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„Gespaltenes Blut wird die Grenzen bewahren, Vollkommenes Blut wird sie zerstören.“ Fürst Waddqa ist tot, aber der Krieg noch lange nicht gewonnen. Die Avenialya terrorisieren das Land und haben es sich zur Aufgabe gemacht, Königin Emily Draya und ihre Familie auszulöschen. Zudem giert Gab nach Rache und schmiedet Pläne mit Beatrix. Als es ihnen gelingt, die Prinzessin zu entführen, jagen Emily und Jim ihnen hinterher. Dabei treffen sie auf alte Verbündete, aber auch auf neue Feinde, die vor keiner Gräueltat zurückschrecken. Feinde, die Jim dazu zwingen, sich den dunkelsten Jahrhunderten seiner Vergangenheit zu stellen. Unterdessen versucht Christine Balidhvendia in der Hauptstadt ihrer neuen Rolle gerecht zu werden. Seit Raffaels Tod fällt es ihr jedoch schwer, ihre Magie zu kontrollieren. Darüber hinaus verliebt sie sich ausgerechnet in die meistgehasste Person im königlichen Palast. Wird sie es schaffen, ihre empathischen Kräfte zu meistern und der Liebe eine Chance geben? Und welche Opfer müssen Emily und Jim bringen, um ihre Tochter zu retten?
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Inhaltsverzeichnis
Runenverzeichnis
Prolog
Kapitel 1: Medeas Geheimnisse
Kapitel 2:Traxsy
Kapitel 3: Der Todesgipfel
Kapitel 4: Die Meisterin der Gilden
Kapitel 5: Lautlose Magie
Kapitel 6: Das Baumhaus
Kapitel 7: Gestaltwandler
Kapitel 8: Das Verbotene Tor
Kapitel 9: Vereintes Blut
Kapitel 10: Nephilia
Kapitel 11: Die Bewahrer
Kapitel 12: Filippa
Kapitel 13: Die Zerstörer
Kapitel 14: Camilla
Kapitel 15: Das Attentat
Kapitel 16: Kalte Spuren
Kapitel 17: Beunruhigende Visionen
Kapitel 18: Der perfekte Schlächter
Kapitel 19: Alvina
Kapitel 20: Verschwiegene Wahrheiten
Kapitel 21: Verrat
Kapitel 22: Entscheidungen
Kapitel 23: Die Schatten der Magie
Kapitel 24: Rückkehr
Epilog
Glossar
Danksagung
Über die Autorin
Trigger Warnungen/Content Notes
Sophie Obwexer
dieLegende
derDraya
Band 2: Vereintes Blut
© 2023 Sophie Obwexer
Alle Rechte vorbehalten.
Belgradstraße 132
80804 München
E-Mail: [email protected]
Website: www.sophieobwexer.de
Instagram: @sophie.obwexer_autorin
Lektorat: Luise Deckert
Korrektorat und Schlusslektorat: Andrea Benesch
Umschlaggestaltung: Schattmaier Design
Innengestaltung, Karten- und Runendesign: Sophie Obwexer
ISBN: 9783757917081
Dieses Buch enthält Triggerwarnungen/Content Notes zu den einzelnen Kapiteln auf den letzten Seiten dieses Buches.
Runenverzeichnis
Die Rune der Draya: Emilys Rune
Die Rune des Balidru: Jims Rune
Die Rune der Catirinqa: Christines Rune
Die Rune der Avendraya: Ve’ghas Rune
Die Rune der Havganedi: Die Runde der Drachen
Die Rune der Janisla: Gabs Rune
Die Rune der Balidhvendia: Henrys Rune
Die Rune des Onai Leyan: Larissas Rune
Die Rune der Schöpferin: Die Rune der Avenialya
Die Rune der Imead: Sashas und Ravs Rune
Die Rune des alten Blutes: Cals Rune
Die Rune der Sbricee: Annas Rune
Die Rune der Valiadru: Andreas’ Rune
Die Rune der Ritreita: Quinns Rune
Die Rune der Skifdra: Nephilias Rune
Die Rune des Wradganedi: Die Rune des Torwächters
Prolog
Am Rande der schneebedeckten Gipfel des Havaleni, weitab von den Städten der Ganedi, erstreckte sich eine weiß-schimmernde Fläche. Sie reichte vom hohen Norden bis zur verfluchten Ebene im Süden, wo sie sich bis nach Westen in die Wüste zog. Von dort verlief sie nach Norden zurück – weit über das Land hinaus in das Hanitutavarel, das große Meer.
Kaum jemand wusste, was sich hinter der magischen Grenze befand oder warum sie erschaffen worden war. Mit Ausnahme der Bewahrer, der Zerstörer und der Havganedi.
Smertgrit saß unweit der Grenze auf einem Berggipfel und betrachtete diese.
Waddlaria landete neben ihr. Ihre roten Schuppen glitzerten im Schein der untergehenden Sonne, als sie ihre Flügel zusammenfaltete. „Was machst du hier?“
„Manchmal frage ich mich, ob ich jemals die andere Seite sehen werde“, sagte der Drache mit den gläsernen Schuppen.
„Wir haben aus gutem Grund aufgehört, sie durchbrechen zu wollen“, bemerkte die Havganedya. „Ich werde keinen weiteren Havganedi dafür opfern.“
„Ich weiß.“ Smertgrit rutschte ein Stück näher zu Waddlaria. Ihre Flügel berührten sich leicht.
Die Havganedya blies Rauch in die Luft. „Wir sollten die Grenze bewachen lassen.“
„Solange das Blut vereint und nicht vollkommen ist, gibt es keinen Grund dafür.“
„Es ist vollkommen“, flüsterte Waddlaria.
„Das ist unmöglich.“ Smertgrit bleckte die Zähne. „Das würde bedeuten …“
„Die Bewahrer sind nachlässig geworden.“
„Du hattest recht“, murmelte Smertgrit. „Die Prophezeiungen werden wahr.“
Waddlaria nickte.
„Gespaltenes Blut wird die Grenzen bewahren …“
„… Vollkommenes Blut wird sie zerstören“, beendete Waddlaria die alte Weissagung. „Der große Krieg wird zurückkehren und ich werde meinen Brüdern gegenüberstehen.“
Smertgrit schnaubte. „Ich bezweifle, dass deine Familie sich freuen wird, dich zu sehen.“
„Sie sind vielleicht von meinem Blut, aber sie sind nicht meine Familie“, knurrte Waddlaria. „Wenn sie versuchen, dir oder jemandem aus unserem Clan etwas anzutun, werde ich sie töten.“
Kapitel 1: Medeas Geheimnisse
Im Thronsaal war es eiskalt, denn kein Feuer brannte im Kamin. Die dunklen Fliesen verliehen dem Zimmer eine düstere Atmosphäre und magisches Licht warf Schattenfiguren an die Wand. Totenstille erfüllte den Saal. Die Wachen an der Tür regten sich nicht, als wären sie zu Statuen erstarrt.
Ve’gha saß in einem dunkelroten Kleid auf ihrem Thron. Eine schwarze Krone mit einem Rubin an der Spitze war in ihr nachtfarbenes Haar geflochten. Mit blutroter Farbe gemalte Symbole zierten die dunkle Haut auf ihren Händen.
Der Thron neben ihr war leer.
Zwei ihrer Krieger, Ei’lua und Ar’an, betraten den Raum. Sie warfen einen Mann vor ihre Füße.
Er wirkte wie ein schmutziger Fleck in dem makellosen Thronsaal. Wimmernd blieb er vor Ve’gha liegen, traute sich nicht, sich zu bewegen.
„Wir haben ihn im Waddhvendia gefunden.“ Ei’lua spuckte neben ihn. „Dachte wohl, er kann sich dort vor uns verstecken.“
„Wieso denken die Magielosen immer, dass sie ihrer gerechten Strafe entkommen können?“ Ve’gha erhob sich von ihrem Thron.
Der Mann blickte vorsichtig zu ihr auf und hob flehend die Hände. Tränen rannen über seine Wangen. „Gnade, meine Königin. Ich bin Euer treuer Diener. Egal, was Ihr von mir verlangt, ich werde es tun.“
Ve’gha lächelte und zog einen Dolch, der unter ihren Gewändern verborgen gewesen war. Sie hielt ihn dem Magielosen hin. „Wenn das so ist“, flüsterte sie, während ihre Macht mit Vorfreude durch ihr Blut rauschte, „sorge dafür, dass meine Welt rein bleibt und stoß dir diese Klinge in dein verdorbenes Herz.“
Der Mann starrte sie aus tränennassen Augen an. „Meine Königin …“
„Du hast gesagt, du würdest alles tun.“ Der Blick aus ihren dunklen Augen war hart.
