Die Legende der Draya 1: Gespaltenes Blut - Sophie Obwexer - E-Book

Die Legende der Draya 1: Gespaltenes Blut E-Book

Sophie Obwexer

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Beschreibung

„Die Magie verlangt Blut für den Sieg. Also werde ich es vergießen.“ Die letzte Königin Emily Draya ist tot. Das zumindest glaubt ihr Feind, Fürst Waddqa, der sie kaltblütig ermordet hat. In Wahrheit rettete Raffael, der Balidru, ihr mit einem mächtigen Zauber das Leben. Aber als Emily erwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Weder an den Krieg noch an die verbotene Beziehung, die sie mit Raffael eingegangen ist. Und warum ist der einzige Name, an den sie sich erinnert, der seines Bruders? Nicht wissend, wem sie vertrauen kann und wer die Wahrheit sagt, steht sie nun vor der unmöglichen Aufgabe, ihr Königreich aus den Klauen ihres skrupellosen Feindes zu befreien. Zwischen blutigen Schlachten und der Suche nach mächtigen magischen Artefakten kehren ihre Erinnerungen nach und nach zurück. Die Wahrheit, die sie entdeckt, stellt alles infrage. Wie viel war ihr altes Ich bereit für den Thron zu opfern? Und ist die neue Emily immer noch gewillt, diesen blutigen Preis zu bezahlen?

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Inhaltsverzeichnis

Runenverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Erinnerungslos

Kapitel 2: Die erste Schlacht

Kapitel 3: Der Rat

Kapitel 4: Die sieben Relikte

Kapitel 5: Die Audienz

Kapitel 6: Geheimnisse

Kapitel 7: Valhvendia

Kapitel 8: Die zweite Schlacht

Kapitel 9: Die dunkle Prinzessin

Kapitel 10: Die dritte Schlacht

Kapitel 11: Valdraya

Kapitel 12: Die vierte Schlacht

Kapitel 13: Das Gerücht

Kapitel 14: Avenia exirria Onai Vizzia

Kapitel 15: Die fünfte Schlacht

Kapitel 16: Gefährliche Lügen

Kapitel 17: Havganedi

Kapitel 18: Das königliche Archiv

Kapitel 19: Die letzte Schlacht

Kapitel 20: Balidru

Epilog

Glossar

Danksagung

Über die Autorin

Trigger Warnungen/Content Notes

Sophie Obwexer

dieLegende

derDraya

Band 1: Gespaltenes Blut

© 2022 Sophie Obwexer

Alle Rechte vorbehalten.

Belgradstraße 132

80804 München

E-Mail: [email protected]

Website: www.sophieobwexer.de

Instagram: @sophie.obwexer_autorin

Lektorat: Luise Deckert

Korrektorat und Schlusslektorat: Andrea Benesch

Umschlaggestaltung: Schattmaier Design

Innengestaltung, Karten- und Runendesign: Sophie Obwexer

ISBN: 9783754628782

2. Auflage

Dieses Buch enthält Triggerwarnungen/Content Notes zu den einzelnen Kapiteln auf den letzten Seiten dieses Buches.

Runenverzeichnis

Die Rune der Draya: Emilys Rune

Die Rune des Balidru: Raffaels Rune

Die Rune des Catirinqa: Jims Rune

Die Rune der Alent: Dans Rune

Die Rune der Havganedi: Die Rune der Drachen

Die Rune der Janisla: Gabs Rune

Die Rune der Jewadraya: Mayas Rune

Die Rune des Onai Leyan: Larissas Rune

Die Rune der Schöpferin: Rubens und Susannas Rune

Die Rune der Waddqa: Zavos Rune

Prolog

Mitten in den schneebedeckten Gipfeln des Havaleni, weitab von den Städten der Ganedi, ragte ein riesiger Vulkan in die Höhe. Sein Körper aus erkalteter Lava stach deutlich hervor, ebenso die grüne Natur direkt um ihn herum, die von seiner Hitze profitierte.

„Spürst du das?“, fragte Waddlaria.

Smertgrit landete neben ihr am Rand des Kraters und faltete ihre Flügel zusammen. „Jemand hat das Buch der Zukunft geöffnet.“

„Schlimmer. Es hat zu dem Wesen gesprochen.“ Rauch stob aus Waddlarias Schnauze und ihre Schuppen leuchteten wie Rubine im Sonnenlicht.

„Denkst du, das gespaltene Blut ist wieder vereint?“

Der rote Drache schnaubte. „Mach dich nicht lächerlich, Smertgrit. Wenn es das wäre, wüssten wir davon.“

„Dennoch liegt etwas in der Luft. Bald wird es Krieg geben.“

„Was hast du gesehen?“

„Möglichkeiten“, murmelte Smertgrit. „Einige davon sehr beunruhigend.“

„Sollen die Ganedi sich doch gegenseitig abschlachten! Was schert es uns?“

„Wenn das gespaltene Blut nicht vereint, sondern vergossen wird, werden wir den großen Krieg verlieren“, bemerkte Smertgrit.

„Du hast die düstersten Zukunftsmöglichkeiten schon immer bevorzugt“, sagte Waddlaria. „Was ist mit den Alternativen?“

„Wir sollten uns nur auf den schlimmsten Fall vorbereiten, damit er uns nicht überraschen kann. Es wird Blut fließen.“

Kapitel 1: Erinnerungslos

Eine merkwürdige Dunkelheit hatte sich bereits am frühen Nachmittag über das Land gelegt. Sie war jedoch nicht nur der Bote des sich anbahnenden Schneesturms, der sich vom Süden her näherte.

Eine uralte Macht war wieder zum Leben erweckt worden. Eine vergessene Kraft, von der niemand mehr wusste, mit Ausnahme des Fürsten, der sie gefunden hatte. Jahrtausende lang verloren, brach sie durch die kalte Nachtluft in die Freiheit und erfüllte zischend die Aufgabe, die ihr aufgetragen worden war. Die Energie bebte, zitterte und ließ einen unangenehmen Geschmack im magischen Strom zurück. Den Geschmack von Blut, das niemals hätte vergossen werden dürfen.

Fürst Zavo Waddqa zog den Dolch aus dem leblosen Körper, dessen Klinge sich mit einem ekligen Schmatzen vom Fleisch löste. Von der Waffe troff Blut und beschmutzte den Boden der Zelle.

Ihr schönes Gesicht schien ihn selbst im Tod zu verhöhnen und er verfluchte sie für ihre Sturheit. Alles hätte er ihr gegeben, alles! Dennoch hatte sie ihm die eine Sache nicht gewähren wollen, die er brauchte. Durch Machtgier war sie zu einem von der Magie verdorbenen Wesen mutiert, das sich für ein höheres Geschöpf gehalten hatte.

Nun lag sie hier und ihr Blut war genauso rot wie seines, hinterließ den gleichen metallischen Geruch in der Luft wie das eines Magielosen.

Er stieg über ihre Leiche, durch den magischen Schild hinaus vor die Zelle. Aus dem zweiten Verlies war kein Laut zu hören, ganz so, als hätte der Balidru gemeinsam mit seiner Königin sein Leben ausgehaucht. Aber der Fürst wusste, dass dies unmöglich war. Der Balidru unterlag den gewöhnlichen Regeln des Todes nicht.

Ein schmerzerfüllter Aufschrei aus der verschlossenen Zelle entlockte dem Fürsten ein Lächeln. Mit einem letzten Blick auf die tote Königin schloss Zavo Waddqa die Tür und schritt lächelnd die enge Treppe nach oben.

Der Rauch des Lagers schlug ihm entgegen. Gelächter und Gegröle hallten über die aschfarbene Ebene und übertönten das ferne Rauschen des Meeres.

Sein Heerführer Jens Jewayqa wartete bereits auf ihn, die Hand am Schwertknauf, den Blick wachsam.

Neben ihm stand Dulcea Lyandru regungslos in ihrer weißen Robe. Der rote Stein, der von einer dünnen Kette gehalten zwischen ihren Augen platziert war, ähnelte einem Blutstropfen. Dulceas Blick ließ selbst den Fürsten manchmal erschaudern.

Jedoch würde er sich davon nicht einschüchtern lassen, denn es war ein erfolgreicher Tag. Der Tod der Königin würde den Lauf der Geschichte ändern und die Macht im Königreich neu verteilen. Eine neue Ära war angebrochen, Fürst Waddqas Ära.

„Die Königin wird uns nicht mehr im Weg stehen“, verkündete Waddqa und wischte den blutigen Dolch an einem Tuch ab, das ihm ein Diener reichte.

Jens lächelte, doch Dulcea verzog keine Miene.

„Seid Ihr Euch sicher, Fürst?“, fragte die Oberste Priesterin der Avenialya.

„Selbst, wenn der Balidru es schafft, sie zu retten, wird sie ohne ihre Erinnerungen nutzlos sein. Sie können die magischen Barrieren nicht überwinden.“ Waddqa steckte den Dolch in die Scheide zurück. „Die Herrschaft der Draya ist beendet.“

„Ihr habt die richtige Entscheidung getroffen“, sagte Dulcea. „Die Schöpferin wird Eure Schwester heilen. Habt Vertrauen!“

Sie lächelte, bevor sie ihre weiße Kapuze überzog und verschwand.

