz vor Nässe dunkel glänzte, und hinter den Baumstämmen verschwand. Er richtete sich auf eine Wartezeit von etwa dreißig Minuten ein, lag bequem unter dem dunkelgrünen Regencape auf dem Bauch. Wenn es sein musste, könnte er stundenlang so daliegen. Geduld war eine seiner größten Stärken. Der Bach, im Sommer nur ein dünnes Rinnsal, rauschte und gurgelte zu seinen Füßen. Zwei Krähen hüpften neugierig um ihn herum, starrten ihn prüfend an und verloren dann das Interesse. Die Kälte drang durch seine Thermohose. In den kahlen Ästen der Eiche über ihm gurrte eine Taube. Eine junge Frau trabte auf der anderen Seite des Baches vorbei, leichtfüßig, vielleicht beschwingt von der Musik, die sie über Kopfhörer hörte. In der Ferne hörte er das Rattern einer S-Bahn und den melodischen Dreiklang eines Pausengongs.
Im winterlich düsteren Grauschwarzbraun nahm er einen pinkfarbenen Punkt wahr. Sie kam. Sein Herzschlag beschleunigte sich, er blickte durch das Zielfernrohr, kontrollierte seine Atmung, bewegte die Finger seiner rechten Hand. Sie bog in den Weg ein, der in einem Bogen zur Brücke führte. Der Hund trottete ein paar Meter hinter ihr her.
Sein Finger lag auf dem Abzug. Er bewegte prüfend die Augen hin und her, aber es war kein Mensch in Sicht. Außer ihr. Sie folgte dem Knick, den der Weg an dieser Stelle machte, und bot ihm ihre linke Gesichtshälfte dar, genau so, wie er es geplant hatte.
Mit dem Schalldämpfer büßte die Waffe zwar etwas von ihrer Präzision ein, aber bei einer Entfernung von knapp achtzig Metern war das kein Problem. Das Krachen eines Schusses hätte zu viel unnötige Aufmerksamkeit erregt. Er atmete ein und aus, wurde ganz ruhig und konzentriert. Sein Blickfeld zog sich zusammen, fokussierte sich auf sein Ziel. Sanft zog er den Abzug durch. Der Rückstoß, den er erwartet hatte, traf sein Schlüsselbein. Nur Sekundenbruchteile später ließ die Remington Core-Lokt ihren Schädel platzen. Sie sackte lautlos in sich zusammen. Volltreffer.
Die ausgeworfene Patronenhülse dampfte auf der feuchten Erde. Er hob sie auf und steckte sie in die Seitentasche seiner Jacke. Seine Knie waren etwas steif nach dem Liegen in der Kälte. Mit wenigen Handgriffen zerlegte er das Gewehr, verstaute es in der Sporttasche, faltete das Cape zusammen und stopfte es ebenfalls in die Tasche. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, verließ er das Gebüsch, überquerte den Kinderspielplatz und schlug den Weg Richtung Wiesenbad ein, wo er sein Auto geparkt hatte. Es war 9:13 Uhr, als er vom Parkplatz fuhr und nach links in die Hauptstraße einbog.
Kriminalhauptkommissarin Pia Kirchhoff hatte Urlaub. Seit letzter Woche Donnerstag, bis zum 16. Januar 2013. Vier ganze Wochen! Ihr letzter richtig langer Urlaub lag fast vier Jahre zurück: 2009 waren Christoph und sie in Südafrika gewesen, danach hatten sie es nur noch zu Kurzreisen geschafft, aber diesmal würde es fast auf die andere Seite des Globus gehen, nach Ecuador und von dort aus mit einem Schiff zu den Galapagosinseln. Christoph war schon öfter vom Veranstalter der exklusiven Kreuzfahrtreisen als Reiseleiter engagiert worden, und sie reiste zum ersten Mal mit – als seine Ehefrau.
Pia setzte sich auf die Bettkante und betrachtete versonnen den schmalen goldenen Ring an ihrer Hand. Der Standesbeamte war etwas irritiert gewesen, als Christoph ihr den Ring an die linke Hand gesteckt hatte, doch sie hatte ihm erklärt, dass sich links schließlich das Herz befände und sie deshalb beschlossen hätten, ihre Eheringe an der linken Hand zu tragen. Das war nur die halbe Wahrheit, denn dieser Entschluss hatte auch mehrere ganz pragmatische Gründe. Zum einen hatte Pia in ihrer ersten Ehe mit Henning den Ehering, wie es in Deutschland üblich war, rechts getragen. Zwar war sie nicht übermäßig abergläubisch und wusste, dass das Scheitern dieser Ehe nichts damit zu tun gehabt hatte, aber sie wollte das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Zum anderen – und das war der Hauptgrund für ihre Entscheidung – war es äußerst schmerzhaft, wenn ihr jemand mit festem Händedruck die Hand gab und dabei beinahe mit dem Ring ihren Finger zerquetschte.
Christoph und sie hatten am Freitag im Standesamt in Höchst, das sich im Gartenpavillon des Bolongaropalastes befand, heimlich, still und leise geheiratet. Ohne Freunde, Familie oder Trauzeugen und ohne es jemandem zu sagen. Erst nach ihrer Rückkehr aus Südamerika würden sie es bekanntgeben und dann im nächsten Sommer ein großes Fest auf dem Birkenhof feiern.
Pia riss sich vom Anblick des Rings los und fuhr damit fort, die auf dem Bett gestapelte Wäsche möglichst platzsparend in zwei Koffern zu verstauen. Dicke Pullover und Jacken würden sie nicht brauchen. Stattdessen Sommerklamotten. T-Shirts. Shorts. Badeanzug. Sie freute sich darauf, dem Winter und dem Weihnachtsfest, dem sie nicht sonderlich viel abgewinnen konnte, zu entrinnen und stattdessen an Deck eines Kreuzfahrtschiffs in der Sonne zu dösen, zu lesen und einfach mal richtig zu faulenzen. Christoph würde zwar viel zu tun haben, aber er hatte auch Freizeit, und die Nächte gehörten ihnen allein. Vielleicht würde sie ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrem Bruder – ja, vor allem ihm und seiner arroganten Frau – Postkarten schicken und ihnen darauf mitteilen, dass sie geheiratet hatte. Noch immer hatte sie den missbilligenden Kommentar ihrer Schwägerin Sylvia im Ohr, als diese von ihrer Trennung von Henning erfahren hatte. »Eine Frau über dreißig wird eher vom Blitz getroffen, als dass sie noch einen Mann findet«, hatte Sylvia pessimistisch geunkt. Tatsächlich war Pia vom Blitz getroffen worden, an einem sonnigen Junimorgen vor sechs Jahren im Elefantengehege des Opel-Zoos. Denn dort waren sie und Dr. Christoph Sander, der Direktor des Zoos, sich zum ersten Mal begegnet und hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Seit vier Jahren lebten sie nun gemeinsam auf dem Birkenhof in Unterliederbach und waren recht bald zu dem Schluss gekommen, dass sie dies bis zum Ende ihres Lebens tun wollten.
Das Handy, das unten auf dem Küchentisch lag, fing an zu trillern. Pia lief die Treppe hinunter, ging in die Küche und warf einen Blick auf das Display, bevor sie das Gespräch entgegennahm.
»Ich habe Urlaub«, sagte sie. »Eigentlich bin ich schon so gut wie weg.«
»›Eigentlich‹ ist ein ausgesprochen schwammiger Ausdruck«, erwiderte Oliver von Bodenstein, ihr Chef, der mitunter die nervtötende Angewohnheit besaß, Worte auf die Goldwaage zu legen. »Es tut mir auch wirklich sehr leid dich zu stören. Aber ich habe ein Problem.«
»Ach.«
»Wir haben eine Leiche, ganz bei dir in der Nähe«, fuhr Bodenstein fort. »Ich bin noch in einer Brandsache unterwegs. Cem ist verreist, Kathrin hat sich krankgemeldet. Vielleicht könntest du nur mal kurz hinfahren und dich um die Formalitäten kümmern. Kröger und seine Leute sind schon unterwegs. Ich komme sofort und übernehme, sobald ich hier durch bin.«
Pia überschlug im Kopf rasch ihre To-do-Liste. Sie war gut im Zeitplan, hatte bereits alles organisiert, was für eine dreiwöchige Abwesenheit organisiert werden musste. Die Koffer fertig zu packen war eine Sache von einer halben Stunde. Bodenstein würde sie nicht bitten, wenn er sie nicht wirklich dringend brauchte. Für ein paar Stunden konnte sie aushelfen, ohne sich einen Zacken aus der Krone zu brechen.