„Alles, um nicht zu sterben.“ Er zitterte.
„Also hast du deine Königin angelogen?“
„Das würde ich niemals wagen.“
Ve’gha roch seine Angst und rümpfte die Nase. „Ich verurteile dich hiermit zum Tode, um das Blut rein zu halten.“
„Gnade, meine Herrscherin“, winselte er. Er kroch auf sie zu und küsste den Saum ihres Kleides.
Ei’lua wollte ihn von Ve’gha wegzerren, doch diese hielt sie auf.
Die Finger der Königin schlossen sich um den Hals des Gefangenen. Er röchelte, als ihre Magie in ihn floss. Zufrieden beobachtete sie, wie seine Haut alt und faltig wurde, wie ihre Macht sein Blut mit dem Hauch des Todes vergiftete. Der Magielose zerfiel zu Staub.
„Entferne dies“, wies Ve’gha eine Dienerin an, die neben den Wachen bewegungslos an der Wand gestanden hatte.
Sie verbeugte sich tief und murmelte eine Zauberformel.
Der Staub verschwand.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stellte sich die Bedienstete an ihren Platz zurück.
Die Türen öffneten sich.
Mir’a’zaen betrat den Raum. Seine dunkelrote Kleidung spannte sich eng über seinem Bauch, doch er trug sie mit Würde, wie er es immer getan hatte. Auf seinem Kopf prangte die schwarze Krone mit dem Zwillingsrubin von Ve’ghas Kopfschmuck. Ohne die Königin eines Blickes zu würdigen, schritt er an ihr vorbei.
„Wegtreten, Krieger!“, befahl Ve’gha.
Ar’an und Ei’lua verbeugten sich tief, bevor sie schnellen Schrittes den Raum verließen.
Die Königin drehte sich zu ihrem Ehemann um.
Mir’a’zaen hatte es sich auf seinem Thron bequem gemacht und starrte durch sie hindurch, als wäre sie Luft.
Ve’gha versuchte, ihre Gedanken mit seinen zu verbinden, doch er blockte sie so hart ab, dass sie zusammenzuckte. „Du kannst nicht ewig wütend auf mich sein.“ Sie setzte sich auf ihren Thron.
Ihr Ehemann ignorierte sie.
Die Königin krallte ihre Fingernägel in die Lederarmlehnen des Throns. „Dein Schweigen wird meine Meinung nicht ändern.“
Mir’a’zaen winkte einem Diener zu. „Wein“, blaffte er.
Sofort füllte der Bedienstete einen Kelch und brachte ihn eilend zum König.
„Du solltest meinen Wunsch respektieren“, sagte Ve’gha.
„Und was ist mit meinem Wunsch?“, fragte er und sah sie zum ersten Mal seit Tagen an. „Was ist mit dem Gelübde, das du am Tag unserer Hochzeit abgelegt hast?“
Ve’gha wollte etwas erwidern, doch ein Klirren hallte durch ihren Verstand. Der uralte Zauber, der mit ihrem Blut verbunden war, brach und hinterließ eine gähnende Leere in ihr. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Teil ihres Selbst verloren. Ihre Magie kreischte.
„Wie können sie es wagen!“ Mir’a’zaens Magie knisterte bedrohlich in der Luft, die Erde erzitterte leicht.
„Sie haben die letzte Jewadraya getötet“, flüsterte die Königin wie in Trance. „Die Draya werden es bereuen, den Friedensvertrag gebrochen zu haben.“
„Was ist, wenn sie das Übereinkommen zwischen unseren Welten vergessen haben?“ Mir’a’zaen befahl seiner Magie, sich zu beruhigen. „Sechstausend Jahre sind eine lange Zeit.“
„Sie haben die Jewadraya sterben lassen! Dafür gibt es keine Entschuldigung“, zischte Ve‘gha. „Diener!“
Ein Bediensteter trat vor die Königin.
„Schick nach den Heerführern“, befahl sie.
„Aber die Heerführer sind …“
„Sofort!“, donnerte Ve’gha. Ihre Magie traf ihn hart und schleuderte ihn fast aus dem Raum.
Er rappelte sich auf und eilte davon.
„Ist es wirklich nötig, die Heerführer zu holen?“, fragte der König. „Die Draya können uns nicht gefährlich werden, solange ihr Blut gespalten ist.“
„Genau deshalb müssen wir zuschlagen, bevor sie auf die Idee kommen, das Blut zu vereinen. Ich bin nicht gewillt, darauf zu warten, dass uns Hulidrus und Logsertens Armeen überrennen.“
„Was, wenn sie nicht wissen, dass wir existieren?“, fragte er. „Schließlich ist es den Bewahrern auch hier fast gelungen, sämtliche Informationen über die anderen Welten zu zerstören.“
„Und was, wenn die Draya wissen, dass es uns gibt?“ Ve’ghas Miene war düster.
Die Tür wurde aufgestoßen. Heerführer Re’nay Litreita stürmte in den Thronsaal, gefolgt von seiner Ehefrau Fa’ella.
Ihre Miene war säuerlich.
Er richtete sein zerzaustes dunkles Haar, Wut stand in seinen Augen.
„Ich dachte, die Bräuche sind Euch heilig, meine Königin“, sagte Fa’ella.
„Die letzte Jewadraya ist tot, der Zauber, der auf dem Tor lag, gebrochen“, zischte Ve’gha. „Ohne eine lebende Jewadraya hat der Blutzauber keine Energiequelle mehr.“
Re’nays Miene veränderte sich kaum, doch seine Haltung wurde steifer.
Im Gegensatz zu Fa’ella, die merklich zusammenzuckte. „Und Ihr seid Euch ganz sicher?“
„Wir können es beide deutlich spüren“, bestätigte Mir’a’zaen. „Die Draya haben unseren Friedensvertrag gebrochen.“
„Wir müssen so schnell wie möglich die Truppen mobilisieren und zum Tor aufbrechen!“ Die dunklen Augen der Königin funkelten bedrohlich.
„Es wäre klug, nicht überstürzt zu handeln, Majestät“, sagte Fa’ella ruhig.
„Mobilisiert die Truppen!“ Magieverstärkt hallten Ve’ghas Worte durch den Saal, ließen jeden, bis auf den König, erzittern.
„Natürlich, meine Königin.“ Re’nay verbeugte sich tief.
Die Heerführer verließen den Saal.
„Du willst wirklich in den Krieg ziehen?“, fragte Mir’a’zaen.
„Das wird dir guttun.“ Ve’gha funkelte ihn an. „Du bist fett geworden.“
Er blickte auf seinen Bauch und seufzte. „Vermutlich hast du recht, meine Liebe.“
„Jetzt bin ich also wieder deine Liebe?“
„Können wir unseren Streit vergessen?“ Seine dunkelbraunen Augen blickten in ihre. „Das hat sich sowieso erst einmal erledigt.“
Ve’gha nickte, unfähig den Blick von ihm abzuwenden. „Ich hole den Graxonai und dann werden wir die Draya an ihr Abkommen erinnern.“
Ich fand Emily auf dem großen Friedhof am Grab meines Bruders.
Zahlreiche frische Grabhügel befanden sich zwischen neu angefertigten Steinen und erinnerten an den erst kürzlich beendeten Krieg.
Rote Rosen lagen neben Raffaels Schwert auf der aufgeschütteten Erde, die Dornen benetzt mit Blut.
„Em.“ Ich ergriff ihre Hand und murmelte einen Heilungszauber, um die Wunde an ihrem Finger zu verschließen.
„Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, wie leid es mir tut.“ Ihre Wangen waren nass.
Ich nahm sie in die Arme. „Das weiß er bestimmt.“ Tränen brannten in meinen Augen.
Emily vergrub ihr Gesicht an meiner Brust.
Ich kniete mich vor das Grab und nahm eine Rose in die Hand. Ein Dorn grub sich durch meine Haut, als ich sie dagegen drückte. Mein Blut benetzte die Blüten. „Be Saih Avenia i teire vei Saih vaia.”