Es war zu dunkel, um etwas zu sehen, dennoch leuchteten seine Augen unverkennbar in dem alles durchdringenden Schwarz.

„Wieso, Em?“, fragte er, die Wangen nass von Tränen.

Ich wollte ihm antworten, aber mein Herz war durchbohrt und der Schmerz schnürte mir die Kehle zu. Vielleicht war es besser so, meine Worte wären bloß Lügen gewesen. Die Wahrheit war zu gefährlich, um sie auszusprechen. Die Wahrheit machte mich zu einem Monster. Ihn anzulügen war die einzige Möglichkeit.

Ich wollte ihm sagen, dass es mir leidtat, aber die Dunkelheit verschluckte ihn und nur die schneidende Qual blieb. Sie war meine Strafe für das Unaussprechliche, das ich tun musste.

Verzweifelt versuchte ich zu atmen, doch meine Lungen waren voller Blut. Ich keuchte, spuckte und hustete es aus mir heraus, bevor sich mein Brustkorb mit Sauerstoff füllte. Erschöpft rollte ich mich auf den Rücken und betastete meine Brust. Ich erwartete sie zerschmettert und durchbohrt vorzufinden. Bis auf den furchtbaren Schmerz in meinem Herzen schien jedoch alles an seinem Platz zu sein.

Als ich mich aufsetze, packte mich ein starkes Schwindelgefühl und mein Magen rebellierte. Ich übergab mich angewidert auf den schmutzigen Steinboden. Würgend mobilisierte ich all meine Kräfte, um nicht ohnmächtig zu werden. Ich schaffte es, sitzen zu bleiben und versuchte zu begreifen, wo ich war.

Die Wände bestanden aus soliden Steinblöcken, alt, aber stabil. Gitterstäbe waren in die Tür eingelassen, durch die schwaches Fackellicht in die kleine Zelle fiel. In einer Ecke stand eine leere Schüssel und mein Magen knurrte. Ich fuhr mit meiner Zunge über meine trockenen Lippen und wünschte, ein Becher voll Wasser würde neben mir stehen.

Wie lange war ich schon hier? Ich konnte mich nicht daran erinnern, wer mich eingesperrt hatte. Mein Verstand war voller Schmerz und Dunkelheit. Vorsichtig erhob ich mich und unterdrückte einen Schrei, als ich versuchte, mein rechtes Bein zu belasten. Es war blutbesudelt, schien aber nicht gebrochen zu sein. Dennoch war es beinahe unmöglich, es zu benutzen. Erneut wurde mir schwindlig und ich stützte mich würgend an der kalten Wand ab, bis die Übelkeit verflogen war.

Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, wo ich vorher gewesen war. Mein Traum kam mir in den Sinn, aber er war verblasst. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte mich nicht mehr an das Gesicht erinnern, nur an die leuchtenden Augen voller Schmerz. Ich suchte in meinem Verstand nach weiteren Anhaltspunkten, nach einem Hinweis meiner bisherigen Existenz. Doch da war nichts.

Ich schwankte und setzte mich wieder auf den Boden.

Emily, schoss es mir durch den Kopf. Emily Draya. Das war mein Name.

Ein lauter Knall aus meiner Nachbarzelle ließ mich erschrocken zusammenfahren. War noch jemand hier?

„Raffael Balidhvendia!“ Ihre Stimme schien von allen Seiten zu kommen. Ein Flüstern, das sich in der Dunkelheit schmerzhaft in mich bohrte. „Raffael!“, rief sie erneut nach mir und ich versuchte die Erinnerung erfolglos abzuschütteln.

Ihr wunderschön grausames Gesicht erschien vor meinem inneren Auge, so detailliert und beängstigend, dass mein Herz für eine Sekunde lang stehen blieb. Aber es war nicht ihre Erscheinung, sondern der Zauber, der mir langsam das Leben aussaugte.

„Verschwinde Felicia!“, befahl ich ihr, aber sie lachte nur.

Ihr Körper wurde in der Dunkelheit erkennbar, ihr pechschwarzer Opferdolch lag in ihrer Hand. „Bist du bereit zu sterben?“ Felicia versenkte den Dolch in meinem Herzen, lächelte zufrieden, ihre blauen Augen auf mich gerichtet.

Ihr Gesicht verblasste und ich versuchte erfolglos Luft in meine Lungen zu ziehen. Schmerz erfüllte jede Faser meines Körpers, doch ich schrie nicht. Ruhig blieb ich liegen und wartete darauf, dass Muskeln, Knochen und Organe wieder zusammenwuchsen. Ich rollte mich auf den Bauch und hustete das Blut aus meinen Lungen. Erleichtert atmete ich ein.

Ein weiteres Mal versuchte ich Felicias Erscheinung abzuschütteln, aber ihr grausames Lächeln schwebte immer noch vor meinem inneren Auge. Konzentriert atmete ich ein und aus, versuchte nicht mehr an die dunkelsten Stunden meiner Vergangenheit zu denken.

Ich murmelte eine Zauberformel und suchte nach Emily. Die Magie, die uns verband, fand sie in der Nachbarzelle.

Meine Königin war am Leben.

Erleichtert blieb ich liegen und ruhte mich aus. Der Zauber hatte meine gesamte Kraft gekostet. Ich wartete, bis sich mein Ring mit Magie vollsog und zog dann etwas davon in meinen schwachen Körper. Sofort fühlte ich mich besser und war bereit, alles zu tun, um Emily zu befreien.

Vorsichtig näherte ich mich der Tür. Ich wollte nach dem Knauf greifen, aber eine unsichtbare Kraft hielt mich auf. Magie verbrannte meine Haut, als ich mich hartnäckig zu dem Griff vorkämpfte. Mit einem lauten Knall schleuderte mich die Macht an die Wand.

Ich fluchte und wartete, bis meine verbrannte Haut geheilt war. Konzentriert murmelte ich eine Zauberformel.

Magie flutete den kleinen Raum und sein Umfeld, doch außer Emily und mir konnte ich kein Lebewesen erfühlen. Zavo und seine Krieger waren allem Anschein nach bereits weitergezogen.

Der Schild, den der Fürst an meiner Kerkertür angebracht hatte, pulsierte kraftvoll. Er war zu mächtig, um ihn überwinden zu können. Die Wand zwischen meiner und Emilys Zelle war allerdings vollkommen ungeschützt. Ebenso die Mauer an der gegenüberliegenden Seite, doch ich musste einen anderen Fluchtweg finden. Wenn ich durch Wände schritt, konnte ich niemanden mitnehmen und ich würde Emily niemals zurücklassen.

„Indalgo Alen“, flüsterte ich und die Macht in mir gehorchte. Ohne jegliche Mühe schritt ich durch die Mauer.

Erschrocken zuckte ich zusammen und stand auf, als ein Mann durch die Wand zu mir trat. Seine Kleidung war blutverschmiert und sein braunes Haar dreckig vom Staub des Kerkers. Er lächelte, als mein Blick den seinen traf und etwas in mir entspannte sich.

„Geht es dir gut?“

Ich nickte, wusste aber nicht, was ich von ihm halten sollte. Obwohl seine stechend blauen Augen vertraut wirkten, umklammerte ich mit meinen Händen die Reste meiner Rockfalten, in der Hoffnung, dort Sicherheit zu finden. „Wer bist du?“, fragte ich und meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Mein Hals war ausgetrocknet. Ich brauchte dringend Wasser.

„Raffael.“ Sein Lächeln verschwand und er kam langsam auf mich zu. Als ich zurückwich, blieb er stehen.

„Bleib von mir weg“, warnte ich ihn und hoffte, dass das Blut auf seiner Kleidung nicht meines war.

Ein Teil von mir wollte ihm vertrauen. Doch wie sollte ich mich auf jemanden verlassen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte?

„Emily, was ist mit dir?“

„Ich erinnere mich an nichts“, sagte ich und ließ mich zu Boden sinken.

Mein Körper war nicht stark genug, um stehenzubleiben. Die Verletzung an meinem Bein war schlimmer, als ich anfangs angenommen hatte. Wenn er angriff, würde ich mich nicht wehren können.

„Du hast keine Erinnerungen mehr?“

Ich schüttelte den Kopf.

Er wischte sich Blut von der Wange.

Mein Blick blieb an seinem Ring hängen. Der blaue Stein, der in einer silbernen Fassung verankert war, pulsierte, als wäre er lebendig.

Wer war er? Wohl kaum derjenige, der mich eingesperrt hatte, aber sicher war ich mir nicht.

„Ich bin der Balidru Raffael Balidhvendia und meine Aufgabe ist es, dich zu beschützen“, erklärte er. „Der Fürst muss dir deine Erinnerungen genommen haben.“

„Der Fürst?“ Ich strengte mein Gedächtnis an, doch es blieb leer.

„Fürst Waddqa hat uns eingesperrt. Aber ich werde nicht zulassen, dass wir hier sterben.“

Er schien die Wahrheit zu sagen und ich beschloss, fürs Erste zu glauben, dass er auf meiner Seite war. Ich hatte keine andere Wahl, wenn ich aus diesem Kerker fliehen wollte.