»Okay«, sagte sie deshalb. »Wo muss ich hin?«
»Danke, Pia, das ist echt nett von dir.« Die Erleichterung war Bodensteins Stimme anzuhören. »Nach Niederhöchstadt. Am besten biegst du dort von der Hauptstraße nach Steinbach ab. Nach ungefähr achthundert Metern geht ein Feldweg rechts ab, den fährst du rein. Die Kollegen sind schon vor Ort.«
»Alles klar.« Pia beendete das Gespräch, zog den Ehering vom Finger und legte ihn in die Küchenschublade. »Wir sehen uns später.«
***
Wie so oft hatte Pia keine Ahnung, was sie am Leichenfundort erwarten würde. Der KvD von der Wache hatte sie lediglich über den Fund einer weiblichen Leiche in Niederhöchstadt informiert, als sie Bescheid gegeben hatte, dass sie unterwegs war. Kurz hinter dem Ortsausgang bog sie rechts in einen asphaltierten Feldweg ein und sah schon von weitem einige Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug. Beim Näherkommen erkannte sie den blauen VW-Bus der Spurensicherung und andere zivile Fahrzeuge. Sie parkte auf einer kleinen Grasfläche vor einem Buschdickicht, fischte ihre beigefarbene Daunenjacke vom Rücksitz und stieg aus.
»Hallo, Frau Kirchhoff«, begrüßte sie ein junger Kollege von der Schutzpolizei, der an der Absperrung stand. »Sie müssen den Weg runter gehen. Hinter dem Gebüsch rechts.«
»Guten Morgen und danke«, erwiderte sie und folgte dem Weg, den er ihr gewiesen hatte. Die Büsche bildeten mitten im freien Feld ein kleines Wäldchen. Pia bog um die Ecke und traf zuerst Kriminalhauptkommissar Christian Kröger, den Chef der Spurensicherung vom Hofheimer K11.
»Pia!«, rief Kröger erstaunt. »Was tust du denn hier? Du hast doch …«
»… Urlaub«, fiel sie ihm lächelnd ins Wort. »Oliver hat mich gebeten, hier anzufangen. Er kommt gleich, und dann bin ich auch schon verschwunden. Was haben wir hier?«
»Üble Sache«, antwortete Kröger. »Eine Frau wurde erschossen. Kopfschuss. Am helllichten Tag und keinen Kilometer von der Eschborner Polizeistation entfernt.«
»Wann ist das passiert?«, erkundigte Pia sich.
»Ziemlich genau um kurz vor neun«, sagte Kröger. »Ein Fahrradfahrer hat gesehen, wie sie zusammenbrach. Einfach so. Er hat keinen Schuss gehört. Aber der Rechtsmediziner ist der Ansicht, dass sie mit einem Gewehr aus einiger Entfernung erschossen wurde.«
»Ach, ist Henning etwa da? Ich habe sein Auto gar nicht gesehen.«
»Nein, glücklicherweise ist ein Neuer gekommen. Seitdem dein Ex den Chefsessel erklommen hat, hat er wohl keine Zeit mehr für Außeneinsätze.« Kröger grinste. »Was ich nicht sehr bedaure.«
Er hegte eine tiefe Abneigung gegen Henning Kirchhoff, die dieser von Herzen erwiderte, und häufig benahmen sich die beiden zickig wie zwei Diven, was der Gründlichkeit ihrer Arbeit jedoch keinen Abbruch tat. Einzig deshalb erduldeten alle Beteiligten seit Jahren das kindische Kompetenzgerangel der beiden, deren Wortgefechte an diversen Tatorten längst legendär waren.
Nach Professor Thomas Kronlages Emeritierung im Sommer war Henning Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts geworden. Eigentlich hatte die Universität die Stelle für externe Bewerber ausschreiben wollen, aber Hennings Qualifikation auf dem Gebiet der forensischen Anthropologie war so wertvoll, dass man ihm den Chefposten gegeben hatte, um ihn nicht zu verlieren.
»Wie heißt der Neue?«, fragte Pia.
»Sorry, hab ich vergessen«, murmelte Kröger.
Der Mann im weißen Overall, der neben der Leiche hockte, streifte die Kapuze zurück und richtete sich auf. Nicht mehr ganz jung, konstatierte Pia, der kahlgeschorene Kopf und der dicke Schnauzbart erschwerten eine Schätzung. Eine Glatze ließ einen Mann schnell älter erscheinen, als er tatsächlich war.
»Dr. Frederick Lemmer.« Der Rechtsmediziner zog den rechten Handschuh aus und hielt ihr die Hand hin. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Mich auch«, erwiderte Pia und ergriff seine Hand. »Ich bin Pia Kirchhoff vom K11 aus Hofheim.«
Ein Leichenfundort war kein Platz für höfliche Konversation, deshalb beließ es Pia bei der kurzen Vorstellung. Sie wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der sie erwartete, und trat näher an die Leiche heran. Die pinkfarbene Wollmütze und das weiße Haar der Toten bildeten surreale Farbflecke auf grauem Asphalt, braunem Schlamm und einer schwärzlichen Blutlache.
»Schindlers Liste«, murmelte Pia.
»Wie bitte?«, fragte Dr. Lemmer ein wenig irritiert.
»Der Film mit Liam Neeson und Ben Kingsley«, erklärte Pia.
Der Rechtsmediziner begriff sofort, was sie meinte, und lächelte.
»Stimmt. Sieht ein bisschen so aus. Der Film war schwarzweiß, nur der Mantel des Mädchens war rot.«
»Ich bin ein Augenmensch. Der erste Eindruck eines Tatorts ist für mich immer wichtig«, erklärte Pia. Sie streifte sich Handschuhe über und ging in die Hocke, Lemmer tat es ihr gleich. In den vielen Jahren beim K11 hatte Pia gelernt, innerlich Distanz zu wahren. Nur so ließ sich der Anblick grausam verstümmelter und entstellter Leichen ertragen.
»Die Kugel ist in die linke Schläfe eingedrungen.« Dr. Lemmer wies auf das saubere Einschussloch am Kopf der Toten. »Beim Austritt wurde fast die gesamte rechte Schädelhälfte weggesprengt. Typisch für ein Teilmantelgeschoss großen Kalibers. Bei der Tatwaffe handelt es sich meiner Meinung nach um ein Gewehr, und der Schuss wurde aus größerer Entfernung abgegeben.«
»Und da es sich in dieser Gegend wohl kaum um einen Jagdunfall handelt, würde ich von einem gezielten Schuss ausgehen«, ergänzte Kröger aus dem Hintergrund.
Pia nickte und betrachtete nachdenklich das, was vom Gesicht der Toten übrig geblieben war. Warum wurde eine Frau zwischen sechzig und siebzig Jahren auf offener Straße erschossen? War sie ein Zufallsopfer, einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
Einige von Krögers Leute krochen in ihren weißen Overalls mit einem Metalldetektor durch das Dickicht und die angrenzende Wiese auf der Suche nach dem Projektil, andere fotografierten und stellten mit einem elektronischen Gerät Messungen an, um die Richtung, aus der der Schuss gekommen war, zu lokalisieren.
»Wissen wir, wer sie ist?« Pia erhob sich und blickte Kröger an.
»Nein, sie hatte nichts bei sich außer einem Schlüsselbund. Kein Portemonnaie, kein Handy«, erwiderte der. »Willst du mit dem Augenzeugen sprechen? Er sitzt im Rettungswagen.«
»Gleich.« Pia blickte sich um und runzelte die Stirn. Leere Äcker und Wiesen. In der Ferne glitzerten der Fernsehturm und die Frankfurter Skyline in der blassen Wintersonne, die sich durch die dicke Wolkenschicht gekämpft hatte. Etwa vierzig Meter entfernt säumten hohe Bäume einen Bachlauf. Durch die blattlosen Äste sah sie einen Kinderspielplatz und dahinter die ersten Häuser des Eschborner Stadtteils Niederhöchstadt. Asphaltierte Wege, gesäumt von Straßenlaternen, zogen sich durch Wiesen und Felder. Ein parkähnliches Naherholungsgebiet, ideal zum Fahrradfahren, Joggen, Walken und …
»Wo ist der Hund?«, fragte Pia plötzlich.
»Welcher Hund?«, antworteten Kröger und Dr. Lemmer überrascht.
»Das ist eine Hundeleine.« Pia bückte sich und deutete auf einen dunkelbraunen, schon ziemlich abgenutzten Lederriemen, den sich die Frau um Schulter und Oberkörper geschlungen hatte. »Sie war hier mit ihrem Hund spazieren. Und da wir keinen Autoschlüssel bei ihr gefunden haben, muss sie hier ganz in der Nähe wohnen.«
***
»Ich bin so froh, dass ich jetzt drei Wochen Urlaub habe.« Karoline Albrecht seufzte zufrieden und streckte die Beine aus. Sie saß am Esszimmertisch im Hause ihrer Eltern, vor sich eine Tasse ihres Lieblingstees – Roibusch Vanille – und spürte, wie der Stress der vergangenen Wochen und Monate allmählich von ihr abfiel und einem Gefühl tiefer Ruhe Platz machte. »Greta und ich werden es uns zu Hause gemütlich machen oder einfach bei dir herumsitzen und Plätzchen futtern.«
»Ihr seid herzlich willkommen.« Ihre Mutter lächelte sie über den Rand ihrer Lesebrille an. »Aber wolltet ihr nicht eigentlich irgendwohin in die Sonne fliegen?«
»Ach, Mama, ich glaube, ich bin in diesem Jahr mehr geflogen als Carsten – und der ist Pilot!«, grinste Karoline und nippte an ihrem Tee. Ihre Heiterkeit war jedoch nur aufgesetzt.