„Was bedeutet das?“, fragte Emily.
„Es ist der traditionelle Grabspruch in der Sprache des Waldes.“
Ich stand auf und legte meine Arme erneut um sie. „Es muss furchtbar gewesen sein, als Einzige die Zukunft zu kennen.“
„Ich war nicht die Einzige.“ Emily wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Deine Mutter hat mir geholfen, es zu überstehen. Aber ich frage mich immer noch, wie sie es so leicht wegstecken konnte. Schließlich wusste sie, dass ich einen ihrer Söhne töten würde.“
Ich schnaubte. „Mutter zeigt ihre Gefühle nie.“
Emily schwieg.
Ich dachte an die Nachricht, die ich kurz zuvor von meinem Vater erhalten hatte. „Ich habe Dinto losgeschickt, um meine Eltern und Christine in die Hauptstadt zu bringen.“
„Dein Vater betritt freiwillig den Palast?“, fragte sie.
„Wir müssen vieles besprechen. Ohne die Ringe ändert sich alles.“
„Ich weiß.“ Emily vergrub ihr Gesicht erneut an meiner Brust. „Macht es dir Angst, wieder sterblich zu sein?“
„Nein.“ Ich atmete ihren vertrauten Duft ein, meine Arme fest um sie geschlungen. „Denn ich werde mein restliches Leben an deiner Seite verbringen.“
Emily lächelte und küsste mich. „Sobald deine Eltern eintreffen, sollten wir den Rat einberufen.“
Ich nickte und verlor mich kurz in ihren grünen Augen. „Lass uns in den Palast zurückkehren.“
Sie ließ zu, dass ich sie von Raffaels Grab wegzog. „Bis sie eintreffen, sollten wir für Ordnung in unseren Reihen sorgen. Der Krieg hat ein riesiges Chaos angerichtet.“
„Du musst diesen Berg an Entscheidungen nicht allein treffen. Die anderen Anführer und ich werden dir helfen“, versprach ich ihr.
Wir liefen zwischen den blühenden Beeten in Richtung des Palastes.
„Logserten macht mir Sorgen“, bemerkte Emily.
„Ich habe bereits veranlasst, Mayas Überreste nach Logval zu überführen.“ Meine Hand streifte die ihre und ich ergriff sie.
„Danke“, sagte sie. „Was ist mit der Thronfolge?“
„Heinrichs Bruder wird regieren, bis wir eine Lösung gefunden haben. Ich habe heute Morgen mit ihm geredet, bevor er mit den Soldaten, die stark genug waren, um zu reiten, nach Logserten aufgebrochen ist.“
„Ist es nicht gefährlich, die Hauptstadt zu verlassen?“, fragte Emily. „Die Avenialya sind immer noch da draußen und kontrollieren mehr, als mir lieb ist.“
„Heinrichs Bruder hat darauf bestanden, sofort zurückzukehren“, sagte ich. „Außerdem ist es jetzt noch am sichersten, da sich Zavos Anhänger erst wieder sammeln müssen.“
Emily nickte. „Was ist mit Gab?“
Meine Magie zischte warnend, als ich an die Visionen meiner Tochter dachte. „Immer noch keine Spur von ihm.“ Ich würde nicht zulassen, dass Gab Larissa in die Finger bekam.
Schweigend ging ich mit Jim weiter durch den Garten.
Der Anblick der blühenden Blumen versetzte mir einen Stich. Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, spürte jedoch nichts als Leere.
Wir liefen an einer weißen Bank vorbei, die inmitten der Beete stand. Samanthas Name war in das Holz geschnitzt.
„Sam hat vor zwei Tagen zu mir gesprochen“, flüsterte Jim.
Mein Körper versteifte sich. „Was hat sie gesagt?“
„Sie hat mir eine Erinnerung zurückgegeben.“ Er hielt an und murmelte eine Zauberformel. Sanft legte er seine Finger an meine Schläfen und zeigte mir seine Vision.
Larissa ist die letzte Hoffnung, Jim, flüsterte Samantha. In Emily ist das gespaltene Blut vereint, in Larissa ist es vollkommen. Wenn sie sterben, werden alle Welten im Chaos versinken. Nur der Balidru kann sie beschützen. Du bist der Einzige, der sie vor einem grausamen Schicksal bewahren kann. Emily wird dir dabei helfen, Larissa zu retten, doch vorher wird ihr eigenes Blut sie verraten. Versprich mir, dass du alles tun wirst, um die königliche Linie zu erhalten.
Ich verspreche es, Sam, murmelte Jim.
Eine düstere Zukunft erwartet dich, mein Freund, flüsterte sie. Du musst dich selbst verlieren, damit Emily dich wiederfinden kann. Ich werde sterben, damit du die Lektion lernst, die du brauchen wirst, um deine Tochter zu retten.
Jim beendete den Zauber abrupt, als wollte er nicht, dass ich noch mehr sah. Tränen glitzerten in seinen Augen.
„Das war der Tag, an dem sie gesprungen ist, nicht wahr?“
Er nickte. Seine Hände zitterten.
Ich strich eine Träne von seiner Wange.
Jim presste seine Stirn an meine, atmete stockend ein und aus. „Ich hätte sie retten müssen.“
„Samantha war bereits verloren. Es ist nicht einfach, die Zukunft zu kennen. Und sie kannte zu viel davon.“
Er löste sich von mir und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Sam wusste die ganze Zeit, dass ich die Prophezeiung erfüllen würde und nicht Raffael. Wie konnte sie ihm verflucht noch mal in die Augen sehen, wenn sie wusste, dass er sterben würde?“
Seine Worte bohrten sich wie Pfeilspitzen in mein Herz. Mein Körper versteifte sich.
„Em“, murmelte Jim. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“
„Schon gut.“ Meine Magie zischte. „Es ist leicht Dinge zu verschweigen, wenn du weißt, was die Wahrheit anrichten könnte.“
Er seufzte. „Samantha hat viel mehr als nur Raffaels Tod verschwiegen. Und die Worte, die sie zu mir gesagt hat, ergeben nur teilweise Sinn.“
„Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen.“ Ich runzelte die Stirn. „Was meinte sie mit gespaltenem, vereintem und vollkommenem Blut?“
„Ich weiß es nicht, aber Waddlaria hat einen der Begriffe erwähnt. Sie hat behauptet, dass Larissas Name verflucht sei, da sie das königliche Blut gespalten habe.“
„Larissa die Mächtige?“
„Vermutlich“, sagte er.
„Mein Vater hat mir immer Geschichten über Larissa die Mächtige erzählt.“ Eine merkwürdige Schwere legte sich über meinen Verstand. Ich blinzelte.
„Worüber haben wir gerade gesprochen?“, fragte Jim.
„Ich …“ Verwirrt hielt ich inne. „Wir haben über deinen Traum geredet.“
Jim nickte.
„Sie sagte, dass mein eigenes Blut, Larissa verraten wird“, bemerkte ich. „Glaubst du, damit sind Gab und Beatrix gemeint?“
„Vielleicht“, murmelte Jim. „Aber sie können beide die Stadt nicht betreten, der Zauber würde sie aufhalten.“
„Weiß Gab von den geheimen Gängen, die in das königliche Archiv führen?“
„Ich bezweifle es“, murmelte Jim. „Wirkt der Zauber um die Stadt nicht auch dort?“
Ich schüttelte den Kopf. „Die Magie, die das Archiv und die geheimen Gänge beschützt, ist stärker als der Zauber, der um die Stadt liegt. Deshalb überlagert sie ihn.“
„Also könnte jemand in das königliche Archiv gelangen, der dir nicht treu ergeben ist?“
Ich nickte. „Aber der Zauber auf dem Archiv lässt nur die Stärksten passieren.“
„Gab gehört zu den Stärksten.“
„Verflucht, du hast recht“, zischte ich. „Sobald Dontor zurück ist, werde ich ihm auftragen, den Eingang zu den geheimen Gängen zu bewachen.“
Meine Magie rauschte durch mein Blut, verlangte freigelassen zu werden, verlangte Gab aufzuhalten, verlangte Beatrix eine Lektion zu erteilen. Kurz erlaubte ich meiner Macht, sich auszustrecken. Der von ihr verursachte Wind wehte durch mein Haar. Rauschend pfiff meine Magie um mich, bis sie auf etwas stieß, das ich seit zehn Jahren nicht mehr gefühlt hatte.