„Kannst du die Tür öffnen?“

Er schüttelte den Kopf. „Der Zauber ist zu stark.“

Bei der Erwähnung von Magie war etwas in mir unruhig geworden. Ein Teil von mir drängte mich dazu, etwas zu unternehmen. „Wie kommen wir dann hier raus?“, fragte ich.

„Du kannst den Schild zerstören. Deine Magie ist unübertroffen.“

Etwas in mir wurde erneut nervös und trieb mich an, ihm zu glauben. Es war ein Teil von mir, aber auch mehr. Fast wie ein lebendiges Wesen, das in mir wohnte, und je mehr mein Körper nach Wasser verlangte, desto unruhiger wurde es. Es wollte überleben, es zwang mich regelrecht dazu, nicht zu sterben.

Immer rastloser floss es durch mich und einem Instinkt folgend griff ich danach. Ich befahl ihm, mir beim Sehen zu helfen.

Magie flutete meine Augen und eine pulsierende Wand wurde sichtbar, die die Tür bedeckte. Die Macht in mir lachte über diesen schwachen Zauber.

Ich zerdrückte ihn. Mit einem Klirren brach der magische Schild und die Tür wurde gewaltsam aus den Angeln gerissen.

Magie zog an meiner Energie und ich taumelte.

„Emily!“, hörte ich Raffael noch rufen, bevor mich die Dunkelheit erneut umschloss.

Sanft fing ich Emily auf und hob sie hoch.

Ihr einst goldenes Kleid hing in Fetzen an ihr herunter und ein paar der braunen Locken klebten blutverkrustet an ihrer Stirn. Blutergüsse und Schnitte verunstalteten ihre Arme und Beine. Auf der Höhe ihres Herzens klaffte ein Loch im Kleid. Dort, wo der Dolch sie durchbohrt hatte. Doch trotz alldem schien sie nicht schwer verletzt zu sein.

Mir wurde schlecht, als ich an ihre Schreie dachte, die ich in den vergangenen Wochen gehört hatte.

Was hatte der Fürst ihr angetan? Und wie hatte er es geschafft, ihr die Erinnerungen zu nehmen? Er sollte nicht stark genug sein, um einen solchen Zauber auszusprechen oder mich in der Zelle gefangen zu halten. Ich war all die Wochen bewegungslos am Boden festgenagelt gewesen.

Es war jedoch nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Ich musste dringend Wasser finden, sonst würde Emily sterben.

Eine Fackel brannte im Vorraum des Kerkers, als ich durch die Tür trat. Rechts führte ein Durchgang zu den Stufen, die vor Ewigkeiten in den Stein geschlagen worden waren. Eiskalte Luft schlug mir am Fußende der Treppe entgegen, eine willkommene Abwechslung nach der Zeit im stickigen Kerker.

Ich murmelte einen Wärmezauber, um Emily und mich warmzuhalten. Obwohl es in Valhanitu niemals schneite, war es Winter und wir nur spärlich bekleidet.

Die aschfarbene Ebene ließ meine Magie zischen und drängte mich dazu, diesem vom Leben verlassenen Ort so schnell wie möglich den Rücken zuzukehren. Der Fluch der dunklen Prinzessin lastete immer noch schwer auf der Erde, die einst grün und wunderschön gewesen war.

Vor mir ragte die Ruine der alten Burg in den wolkenverhangenen Himmel. Ich schloss Emily enger in meine Arme und lief los, vorbei an einigen erloschenen Lagerfeuern, die Zavos Armee vermutlich benutzt hatte, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen.

An den Stellen, an denen sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten, war der aschebedeckte Boden eingedrückt. Es schien, als wären sie schon seit Stunden fort. Trotzdem murmelte ich eine Zauberformel, um sicherzugehen, dass der Fürst keine Späher zurückgelassen hatte.

Ich betrat den Wald Naathvendia, der sich weit in den Süden erstreckte.

Der Geruch von Salzwasser und Tod wurde von dem vertrauten Duft der Fichten und Tannen verschluckt. Die Bäume standen dermaßen eng beieinander, dass kein Schnee auf dem Boden lag.

Ich folgte dem engen Trampelpfad und gelangte wenig später auf die Lichtung des alten Friedhofs.

Die Grabsteine waren verwittert und trugen die Namen lang vergessener Herrscherinnen. Einer ragte jedoch zwischen allen anderen hervor und war immer noch genauso unversehrt wie an dem Tag, als er geschmiedet worden war.

Ich musste Sahras Namen nicht lesen, denn ich hatte ihn selbst in das Gold eingearbeitet. Verdrängte Schuldgefühle bahnten sich einen Weg an die Oberfläche und ich kämpfte gegen die aufsteigenden Erinnerungen an. Ihr Tod war so lange her und doch war er mir noch frisch im Gedächtnis.

Ich seufzte, kehrte dem Friedhof den Rücken zu und schwor mir, demnächst keine weitere Königin zu begraben.

„Sie sind nach Norden weitergezogen“, bestätigte ich den anderen.

Alea kniete sich neben mich. „Wie viele, Jim?“

„An die fünfhundert“, murmelte ich und betrachtete die Spuren unter der frischen Schneeschicht. Problemlos offenbarte mir meine Magie, wo Fürst Waddqas Truppen entlanggezogen waren.

Andreas, der neben Alea trat, hatte wie üblich seine Hand am Schwertknauf, bereit, jeden niederzuschlagen, der sich uns in den Weg stellte. Seine haselnussbraunen Haare waren voller kleiner Schneeflocken, die er nun von sich schüttelte. Er wirkte angespannt und behielt den Waldrand wachsam im Auge.

Alea hatte ihren Bogen über die Schulter gehängt, doch ich wusste, dass sie bereits einen Feind durchbohrt hätte, bevor Andreas dazu gekommen wäre, sein Schwert zu ziehen.

Ich beendete den Zauber. Augenblicklich hörte der magische Strom auf, an meiner Energie zu zerren und zog sich ruhig in mich zurück.

„Wir sollten weiter“, sagte ich.

Wir waren bereits seit Wochen unterwegs und suchten vergeblich nach der Königin. Immer wenn wir dachten, auf der richtigen Spur zu sein, hatte sie sich als Sackgasse herausgestellt.

Langsam verlor ich die Hoffnung. Normalerweise war es einfach für mich, sie zu finden. Ihre Magie zog mich an wie das Licht eine Motte. In den letzten Tagen war sie jedoch so schwach gewesen, dass ich für einen kurzen Moment befürchtet hatte, dass sie tot war. Ich schluckte. Der Abgrund, der sich durch diesen Gedanken vor mir auftat, war zu tief und zu dunkel.

„Oliando Draya“, flüsterte ich und suchte nach einem Lebenszeichen, nach ihrer unvergleichlichen Magie.

Zuerst war da nur ein Flüstern, ein Hauch ihrer Macht, so als wäre sie eine Kerze, die gleich ausginge. Doch dann schoss sie wie eine Stichflamme empor, bevor sie fast vollständig verlosch.

„Sie ist im Alten Schloss.“ Ich berührte aus einer alten Gewohnheit heraus die zwei Dolche, die an meinem Gürtel hingen, und betrat den dichten Wald.

Andreas und Alea folgten mir nach Norden.

Wenig später erblickte ich Sahras goldenen Grabstein und spürte, wie Gefühle in mir hochstiegen, die ich all die Jahre über versucht hatte zu verdrängen.

Es tut mir leid, Jim, flüsterte ihre Stimme in meinem Kopf, doch ich stopfte die Erinnerung in die hinterste Ecke meines Verstandes zurück. Der Zeitpunkt, an dem mein Bruder für ihren Tod bezahlte, würde kommen.

Wolken verdunkelten die Sonne und ich befahl meiner Magie, mir zu gehorchen. Sie zog sich zischend zurück und der Dunst löste sich wieder auf.

„Es ist nicht mehr weit“, sagte ich und führte meine Begleiter zu der Ruine.

Nur mit viel Vorstellungskraft erkannte ich den Grundriss des einst prachtvollen Schlosses. Die dunkle Prinzessin hatte es auf ihrem Rachefeldzug dem Erdboden gleichgemacht, aber die Kerker unter der Erde waren noch intakt.

Alea blieb oben und behielt die Umgebung im Auge, während An­dreas und ich die Stufen hinunter in die Tiefe stiegen.

Eine Fackel brannte im Vorraum und warf schummriges Licht auf die Wände. Die Tür zu einer Zelle stand sperrangelweit offen und ich untersuchte die magischen Scherben, die dort lagen. Diesen Zauber konnte nur Emily gebrochen haben.

„Oliando Estceste“, murmelte ich, als ich die Zelle betrat.

Die Vergangenheit nahm verblasst Gestalt vor mir an. Blutüberströmt und dreckig stand Emily mir gegenüber. Ihre dunkelbraunen Haare blutverkrustet und ihr Kleid zerfetzt, aber sie war am Leben und bereit, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Raffael trat durch die andere Zelle zu ihr. Ohne eine Zauberformel zu benutzen, zerbrach sie den Schild. Sie fiel ohnmächtig in seine Arme und er trug sie fort.

„Emily und Raffael waren hier“, verkündete ich Alea, nachdem ich nach draußen getreten war. „Sie können nicht weit sein.“

Meine Magie warnte mich, weil sie fühlte, wie die Königin mit jedem Atemzug schwächer wurde. Die uralte Verbindung zwischen ihr und mir verlangte, dass ich sie fand.