Seit acht Jahren war sie Executive Partner bei einer internationalen Unternehmensberatung, zuständig für Restrukturierung und Internationalisierung von Unternehmen, und vor zwei Jahren hatte man ihr die Leitung des Management Consulting übertragen. Seitdem lebte sie quasi in Hotels, Flugzeugen und in den VIP-Bereichen der Flughäfen. Sie war eine der ganz wenigen Frauen in einer solchen Position und verdiente so unverschämt viel Geld, dass es ihr beinahe unmoralisch vorkam. Greta war in einem Internat, ihre Ehe auf der Strecke geblieben, und alle Freundschaften waren aus Mangel an Pflege im Laufe der Zeit versandet. Immer hatte der Job für sie oberste Priorität gehabt, schon beim Abitur, das sie mit einem Durchschnitt von 1,0 bestanden hatte, hatte sie die Beste sein wollen. Ihr Studium der Betriebswirtschaft an Eliteuniversitäten in Deutschland und den USA hatte sie mit Auszeichnung abgeschlossen, und danach hatte sie eine kometenhafte Karriere gemacht.
Seit ein paar Monaten jedoch fühlte sie sich erschöpft und leer, und mit der Erschöpfung waren die Zweifel am Sinn ihrer Arbeit gekommen. War es wirklich so wahnsinnig wichtig, was sie da tat, wichtiger, als Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen und mal ein wenig das Leben zu genießen? Sie war dreiundvierzig und hatte nie richtig gelebt. Seit zwanzig Jahren hetzte sie von einem Termin zum nächsten, lebte aus dem Koffer und umgab sich mit Menschen, denen sie nichts bedeutete und die ihr völlig gleichgültig waren. Greta fühlte sich in Carstens neuer Familie wohl, sie genoss es, Geschwister zu haben, einen Hund und eine Ersatzmutter, die ihr näher stand als sie, ihre leibliche Mutter! Karoline war auf dem besten Weg, ihre Tochter zu verlieren, und daran war sie selbst schuld, denn sie hatte sich im Leben ihrer Tochter entbehrlich gemacht.
»Aber dein Job macht dir doch noch Spaß, oder?«
Die Stimme ihrer Mutter riss Karoline Albrecht aus ihren Gedanken.
»Ich bin mir nicht mehr so sicher«, erwiderte sie und stellte die Tasse auf den Tisch. »Deshalb nehme ich mir nächstes Jahr eine Auszeit. Ich möchte mehr Zeit mit Greta verbringen. Und ich überlege, das Haus zu verkaufen.«
»Ach!« Margarethe Rudolf hob die Augenbrauen, schien aber nicht sonderlich erschüttert zu sein. »Wieso das denn?«
»Es ist viel zu groß«, erwiderte Karoline. »Ich suche für Greta und mich etwas Kleineres, Gemütlicheres. So etwas wie das hier.«
Sie selbst hatte das Haus so haben wollen, wie es war: stylisch, luxuriös und energieeffizient, vierhundert Quadratmeter Wohnfläche mit Sichtbetonböden und jedem erdenklichen Komfort. Richtig heimisch war sie jedoch nie geworden, und im Stillen sehnte sie sich nach der gemütlichen, alten Villa ihrer Eltern, in der sie aufgewachsen war – mit knarrenden Holztreppen, hohen Decken, mit den abgestoßenen Fliesen im Schachbrettmuster in der Küche, den Erkerzimmern und den altmodischen Bädern.
»Darauf sollten wir anstoßen«, schlug ihre Mutter vor. »Was hältst du davon?«
»Klar, ich habe immerhin Urlaub.« Karoline lächelte. »Hast du eine Flasche im Kühlschrank?«
»Natürlich. Sogar Champagner.« Ihre Mutter zwinkerte ihr zu.
Wenig später saßen sie sich gegenüber und stießen an, auf Weihnachten und auf Karolines Entschluss, etwas Grundlegendes in ihrem Leben zu verändern.
»Weißt du, Mama«, sagte sie, »ich war viel zu zwanghaft und wollte mit aller Macht dem perfekten Bild entsprechen, das alle Leute von mir hatten: diszipliniert, vernünftig, durchorganisiert. Ich habe mich damit nur gestresst, weil ich das alles nicht aus echter Überzeugung getan habe, sondern nur, weil man es von mir so erwartet hat.«
»Du hast dich befreit«, stellte ihre Mutter fest.
»Ja. Ja, das habe ich.« Karoline ergriff beide Hände ihrer Mutter. »Ich kann wieder atmen und schlafen, Mama! Ich komme mir vor, als hätte ich jahrelang unter Wasser gelebt und sei plötzlich aufgetaucht, nur um festzustellen, wie schön die Welt ist! Arbeiten und Geld sind nicht alles im Leben.«
»Nein, Karolinchen, das ist wahr.« Margarethe Rudolf lächelte, aber ihr Lächeln war traurig. »Dein Vater ist leider nie zu dieser Erkenntnis gelangt. Vielleicht passiert das ja noch, wenn er eines Tages im Ruhestand ist.«
Karoline wagte das zu bezweifeln.
»Weißt du was, Mama? Wir gehen zusammen einkaufen«, sagte sie entschlossen. »Wir kochen an Heiligabend gemeinsam, so wie früher.«
Ihre Mutter lächelte gerührt und nickte.
»Das machen wir. Und morgen Abend kommst du mit Greta zum Plätzchen backen. Damit ihr auch was zu naschen habt, wenn ihr Weihnachten hier seid.«
***
Eine halbe Stunde später tauchte Oliver von Bodenstein am Leichenfundort auf.
»Danke, dass du eingesprungen bist«, sagte er zu Pia. »Ich kann jetzt übernehmen.«
»Och, ich hab heute sowieso nichts zu tun«, erwiderte sie. »Wenn du willst, bleibe ich noch.«
»Das Angebot schlage ich nicht aus.«
Er grinste, und Pia schoss der Gedanke durch den Kopf, wie sehr ihr Chef sich in den letzten zwei Jahren verändert hatte. Nachdem er aufgrund der Zerrüttung seiner Ehe oft abgelenkt und unkonzentriert gewesen war, hatte er nun zu alter Souveränität und seinem Scharfsinn zurückgefunden, dabei war er sich selbst gegenüber großzügiger geworden. War Pia früher diejenige gewesen, die gerne waghalsige Vermutungen anstellte und Dinge energisch vorantrieb, während er sich korrekt an Regeln und Gesetze hielt und sie bremste, so schien es ihr heute manchmal, als hätten sie die Rollen getauscht.
Nur wer einen existentiellen Verlust er- und überlebt hat, ist in der Lage, zu reifen und sich zu verändern. Diesen Satz hatte Pia irgendwo gelesen, und er traf zu, nicht nur auf ihren Chef, sondern auch auf sie. In einer Beziehung konnte man sich sehr lange Zeit etwas vormachen, die Augen vor der Realität verschließen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Doch unweigerlich kam der Tag, an dem die Illusion wie eine Seifenblase zerplatzte und man vor die Wahl gestellt wurde: gehen oder bleiben, nur überleben oder wieder wirklich leben.
»Hast du schon mit dem Zeugen gesprochen?«, fragte Bodenstein.
»Ja«, antwortete Pia und schlug die Kapuze hoch. Der Wind war eisig. »Er kam mit dem Fahrrad den Dörnweg entlang, so heißt diese Querverbindung zwischen den Stadtteilen, aus Eschborn und fuhr Richtung Niederhöchstadt. Ungefähr auf der Höhe von diesem Strommast dort drüben sah er, wie die Frau zusammenbrach. Er dachte, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt oder so etwas und radelte zu ihr hin. Einen Schuss hat er nicht gehört.«
»Wissen wir schon etwas über die Identität der Toten?«
»Nein. Aber ich denke, dass sie hier in der Nähe wohnt, denn sie war mit einem Hund unterwegs und hatte keinen Autoschlüssel dabei.«
Sie traten ein Stück zur Seite, um dem Leichenwagen Platz zu machen.
»Wir haben auch die Kugel gefunden«, fuhr Pia fort. »Ziemlich verformt zwar, aber zweifellos eine Gewehrkugel. Dr. Lemmer sagt, es handelt sich um ein Teilmantelgeschoss. Jäger benutzen diese Art von Munition und auch wir, wegen der größeren Mannstoppwirkung. Beim Militär sind sie durch die Haager Landkriegsordnung allerdings verboten.«
»Das hat dir alles Dr. Lemmer beigebracht?«, fragte Bodenstein mit einem leicht spöttischen Unterton. »Wer ist das überhaupt?«
»Nein, stell dir vor, das wusste ich schon vorher«, entgegnete Pia spitz. »Dr. Frederick Lemmer ist der neue Rechtsmediziner.«
Ein Pfiff ertönte. Pia und Bodenstein wandten sich um und sahen Kröger unten am Bachlauf mit beiden Armen gestikulieren.