Ich erstarrte. „Spürst du die Magie in der Luft?“
Jims Macht breitete sich knisternd um uns aus. „Was in allen Welten? Wie ist das möglich?“
Medeas Magie hing in der Luft wie ein schweres Parfüm. Doch meine Mutter war tot.
„Sie muss einen von uns mit einem Zauber belegt haben.“
Jim seufzte. „Oder uns beide.“
„Aber was hat den Zauber ausgelöst?“
„Wir haben über gespaltenes Blut geredet und über Larissa die Mächtige. Nichts davon ist ungewöhnlich.“
Meine Magie war bei Larissas Erwähnung unruhig geworden. Ich versuchte, mich an den Rest des Gespräches zu erinnern. Aber da war eine Leere in meinen Erinnerungen, die nicht dort sein sollte. „Worüber haben wir danach gesprochen?“
Jim verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß es nicht. Medea muss uns mit dem fünften Laveniaqa belegt haben.“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie kann nur dich damit belegt haben. Da sie nicht stärker ist als ich, müsste der Zauber bei mir schon längst gebrochen sein.“
„Medea hatte ihre Tricks und eine Menge Geheimnisse.“
„Verflucht“, zischte ich. „Manchmal frage ich mich, wie es mein Vater mit ihr ausgehalten hat.“
„Dein Vater …“
Schwer legte sich Magie über meinen Verstand. Ich blinzelte.
„Wir sollten meinen Eltern von Samanthas Worten erzählen“, sagte Jim. „Vielleicht können sie sich einen Reim darauf machen.“
„Hoffen wir es.“ Energisch schritt ich auf die goldenen Tore zu, die zwei Wachen für mich öffneten.
„Majestät.“ Ein Diener eilte auf Emily zu.
„Sprich“, befahl sie, lief aber weiter die breite Treppe nach oben.
Ich folgte ihr.
„Es gibt einen Zwischenfall im obersten Stockwerk“, berichtete der Diener.
„Was für einen Zwischenfall?“, fragte Emily.
„Fürstin Waddqa hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Einige Nogir und Salivid haben erfolglos versucht, dort einzudringen und sie festzunehmen.“
Ich runzelte die Stirn. „Warum sollten wir sie festnehmen wollen?“
„Mit Verlaub, Balidru, sie ist die Schwester von Fürst Waddqa“, bemerkte der Diener.
Ich schnaubte.
Raya war vielleicht Zavos Schwester, aber sie hatte ansonsten nichts mit ihm gemein.
Emily beschleunigte ihre Schritte. „Warum hat mir niemand mitgeteilt, dass sie wach ist?“
„Ich … ich weiß es nicht, Eure Majestät.“ Der Diener lief ihr weiter hinterher. „Sie ist kurz nach der Schlacht aufgewacht und da die Heiler mit den Verletzten beschäftigt waren, ist es nicht so schnell aufgefallen.“
„Sie ist seit zwei Tagen wach?“, fragte ich.
Der Diener zuckte zusammen, als mein Blick auf ihn fiel. „Ja … ja, Balidru.“
„Wegtreten“, befahl Emily.
Der Diener eilte davon.
Sie lief die Treppe nach oben.
Ich hielt mich dicht hinter ihr. Meine Magie fauchte, als ich mir ausmalte, was die Ganedi mit Raya machen würden, sollten sie es schaffen, zu ihr zu gelangen.
Vor Rayas Tür stand eine Gruppe Salivid und Nogir. Sie trugen die Farben verschiedener Sparten. Nacheinander murmelten sie Zauber, doch das Schutzschild, das um die Tür gesponnen war, hielt stand.
Selbst in geschwächtem Zustand schien Raya noch stärker als die meisten zu sein. Schließlich war sie eine Waddqa.
„Was geht hier vor sich?“, fragte Emily so laut, dass es den Lärm, den die Zauber verursachten, übertönte.
Die Ganedi drehten sich zu uns.
„Es tut uns leid, meine Königin“, sagte eine Frau in einer grünen Robe. „Wir haben es noch nicht geschafft, Fürstin Waddqa gefangen zu nehmen.“
„Und wer bei der Magie hat Euch befohlen, sie festzunehmen?“, donnerte Emily.
„Sie ist eine Waddqa.“ Ein Alchemist in einer dunkelroten Robe trat vor. „Ihr Bruder hat unsere Verwandten und Freunde getötet.“
„Mein Onkel hat eine ganze Spezies ausgelöscht“, bemerkte ich kalt. „Wollt Ihr mich auch in den Kerker werfen, weil ich mit ihm verwandt bin?“
„Natürlich nicht, Balidru.“ Der Alchemist wurde bleich. „Verzeiht, wir dachten, dass wir in Eurem Interesse handeln, Majestät.“
„Das nächste Mal fragt mich, bevor Ihr in meinem Namen eine Entscheidung trefft.“ Emilys Stimme war hart. „Geht mir aus den Augen.“
„Natürlich, Majestät.“ Die Naturalistin verbeugte sich tief und die Menge zerstreute sich.
„Trauer lässt einen dumme Dinge tun“, murmelte ich.
Emily nickte. „Lass uns nach Raya sehen.“
Vorsichtig klopfte ich an die weiße Tür. „Ich bin es. Jim.“
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür öffnete sich einen Spalt breit.
„Seid ihr hier, um mich zu töten?“, fragte Raya mit brüchiger Stimme.
„Natürlich nicht“, erwiderte ich.
Raya öffnete die Tür vollständig. Ihre rötlich-braune Haut war bleicher als gewöhnlich und spannte sich eng über die knochigen Wangen. Sie sah mich mit blutunterlaufenen Augen an, ihre Hände zitterten. Als sie einen Schritt nach hinten trat, schwankte sie gefährlich.
Ich stützte sie, bevor sie umfallen konnte.
„Du solltest dich hinlegen, meine Liebe“, sagte Emily. „Du hast lange geschlafen.“
Raya ließ zu, dass ich sie zum Bett führte. Dort legte sie sich hin.
Emily zog einen Stuhl heran, auf den sie sich niederließ.
Ich setzte mich auf die Bettkante. „Es tut gut, dich zu sehen, Raya.“ Ich füllte einen Becher, der auf einem Tischchen neben dem Bett stand, mit Wasser.
Sie trank einige Schlucke. „Es tut auch gut, euch beide zu sehen.“ Sie sah zu Emily. „Ich hatte Angst, mein Bruder hätte es geschafft, dich zu töten.“
Emily schwieg.
Raya stellte den Becher auf das Tischchen.
„Darf ich?“ Emily streckte Raya ihre Hand entgegen.
Diese ergriff sie. Magie erfüllte die Luft.
„Der Fluch hat dich vollständig verlassen“, bemerkte Emily. „Es wird jedoch ein paar Tage dauern, bis du zu deiner alten Kraft zurückfindest.“
Ich lächelte, spürte, wie sich meine Magie durch die gute Nachricht entspannte.
Rayas Augen füllten sich mit Tränen. „Er ist tot, nicht wahr?“
Alles in mir verkrampfte sich. „Ja.“
Sie schluchzte.
Ich nahm Raya in die Arme. Tröstend strich ich über ihr Haar.
Sie löste sich von mir und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Der Fluch war an Zavo gebunden“, bemerkte sie. „Solange er lebte, konnte ich nicht erwachen.“
„Raya, dein Bruder …“
„Er hat sich sein eigenes Grab geschaufelt“, unterbrach sie mich. „Ich konnte jedes Wort hören, das er an meinem Bett sprach.“ Tränen traten erneut in ihre Augen. „Es ist nur … Er war trotzdem mein Bruder.“
„Ich weiß.“ Meine Kehle war wie zugeschnürt. Raffael erfüllte meine Gedanken. Das Bild von ihm, wie er blutüberströmt auf der Terrasse lag, manifestierte sich in meinem Verstand. Mir wurde schlecht. Schnell wischte ich mir über die feuchten Wangen.
„Jim?“, fragte Raya vorsichtig.
„Raffael ist tot.“ Die Worte waren mir beinahe im Hals stecken geblieben.