„Oliando Rande“, sagte ich und berührte aus Gewohnheit meinen grünen Ring. Magie flutete meine Augen und wies mir den Weg.

Mit letzter Kraft schleppte ich mich in die Richtung, in der ich den Fluss Wadd vermutete. Ich sog Magie aus meinem Ring, um nicht vor Erschöpfung zusammenzubrechen, doch ich konnte nicht mehr lange nur von ihr leben. Ich schloss meine Arme enger um Emily, die immer noch bewusstlos war.

Sie atmete und ich würde alles tun, um sie zu retten.

Wasser. Wo war dieses verfluchte Wasser?

Ich trat zwischen den dichten Bäumen hervor und stürzte beinahe in das leere Flussbett des Wadd, das sich vor mir erstreckte. Ich fragte mich, wie ich hatte glauben können, einen Fluss vorzufinden, den ich zuletzt vor knapp dreitausend Jahren gesehen hatte. Selbst damals war er nur ein kleines Rinnsal gewesen.

Vorsichtig legte ich Emily ab. Mein Magen knurrte und ich ließ mich neben sie auf die kalte Erde fallen. Müde schloss ich die Augen. Es musste hier doch irgendwo Wasser geben!

Leise Stimmen drangen an meine Ohren. Ich hob Emily hoch und kroch mit ihr in ein dichtes Gebüsch. Bäuchlings presste ich mich auf die Erde und atmete so leise wie möglich. Wenn Zavo Emily erneut fand, würde sie sterben, denn noch einmal könnte ich sie nicht retten.

Die Gruppe kam näher und hielt direkt vor unserem Versteck an, als hätte sie uns gewittert.

„Wo sind sie?“, fragte eine Stimme leise. Sie kam mir vertraut vor, doch ich war mir nicht sicher, ob sie einem Freund oder einem Feind gehörte.

„Sie sollten hier sein“, antwortete Jim, dessen Stimme ich sofort erkannt hatte.

Erleichtert kroch ich aus meinem Versteck und fiel meinem Bruder um den Hals.

„Wo ist Emily?“, fragte Alea, die ihren Bogen sinken ließ.

Vorsichtig hob ich die bewusstlose Königin aus dem Gestrüpp und legte sie auf die Erde. „Sie braucht Wasser.“ Ich setzte mich auf einen umgestürzten Baumstamm.

Andreas drückte mir eine Flasche in die Hand und Alea versorgte Emily.

Jim setzte sich mir gegenüber. Seine braunen Haare waren eine Spur länger geworden und mit dem Bart, den er sich seit einer Weile wachsen ließ, ähnelte er unserem Vater immer mehr. Nur die Falten um seine Augen fehlten und dank der Ringe würde er wohl nie welche haben.

„Wie kann es sein, dass sie sich an nichts erinnert?“, fragte er.

Natürlich hatte er in der Zelle die Vergangenheit gesehen.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich ihm und biss von dem Brot ab, das er mir reichte. „Der Fürst sollte nicht stark genug sein, um einen solchen Zauber auszusprechen.“

„Was, wenn ihm Beatrix geholfen hat?“, fragte Jim und bei der Nennung ihres Namens zuckte ich zusammen.

„Beas magische Handschrift würde ich überall erkennen“, zischte ich.

Die Schuldgefühle wollten sich wieder an die Oberfläche kämpfen, doch ich unterdrückte sie mit Gewalt. Ich war nicht für Sahras Tod verantwortlich.

„Es muss der Fürst gewesen sein“, fügte ich hinzu, als Jim mich schweigend anstarrte. „Er hat mich mit einem magischen Artefakt in der Zelle festgehalten.“

„Wo hat er einen so mächtigen Gegenstand her?“

„Ich habe keine Ahnung.“

Langsam kam ich zu mir und schluckte das Wasser.

Eine Frau lächelte mich freundlich an. Sie hatte ihre schwarzen Haare hochgesteckt, vermutlich damit sie den Bogen besser bedienen konnte, der neben ihr an einem Baumstamm lehnte. Der Blick ihrer dunkelbraunen Augen beruhigte mich, als würde mein Verstand sie wiedererkennen.

Ein Mann mit einem großen Schwert an der Hüfte saß ihr gegenüber und reichte mir ein Stück Brot. Grübchen bildeten sich um seine Mundwinkel, als er mich anlächelte.

Meine Magie vermittelte mir ein merkwürdig vertrautes Gefühl von Sicherheit, als wüsste sie, dass die beiden mir nichts Böses wollten.

„Wie geht es dir, Emily?“, fragte Raffael, der sich neben mich gekniet hatte.

„Mir ist schwindelig“, sagte ich. „Was ist passiert?“

„Der Zauber hat dich ohnmächtig werden lassen“, erklärte er und ich erinnerte mich daran, wie ich den magischen Schild zerrissen hatte.

„Wer seid ihr?“ Ich trank noch einen Schluck Wasser.

„Alea Caliaqa, Anführerin der Salividkriegerinnen“, stellte sich die Frau mit dem Bogen vor. „Ich stehe Euch zu Diensten, Eure Majestät.“

„Andreas Valian, einer Eurer Valiadru“, sagte der Mann gegenüber von Alea. „Ich habe geschworen, Euch mit meinem Leben zu beschützen, meine Königin.“

„Ich bin eine Königin?“ Vermutlich sollte ich mich darüber wundern, aber der Titel fühlte sich richtig an. Ich hievte mich hoch und setzte mich aufrechter hin. Mein Bein schmerzte immer noch, aber mir war nicht mehr so übel wie in der Zelle.

„Die Königin von Hulidru und Logserten“, erklärte Alea mir.

Die Begriffe kamen mir bekannt vor, doch ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine weitere Person, die mir vorher nicht aufgefallen war.

Er saß auf einem Stein und seine grünen Augen beobachteten mich wachsam. Seine Kleidung hatte dieselbe Farbe wie die Nadeln der Bäume hinter ihm, sodass er mit dem Wald zu verschmelzen schien. An seinem Gürtel hingen zwei Dolche und um den Hals trug er einen pechschwarzen Stein an einer silbernen Kette, den er nun unter sein Hemd steckte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und es war zwar aufrichtig, aber voller Schmerz.

„Jim“, brach es aus mir heraus und meine Magie zischte. Ich verspürte den Drang zu gehen. Gleichzeitig beruhigte sein Lächeln meine Macht dermaßen, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden konnte.

„Du weißt, wer ich bin?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kenne nur deinen Namen.“

Nachdem Emily meinen Namen ausgesprochen hatte, war die Magie in mir so unruhig geworden wie schon lange nicht mehr. Sie tobte und schrie, wollte nah bei Emily sein, doch ich blieb sitzen und bemühte mich krampfhaft, sie zu bändigen. Schneeflocken fielen vom Himmel und ich versuchte mir einzureden, dass es nicht meine Schuld war.

„Erinnerst du dich an noch etwas?“, fragte ich schnell, da ich bereits Raffaels wütenden Blick auf meiner Haut spürte.

„Das ist alles.“ Sie runzelte die Stirn.

„Wir dürfen nicht zu lange hierbleiben“, sagte Alea und sah sich um. „Wenn wir Glück haben, erreichen wir vor Anbruch der Nacht die Versteckte Stadt.“

„Kannst du laufen?“, fragte ich.

Emily schüttelte den Kopf. „Mein Bein ist verletzt.“

Sofort hatte Raffael seine Hand darübergelegt und flüsterte eine Zauberformel. Die Wunde verschloss sich. Emily stand ohne Probleme auf, bevor sie sich übergab.

„Sie ist zu schwach, um zu laufen“, bemerkte Alea.

„Ich kann sie tragen, wenn du zu müde bist“, bot ich meinem Bruder an.

„Ich bin der Balidru“, knurrte er. „Es ist meine Aufgabe, die Königin zu beschützen.“

Er hatte das meine so schmerzhaft betont, dass ich zurückwich. Manchmal vergaß ich, wie schrecklich eifersüchtig er sein konnte.

Vorsichtig hob er Emily hoch und wir liefen los.

Kapitel 2: Die erste Schlacht

Die Sonne schien durch die großen Fenster und tauchte das Zimmer in ein angenehmes Licht. Im Kamin, der beinahe die ganze rechte Seite des Audienzzimmers einnahm, flackerte ein Feuer. Vor ihm stand ein prunkvoller Thron, der nicht hierher gehörte.

„Alles verläuft nach Plan“, bestätigte Jens.

Fürst Waddqa lächelte. Er griff nach dem Weinkelch zu seiner Linken und nahm einen Schluck. Vor ihm lag ein Brief, das pechschwarze Siegel gebrochen. „Belohnt ihn großzügig und sagt ihm, dass ich ihn nach meiner endgültigen Machtübernahme zu einem meiner engsten Berater ernennen werde.“

„Jawohl, mein Fürst.“ Der Heerführer strich seine hellblaue Kleidung glatt und richtete das Schwert an seiner Hüfte. Er musterte den bewusstlosen Mann, der gefesselt und geknebelt in der Mitte des Zimmers lag.

„Ein Spion des Meisters der Gilden“, erklärte der Fürst.