»Christian hat was gefunden«, sagte Pia. »Lassen wir ihn nicht warten.«
Wenig später überquerten sie eine hölzerne Brücke und betraten den unteren Teil eines Spielplatzes. Schaukeln, Wippen, bunte Klettergeräte, eine Seilbahn, Sandkästen und eine Wasserspielanlage verteilten sich über das großzügige Areal oberhalb des Westerbachs.
»Hier!«, rief Kröger aufgeregt wie immer, wenn er etwas entdeckt hatte. »Hier in diesem Gebüsch muss er gelegen haben! Das Gras ist noch plattgedrückt, und da … dort … seht ihr … da ist ein Abdruck von einem Zweibein. Etwas verwischt zwar, aber deutlich zu erkennen.«
Pia musste zugeben, dass sie überhaupt nichts erkannte außer nassen Grasbüscheln, altem Laub und feuchter Erde.
»Du meinst, der Täter hat hier gelegen und dem Opfer aufgelauert?«, vergewisserte Bodenstein sich.
»Ja. Genau.« Kröger nickte heftig. »Ob er speziell diese Frau im Visier hatte oder einfach nur irgendjemanden erschießen wollte, das kann ich euch natürlich auch nicht sagen, aber eins weiß ich: Der Typ ist kein Amateur, der einfach so ein bisschen durch die Gegend ballert. Er hat hier auf der Lauer gelegen, einen Schalldämpfer benutzt und eine üble Munition …«
»Teilmantelgeschoss«, warf Bodenstein lässig ein und zwinkerte Pia zu.
»Richtig! Ich sehe, du bist schon informiert«, sagte Kröger, ungehalten über die Unterbrechung. »Also, ich denke, er hat hier gelegen, wahrscheinlich in irgendeiner Art Ghillie-Anzug.«
»Gilli – was?«, fragte Bodenstein.
»Herrje, Oliver, du tust ja mal wieder, als wärst du schwer von Begriff!«, regte sich Kröger auf. »Ein Ghillie-Anzug ist ein Tarnüberwurf, den Jäger oder Scharfschützen benutzen, weil er die Formen des menschlichen Körpers verbirgt und den Schützen mit seiner Umgebung verschmelzen lässt. Aber ist auch egal. Hier lag auf jeden Fall jemand mit einem Gewehr, das auf einer zweibeinigen Stütze abgelegt wurde, um besser zielen zu können. Den Rest dürft ihr rausfinden. So, und jetzt sorgt am besten dafür, dass uns die Leute hier in Ruhe arbeiten lassen.«
Er wandte sich abrupt ab und ließ sie stehen.
»Er glaubt, du hättest ihn veräppelt«, sagte Pia zu ihrem Chef.
»Ich wusste tatsächlich nicht, was ein Ghillie-Anzug ist!«, rechtfertigte Bodenstein sich. »Ich meine, jetzt, wo er es erklärt hat, weiß ich wieder, dass ich es wusste, aber vorhin, da wusste ich es nicht.«
»Um es kurz zu machen: Es war dir entfallen«, half Pia ihm.
»Du bringst es mal wieder auf den Punkt.«
Bodensteins Handy begann zu klingeln.
»Ich kümmere mich mal darum.« Pia wies mit einem Kopfnicken auf die Menschenansammlung, die sich bereits auf dem Weg gebildet hatte und steten Zulauf fand. Einige Leute hielten sogar ihre Handys hoch und fotografierten, obwohl außer dem rotweißen Flatterband und den Beamten von der Spurensicherung nichts zu sehen war, andere guckten einfach nur und diskutierten miteinander, getrieben von der uralten Lust der Menschen am Schrecklichen. Es verblüffte Pia immer wieder aufs Neue, welche Faszination der gewaltsame Tod eines Menschen auf andere ausübte.
Sie ging zu einem Kollegen, der gerade zwei Mütter mit ein paar kleinen Kindern davon abhielt, den Spielplatz zu betreten.
»Wir sind aber jeden Mittwochvormittag hier«, beschwerte sich die eine Mutter. »Die Kinder freuen sich die ganze Woche darauf!«
Der uniformierte Kollege verzog genervt das Gesicht.
»In ein paar Stunden können Sie den Spielplatz ja wieder benutzen«, sagte er. »Jetzt ist er gesperrt.«
»Warum? Und was ist mit der Brücke? Wieso ist die auch gesperrt?«, wollte die andere Mutter wissen. »Wie sollen wir denn bitte schön jetzt über den Bach kommen?«
»Nehmen Sie einfach den Weg Richtung Schwimmbad. Da unten gibt es noch eine Brücke«, riet der Beamte.
»Das ist ja echt eine Unverschämtheit!«, empörte sich Mutter Nummer eins, auch die zweite wurde nun aggressiv und erzählte etwas von Polizeistaat und Bewegungsfreiheit.
»Kollege«, sagte Pia. »Erweitert bitte die Absperrung bis zu der Wegkreuzung und bis oben zu der Straße. Holt euch Verstärkung, falls es Probleme gibt.«
Die streitbare Mutter nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit und schob ihren Kinderwagen unter dem Absperrband durch.
»Stopp!«, sagte Pia und stellte sich ihr in den Weg. »Bitte verlassen Sie den abgesperrten Bereich.«
»Wieso?« Die Augen der Frau blitzten, sie schob angriffslustig das Kinn vor. »Wen stört es schon, wenn unsere Kinder hier etwas im Sand buddeln?«
»Uns stört das bei unserer Arbeit«, antwortete Pia kühl. »Ich bitte Sie höflich, zu gehen.«
»Wir haben in Deutschland ja wohl ein Recht auf Bewegungsfreiheit!«, zeterte die Mutter. »Schauen Sie, was Sie angerichtet haben! Die Kinder sind total verstört, weil die Polizei sie daran hindert, den Spielplatz zu benutzen! Sie verstehen das noch nicht!«
Pia war kurz versucht, ihr zu sagen, dass sie selbst durch ihr uneinsichtiges Verhalten eine Eskalation herbeigeführt hatte, die die Kinder weitaus mehr verstörte als ein rotweißes Absperrband, aber sie hatte keine Zeit und es würde auch keinen Zweck haben.
»Zum letzten Mal«, sagte sie deshalb mit Nachdruck. »Bitte verlassen Sie den abgesperrten Bereich. Sollten Sie das nicht tun, behindern Sie polizeiliche Ermittlungen. Wir werden dann Ihre Personalien aufnehmen und Sie anzeigen. Ich bin mir sicher, Sie wollen Ihren Kindern kein schlechtes Vorbild sein, oder doch?«
»Wir kommen immer mittwochs extra aus Kronberg hierher und dann so was!« Die Mutter funkelte sie an, schnaubte wütend, als von Pia keine Reaktion mehr kam, und trat dann laut schimpfend den Rückzug an. »Wir werden uns beschweren! Mein Mann kennt wichtige Leute im Innenministerium!«
Eine Frau, die unbedingt das letzte Wort haben musste. Pia ließ es ihr und bedauerte insgeheim ihren Ehemann.
»Unfassbar«, sagte der Beamte neben Pia kopfschüttelnd. »Das wird echt immer schlimmer. Die Leute meinen, sie hätten nur noch Rechte! Rücksicht ist ein Fremdwort geworden.«
Bodenstein wartete ein Stück entfernt. Pia überließ die neugierige Menge ihren Kollegen und ging zu ihrem Chef. Sie überquerten den Kinderspielplatz, der nasse Rasen quatschte unter ihren Schuhen.
»Wir klingeln an allen Haustüren und fragen, ob jemand eine weißhaarige Frau mit Hund kennt«, sagte Bodenstein. »Falls überhaupt jemand zu Hause ist und nicht alle Anwohner schon da unten stehen und gaffen.«
Sie begannen beim ersten Haus in der Kette von Reihenhäusern. Bevor Bodenstein auf die Klingel drücken konnte, bemerkte Pia einen dunkelbraunen Labrador, der ängstlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen zwei geparkten Autos kauerte.
»Ich wette, das ist der Hund der Toten«, sagte sie. »Vielleicht kann ich ihn einfangen.«
Sie ging langsam auf den Hund zu, hockte sich hin und streckte die Hand aus. Der Hund war nicht mehr der Jüngste, das verriet die graue Schnauze. Und von Fremden hielt er nicht besonders viel. Er sprang auf, quetschte sich hinter dem Auto durch die Büsche und verschwand in Richtung Nachbarstraße. Bodenstein und Pia folgten ihm, aber als sie um die Straßenecke bogen, war der Hund verschwunden.
»Ich klingele jetzt einfach irgendwo«, sagte Bodenstein und öffnete das Gartentor des ersten Hauses. Niemand da. Auch beim zweiten Haus reagierte niemand, erst beim dritten Haus hatte er Erfolg.
Die Haustür öffnete sich einen Spaltbreit, und eine ältere Frau lugte misstrauisch über die Sperrkette hinaus.
»Ja bitte?«
»Wir sind von der Kriminalpolizei.« Pia, der es schon öfter passiert war, dass man sie und Bodenstein für Zeugen Jehovas oder unerwünschte Vertreter hielt, hatte ihren Polizeiausweis parat. Aus dem Hintergrund ertönte die Stimme eines Mannes. Die Frau drehte sich um.