„Das tut mir leid.“ Raya legte eine Hand auf meinen Arm. „Ich dachte, er kann nicht sterben.“
„Ich habe ihn getötet“, flüsterte Emily. „Zavo hatte mich manipuliert und davon überzeugt, dass Raffael mein Feind sei.“
Rayas Fingernägel gruben sich in meine Haut. „Das ist furchtbar.“ Sie ließ mich wieder los.
Emily saß ruhig da, doch ihre Magie kreischte und brüllte. Es war selten, dass sie ihre magische Barriere fallen ließ. Ihr Schmerz und die Schuldgefühle waren so eindringlich, dass ich davon eine Gänsehaut bekam.
Ich ergriff Emilys Hand und spürte, wie sich ihre Magie entspannte.
„Es tut mir leid, dass dich Zavo dazu gezwungen hat. Ich weiß nicht, wie er all die schlimmen Dinge tun konnte. Er war früher so anders“, flüsterte Raya.
Emily nickte. „Er war so überzeugt davon, hinter dem Verbotenen Tor eine Heilung für dich zu finden, dass er alles dafür getan hätte.“
Raya umklammerte die Decke mit ihren Händen. Sie schien nur mit Mühe, ihre Augen offen halten zu können. Immer noch war sie viel zu blass.
„Ich werde einen Heiler zu dir schicken.“ Emily drückte kurz Rayas Hand. „Du bist hier in Sicherheit. Niemand wird dich festnehmen.“
Raya lächelte. „Danke.“
„Du solltest dich ausruhen. Sobald du gesund bist, bringe ich dir nämlich bei, wie man Reisewasser herstellt.“ Ich grinste.
„Was?“ Sie starrte mich ungläubig an. „Du hast wirklich herausgefunden, wie man es erzeugt?“
Ich nickte, drückte Raya einen Kuss auf die Stirn und folgte Emily aus dem Zimmer.
Es war über zwei Jahrtausende her, dass ich den Palast gesehen hatte. Golden und majestätisch ragte er vor mir in den Himmel. Ich kletterte vom Rücken des blauen Drachen.
Mein Vater bot meiner Mutter seine Hand an und sie ergriff sie lächelnd. Er strich sich über seinen dunklen Bart, den ihm Mutter zurechtgestutzt hatte.
Es war das erste Mal, dass die gesamte Familie Balidhvendia Valdraya betrat. Beinahe die ganze …
Der Gedanke an meinen Bruder ließ mich schlucken und ich verdrängte die Gefühle, die meinen Verstand vergifteten. Ich versuchte, meine Magie mehr denn je zu kontrollieren, da sie sich mit den Gefühlswelten meiner Eltern verbinden wollte. Langsam atmete ich ein und aus, strich mein grünes Kleid glatt, um das Zittern in meinen Händen loszuwerden. Erneut befahl ich meiner Macht, sich so weit wie möglich in mich zurückzuziehen. Dieses Mal gehorchte sie.
„Christine!“, rief meine Mutter, die gemeinsam mit meinem Vater bereits ein Stück in Richtung Palast gelaufen war.
Schnell schloss ich zu ihnen auf und folgte ihnen durch den blühenden Garten. Beim Anblick der Pflanzen beruhigte sich meine Magie. Ich konzentrierte mich auf die verschiedenen Düfte und Farben, die von allen Seiten auf mich einwirkten. Ein Fluss aus rot, violett, orange und gelb zog an mir vorbei, vermischt mit den süßlich honigähnlichen Gerüchen.
Ein Bediensteter erwartete uns am hinteren Eingang des Palastes. Er führte uns die breite Treppe hinauf direkt in das Audienzzimmer des Balidru, das nun Jim benutzte.
Mein Bruder war allerdings noch nicht da.
Mutter setzte sich in einen der Sessel vor dem Kamin, während Vater nervös auf und ab lief.
Verloren blieb ich mitten im Zimmer stehen und versuchte, mich nicht an all die Gespräche mit Raffael zu erinnern, die ich hier mit ihm geführt hatte. Ich vergrub den Schmerz tief in mir, gemeinsam mit all den Erinnerungen.
Wenig später betrat die Königin dicht gefolgt von meinem Bruder das Zimmer.
„Emily, meine Liebe.“ Meine Mutter drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Es tut mir so leid, Anna.“ Tränen schimmerten in den Augen der Königin.
Meine Mutter nahm sie in die Arme. „Du hattest keine andere Wahl, mein Kind.“
Am liebsten hätte ich die Königin für das gehasst, was sie getan hatte. Aber ich wusste, zwischen welchen Möglichkeiten sie hatte wählen müssen. Zukunftsmagie war tückisch. Auch ich hatte einmal den Fehler gemacht, im Buch der Zukunft zu lesen.
„Chrissy“, murmelte mein Bruder. Er nahm mich in seine Arme und ich atmete seinen vertrauten Duft ein. Wie immer roch er nach einer Mischung aus alten Büchern und einem Hauch Magie.
Eine Träne rann über meine Wange. Ich wischte sie hastig fort. Meine Magie, angelockt von meiner Vertrautheit zu Jim, schwappte ungewollt über ihn. Ich machte mich aufs Schlimmste gefasst, doch der Schmerz war milder als angenommen. Die Trauer um Raffael war groß, aber ich fühlte eine derart gewaltige Menge an Liebe, dass sich meine Macht beruhigte.
Emilys Liebe hatte Jims Magie schon immer besänftigt, allerdings ließen die väterlichen Gefühle für Larissa seine Macht beinahe zu ruhig werden. Die Emotionen waren frisch, doch bereits tief in seiner Magie verankert.
„Wann wird der Rat zusammentreffen?“, fragte mein Vater sachlich.
„Morgen früh“, antwortete Emily. „Einige der Ratsmitglieder sind von der Schlacht geschwächt und ich wollte ihnen die Möglichkeit geben, Ordnung in ihre eigenen Reihen zu bringen. Zudem müssen sie die Tatsache verarbeiten, dass ich die Prophezeiung erfüllt habe.“
„Wo ist Larissa?“, fragte meine Mutter.
„Sie sollte jeden Moment eintreffen“, sagte Jim.
Mir wurde flau im Magen, als ich daran dachte, wessen Blut Larissa in sich trug. Sie erinnerte mich an …
Jim warf mir einen warnenden Blick zu und meine Gedanken verstummten. Meine Magie war immer noch mit seiner verbunden und er musste mein Unbehagen gespürt haben.
Ich zwang mich zu einem Lächeln.
„Samantha hat zu mir gesprochen.“ Schmerz durchzog Jim wie Gift.
Mein ganzer Körper spannte sich an.
„Sie hat mir damals eine Erinnerung genommen“, fuhr mein Bruder fort, „denn sie wusste die ganze Zeit über, dass ich die Prophezeiung erfüllen würde und nicht Raffael.“
„Zeig sie uns“, bat meine Mutter.
Ich öffnete meinen Gedankenschild und ließ zu, dass Jims Magie mich ergriff. Was ich sah, trieb mir Tränen in die Augen. Ich hatte um Samanthas Schmerz gewusst, hatte ihn am eigenen Leib gespürt. Doch ich hatte nicht begriffen, wie sehr sie darunter gelitten hatte. Meine Magie fauchte, als ich in Jims Erinnerung beobachtete, wie Samantha sich über das Geländer stürzte. Ich blinzelte die Tränen weg.
„Gespaltenes, vereintes und vollkommenes Blut. Was bedeutet das?“, fragte mein Vater.
„Der goldene Wald hat mich vereintes Blut genannt“, sagte Emily. „Er meinte, ich sei gespaltenes Blut in Perfektion vereint.“
Mein Vater runzelte die Stirn. „Wenn das Blut in dir vereint ist, muss es vor dir gespalten gewesen sein. Der Wald hat vielleicht die Blutlinien deiner Eltern gemeint. Aber ich verstehe nicht ganz, warum deren Blut gespalten sein soll.“
Emily schnaubte. „Wenn ich wüsste, wo mein Vater ist, könnte ich ihn fragen.“
Magie erfüllte knisternd die Luft. Eine merkwürdige Schwere legte sich auf meine Gedanken.
Worüber hatten wir gerade gesprochen?
Ich versuchte, mich zu entsinnen, was das Letzte war, das ich gesagt hatte. Aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund konnte ich mich nicht erinnern.
Die Tür öffnete sich und meine Tochter trat ein. Als ihr Blick auf Anna fiel, lächelte sie.