Der Heerführer wandte sich ab und betrachtete wieder die Notizen in seiner Hand. „Ich habe einen Trupp von zehn Ganedi zum verbotenen Tor geschickt. Sie sollten in einigen Wochen dort sein.“

„Magische Wesen?“, fragte der Fürst.

„Zwei Salividkriegerinnen, eine Naturalistin und zwei Nogirkrieger. Der Rest besteht aus gewöhnlichen Soldaten.“

„Kommt sofort zu mir, sobald Ihr eine Nachricht von ihnen erhaltet.“

Jens nickte.

Der Spion stöhnte, als er langsam das Bewusstsein wiedererlangte. Vergeblich versuchte er, sich aus den Fesseln zu befreien, und brüllte Zauberformeln in den Knebel, die jedoch wirkungslos blieben, da er sie nicht genau genug artikulieren konnte.

„Ah, er ist wach“, meinte Waddqa erfreut und erhob sich vom Sessel.

Er ging vor dem wehrlosen Ganedi auf die Knie und presste seine Finger an dessen Schläfen. Leise murmelte er eine Zauberformel, drang in die Gedanken des Spions ein.

Der Mann wand sich und versuchte gegen die fremde Macht anzukämpfen, doch der Fürst war zu stark.

Nach einer Weile wandte sich Waddqa wieder seinem Berater zu. „Nutzlos.“ Er richtete seinen schwarzen Ring auf den Gefesselten und Magie erfüllte den Raum, nachdem der Fürst eine weitere Zauberformel gesprochen hatte.

Der Mann brüllte in seinen Knebel und krümmte sich vor Schmerz, als ihn die Macht durchdrang.

„Wie geht es mit der Rekrutierung der neuen Krieger voran?“, fragte Fürst Waddqa den Heerführer, der trotz der erstickten Schreie keine Miene verzog.

„Einige weigern sich trotz der großzügigen Zahlungen, die Ihr ihren Familien gesendet habt. Aber meine Offiziere werden das Problem beseitigen.“

„Ich verlasse mich auf Euch!“

Jens verbeugte sich knapp, bevor er den Raum verließ.

Fürst Waddqa wandte sich wieder dem wimmernden Spion zu. „Ihr seid eine Schande für unsere Rasse“, knurrte er. „Euer Vertrauen in die alten Machtstrukturen wird Euch nicht retten. Ohne die Königin werde ich die Ganedi in ein neues Zeitalter führen.“ Er richtete den schwarzen Ring an seinem Finger und strich durch seine dunklen Haare. „Schade, dass Ihr dies nicht mehr erleben werdet.“ Waddqa platzierte seine Hand auf der Brust des Verräters.

Die Magie floss freudig durch seinen Körper und verlangte nach dem Leben dieses Mannes.

„Wadde Hindarisu“, murmelte Waddqa und sie kam dem Befehl augenblicklich nach.

Der Herzschlag des Spions verstummte. Seine Augen starrten leblos an die Decke.

Fürst Waddqa setzte sich auf den goldenen Thron. Gelassen lehnte er sich zurück und griff erneut nach dem Wein.

Der Tote vor seinen Füßen erinnerte ihn an die Königin und wie viel einfacher alles gewesen wäre, wenn sie ihn damals nicht abgewiesen hätte. Doch nun war sie aus dem Weg geräumt und selbst wenn sie überlebt hatte, würde sie sich an nichts mehr erinnern.

Er hatte ihr die Wahl gelassen und erneut angeboten, seine Frau zu werden. Aber das hatte sie mit solchem Ekel abgelehnt, dass er ihr stattdessen ins Gesicht geschlagen hatte. Ihre Sturheit hatte sie das Leben gekostet.

Eigentlich hatte er vorgehabt, ihre Gedanken zu verändern, um sie zu seiner Marionette zu machen, aber Dulcea hatte darauf bestanden, sie zu töten. Der Erinnerungsverlust war nur eine Vorsichtsmaßnahme, denn niemand wusste, wie groß die Kräfte des Balidru waren.

Ein unangenehmer Geruch stieg in die Nase des Fürsten.

„Diener!“

„Ihr habt gerufen, Fürst?“, fragte sogleich ein Mann, der lautlos ins Zimmer gekommen war.

„Schaff mir den Verräter aus den Augen“, befahl er und zeigte auf die Leiche. „Und schick Dana zu mir.“

Der Diener verbeugte sich tief und huschte aus dem Zimmer. Kurz darauf entfernten weitere Bedienstete den Toten.

Zavo trank von seinem Wein und seine Gedanken wanderten zurück zu Emily. Sie hielt viel Schmerz aus, was er an einer Frau schätzte. Aber die Verachtung in ihren Augen. Er hätte sie nie zwingen können, diese zu verbergen. Niemals wieder wollte er eine Frau, die ihn verabscheute.

„Ihr habt nach mir geschickt, mein Gebieter?“, fragte Dana, die ins Zimmer gekommen war.

„Wegtreten“, blaffte er die Diener an, die sich daraufhin eiligst aus dem Staub machten.

Die Tür schloss sich und seine Gespielin trat auf ihn zu.

Ihr hellgrünes Kleid hätten viele Frauen im Palast als gewagt bezeichnet, doch für Dana war es eine Spur zu tugendhaft. Ihr dunkelblondes Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. Sie setzte sich auf seinen Schoß. Lächelnd nahm sie ihm den Kelch ab und trank einen Schluck Wein. Ihre Hand glitt zwischen seine Beine und Zavo lehnte sich entspannt in seinem Thron zurück, während Dana sich an die Arbeit machte.

Ich riss die Augen auf, als mich jemand unsanft wachrüttelte.

Raffael bedeutete mir, leise zu sein und setzte mich vorsichtig ab.

Es gelang mir stehenzubleiben, ohne dass mir schwindelig wurde. Meine Beine fühlten sich wieder normal an. Ich wollte etwas sagen, doch Raffael presste seine Hand auf meinen Mund. Verängstigt sah ich zu den anderen.

Alea hatte einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens gelegt und diesen gespannt. Jim und Andreas standen mit gezückten Waffen neben ihr. Raffael legte einen Finger auf seinen Ring und Jim nickte. Dieser trug ein identisches Schmuckstück, doch sein Ring leuchtete grün und nicht blau.

Ich hörte Hufgetrappel und meine Magie wurde unruhig.

Raffael nahm vorsichtig die Hand von meinem Mund. Dann ergriff er sacht meinen Zeigefinger und legte ihn auf seinen Ring. Wir sind umzingelt, flüsterte seine Stimme in meinem Kopf.

Ich bedeutete ihm schweigend, dass ich verstanden hatte.

Jim, der lautlos an meine Seite getreten war, hielt mir einen Dolch hin.

Ich nahm ihn und nickte dankbar, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich kämpfen konnte.

Das Hufgetrappel wurde lauter. Die Macht in mir unruhiger.

Berittene Soldaten preschten mit gezückten Waffen zwischen den Bäumen vor.

Ein Pfeil pfiff an mir vorbei. Ein Krieger ging zu Boden. Achtlos hetzten die Soldaten ihre Reittiere über den toten Körper.

„Wadde Hindarisu.“ Auch ein zweiter Reiter fiel tot von seinem Pferd, als Jims Magie ihn erreichte.

Ich umklammerte den Dolch, der neben den Schwertern der Angreifer lächerlich wirkte.

Alea schoss einen weiteren Pfeil ab. „Inkanio tabbet.“

Nebel kroch zwischen den Bäumen hervor, sodass die Krieger zu schemenhaften Gestalten verschwammen.

Meine Magie war augenblicklich wachsam. Ich befahl ihr, mir beim Sehen zu helfen. Die feindlichen Soldaten schienen wie kleine Lichter vor mir, jede ihrer Bewegungen klar erkennbar.

Raffael stellte sich schützend vor mich. Er durchbohrte einen der Angreifer mit einem Schwert, das ihm Jim zugeworfen hatte. Seine Magie drang in einen Krieger ein, der daraufhin tot auf die Erde fiel.

Aleas Pfeile surrten an mir vorbei.

Wie ein Wahnsinniger murmelte Andreas Kampfzauber, die seine Schwerthiebe verstärkten.

Jim war dicht bei mir. Seine Dolche wirbelten so schnell hin und her, dass sie zu silbernen Schatten verschwammen. Drei Krieger stürmten auf uns zu. Jim sprach einen Zauber und blies die freigelassene Magie auf seine Waffe. Mit einem einzigen Hieb trennte er die Köpfe der Soldaten von ihren Körpern.

Blut spritzte und der beißende Geruch des Todes erfüllte die Luft. Mir wurde übel, doch ich widerstand dem Drang, mich zu übergeben.

Mittlerweile hatten sich meine Beschützer im Kreis um mich herum postiert. Andreas’ Rücken war so nah an meinem, dass ich seine Wärme spürte. Meine Magie fühlte sich augenblicklich sicher.

Alea murmelte eine Zauberformel und schoss. Der Pfeil durchbohrte die Brust eines Kriegers, bevor er in der Stirn des nächsten stecken blieb. Der Nebel wurde dichter. Alea tat einen Schritt zur Seite, als sie einer gegnerischen Waffe auswich. Sie verschwand im Dunst.