»Die Polizei!«, rief sie, dann schloss sie die Tür, entfernte die Sperrkette und öffnete ganz.
»Wissen Sie zufällig, ob jemand hier in der Straße einen etwas älteren dunkelbraunen Labrador besitzt?«, fragte Pia.
Hinter der Frau erschien ein weißhaariger Mann in Strickjacke und Pantoffeln an den Füßen.
»Des könnt die Topsi von der Renaade sein«, sagte die Frau. »Wieso wolle Se des denn wisse? Is was passiert?«
»Wissen Sie auch, wie ›die Renate‹ mit Nachnamen heißt und wo sie wohnt?« Bodenstein überhörte die Frage.
»Ei, sischer. Rohleder heißt die Renaade mit Nachname«, erwiderte die Frau eifrig. »Hoffentlisch hat die Topsi kein Unfall gehabt, des tät der Renaade nämlisch des Herz bresche!«
»Sie wohnt in der Nummer 44«, ergänzte der Mann. »Die Straß enuff. Des gelbe Haus mit ner weiße Bank im Vorgadde.«
»Eischentlisch war des Haus ja ihrm Mann.« Die Frau senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüsterton, ihre Augen blitzten. »Aber als er se verlasse hat, damals, vor sibbe Jahrn drei Taach vor Weihnachte, is ihre Mudder zu ihr gezooche.«
»Des will die Polizei doch gar net wisse«, maßregelte ihr Mann seine tratschsüchtige Gattin. »Den Rohleders geheert der Blummelade in der Unterortstraß, unne im Ort. Aber die Ingeborg is sischer dahaam. Normalerweis geht die immer um die Zeit middem Hund spaziern.«
»Danke für die Informationen«, sagte Bodenstein höflich. »Sie haben uns sehr weitergeholfen. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie nicht gleich im Blumenladen anrufen würden.«
»Ei natürlisch net«, versicherte die Frau mit leiser Entrüstung. »So eng sin mer mit der Renaade ja nu aach net.«
Bodenstein und Pia verabschiedeten sich und gingen die Straße hoch. Die Nummer 44 war ein Reihenendhaus, das mit seinem freundlichen sonnengelben Anstrich aus der Reihenhausbatterie hervorstach. Unter einem Carport aus hellem Holz stand ein alter, aber gepflegter Opel, der kleine Vorgarten war sorgfältig auf den Winter vorbereitet worden. Ein paar Pflanzen waren zum Schutz vor Schnee und Kälte mit Jutesäcken umwickelt, in einem Busch hingen Weihnachtskugeln, und um einen Buchsbaum war eine Lichterkette geschlungen. Vor der Haustür, an der ein geschmückter Tannenkranz hing, wartete die zitternde Topsi vergeblich darauf, dass ihr jemand die Tür öffnete.
***
Die Türglocke bimmelte, feuchtwarme Luft und der überwältigende Geruch von Blumen und Tannenzweigen schlugen ihnen entgegen, als sie den Laden betraten, über dessen Schaufenster ein altmodisches Schild mit der Aufschrift Blumen Rohleder – seit 50 Jahren angebracht war.
Der Laden hinter den beschlagenen Scheiben war voll. Menschen, Blumen und allerlei Nippes in offenen Vitrinen, Holzregalen und Körben. Hinter einem langen Tresen waren drei Frauen damit beschäftigt, Blumensträuße zu binden.
Es kostete Bodenstein, der den Geruch in Blumenläden unweigerlich mit Leichenhallen auf Friedhöfen assoziierte, einiges an Überwindung, nicht sofort auf dem Absatz kehrtzumachen. Blumen in Gärten und auf Wiesen waren etwas Schönes, abgeschnitten in Vasen mochte er sie nicht, fast ekelte er sich sogar davor.
Er ging an den Wartenden vorbei, trotz der Proteste eines betagten Mütterchens, das mit einem winzigen Weihnachtsstern in der Hand darauf wartete, als Nächste bedient zu werden.
»So geht das aber nicht, junger Mann«, monierte das Mütterchen mit zittriger Stimme und versetzte ihm einen gar nicht zittrigen Stoß mit ihrer Gehhilfe.
»Danke für den jungen Mann«, entgegnete Bodenstein trocken, der sich an Tagen wie diesem besonders alt fühlte. Jemandem die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Angehörigen zu überbringen fiel ihm nach fünfundzwanzig Jahren bei der Kriminalpolizei noch genauso schwer wie beim ersten Mal.
»Ich bin sechsundneunzig!«, sagte die alte Frau mit einem Anflug von Stolz. »Gegen mich seid ihr alle junge Hüpfer!«
»Dann gehen Sie doch bitte vor.« Bodenstein trat einen Schritt zur Seite und wartete geduldig, bis der Weihnachtsstern eingepackt und bezahlt war. Pia, die sich im Laden umgesehen hatte, trat neben ihn.
»Sie wünschen bitte?« Die dralle Blondine mit ein bisschen zu viel Schminke um die Augen und Händen, die von der Arbeit mit Blumen und Wasser rissig waren, sah ihn fröhlich lächelnd an.
»Guten Tag. Mein Name ist Bodenstein von der Kriminalpolizei in Hofheim, das ist meine Kollegin Pia Kirchhoff«, erwiderte er. »Wir möchten mit Renate Rohleder sprechen.«
»Das bin ich. Was kann ich für Sie tun?« Das Lächeln verschwand, und Bodenstein schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass sie wohl für lange Zeit nicht mehr lächeln würde.
Die Glocke an der Ladentür verhieß neue Kundschaft. Frau Rohleder begrüßte sie nicht, ihr Blick hatte sich an Bodensteins Gesicht festgesaugt, und sie schien das Unheil, das ihr Leben verändern würde, zu ahnen.
»Ist … ist etwas passiert?«, flüsterte sie.
»Vielleicht können wir woanders sprechen«, bat Bodenstein.
»Na… natürlich. Kommen Sie.« Sie hielt die schmale hölzerne Schwingtür am Ende des Tresens auf, Bodenstein und Pia gingen durch und folgten ihr in ein kleines, hoffnungslos vollgestopftes Büro am Ende des Flurs.
»Ich fürchte, wir kommen mit einer schlimmen Nachricht«, begann Bodenstein. »Heute Morgen gegen neun Uhr wurde im Feld zwischen Eschborn und Niederhöchstadt die Leiche einer Frau gefunden. Sie hatte weiße Haare, trug eine olivfarbene Jacke und eine pinkfarbene Mütze …«
Renate Rohleder wurde kreidebleich, Unglauben malte sich auf ihren Zügen. Kein Ton kam über ihre Lippen, sie stand einfach nur da, mit herabhängenden Armen. Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.
»Die Frau hatte eine Hundeleine dabei«, fuhr Bodenstein fort.
Renate Rohleder machte einen Schritt rückwärts und sackte auf einen Stuhl. Dem Unglauben folgte die innerliche Abwehr – das kann nicht sein, hier liegt sicherlich eine Verwechslung vor!
»Sie wollte nach dem Spaziergang mit Topsi in den Laden kommen, um zu helfen. Vor Weihnachten ist immer so viel los. Ich wollte sie schon anrufen, aber ich kam nicht dazu«, murmelte sie tonlos. »Meine Mutter hat eine pinke Wollmütze. Ich habe sie ihr vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt, zusammen mit einem pinken Schal. Und für den Hundespaziergang hat sie immer ihre alte Barbour-Jacke angezogen, dieses hässliche, stinkende Ding …«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Nun setzte der Schock ein, mit dem Begreifen einer endgültigen Tatsache.
Bodenstein und Pia wechselten einen kurzen Blick. Die pinkfarbene Mütze, der Labrador, die olivfarbene Jacke. Es gab keinen Zweifel mehr, dass es sich bei der Toten um Ingeborg Rohleder handelte.
»Was ist passiert? Hatte sie … hatte sie einen Herzinfarkt?«, flüsterte Renate Rohleder und blickte Bodenstein wieder an. Die Tränen rannen über ihre Wangen, vermischten sich mit dem schwarzen Eyeliner und der Wimperntusche. »Ich muss zu ihr! Ich muss sie sehen!«
Sie sprang ganz plötzlich auf, klaubte Handy und Autoschlüssel vom Schreibtisch und riss eine Jacke vom Kleiderständer neben der Tür.
»Frau Rohleder, warten Sie!« Bodenstein ergriff die zitternde Frau sanft an den Schultern und hielt sie fest. »Wir fahren Sie jetzt nach Hause. Sie können nicht zu Ihrer Mutter.«
»Warum nicht? Vielleicht ist sie gar nicht tot, sondern nur … nur bewusstlos oder … oder im Koma!«
»Es tut mir sehr leid, Frau Rohleder. Ihre Mutter wurde erschossen.«
»Erschossen? Meine Mutter wurde erschossen?«, flüsterte sie fassungslos. »Das kann doch nicht sein! Wer sollte denn so etwas tun? Meine Mutter war der freundlichste und hilfsbereiteste Mensch der Welt!«
Renate Rohleder schwankte und ging in die Knie. Bodenstein gelang es gerade noch, sie auf den Stuhl zu setzen, bevor sie zusammenbrach. Sie starrte ihn an und öffnete den Mund zu einem schrecklichen, gellenden, verzweifelten Schrei, der Bodenstein noch für Stunden in den Ohren klingen sollte.