Die Herrin des Waldes schloss Larissa in die Arme. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Dinto hat auf mich aufgepasst.“ Larissa betrachtete Christine und Henry.
„Das sind dein Großvater und deine Tante“, sagte Anna.
Christine lächelte, der Herrscher des Waldes hingegen verzog keine Miene.
„Irgendetwas stimmt nicht“, flüsterte Larissa.
„Wovon sprichst du?“, fragte ich.
„Merkwürdige Magie schwebt im ganzen Raum.“
Ich streckte meine Macht nach allen Seiten aus.
Silberne Fäden, die Medeas Handschrift trugen, durchzogen die Luft.
Hatte ich nicht vor Kurzem mit Jim über Medea gesprochen? Warum fiel es mir so schwer, mich daran zu erinnern?
Henry runzelte die Stirn. „Wie ist es möglich, dass Medeas Magie hier ist?“
Jim zuckte mit den Schultern.
„Wem gehört der zweite Magiestrang?“, fragte Christine.
Ich sah mich im Raum um, konnte jedoch nur die verflochtene Macht meiner Mutter erkennen. „Was meinst du?“
„Die Magie, die Medeas überlagert.“
Erneut untersuchte ich die Umgebung, doch ich verstand nicht, wovon sie sprach. „Ich spüre nur die Magie meiner Mutter.“
Henry, Anna und Jim stimmten mir zu.
Larissa sah Christine an. „Ich kann die andere Macht auch fühlen.“
„Medea muss uns alle mit dem fünften Laveniaqa belegt haben“, bemerkte Jim. „Das ist die einzige Erklärung dafür, dass uns die Magie in der Luft nicht aufgefallen ist.“
Henry schnaubte. „Das würde Medea ähnlich sehen.“
„Welchen Grund hätte meine Mutter bei Henry und dir Erinnerungen zu löschen?“, fragte ich Anna. „Kanntet ihr sie besser?“
Anna schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr öfter meine Hilfe angeboten, doch sie hat sie immer abgelehnt.“
Henry schwieg und wich meinem Blick aus.
Jim betrachtete ihn stirnrunzelnd. „Was ist mit dir, Vater?“
„Medea war …“ Er zögerte. „Sie hat mich einige Male aufgesucht.“
„Weswegen?“, verlangte ich zu wissen.
„Sie interessierte sich für die fremden Welten und die magischen Grenzen“, sagte Henry. „Sie wollte wissen, ob es möglich ist, ohne königliches Blut am Torwächter vorbeizukommen. Ich stellte ihr meine gesamte Bibliothek zur Verfügung, aber ich glaube nicht, dass sie fand, wonach sie suchte. Nachdem der König verschwunden war, kam sie nicht wieder.“
„Was haben ihre Nachforschungen mit meinem Vater zu tun?“, fragte ich.
Henry machte den Mund auf, schloss ihn jedoch erneut.
Jim blinzelte verwirrt. „Worüber haben wir gerade gesprochen?“
Ich suchte in meinem Gedächtnis nach einer Antwort, fand aber keine.
„Medea hat euch mit dem fünften Laveniaqa verzaubert“, bemerkte Larissa. „Sie will nicht, dass ihr euch erinnert.“
Verwundert sah ich sie an. „Wovon sprichst du?“
Larissas Magie flutete meinen Verstand, obwohl ich meinen mentalen Schild nicht gesenkt hatte. Sie zeigte mir, was gerade geschehen war.
Was in allen Welten? Wie konnte mir all die Jahre entgangen sein, dass meine Mutter mich mit einem Laveniaqa belegt hatte?
Ich schnaubte. „Kannst du mir helfen, den Zauber zu brechen?“
„Vielleicht“, murmelte Larissa.
Ich ergriff die Hände meiner Tochter und schloss die Augen. Gemeinsam suchten wir nach der Magie meiner Mutter und fanden sie. Doch als ich versuchte, sie mit meiner Macht zu brechen, bemerkte ich, dass die Magie eines weiteren Ganedi in den Zauber eingewoben war. Sie ähnelte der meiner Mutter, war aber merkwürdig rau. Dort, wo sich die magischen Fäden Medeas zu wunderschönen, gefährlichen Mustern verwoben, ergänzte die fremde Magie diese mit beinahe dornenartigen Strängen.
Larissa ließ erschrocken meine Hand los.
Ich zuckte zusammen.
Die dornenartigen Stränge hatten uns gestochen.
„Meine Mutter hatte Hilfe“, zischte ich.
„Die andere Magie ist auch von unserem Blut“, bemerkte Larissa.
„Sie ist die meines Vaters.“ Im Gegensatz zu der Erinnerung, die mir Larissa gezeigt hatte, entwischten mir meine Gedanken dieses Mal nicht. Da ich den Zauber mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte ich zumindest seine Existenz nicht erneut vergessen. Ein schwacher Trost.
„Medea hat …“ Jim brach mitten im Satz ab und blickte sich verwirrt um.
„Was hat meine Mutter?“, fragte ich.
Jim runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“
Ich packte ihn bei den Schultern. „Sag mir, was Medea getan hat.“
„Sie hat …“ Wieder brach seine Stimme.
„Sie hat dir befohlen, es mir nicht zu sagen.“
Jim versuchte zu sprechen, aber erneut kam kein Laut aus seinem Mund.
„Ilu obdarro Balidru.“ Meine Macht flutete Jims Körper, stieß jedoch auf eine Barriere.
„Medea hat …“ Er blinzelte und verstummte.
Ich nahm sein Gesicht in meine Hände, starrte konzentriert in seine grünen Augen. „Ilu Draya obdarro Balidru ilu dirr.“
Meine Magie durchströmte Jim. Einer der Zauber, die meine Mutter über ihn gelegt hatte, brach.
Seine Augen weiteten sich. „Medea hat deinen Vater verbannt.“
Die Magie in mir zischte und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Manchmal vergaß ich, wie sehr ich ihn vermisste.
Jim legte eine Hand auf meine Schulter. „Sie hat mir befohlen, es niemandem zu verraten. Vor allem nicht dir.“
„Warum?“, fragte Christine.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er.
Ich ließ ihn los. „Wohin wurde er verbannt?“
„Das wusste nur Raffael“, sagte er.
Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht vor meiner Tochter zu fluchen. „Meine Mutter wird nicht umsonst die Geheimnisvolle genannt. Wir müssen herausfinden, wohin sie meinen Vater verbannt hat.“
Donner hallte über die Stadt. Grollend schlug ein Blitz ein, als sich die elektrische Energie erneut entlud. Die Erde erzitterte, brachte selbst die Mutigsten dazu, in ihre Häuser zu fliehen. Regen ergoss sich auf die Dächer Rekpriws. Es war erst früher Nachmittag, aber die Wolken so dunkel, dass es schien, als würde es bereits dämmern.
Magie wirbelte aus der Burg in den Himmel.
Der nächste Blitz spaltete einen Baum im Schlossgarten und es krachte ohrenbetäubend.
Wie jedes Jahr am 80. Tag des Winters waren die Türen zu den königlichen Gemächern fest verschlossen. Niemand wagte es, sie zu betreten. Die Diener stellten die Speisen vor der Tür ab. Unangetastet blieben sie dort.
Im Schlafzimmer des Königs war es dunkel, die Vorhänge waren zugezogen, die Kerzen erloschen.
Mit Tränen in den Augen lag Cal auf dem Bett und versuchte, seine Magie zu kontrollieren. Doch es gelang ihm nicht. Nicht an diesem Tag. „Große Göttin, hilf mir“, flüsterte er in die Stille hinein, obwohl er wusste, dass es keine Götter gab. Er vergrub sein Gesicht im Kissen, um einen Schrei zu ersticken.
Ein Blitz schlug krachend in den Garten der Burg ein. Die Mauern bebten.
Es klopfte.
„Verschwinde!“, zischte Cal.
Es klopfte erneut.
Er setzte sich im Bett auf. „Verschwinde!“
Der nächste Blitz erstrahlte so hell am Himmel, dass er die Dunkelheit in den Gemächern kurz vertrieb. Der Donner hallte ohrenbetäubend über Rekpriw.
Cal ließ sich zurück in die Kissen fallen, seine Wangen nass von den Tränen.
Die Türen zu seinem Zimmer flogen krachend auf.