Ein magischer Windstoß schoss auf uns zu. Jim fing den Zauber auf, schleuderte ihn auf die Kriegerin zurück, die ihn ausgesprochen hatte. Sie fiel in den Nebel. Andreas und Jim stürzten sich auf sie und wurden von den Schwaden verschluckt.

Ich sah nur noch Raffaels Rücken vor mir. Fünf Bewaffnete stürmten auf uns zu. Raffael sprach einen Zauber. Ihre Körper wurden von uns weggeschleudert.

„Balidru“, flüsterte eine Stimme. Niemand war zu sehen. „Du wirst erneut versagen, Raffael Balidhvendia.“ Eine in orange gekleidete Frau trat aus dem Dunst. Auf ihrer Stirn prangte ein hellblauer Stein.

„Avenialya“, knurrte Raffael.

Die Frau verschwand wieder im Nebel. Er stürzte ihr hinterher.

In diesem Moment stürmte ein mit einer Axt bewaffneter Krieger auf mich zu. Instinktiv duckte ich mich unter seinem Hieb weg. Ich wich zur Seite aus und sprang hoch. Die Waffe schlitzte ihm die Halsschlagader auf. Blut benetzte die Erde. Er umklammerte die Wunde an seinem Hals.

Erschrocken von mir selbst, starrte ich die rot schimmernde Klinge an. Wo hatte ich gelernt, so zu kämpfen?

Die nächste Kriegerin griff mich an.

Ich wich aus und packte die Axt neben dem Leichnam. Mit Wucht rammte ich sie der Angreiferin in ihren rechten Oberschenkel. Sie taumelte, als sich die Klinge aus ihr löste. Ich versenkte die Waffe in ihrer Brust. Die Wucht meiner Attacke entriss ihr das Schwert.

Einem Instinkt folgend wirbelte ich herum und parierte in letzter Sekunde einen Schlag aus dem Nebel. Eine Lanze kam von rechts auf mich zu. Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig weg. Als ich mich zum Gegenangriff wappnen wollte, bemerkte ich erschrocken, dass ich umzingelt war.

Die Krieger griffen mich alle gleichzeitig an.

Ich parierte einen Schlag, wich einem anderen aus und spürte, wie die dritte Waffe meinen Arm streifte.

Zwei Soldaten packten mich. Die dritte Kriegerin entwand mir meine Waffe. „Jetzt werdet ihr sterben, Majestät“, zischte sie.

Ich wand mich, doch die Soldaten hatten mich fest im Griff. Mein Blick wanderte hilfesuchend umher. Aber ich konnte weder Raffael und Jim noch Andreas und Alea im Schlachtgetümmel ausmachen.

Der Nebel verschluckte alles. Abgesehen von den Schreien schien es, als wären die Krieger und ich vollkommen allein.

Die Soldatin holte mit ihrem Schwert aus.

Meine Magie zischte durch jede Zelle meines Körpers und verlangte nach Kontrolle. Ich ließ sie Besitz von mir ergreifen. „Heinato validri incetur.“

Eine gewaltige Welle magischer Energie erfasste meine Feinde. Der Griff der Soldaten lockerte sich, als ihre Herzen stehen blieben. Das Geräusch fallender Waffen und Körper hallte durch den Wald, bevor es totenstill wurde.

Erschöpft stützte ich mich auf meine Oberschenkel und atmete schwer. Ein starkes Schwindelgefühl ließ den Wald vor meinen Augen verschwimmen. Krampfhaft versuchte ich dagegen anzukämpfen, doch die Magie zerrte an meiner Lebensenergie.

Ich fiel in die Dunkelheit, wo seine leuchtenden Augen mich erneut erwarteten.

„Das ist die Wahrheit“, log ich. Tränen tropften von meinen Wangen.

Schmerzerfüllt erwiderte er meinen Blick, bevor er sich von mir abwandte und in der Finsternis verschwand.

Auf dem Schlachtfeld war es still.

Außer einigen Kriegern, deren Leichen vor mir lagen, konnte ich durch den Dunst nichts erkennen. Das uralte Bündnis zwischen Emily und mir erwachte zischend zum Leben und erinnerte mich an meinen Schwur. „Axkanio tabbet.“

Der Nebel lichtete sich.

Mein Blick wanderte umher, aber ich konnte Emily nicht finden.

„Hier drüben“, rief Jim.

Ich eilte zu ihm.

Emily lag bewusstlos auf dem Boden.

„Der erste Laveniaqa“, murmelte mein Bruder.

Ich hob sie vorsichtig hoch.

Andreas trat zu uns; seine Kleidung war blutverschmiert. „Kannst du ihr etwas von deiner Magie geben?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wir müssen die Stadt so schnell wie möglich erreichen. Wir sind alle zu erschöpft, um einen weiteren Kampf zu überstehen.“

„Hätten uns diese Bastarde nicht angegriffen, wären wir schon längst da“, sagte Alea.

Erst in diesem Moment erblickte ich hinter den Bäumen die felsigen Steilhänge des Hanituleni. Schwindelerregend reckten sich die Gipfel in die Höhe.

Alea führte uns aus dem Wald heraus, direkt auf die Felswand zu. „Lava Leni.“ Sie presste ihre Hand gegen den Stein.

Eine Öffnung entstand im Berg, durch die wir eintraten.

Zwei Wachen befanden sich im Vorraum des Nordeinganges und verbeugten sich tief.

Ein enger Gang führte in das Innere des Berges. Dort erstreckte sich die Versteckte Stadt in einem Labyrinth aus Wegen und unterirdischen Straßen vor unseren Augen. In den von magischen Lichtern beleuchteten Fluren war es kalt und ungemütlich, der magisch erzeugte Himmel genauso neblig und dunstverhangen wie der echte.

Kaum jemand war bei diesem Wetter unterwegs, weshalb wir uns ungesehen in Richtung der königlichen Gemächer begeben konnten.

Alea und Andreas bogen bei der nächsten Kreuzung nach links ab, tiefer in das Magische Viertel hinein.

Jim und ich gingen hingegen nach rechts durch die Schutzschilde, die den königlichen Flügel umgaben. Die magisch erzeugte Wärme umschloss uns sogleich. Wir passierten den Eingang zu meinen Gemächern und den der leeren Drachenhöhle.

Ein Valiadru stand vor Emilys Tür, die in eine Öffnung des Felsens hineingebaut worden war.

„Schickt nach Heiler Erlon“, befahl ich ihm.

Der Valiadru verbeugte sich und eilte davon.

Jim hielt mir die Tür auf und murmelte einen Zauber. Die magische Versiegelung brach.

Ich durchschritt Emilys Audienzzimmer und passierte eine weitere Tür. Dort legte ich sie auf ihr Bett.

Mein Bruder war mir gefolgt und betrachtete Emily.

„Du solltest dich ausruhen“, sagte ich. „Ich kümmere mich um sie.“

Er klopfte mir auf die Schulter. „Sie wird sich an dich erinnern.“ Jim warf einen weiteren Blick auf sie, bevor er das Zimmer verließ.

Gared Erlon betrat wenig später das königliche Schlafzimmer und untersuchte Emily gründlich. „Ihre Wunden sind nicht sehr tief. Es ist nicht notwendig, sie durch die Heilung aus ihrem Schlaf zu ziehen. Ich werde morgen wiederkommen.“

„Danke, Heiler.“

Gared machte Anstalten zu gehen, hielt dann aber inne, schloss die Tür und sprach einen Stillezauber.

Verwundert hob ich eine Augenbraue.

„Es gibt da noch etwas“, murmelte er.

Ich sah ihn fragend an.

„Die Königin ist schwanger.“

Mein Herz begann wild in meiner Brust zu hämmern und mein ganzer Körper verkrampfte sich. „Niemand darf davon erfahren.“

„Ich werde es für mich behalten, Balidru.“

„Euer Wort reicht leider nicht, Heiler. Ihr müsst einen magischen Schwur ablegen.“

Gared nickte und murmelte, ohne zu zögern, den entsprechenden Zauber.

„Danke.“

„Ich werde morgen zu ihr kommen, um sie gründlicher zu untersuchen.“ Er löste den Stillezauber und ging.

Ich deckte Emily zu. Am liebsten hätte ich mich neben sie gelegt, doch der Leibwächter vor ihrer Tür wusste, dass ich hier war. Es wäre sofort in aller Munde, wenn der Balidru die Nacht bei der Königin verbrachte.

Ich verließ Emilys Zimmer und schritt an dem Valiadru vorbei. Zwei Türen weiter murmelte ich eine Zauberformel und brach den Versiegelungszauber, mit dem ich meine Gemächer belegt hatte. Ich trat in mein Audienzzimmer und versuchte zu begreifen, was der Heiler mir gesagt hatte. Müde schnallte ich das Schwert von meinem Gürtel und legte es auf die abgenutzte Kommode, die sich gegenüber des Tisches befand. Dort stapelten sich die Bücher und Schriftrollen genau so, wie ich sie zurückgelassen hatte.

Mein Blick fiel durch meine offene Schlafzimmertür auf mein ungemachtes Bett. In dieser Nacht würde ich nicht hier schlafen. Es war riskant, zu Emily zu gehen, doch ich konnte sie nicht allein lassen.