***
Die Runde im Besprechungsraum des K11 war überschaubar. Bodenstein und Pia saßen auf der einen Seite des ovalen Tisches, Dr. Nicola Engel vor Kopf und Kai Ostermann hatte sich auf die gegenüberliegende Seite gesetzt, um niemanden mit seinen Bazillen zu verseuchen. Er schniefte und hustete unablässig und war in einem wahrhaft bemitleidenswerten Zustand. Vor den Fenstern war es bereits dunkel, als Bodenstein seinen Bericht beendet hatte und verstummte.
»Wir sollten erwägen, an die Öffentlichkeit zu gehen«, überlegte Nicola Engel laut. »Vielleicht hat jemand den Schützen vom Kinderspielplatz kommen sehen. Dank des Zeugen haben wir ja ein sehr konkretes Zeitfenster.«
»Das halte ich für eine gute Idee, aber wir sind derzeit völlig unterbesetzt«, wandte Bodenstein ein. »Pia ist eigentlich im Urlaub und nur heute eingesprungen. Wenn wir jetzt noch zusätzlich Kapazitäten mit einer Telefon-Hotline binden, kann ich alleine losziehen.«
»Welches Vorgehen schlägst du stattdessen vor?« Nicola Engel hob die schmal gezupften Augenbrauen.
»Wir wissen bisher noch nicht, ob Ingeborg Rohleder gezielt erschossen wurde oder ein Zufallsopfer ist«, erwiderte Bodenstein. »Wir müssen mehr über ihren Bekanntenkreis herausfinden, bevor wir an die Öffentlichkeit gehen. Nach Gesprächen mit der Tochter des Opfers, den Angestellten des Blumenladens und ein paar Nachbarn scheint die Tote eine allseits beliebte Dame gewesen zu sein, scheinbar ohne Feinde. Ein persönliches Tatmotiv ist momentan nicht zu erkennen.«
»Erinnert euch an den Fall Vera Kaltensee. Da war es genauso«, warf Pia ein. »Sie haben wir auch zuerst für beliebt, geschätzt und über alle Zweifel erhaben gehalten.«
»Das kann man doch nicht vergleichen«, widersprach Bodenstein.
»Wieso nicht?« Pia zuckte die Achseln. »Ein Mensch von siebzig Jahren hat eine lange Vergangenheit, in der viel passiert sein kann.«
»Ich könnte ein bisschen über das Opfer recherchieren«, krächzte Ostermann.
»Das auf jeden Fall.« Bodenstein nickte. »Vielleicht bringt uns ja auch die Untersuchung der Kugel Erkenntnisse über die Tatwaffe.«
»Gut.« Nicola Engel erhob sich. »Bitte halte mich auf dem Laufenden, Oliver.«
»Das mache ich.«
»Also, viel Erfolg.« Sie ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal um. »Danke, dass Sie heute eingesprungen sind, Frau Kirchhoff. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub und frohe Weihnachten.«
»Das wünsche ich Ihnen auch«, erwiderte Pia. »Danke.«
Ostermann schob den Stuhl zurück und wankte hustend in sein Büro, Pia folgte ihm. Auf seinem Schreibtisch standen eine ganze Reihe von Medikamenten, eine Thermoskanne mit Tee und ein Karton mit Kleenex-Tüchern.
»So erkältet war ich schon lange nicht mehr«, stöhnte Ostermann. »Wenn’s jetzt nicht gerade einen Mord gegeben hätte, würde ich morgen glatt zu Hause bleiben. Verschwinde lieber, Pia, bevor ich dich anstecke und du mit Husten und Schnupfen auf dem Kreuzfahrtschiff hockst.«
»Mensch, Kai, ich hab ein total schlechtes Gewissen, dich jetzt allein zu lassen«, sagte Pia.
»Ach Quatsch.« Ostermann nieste und schnaubte in ein Taschentuch. »Ich hätte überhaupt kein schlechtes Gewissen, wenn ich einen Urlaub gebucht hätte und du hier halbtot herumsitzen würdest.«
»Danke. Du bist immer so charmant.« Pia warf sich ihren kleinen ledernen Rucksack über die Schulter und grinste. »Dann wünsche ich dir gute Besserung und frohe Weihnachten! Ciao, Kollege!«
»Grüß mir die Sonne am Äquator!« Kai Ostermann winkte und nieste wieder. »Und jetzt hau hier endlich ab!«
Bodenstein hatte schlecht geschlafen. Nachdem er sich eine halbe Stunde hellwach von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, beschloss er aufzustehen, bevor er Inka weckte, die tief und fest neben ihm schlief und leise vor sich hin schnarchte. Er verließ das Schlafzimmer, ohne Licht zu machen, zog eine Fleecejacke über seinen Schlafanzug und ging die Treppe hinunter. In der Küche schaltete er die nagelneue halbautomatische Kaffeemaschine ein, die er sich als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk selbst geschenkt hatte, und stellte eine Tasse unter den Auslauf.
Zwei Kranke im K11, Cem Altunay und Pia im Urlaub und ein Mordfall, der nicht den Anschein machte, als sei er rasch aufgeklärt. Die Grippewelle hatte unter den Kollegen ziemlich gewütet, so dass er kaum zur Verstärkung auf Beamte von anderen Kommissariaten zurückgreifen konnte.
Das Mahlwerk rasselte, wenig später rann der Kaffee in die Tasse und verbreitete einen herrlichen Duft. Bodenstein schlüpfte mit bloßen Füßen in seine lammfellgefütterten Halbstiefel und trat hinaus auf den Balkon. Er nahm einen Schluck Kaffee – besseren hatte er nie getrunken –, setzte sich auf die Couch aus Polyrattan-Geflecht unter dem weit vorgezogenen Dach und hüllte sich in eine der Wolldecken, die ordentlich zusammengefaltet auf einem der Sessel lagen. Die Luft war frostig kalt, aber so klar, dass Bodenstein mit bloßem Auge die Positionslichter eines landenden Flugzeugs am Flughafen erkennen konnte. Der Ausblick über die Rhein-Main-Ebene von Frankfurt über den Industriepark Höchst bis zum Frankfurter Flughafen war immer wieder spektakulär – bei Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Er liebte es, hier draußen zu sitzen, seinen Gedanken nachzuhängen und dabei den Blick schweifen zu lassen. Überhaupt hatte er den Kauf der Doppelhaushälfte im Kelkheimer Stadtteil Ruppertshain noch keine einzige Sekunde bereut, kennzeichnete er für ihn doch die Rückkehr in ein normales Leben, das durch die Trennung von Cosima vor vier Jahren von einem Tag auf den anderen in Scherben gelegen hatte. Die einzige Konstante in dieser chaotischen Zeit war sein Job gewesen, und den hatte er nur noch, weil Pia ihm mehrere Male den Hals gerettet hatte. In seiner Unkonzentriertheit hatte er sich manch groben Fehler erlaubt, für den er sich im Nachhinein schämte, aber sie hatte nie ein Wort darüber verloren oder gar versucht, ihn bloßzustellen, um seine Position als Leiter des K11 zu ergattern. Zweifellos war sie die beste Kollegin, die er jemals gehabt hatte, und der Gedanke, dass er bei der Aufklärung des Mordes an der alten Dame aus Eschborn auf sie verzichten musste, beunruhigte ihn mehr, als er es sich bisher selbst eingestanden hatte. Die Schiebetür ging auf. Er wandte den Kopf und war erstaunt, als er seine ältere Tochter Rosalie erkannte.
»Hey, meine Große, warum bist du schon wach?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen«, sagte sie. »Mir geht so viel durch den Kopf.«
»Komm her.« Bodenstein rückte ein Stück zur Seite. Sie setzte sich neben ihn. Eine ganze Weile genossen Vater und Tochter schweigend den Ausblick und die Stille des frühen Wintermorgens. Ihr lag etwas auf der Seele, das spürte er, aber er wollte warten, bis sie von sich aus darüber redete. Die Entscheidung, mit vierundzwanzig Jahren als Souschefin in eines der besten Hotels in New York City zu gehen, war mutig, ganz besonders für Rosalie, der schon seit ihrer Kindheit jede kleinste Veränderung Bauchschmerzen bereitet hatte. Ihre Ausbildung zur Köchin hatte sie im vergangenen Jahr mit der Meisterprüfung als Beste ihres Jahrgangs abgeschlossen, und ihr Ausbilder, der Sternekoch Jean-Yves St. Clair, hatte ihr geraten, für eine Weile ins Ausland zu gehen, um dort Erfahrungen zu sammeln.