Dahlia trat herein. Ihre Kleidung war wie immer dunkel, ihr schwarzes Haar hochgesteckt. Sie knallte die Türen mit Wucht zu. „Es reicht, Cal!“
Er ignorierte sie.
Dahlia nahm die Krone von einer Kommode und hielt sie ihm hin. „Wenn du sie behalten willst, solltest du deine verfluchte Magie kontrollieren.“
Cal schob die Krone von sich fort. „Meine Macht sehnt sich nach ihr“, flüsterte er so leise, dass Dahlia ihn beinahe nicht gehört hätte.
Sie legte den Kopfschmuck weg. „Du solltest versuchen, sie zu vergessen.“
Cal wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Erzähl mir nicht, dass du Bejel aufgegeben hast.“
Aus Gewohnheit hatte sie beim Klang seines Namens über den abgetragenen Ring an ihrer Hand gestrichen. „Ich habe akzeptiert, dass ich ihn nie wiedersehen werde“, sagte sie mit einem Ton in der Stimme, der viel zu zerbrechlich klang.
„Ich kann es nicht akzeptieren.“ Cal drehte ihr den Rücken zu. „Lass mich in Frieden.“
Es donnerte erneut.
Dahlia schwieg mit Tränen in den Augen.
„Das ist alles ihre Schuld.“ Der König deutete auf das Porträt einer blonden Frau, das an der Wand hing. „Sie hätte niemals nach Rekpriw kommen dürfen.“
Kapitel 2:Traxsy
Gabs Schritte hallten unheimlich in dem dunklen Gang wider. Vor ihm öffnete er sich zu einer Höhle, die sich tief im Berg befand.
Beatrix’ vertraute Magie umschloss ihn, durchzog ihn beinahe schmerzhaft. Er ließ zu, dass sie in seine Gedanken eindrang und sah, was er erlebt hatte: Zavo, der Maya sein Schwert ins Herz stieß, während Emily Gab davon abhielt, ihr zur Hilfe zu eilen.
Gabs Magie zischte. Trauer, die er nicht im Mindesten vermisst hatte, vernebelte seinen Verstand. Er trat vor Beatrix, die in einem Sessel neben dem Kamin saß.
Ein pechschwarzes Kleid floss an ihrem Körper hinunter. Sie musterte ihn durchdringend mit ihren blauen Augen.
Der Hauch einer lang vergessenen Emotion bahnte sich einen Weg in Gabs Magie, doch er ignorierte sie.
„Was willst du hier?“ Beatrix’ Stimme war sanfter, als er es erwartet hatte. Kein Funken Hass lag in ihren Augen.
„Hilf mir die Königin zu töten“, bat er sie, ohne eine Begrüßung, ohne den Blick von ihren roten Lippen abzuwenden.
„Setz dich“, wies Beatrix ihn an.
Gab gehorchte ihrem Befehl. Wenn es sein musste, würde er sich von ihr beherrschen lassen. Jeglichen verfluchten Wunsch würde er ihr erfüllen, wenn sie Emily für ihn tötete. Er wollte die Königin leiden sehen.
„Ich kann Emily nicht töten“, sagte Beatrix.
Gab stand auf. „Dann tut es mir leid, deine Zeit verschwendet zu haben“, erwiderte er mit einem bitteren Ton in der Stimme.
Die Magie der dunklen Prinzessin rollte über ihn und zwang ihn zurück in den Sessel.
Gab wehrte sich, doch Beatrix war stärker.
Sie goss Tee in eine Tasse. „Ich kann Emily nicht töten, aber ich kenne jemanden, der mächtig genug ist.“
Gab hörte auf, gegen ihren Zauber anzukämpfen. „Warum sollte derjenige uns helfen?“
„Medea hat ihm Unrecht getan“, ein böses Lächeln umspielte ihre Lippen, „Er wird sich mit Vergnügen an den Draya rächen.“
„Nenne deinen Preis.“
„Wer sagt, dass ich etwas dafür will?“
Gab schnaubte. „Du willst immer etwas.“
Beatrix löste Gabs magische Fesseln. „Hilf mir aus diesem Gefängnis zu entkommen und ich führe dich zu ihm.“
„Ich bin nicht stark genug, den Zauber vom Graxonai zu lösen.“
Beatrix’ Augen verengten sich zu Schlitzen. „Woher weißt du, dass es ein Blutkristall ist?“
„Ich habe Cecilia dein Blut gegeben, schon vergessen?“
Sie schnaubte. „Du musst den Zauber nicht lösen. Es reicht, wenn du den Stein aus seiner Verankerung reißt.“
Gab nickte. „Wo ist er?“
„Auf der Spitze des Berges“, antwortete sie.
„Wie soll ich dorthin gelangen? Niemand kann den Todesgipfel besteigen.“
„Niemand, der sterben kann.“
Er betrachtete seinen braunen Ring, bevor er sie erneut ansah.
Ihre Mundwinkel zuckten nicht einmal.
Gab verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie kann ich mir sicher sein, dass du deinen Teil der Abmachung einhältst, sobald du frei bist?“
„Mir kommt der kleine Ausflug zu meinem alten Freund gerade gelegen. Er schuldet mir noch etwas“, meinte sie.
„Dein Wort reicht mir nicht.“
Sie nahm ihren Dolch und schnitt sich in die Handfläche.
Ein Blutstropfen fiel auf Gabs Ring.
„Ilu urrisi“, flüsterte sie.
Magie füllte den Raum und band Beatrix mit einem magischen Schwur an Gab.
Er stand auf. „Gib mir ein Seil und ich werde diesen verfluchten Berg erklimmen!“
Beatrix lächelte und strich über die zwei Relikte, die um ihren Hals hingen.
Von überall her erklangen Stimmen. Ganedi aller Schichten, in die verschiedenen Farben ihrer Sparten gehüllt, durchschritten die Flure des Palastes.
Mein hellgrünes Kleid, übersät mit goldenen Stickereien, stach deutlich hervor. Krampfhaft hielt ich meine Magie zurück, die versuchte auszubrechen. Sie fauchte unzufrieden, gehorchte aber. Ich erklomm die Treppe und bog in den linken Flügel ab, in dem sich meine Gemächer befanden. Wieder wehrte sich die Macht in mir. Schnell öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer.
Die Magie schoss aus mir heraus, füllte den Raum.
Schmerz zwang mich in die Knie. Trauer und Schuldgefühle überfluteten mich, die derart erstickend waren, dass ich das Gefühl hatte, mein Herz würde explodieren. Ich fiel bewegungslos auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. Meine Magie kreischte.
„Was ist mit Euch?“ Eine Frau beugte sich über mich und murmelte einen heilenden Zauber, der jedoch nichts bewirkte.
Ich schloss die Augen und versuchte, trotz der erstickenden Qual, meine Magie zurückzurufen. Sie heulte schmerzerfüllt, entwirrte sich nur langsam von den Gefühlen der Frau.
Erleichtert atmete ich ein. Meine Muskeln gehorchten mir wieder und ich hievte mich hoch. „Verzeiht mir.“ Ich schaffte es, mich gerade hinzustellen. „Ich dachte nicht, dass jemand hier wäre.“
„Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht?“
Ich nickte und lächelte schwach.
Sie lächelte zurück, doch ich konnte den Schmerz in ihren dunkelbraunen Augen sehen, den ich vor einer Sekunde noch selbst gespürt hatte. Er erinnerte mich an meinen eigenen.
Meine Magie wollte sich nach ihr ausstrecken, wie sie es immer tat, wenn sie sich mit der Gefühlswelt eines anderen Ganedi identifizieren konnte. Krampfhaft hielt ich sie zurück und schwankte, als es mir teilweise misslang. Meine Knie zitterten.
Die Salivid ergriff meinen Arm.
Ich fand mein Gleichgewicht wieder.
Sie führte mich zu einem Sessel, in den ich mich erschöpft fallen ließ.
„Es tut mir leid“, murmelte ich. „Meine Magie ist es nicht gewohnt, die Gefühle so vieler Ganedi zu ertragen.“
„Ihr seid Jims Schwester.“
„Christine Balidhvendia“, bestätigte ich. „Und Ihr seid?“
„Raya Waddqa.“ Sie verbeugte sich. „Sehr erfreut, Reita a Hvendia.“
Der uralte Titel schmeichelte meiner Magie und ich lächelte.