Nachdem ich meinen Mantel achtlos auf einen Stuhl geworfen hatte, murmelte ich eine Zauberformel. Ich ging durch die Wand, durchschritt die leere Drachenhöhle und war kurz darauf zurück in Emilys Zimmer. Ich musste sichergehen, dass es ihr und dem Kind gut ging. Leise zog ich meine Stiefel aus und legte mich neben sie, bedacht darauf, sie nicht zu wecken.

Ihre dunklen Locken lagen in einem wirren Durcheinander um ihr blasses Gesicht.

Ich kam nicht umhin, ihre Schönheit zu bewundern und fragte mich, ob ich ihre Liebe tatsächlich verdient hatte.

Deine Liebe ist verdorben, hörte ich Beas hasserfüllte Stimme in meinem Kopf. Sie wird dir nur Schmerz und Leid bereiten, Balidru.

Selbst nach all den Jahrtausenden verfolgte sie mich noch. Meine Magie zischte. Bea hatte keine Macht mehr über mich.

„Naati“, flüsterte ich und das magische Licht an der Wand erlosch.

Müde öffnete ich meine Augen und versuchte, den pochenden Schmerz in meinem Kopf zu ignorieren. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Vielleicht hätte mich das beunruhigen sollen, aber ich spürte mehrere Schutzzauber, die um diesen Ort gewoben waren. Mir fielen erneut die Augen zu. Das Bett, in dem ich lag, war weich und die Decke warm. Meine müden Muskeln wollten, dass ich weiterschlief, aber meine Zunge verlangte nach Wasser. Ich zwang mich vollständig aus meinem tiefen Schlaf zu erwachen und bemerkte, dass mich jemand festhielt.

Raffael hatte seine Arme um mich geschlungen und schlief.

Ich betrachtete sein Gesicht in der Hoffnung, etwas Vertrautes zu entdecken, doch egal, wie lange ich ihn ansah, seine Züge waren mir fremd. Warum erinnerte ich mich nicht an ihn, wenn wir uns so nahestanden?

Vorsichtig befreite ich mich aus seiner Umarmung und erblickte den vollen Becher auf einem Tischchen neben dem Bett. Gierig schluckte ich das Wasser. Mein Magen wurde unruhig. Ich zwang mich nicht zu hastig zu trinken, denn ich wollte mich nicht wieder übergeben.

Unter dem gedimmten magischen Licht an der Wand waren die vier Symbole der Zeitmessung aufgemalt. Die Anzeigelinie befand sich knapp über dem Sonnenaufgang.

Instinktiv streckte ich meine Hand in die Richtung des Lichts. Ich krümmte meine Finger, als würde ich eine Kugel halten und drehte mein Handgelenk ein wenig nach rechts. Es wurde augenblicklich heller.

Das Bett, auf dem ich lag, war riesig und die Laken schneeweiß. Links nahm ein großer Schrank fast die ganze Seite des Zimmers ein. Rechts befand sich eine Tür, deren Türrahmen in die kahle Felswand gehauen war. Mir gegenüber hing ein mit Gold umrahmter Spiegel, indem ich mein fremdes Gesicht erblickte.

Meine dunklen Locken stellten einen krassen Kontrast zu meiner bleichen Haut dar. Das zerrissene Kleid, das ich immer noch trug, wies auf der Höhe meines Herzens ein Loch auf, als hätte mich etwas durchbohrt. Ich betastete meine Haut unter dem Stoff, doch sie war unversehrt. Im Gegensatz zu meinem restlichen Körper, der bei jeder Bewegung schmerzte.

Plötzlich regte sich Raffael neben mir und blinzelte verschlafen. „Guten Morgen“, flüsterte er und lächelte mich an.

„Warum bist du in meinem Bett?“

Das Lächeln verschwand und er stand auf. „Verzeih mir.“

„Das beantwortet meine Frage nicht.“

„Wir sind ein Paar“, erklärte er mir. „Aber kaum jemand weiß davon, deshalb sollte ich nicht hier sein.“

„Ich habe nicht vor, dich zu verraten.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Aber es wäre schön, wenn du in Zukunft um Erlaubnis fragen könntest, bevor du dich einfach zu mir ins Bett legst.“

„Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht.“

„Was ist im Wald passiert?“

Raffael setzte sich auf die Bettkante. „Du hast den ersten Laveniaqa benutzt, um die Soldaten zu töten.“

„Alle?“ Mir wurde übel.

Er nickte. „Du hast uns allen das Leben gerettet, Emily.“

„Für einen hohen Preis.“ Meine Hände zitterten.

Sanft ergriff Raffael eine davon. Ich wollte sie zurückziehen, doch meine Magie beruhigte sich unter seiner Berührung. Sie vertraute ihm.

„Warum erinnere ich mich nicht an dich?“

Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, seine Augen leicht zusammengekniffen. „Das wirst du hoffentlich bald“, flüsterte er und nahm seine Hand von meiner. „Ich sollte nicht hier sein.“ Er stand auf und zog seine Stiefel an.

„Warum weiß niemand von unserer Beziehung?“

„Es gibt eine alte Prophezeiung darüber, dass sich unsere Blutlinien vereinen werden. Die meisten deiner Untertanen wollen das verhindern. Wenn die falschen Ganedi von unserer Beziehung erfahren, könnte es zu einem Aufstand kommen.“

Es klopfte und ich tauschte einen alarmierten Blick mit Raffael.

„Wer ist da?“, fragte ich.

„Ich habe Frühstück für Euch, meine Königin“, rief jemand von draußen.

Raffael lächelte mir verschmitzt zu und murmelte eine Zauberformel, bevor er durch die Wand zu meiner Linken spazierte.

Mit einer Bewegung meiner Hand öffnete ich die Tür und eine Dienerin trat herein.

Sie stellte ein volles Tablett auf den Tisch neben meinem Bett. Es duftete herrlich nach frisch gebackenem Brot. „Wünschen Eure Majestät sonst noch etwas?“

„Im Moment nicht“, murmelte ich. „Vielen Dank.“

Die Dienerin verbeugte sich tief und schloss die Tür hinter sich.

Ich biss in ein Stück Brot, das mit Butter bestrichen war, und griff nach der Tasse mit dem Tee.

Doch Raffael nahm ihn mir sanft aus der Hand. Wann war er zurück ins Zimmer gekommen? Er schnupperte skeptisch an der dunklen Flüssigkeit. „Den solltest du nicht trinken; er enthält Schattenblume.“

„Jemand will mich vergiften?“

Er stellte die Tasse auf das Tischchen und setzte sich auf die Bettkante. Magie legte sich wie ein schützender Kokon um uns, als er eine Zauberformel sprach. „Schattenblume ist an sich nicht schädlich. Sie wird in den Höhlen oft als Tee genutzt, weil sie hier natürlich wächst. Aber sie enthält auch eine bestimmte Substanz, die normalerweise ungefährlich ist, jedoch effektiv, wenn es darum geht, Schwangerschaften abzubrechen.“

Verwirrt starrte ich ihn an und fragte mich, ob ich mich verhört hatte. Meine Magie wurde unruhig, genauso wie mein Herzschlag. „Ich bin schwanger?“

Er nickte und presste seine Lippen aufeinander.

„Ist das Kind von dir?“

„Ich hoffe es.“ Er zögerte. „Der Fürst hat uns wochenlang gefangen gehalten und ich weiß nicht, was … was er dir angetan hat.“

Angeekelt legte ich das Brot weg.

„Es gibt einen Zauber, um es herauszufinden“, sagte er mit zitternder Stimme und streckte seine offene Hand aus.

Ich ergriff sie und meine Macht beruhigte sich augenblicklich. Sie hieß ihn willkommen wie einen alten Freund. Ich verspürte einen fremden und gleichzeitig vertrauten Drang, ihn zu küssen. Das Gefühl war so intensiv, dass ich ihm beinahe nachgab. Streng erinnerte ich meine Magie daran, dass ich mich nicht von ihr beherrschen ließ.

Raffael murmelte eine Zauberformel und ich fühlte, wie seine Magie in mich floss. Er lächelte. „Es ist von mir.“

Ich war erleichtert, dass es nicht das Kind des Fürsten war.

Als Raffael meine Hand losließ, protestierte die Macht in mir. Gleichzeitig war ich froh, dieses unangenehm bekannte Gefühl loszuwerden. „Sprach die Prophezeiung von einem Kind?“, fragte ich.

„Lass uns später darüber reden. Der Stillezauber wirkt schon zu lange und ich will den Valiadru vor deiner Tür nicht alarmieren.“ Er löste den Zauber und verschwand durch die Wand.

Mein Blick fiel auf mein eigenes Spiegelbild. Immer noch war ich von oben bis unten mit Blut beschmiert. Ich ging durch die Tür zu meiner Rechten, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, an dem ich ein Bad nehmen konnte.

Sie führte jedoch in ein prunkvolles Audienzzimmer, in dessen Mitte ein großer Tisch stand, um den fein säuberlich gold-weiße Stühle aufgestellt waren. In einer Ecke stand ein Teetisch mit einigen bequem aussehenden Sesseln. Halb gelesene Bücher stapelten sich auf ihm, zusammen mit einigen Bögen Pergament und einer Feder.