»Ich war noch nie länger als ein oder zwei Wochen von hier weg«, begann sie leise. »Überhaupt hab ich noch nie alleine gewohnt. Nur bei Mama und bei dir. Und jetzt gleich Amerika, New York!«
»Der eine verlässt früher, der andere später das Nest«, erwiderte Bodenstein und legte den Arm um die Schulter seiner Tochter, die die Beine anzog und sich unter der warmen Decke eng an ihn kuschelte. »Viele junge Leute ziehen zwar für ein Studium zu Hause aus, hängen aber trotzdem noch für Jahre am Tropf der Eltern. Du verdienst schon lange dein eigenes Geld und bist sehr selbständig. Außerdem hast du mehr oder weniger den ganzen Haushalt geschmissen. Was glaubst du, wie sehr ich das vermissen werde!«
»Ich werde dich auch vermissen, Papa. Ich werde das alles hier vermissen. Eigentlich bin ich doch gar kein Stadtmensch.« Rosalie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Was mache ich, wenn ich Heimweh kriege?«
»Zuerst glaube ich mal, dass du nur sehr wenig Zeit für Heimweh haben wirst«, entgegnete Bodenstein. »Falls das doch mal der Fall ist, dann skypst du mit den Menschen, die dir gerade fehlen, oder du rufst an. An Wochenenden oder wenn du ein paar Tage freihast, kannst du raus nach Long Island fahren oder in die Berkshire Hills. Das ist nur einen Katzensprung von New York entfernt. Und wie ich deine Mutter kenne, wird sie dich sicherlich hin und wieder besuchen.«
»Das glaube ich auch«, sagte Rosalie und seufzte. »Ich freue mich ja auch auf New York, auf den Job und die neuen Leute. Und trotzdem ist mir irgendwie mulmig.«
»Es wäre nicht normal, wenn es anders wäre«, erwiderte er. »Ich bin auf jeden Fall wahnsinnig stolz auf dich. Als du damals die Lehre angefangen hast, war ich der festen Überzeugung, dass das nur eine Trotzreaktion von dir war und du bald die Flinte ins Korn schmeißen würdest. Aber du hast nicht nur durchgehalten, sondern du bist eine ausgezeichnete Köchin geworden.«
»Manchmal war ich auch echt nah dran, aufzugeben«, verriet Rosalie. »Nie konnte ich dabei sein, wenn meine Freundinnen abends auf Partys, Konzerte oder in Clubs gegangen sind. Aber irgendwie waren sie alle so … planlos. Irgendwie bin ich die Einzige, die ihren Traumjob gefunden hat.«
Bodenstein lächelte in der Dunkelheit. Rosalie war ihm wahrhaftig sehr ähnlich, nicht nur was ihre Heimatverbundenheit und ihren Familiensinn betraf. Wie er war auch sie bereit, Verantwortung zu übernehmen und für eine Sache, die ihr etwas bedeutete, auf anderes zu verzichten. Von ihrer Mutter hatte sie hingegen etwas geerbt, was ihm ein wenig fehlte, nämlich einen ausgeprägten Ehrgeiz, der sie in die Lage versetzte, über manchen Schatten zu springen.
»Das ist viel wert. Nur wenn man etwas richtig gerne tut, dann hat man auch die Chance, erfolgreich zu werden und Erfüllung in seiner Arbeit zu finden«, sagte Bodenstein. »Ich bin fest davon überzeugt, dass du genau die richtige Entscheidung für dich getroffen hast. Das Jahr in Amerika wird dich in jeder Hinsicht ein großes Stück voranbringen.«
Er wandte den Kopf und legte seine Wange auf Rosalies Scheitel.
»Wenn es mal stürmisch wird in deinem Leben und du einen ruhigen Hafen brauchst, dann ist hier auf jeden Fall immer ein Platz für dich frei«, sagte er leise.
»Danke, Papa«, murmelte Rosalie und gähnte. »Jetzt geht’s mir schon besser. Ich glaub, ich schlaf doch noch ein bisschen.«
Sie richtete sich auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand ins Haus.
Aus Kindern werden Leute, dachte Bodenstein mit einem Anflug von Wehmut. Die Zeit verging so schnell! Lorenz und Rosalie waren längst erwachsen, und Sophia war vor ein paar Wochen schon sechs Jahre alt geworden! In achtzehn Jahren, wenn sie so alt war wie Rosalie heute, würde er fast siebzig sein! Ob er dann wohl zufrieden auf sein Leben zurückblicken würde? Als er vor anderthalb Jahren das Angebot bekommen hatte, Nicola Engels Job, den er während ihrer Suspendierung vertretungsweise übernommen hatte, zu behalten, hatte er abgelehnt. Zu viel Verwaltungsarbeit, zu viel Politik. Er wollte als Ermittler arbeiten, kein Schreibtischhengst sein. Erst später war ihm bewusst geworden, dass er mit seiner Ablehnung Pia jede Chance auf einen beruflichen Aufstieg innerhalb der Regionalen Kriminalinspektion genommen hatte. Seit zwei Jahren Kriminalhauptkommissarin, brachte sie alle nötigen Eigenschaften und Qualifikationen mit, um eine exzellente Leiterin des K11 zu sein. Doch solange er diesen Posten besetzte, würde sie sich damit begnügen müssen, nur Bestandteil seines Teams zu sein. Ob ihr das auf Dauer reichen würde? Was, wenn sie sich eines Tages dazu entschloss, woanders hin zu wechseln, um auf der Karriereleiter einen Schritt nach oben zu machen? Bodenstein trank den letzten Schluck Kaffee, der längst kalt geworden war. Seine Gedanken kehrten zu dem Mordfall zurück, den er aufzuklären hatte. Wie es sein würde, ohne Pia arbeiten zu müssen, würde er ja in den nächsten Tagen merken.
***
Pia Kirchhoff tat in der Nacht aus ähnlichen Gründen wie ihr Chef fast kein Auge zu. Der gestrige Mordfall ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Im Gegensatz zu einigen Kollegen, die behaupteten, sie könnten völlig abschalten und die Arbeit ausblenden, sobald sie nach Dienstschluss nach Hause fuhren, gelang ihr das nur selten. Irgendwann stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen nach unten und zog sich an. Die beiden Hunde krochen gähnend aus ihren Körbchen, die im Wohnzimmer standen, und folgten ihr eher aus Pflichtgefühl denn aus Begeisterung hinaus in die Kälte. Pia sah nach den beiden Pferden, die in ihren Boxen im Stehen schliefen, und setzte sich auf die Bank vor dem Stall.
Nach den ersten Erkenntnissen war Ingeborg Rohleder eine nette ältere Dame gewesen, die ihr Leben lang im familieneigenen Blumengeschäft gearbeitet und sich in ihrem Heimatort allgemeiner Beliebtheit erfreut hatte. Weder die befragten Nachbarn noch die schockierten Mitarbeiterinnen des Blumenladens hatten sich vorstellen können, dass es einen Menschen gab, der einen Grund hatte, Ingeborg Rohleder eine Kugel in den Kopf zu schießen. Lag eine Verwechselung vor, ein Irrtum, oder war die Frau tatsächlich ein zufälliges Opfer des Schützen geworden? Diese Vorstellung war weitaus beängstigender als jede andere. In rund siebzig Prozent aller Mordfälle in Deutschland gab es irgendeine Verbindung zwischen Täter und Opfer, häufig kam der Täter sogar aus dem näheren Bekanntenkreis seines Opfers. Meist spielten heftige Emotionen wie Eifersucht oder Wut eine Rolle oder die Angst vor der Entdeckung einer anderen Straftat. Reine ziellose Mordlust, die ein willkürliches Opfer fand, war sehr selten. Und die entsprechenden Fälle waren extrem schwer zu lösen, denn wenn es keine Verbindung zwischen Täter und Opfer gab, war man auf den Zufall in Form eines Zeugen, eines genetischen Fingerabdrucks oder eines anderen Details angewiesen. Erst kürzlich hatte Pia an einem Seminar teilgenommen, auf dem die Entwicklung der Gewaltkriminalität mit Schusswaffengebrauch ein Thema gewesen war, und selbst sie war erstaunt gewesen, wie wenige Tötungsdelikte – nämlich lediglich vierzehn Prozent – in Deutschland tatsächlich mit Schusswaffen verübt wurden.
Pia fröstelte. Auf der nahen Autobahn jenseits des kleinen Reitplatzes war um diese frühe Uhrzeit noch nicht viel los, nur vereinzelt huschte Scheinwerferlicht vorbei. In spätestens zwei Stunden würde sich das gravierend ändern. Pias Blick fiel auf die beiden Hunde, die jämmerlich zitternd vor ihr saßen und offenbar bereuten, dass sie ihre behaglichen Körbchen verlassen hatten.
»Na kommt, wir gehen wieder rein«, sagte sie und stand auf. Die Hunde flitzten vor ihr her und schlüpften ins Haus, kaum dass sie die Tür aufgeschlossen hatte. Pia zog Jacke und Stiefel aus, ging wieder hoch und kuschelte sich ins Bett.
»Uh, was ist denn das für ein Eisblock?«, murmelte Christoph, als sie sich an seinen schlafwarmen Körper schmiegte.
»Ich war nur kurz draußen«, flüsterte Pia.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Zwanzig nach fünf.«
»Was ist los?« Er drehte sich zu ihr um und nahm sie in die Arme.