„Euer Bruder hat mir die alte Sprache beigebracht“, erklärte sie.
„Er hat mir viel von Euch erzählt, Fürstin“, antwortete ich. „Vor allem von Euren alchemistischen Experimenten. Es ist selten, dass ihn jemand beeindrucken kann.“
Raya schmunzelte. „Ohne seine Lehrstunden wäre ich nur halb so gut.“
Meine Magie wurde erneut unruhig. Ich würgte sie ab. „Warum seid Ihr in diesem Zimmer? Jim meinte, ich könnte diese Gemächer benutzen.“
„Verzeiht mir.“ Raya schlug die Augen nieder. „Mein Bruder hatte mich hier untergebracht und ich habe Angst, sie zu verlassen. Zavo hat schreckliche Dinge getan und ich bin nicht bereit, mich all den Ganedi zu stellen, denen er geschadet hat.“
„Verstehe. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr gern ein Weilchen hierbleiben.“
„Ich will Eure Gastfreundschaft nicht überstrapazieren“, sagte sie. „Jim hat mir erklärt, wie Eure Kräfte funktionieren, und ich denke, Ihr braucht ein wenig Zeit allein.“
„Bleibt. Trinkt eine Tasse Tee mit mir.“ Ich seufzte. „Eure Gefühle haben mich überrascht, weil sie meinen viel zu sehr ähneln. Es ist nicht einfach, einen Bruder zu verlieren.“
Raya schwieg, die Lippen aufeinandergepresst. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Ich füllte eine Teekanne und erhitzte das Wasser mithilfe einer Zauberformel. Der Duft von Kamille und Minze erfüllte den Raum, als ich die Kräuter in das Wasser gab.
„Es tut mir leid, was mit Raffael geschehen ist“, flüsterte Raya.
Tränen traten in meine Augen.
Raya reichte mir wortlos ein dunkelrotes Stofftaschentuch.
„Danke.“ Ich wischte mir die Tränen von den Wangen. „Es tut mir leid, dass Ihr Euren Bruder verloren habt.“ Ich goss Tee in die Tassen.
Raya starrte in ihren Tee und rührte darin herum.
„Ihr habt jedes Recht, ihn zu betrauern, Fürstin, auch wenn Euch viele das Gegenteil sagen werden.“
„Falls überhaupt jemand mit mir reden wird“, murmelte sie.
Ich schwieg und trank von meiner Tasse. Worte schnitten oft tiefer als Stahl.
Raya faltete ihre Hände im Schoß, vermutlich um das offensichtliche Zittern zu unterdrücken.
Nur mit Gewalt schaffte ich es, meine Magie zurückzuhalten. Sie wollte sich nach Raya ausstrecken, wollte ihr einen Teil des Schmerzes nehmen.
„Ich weiß, wie es ist, sich wie eine Ausgestoßene zu fühlen. Solltet Ihr, solange ich im Palast weile, jemals einsam sein, kommt jederzeit vorbei.“
„Vielen Dank, Tochter des Waldes“, sagte Raya und lächelte schwach.
Ich erwiderte das Lächeln. „Nenn mich Christine.“
„Das funktioniert nicht, Mutter“, murrte Larissa, die mir gegenüber in einem Sessel in den königlichen Archiven saß.
„Versuch es erneut“, forderte ich sie auf.
„Wie kann ich meiner Magie zwei Dinge gleichzeitig befehlen?“
„Du kannst auch deine rechte Hand heben und zur selben Zeit die linke zu einer Faust ballen, oder?“, fragte ich.
Meine Tochter sah mich frustriert an.
„Schließ deine Augen“, wies ich sie an.
Sie strich sich das braune Haar hinter die Ohren und gehorchte.
„Finde deine Magie. Befiehl einem Teil von ihr …“
„Aber ich kann nicht nur einem Teil von ihr etwas auftragen“, widersprach sie und öffnete die Augen.
„Doch.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Du versuchst es nicht einmal. Du bist zu sehr daran gewöhnt, deine Magie instinktiv zu benutzen. Das kann dir in der falschen Situation zum Verhängnis werden.“
Larissa schloss die Augen erneut. Ich beobachtete, wie sich ihre Stirn in Falten legte. Sie ähnelte in diesem Moment ihrem Vater, wenn dieser auf ein Problem stieß, das er nicht lösen konnte.
„Befiehl einem Teil von ihr, Zündwerk zu sein, und dem anderen, dieses zu entzünden.“
Vorsichtig öffnete sie ein Auge und verzog ihren Mund zu einer Grimasse.
„Versuch es.“
Sie schloss das Auge wieder.
Magie erfüllte knisternd den Raum, als Feuer in ihrer Hand aufloderte.
Larissa blickte ungläubig auf die Flammen.
Ich lächelte. „Wenn du an deinen Kräften zweifelst, erinnere dich daran, wessen Blut in dir fließt. Es gibt kaum etwas, das du nicht schaffen kannst.“
Meine Tochter schloss ihre Hand zu einer Faust und das Feuer verpuffte. „Und trotzdem wird er mich kriegen.“
„Willst du mir von deinen Visionen erzählen?“
Angst flammte in den Augen meiner Tochter auf. „Nein. Ich will nicht an sie denken.“ Ihre Stimme war leise geworden.
„Komm her“, flüsterte ich sanft.
Larissa kletterte auf meinen Schoß.
Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sanft strich ich ihr übers Haar.
Sie schmiegte sich an mich.
„Du bist hier in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun.“
„Was ist, wenn er durch die geheimen Gänge ins Archiv gelangt?“, fragte Larissa.
„Es ist unwahrscheinlich, dass er davon weiß.“ Ich strich ihr weiter übers Haar.
„Er weiß davon.“
Ich runzelte die Stirn. „Warum bist du dir dessen so sicher?“
„Samantha hat ihm davon erzählt.“ Meine Tochter kuschelte sich noch enger an mich. „Ich habe es in ihrem Tagebuch gelesen.“
Meine Muskeln spannten sich an. „Ihr Tagebuch hat sich für dich geöffnet?“
„Nur auf einer Seite.“
„Sobald Dontor zurück ist, schicke ich ihn los, um den Eingang zu den Geheimgängen außerhalb der Stadt zu bewachen.“
Larissa schwieg, während ich ihr weiter übers Haar strich.
„Wie wäre es mit ein bisschen Sprachlehre?“, fragte ich.
Sie sah zu mir auf. „Welche Sprache?“
„Traxsy?“
„Fian.“ Larissa lächelte. „Klatsly refaxpa.“
Der Geruch von Pergament und Papier schlug mir entgegen, als ich die königlichen Archive betrat.
Larissas Lachen hallte zwischen den verstaubten Regalen hindurch.
In einer Ecke, in der es einen kleinen Arbeitsbereich mit einem Tisch und Sesseln gab, saß Emily mit unserer Tochter.
Emily trug ein goldenes Kleid mit schwarzen Verzierungen, das so perfekt an ihrem Körper hinunterfiel, dass ich kurz vergaß, wo ich war. Sie strich sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht.
Meine Magie fuhr zufrieden durch meinen Körper, sehnte sich jedoch gleichzeitig schmerzhaft nach Emilys Berührung.
Larissas Augen waren auf Emily gerichtet. Sie lachte erneut. „Klat-schli iwwi.“
Ich runzelte die Stirn.
Emily sah mich an. „Ghriiww-schka klat-schlai reifaixpa iignai.“
Ich setzte mich auf einen Sessel. „Was für eine Sprache sprecht ihr?“
„Traixschy“, antworte sie. „Ich dachte, du sprichst alle Sprachen Hulidrus und Logsertens.“
„Tue ich, aber von dieser habe ich noch nie gehört.“
„Es ist die Muttersprache meines Vaters“, sagte Emily.
Für einen Moment hatte ich Angst, dass Medeas Zauber sich wieder aktivieren würde, doch seit Emily einen Teil des Zaubers gebrochen hatte, verschwanden meine Gedanken bei der bloßen Erwähnung des Königs nicht mehr.
„Ich dachte, die Muttersprache deines Vaters wäre Huldruisch“, erwiderte ich. „Immerhin beherrscht er es akzentfrei.“
Emily zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht die Sprache seiner Heimatstadt.“
„Erinnerst du dich an den Namen der Stadt?“
„Reikpriiww“ antwortete Emily.