Ich sah mich kurz um, bevor ich durch eine weitere Tür ging.

„Guten Morgen, Eure Majestät“, begrüßte mich Andreas, der frisch gebadet und in eine schwarze Uniform gekleidet davorstand. Auf den dunklen Stoff war eine goldene Krone gestickt, das Wappen der königlichen Familie.

Diese belanglose Information war in meinem Verstand aufgetaucht, als wäre sie nie fort gewesen.

Der Gang, auf den ich nun hinaustrat, erstreckte sich lang zu beiden Seiten, wo weitere Türen in den Öffnungen angebracht worden waren.

„Wo sind wir?“

„In der Versteckten Stadt, dem königlichen Zufluchtsort. Sie wurde vor Jahrtausenden erbaut, um Eurer Familie in Zeiten des Krieges ein sicheres Versteck zu bieten. Mächtige Magie schützt diesen Ort und sorgt dafür, dass niemand seinen Standort an den Feind verraten kann.“

Ich befahl meiner Magie mit einer Geste in meine Augen zu fließen und betrachtete die wunderschön verschlungenen Schutzzauber, die um die zahlreichen Höhlen gewebt worden waren.

Der Zauber brach, als ich meine Macht in mich zurückzog.

„Weißt du, wo ich ein Bad nehmen kann?“, fragte ich Andreas und er bedeutete mir, ihm zu folgen.

Er bog neben meinen Gemächern rechts in einen schmalen Seitengang ab, der in eine riesige Höhle mündete.

Dampf stieg von einem Becken mit Wasser auf, das aus den Tiefen des Berges stammen musste. Das sanfte Licht der zahlreichen magischen Lampen überzog die Decke und Wände mit einem rötlichen Schimmer.

„Ich werde vor der Höhle auf Euch warten, meine Königin.“ An­dreas verbeugte sich und ging.

Eine Dienerin, die aus einem Nebenraum gekommen war, half mir aus meinem zerrissenen Kleid. Der Stoff klebte an meinen zahlreichen Wunden.

Ich glitt in das nach Ringelblumen duftende Wasser und schloss die Augen. In meinem Kopf herrschte Chaos und ich versuchte die wenigen Informationen, die ich hatte, zu ordnen. Ich war eine Königin ohne Erinnerungen und schwanger von einem Mann, mit dem ich keine Beziehung haben sollte. Auch hatte ich keine Ahnung, warum mich Fürst Waddqa in eine dunkle Zelle gesperrt hatte oder wer die Soldaten waren, die uns im Wald angegriffen hatten. Ich wusste nicht, wem ich vertrauen konnte.

Egal, wie sehr ich mich anstrengte, mein Verstand blieb leer. Bis auf Jims Namen, der sich jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, schmerzhaft in mein Gedächtnis brannte. Wie sollte ich ohne Erinnerungen eine gute Königin und Mutter sein?

Wasser umschloss mich, als ich meinen Kopf kurz untertauchte und ich entspannte mich ein wenig. Ich schrubbte meine Haut, bis sie brannte, und wusch das verkrustete Blut aus meinem Haar.

Als ich aus dem Becken stieg, reichte mir die Dienerin ein Handtuch, bevor sie jede Einzelne meiner Wunden reinigte und verband.

Sie kleidete mich ein und bürstete mein Haar.

Ich ließ Magie in meine Fingerspitzen fließen und strich mit ihnen durch meine nassen Haare. Die Feuchtigkeit verdampfte.

Die Dienerin verbeugte sich und ging.

Ich betrachtete mich in dem großen Spiegel, der an der Wand der Höhle angebracht war. Mit meinem Ich von vorhin hatte ich nichts mehr gemein. Meine braunen Locken fielen wallend über meine Schultern und umrahmten mein blasses Gesicht. Grüne Augen starrten mich verwundert an. Augen, die sich nicht mehr erinnern konnten, was sie gesehen hatten. Meine Haut war von blauen Flecken und präzisen Schnitten verunstaltet und an meinem Hals entdeckte ich einen Bluterguss, der die Form einer Hand hatte. Was war in der Zelle mit mir geschehen?

Ein Bild formte sich verschwommen in meinem Verstand. Es war dunkel und bläuliche Kristalle beleuchteten schwach die Steinmauern des Kerkers. Ein Mann murmelte eine Zauberformel, während er eine Art Sand auf den Boden streute. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Schmerz lähmte meinen Körper und ich fühlte, wie Blut von der Wunde an meinem Oberschenkel auf die Erde tropfte.

Der Erinnerungsfetzen verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war und ließ mich mit einem flauen Gefühl im Magen zurück.

Ich riss mich von meinem Anblick im Spiegel los und verließ die Höhle.

Um diese Tageszeit waren die heißen Quellen des magischen Viertels bis auf mich leer.

Dampf stieg vom Becken auf. Im Wasser spiegelte sich das Licht in allen Farben des Regenbogens.

Der blaue Stein meines Rings pulsierte und Sahras Gesicht erschien vor meinem inneren Auge.

Ich seufzte und tauchte meinen Kopf kurz unter Wasser. Als ich wieder nach oben kam, stieg Jim neben mir ins Becken.

„Wie geht es ihr?“

„Besser.“ Ich fragte mich, wie Jim die Neuigkeiten verkraften würde. Jedoch bezweifelte ich, dass es ihm helfen würde, endlich über Emily hinwegzukommen. Ich blickte tief in seine grünen Augen und versuchte zu begreifen, warum sie sich an seinen Namen erinnert hatte und nicht an meinen. Eifersucht brodelte in mir, aber ich erstickte sie. Mein Versuch, Jim zu lesen, blieb erfolglos. Wenn ich nur herausfinden könnte, was er im Schilde führte und woran er Tag und Nacht in seinem Labor arbeitete. Es gab nicht einmal Gerüchte darüber, was merkwürdig war, denn es gab immer Gerüchte.

„Kann sie sich immer noch an nichts erinnern?“

„Sie hat alles vergessen“, antwortete ich leicht gereizt.

Vermutlich wäre es besser, es ihm zu sagen, auch wenn es ihn vielleicht zerstören würde. Ich hatte Angst, dass er wie damals seinen Gefühlen abschwören würde. Aber Felicias Herrschaft hatte ihn gelehrt, seine Emotionen zu ertragen, egal wie schmerzhaft sie waren. Er wollte genauso wenig wie ich wieder so sein wie früher.

Als ich meinen Finger auf meinen Ring legte, zog er seine Augenbrauen nach oben. Emily ist schwanger, verriet ich ihm.

Schmerz flackerte kurz in seinen Augen auf, aber er brachte sich sofort wieder unter Kontrolle. Wie konnte das passieren?

Wir hatten keine Zeit mehr, den Zauber zu sprechen. Zavo hat uns überrascht.

Seid vorsichtig, warnte er mich. Niemand darf davon erfahren.

Vielleicht war es ungerecht von mir gewesen, es ihm zu sagen. Aber mit wem sollte ich sonst darüber reden?

Jim stieg aus dem Becken „Ilina hat den Rat einberufen.“

Ich seufzte, weil ich keine Lust hatte, Rubens wütende Blicke zu ertragen. Vielleicht sollte ich vor der Versammlung mit ihm reden. Zuerst musste ich jedoch mit Emily sprechen. Ich konnte sie nicht unvorbereitet in die Ratssitzung gehen lassen.

Ich stieg aus dem Wasser, zog mich an und machte mich auf den Weg zu den königlichen Gemächern. Als ich vor Emilys Tür stand, zögerte ich kurz.

Andreas musterte mich besorgt. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Tür.

Emily saß, in ein goldenes Kleid gehüllt, auf einem der Sessel und lächelte. Vor ihr befanden sich Pergamentrollen und ein Tintenfass, in das sie nun ihre Feder stellte. Sie machte ihren Mund auf, doch ich bedeutete ihr zu schweigen und sprach einen Stillezauber.

„Nur eine kleine Sicherheitsvorkehrung“, murmelte ich.

Emily nahm erneut die Feder in ihre Hand und bedeutete mir, mich zu setzen. „Erzähl mir von der Prophezeiung“, bat sie und unterzeichnete das Pergament.

„Weißt du noch, was der Balidru ist?“

„Ich weiß, dass es wörtlich stark und magisch bedeutet.“

„Du kannst die alte Sprache noch sprechen?“

„Es sind die Erinnerungen und Erlebnisse, die mir verborgen bleiben“, murmelte sie. „Auf die Sprachen, die ich gelernt habe, habe ich vollen Zugriff.“ Sie legte die Feder und die Dokumente beiseite.

„Also weißt du noch, was ein Nogir ist?“

„Ein männliches magisches Wesen.“ Sie holte zwei Tassen, in die sie Tee füllte.

„Der Balidru ist der stärkste Nogir und der Königin verpflichtet.“ Ich trank einen Schluck Tee. „Eine deiner Vorfahrinnen hat mich mit einem mächtigen Zauber an dein Blut gebunden. Seitdem habe ich jeder Königin bedingungslos gedient.“

„Seitdem? Du bist höchstens dreißig, nur einige Jahre älter als ich.“

„Ich bin dreitausend Jahre alt.“

Sie zog die Augenbrauen nach oben. „Du kannst nicht sterben?

---ENDE DER LESEPROBE---