»Die Tote von gestern geht mir nicht aus dem Kopf«, erwiderte Pia.
Sie hatte Christoph gestern am späten Abend erzählt, weshalb sie arbeiten gewesen war, obwohl sie eigentlich Urlaub hatte. Niemand hatte für so etwas mehr Verständnis als Christoph, der seinen Beruf als Direktor des Opel-Zoos selbst mit Leidenschaft und Engagement ausübte und, wenn Not am Mann war, keine Wochenenden und freien Tage kannte.
»Die Frau war eine nette Omi, überall beliebt«, fuhr Pia fort. »Der Täter hat ein Gewehr mit Schalldämpfer benutzt.«
»Und was bedeutet das?« Christoph unterdrückte ein Gähnen.
»Wir sind zwar noch ganz am Anfang der Ermittlungen, aber irgendwie sieht es für mich so aus, als sei die Frau ein Zufallsopfer gewesen«, erklärte Pia. »Und das bedeutet möglicherweise, dass wir es mit einem Heckenschützen zu tun haben, der einfach so auf irgendwelche Leute schießt.«
»Und jetzt machst du dir Sorgen, weil deine Kollegen krank oder im Urlaub sind.«
»Ja, das stimmt.« Sie nickte. »Ich würde mit einem weitaus besseren Gefühl in den Urlaub fahren, wenn Cem und Kathrin da wären.«
»Hör mal, Süße.« Christoph schloss sie in seine Arme und küsste ihre Wange. »Ich würde verstehen, wenn du in einer Situation wie dieser lieber hierbleiben möchtest. Für mich ist es ja sowieso eher Arbeit als Urlaub …«
»Ich kann dich doch nicht allein in die Flitterwochen fahren lassen!«, protestierte Pia.
»Flitterwochen kann man nachholen«, entgegnete Christoph. »Es wäre kaum eine Erholung für dich, wenn dich permanent das schlechte Gewissen quält.«
»Ach, die schaffen das auch ohne mich«, sagte Pia ohne große Überzeugung. »Vielleicht klärt sich ja heute schon alles auf.«
»Du kannst es dir ja noch überlegen.« Christoph zog sie an sich. Die Wärme seines Körpers hatte eine beruhigende Wirkung, und Pia spürte, wie die Müdigkeit sie überkam.
»Ja«, murmelte sie. »Das kann ich.«
Und dann döste sie wieder ein.
***
Er blätterte die Zeitung durch, las sorgfältig jede Seite. Nichts. Kein Wort über den Mord in Eschborn. Auch im Internet hatte er nichts gefunden – weder in den Nachrichten noch im Polizeibericht. Offenbar hielt die Polizei es für besser, die Sache vorerst aus der Presse herauszuhalten, was ihm nur recht sein konnte. In ein paar Tagen würde sich das ändern. Aber bis dahin schützte ihn die Unwissenheit der Öffentlichkeit vor zufälligen Zeugen, und er konnte sich problemlos bewegen.
Mit seiner Strategie war er zufrieden. Alles war genau so gelaufen, wie er es geplant hatte. Auf dem Parkplatz am Wiesenbad in Eschborn waren zwar ein paar Mütter mit ihren Kindern herumgelaufen, aber niemand hatte ihm Beachtung geschenkt, als er die Sporttasche mit dem Gewehr in den Kofferraum seines Autos gelegt hatte und davongefahren war.
Auf seinem iPad rief er die Seite des Deutschen Wetterdienstes auf. Das tat er seit Wochen und Monaten mehrmals am Tag, denn das Wetter war ein ausgesprochen wichtiger Faktor.
»Mist«, murmelte er.
Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage hatte sich seit gestern verändert. Er runzelte die Stirn, als er von starkem Schneefall bis in die Niederungen ab Freitagabend las.
Schnee war schlecht. Im Schnee hinterließ man Spuren. Was sollte er nun machen? Ein genau ausgeklügelter Plan, in dem alle Risiken bedacht und auf ein Minimum reduziert waren, war die Voraussetzung für das Gelingen seines Vorhabens. Nichts war gefährlicher als Spontaneität. Aber der verdammte Schnee drohte ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Eine Weile saß er nachdenklich am Tisch, rief sich ein weiteres Mal alle Details seines Plans ins Gedächtnis. Es half nichts. Der Schnee war eine ernsthafte Bedrohung, deshalb musste er den Zeitplan ändern. Sofort.
***
»Mensch, Kai, du gehörst ins Bett«, sagte Bodenstein, als er den Besprechungsraum des K11 betrat und den letzten ihm verbliebenen Mitarbeiter sah.
»Im Bett sterben die Leut’.« Kriminaloberkommissar Kai Ostermann winkte ab. »Ich fühl mich besser, als ich aussehe.«
Er grinste und hustete, und Bodenstein warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Ich bin dir auf jeden Fall dankbar, dass du mich nicht auch im Stich lässt«, sagte er und setzte sich an den großen Tisch.
»Der Bericht aus der Ballistik kam vor ein paar Minuten«, krächzte Ostermann und schob seinem Chef ein paar zusammengeheftete Blätter hin. »Bei der Kugel handelte es sich um eine Patrone Kaliber .308 Winchester, leider ein ziemlich verbreitetes Kaliber, das vom Militär, von Jägern, Sportschützen und auch von uns verwendet wird. Jeder Munitionshersteller hat dieses Kaliber in seinem Programm, und das meist auch noch in verschiedenen Laborierungen.«
Die Heizung lief auf Hochtouren, und Bodenstein brach bereits der Schweiß aus, aber Ostermann, der sich einen Schal um den Hals gewickelt hatte und eine Daunenweste über seinem Pulli trug, schien die Hitze gar nicht zu bemerken.
»Bei dieser Patrone handelt es sich um eine Remington CoreLokt 11,7 g, die weltweit am meisten verkaufte Zentralfeuerpatrone im Jagdbereich. Die Waffe, aus der die Kugel abgefeuert wurde, ist bisher noch nicht aufgefallen.«
»Also keine echte Spur.« Bodenstein entledigte sich seines Jacketts und hängte es über die Stuhllehne. »Gibt es Neues vom ED1?«
»Nein, leider auch nicht. Der Schuss erfolgte aus etwa achtzig Metern Distanz.« Ostermann hustete, schob sich ein Salbeibonbon in den Mund und fuhr im Flüsterton fort. »Kein Problem für einen geübten Schützen. Am Tatort und an der Stelle, von der aus der Täter geschossen hat, gab es keine tatrelevanten Spuren, wenn man von dem verwischten Abdruck des Zweibeins absieht. Die Patronenhülse muss er aufgehoben und mitgenommen haben. Nach Auswertung der Befragungen von Nachbarn und Mitarbeitern aus dem Blumenladen war in den letzten Tagen und Wochen nichts Auffälliges passiert, Ingeborg Rohleder wirkte wie immer und ließ nicht erkennen, dass sie sich bedroht fühlte.«
In Bodenstein wuchs die deprimierende Erkenntnis, dass sie bisher rein gar nichts wussten, abgesehen vom Kaliber der Tatwaffe und der Art der Patrone. Ihm gefiel der Gedanke zwar überhaupt nicht, aber angesichts des Krankenstandes würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Nicola Engel um Verstärkung durch Kollegen aus anderen Kommissariaten zu bitten.
»Ich frage mich ernsthaft, wie wir …?«, begann er, als sich hinter ihm die Tür öffnete. Ostermann bekam große Augen.
»Hallo«, sagte Pia in seinem Rücken, und er wandte sich zu ihr um.
»Was machst du denn hier?«, fragte er überrascht.
»Störe ich?« Pia blickte von ihm zu Ostermann.
»Oh, nein, nein, ganz und gar nicht!«, beeilte Bodenstein sich zu versichern. »Komm, setz dich.«
»Hast du nichts Besseres zu tun, einen Tag bevor du verreist?«, flüsterte Ostermann heiser.
»Nein.« Pia zog ihre Jacke aus, setzte sich und grinste. »Hab alles soweit erledigt. Und da dachte ich mir, ich helf euch mal schnell den Fall zu lösen, bevor ich für drei Wochen in die Sonne abhaue.«
Kai Ostermann zog eine Grimasse, während Bodenstein sich den Pullover auszog und für Pia kurz die Fakten zusammenfasste, die zuvor besprochen worden waren.
»Das ist ja nicht viel«, stellte Pia fest. »Es gibt wohl keine Chance herauszufinden, wann und wo die Munition gekauft wurde, oder?«
»Nein.« Ostermann schüttelte den Kopf. »Die gibt’s in jedem Waffengeschäft und Jagdkatalog auf der ganzen Welt. Leider.«
»Und bisher ist auch kein Motiv zu erkennen«, sagte Bodenstein. »Es könnte sich um einen Sniper handeln, der aus reiner Mordlust Menschen tötet.«
»Oder Ingeborg Rohleder hatte doch irgendwelche dunklen Geheimnisse, von denen niemand weiß«, erwiderte Pia. »Wir sollten den Bekanntenkreis und die Vergangenheit des Opfers ganz genau überprüfen.«