Die Legende der Roten Sonne - Stadt der Verlorenen - Mark Charan Newton - E-Book

Die Legende der Roten Sonne - Stadt der Verlorenen E-Book

Mark Charan Newton

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Beschreibung

Die Stadt Villiren wird von mächtigen Banden und monströsen, halbmenschlichen Geschöpfen beherrscht. Als eine Invasionsarmee sich der Stadt nähert, zieht Kommandant Brynd Lathraea mit seinen Soldaten aus, um sie vor einer feindlichen Übernahme zu schützen. Dazu muss er jedoch einen Pakt mit dem Anführer einer der gefährlichsten Banden der Stadt eingehen ...

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MARK CHARAN NEWTON

DIE LEGENDE DER ROTEN SONNE

STADT DER VERLORENEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Andreas Heckmann

Für meine Mutter Kamal,

die ihre Söhne nie etwas entbehren ließ.

Willst du nicht so gut sein, einmal darüber nachzudenken, was dein Gutes täte, wenn das Böse nicht wäre, und wie die Erde aussähe, wenn die Schatten von ihr verschwänden?

Michail Bulgakow:

Der Meister und Margarita

(aus dem Russischen von Thomas Reschke)

PROLOG

Höher als ein Soldat ragte sie auf, die Spinne, die sich in die tiefe Nacht begab. Dicke Fäden spann sie, um sich von Wand zu Wand zu schwingen und um die unwahrscheinlichsten Ecken zu kommen.

Mit zwei, dann vier Beinen erkletterte sie eine Mauer, mit sechs, dann acht Beinen erreichte sie die Treppe eines Wachturms und schließlich eine schöne Aussicht über den Dächern von Villiren. Während die Brandung von ferne donnerte, atmete das Geschöpf aus.

Mit klackenden Schuhen ging unten ein Paar entlang, der Größe nach zum Schlachten geeignet. Nein, die nicht, es ist noch zu früh, dachte die Spinne jedoch, ließ sich vom Geländer einer Steintreppe ab, hing in der Luft und verschaffte sich so eine neue Perspektive. Schnee wehte vom Himmel – erst in einzelnen Flocken, dann dichter – und ließ die Stimmung in den Straßen noch lastender erscheinen.

In diesem Halbdunkel wartete die Spinne.

Wenn Leute durch Straßen und Gassen gingen, witterte sie die chemischen Veränderungen in der Luft und spürte die winzigen Erschütterungen, die ihr verrieten, wo sie sich befanden: Sie konnten sich nicht verbergen. Vorsichtig schob sich die Spinne auf einen Vorsprung aus solidem, noch nicht so altem Mauerwerk. Wieder spann sie einen Faden, ließ sich langsam daran herab und schwebte wie eine Tänzerin im Wind. Straßen erstreckten sich gitterartig vor ihr durch die eintönig bebaute Ebene. Im Laufe der letzten Stunde hatte die Zahl derer, die draußen unterwegs war, stark abgenommen; nur noch eine Handvoll Menschen trotzte der enormen Kälte.

Deren Angst konnte die Spinne beinahe spüren.

Einen von ihnen galt es zu wählen – nicht zu jung sollte er sein, und nicht zu alt. Als das Geschöpf sich behutsam auf den Boden herabließ, zerfiel die Welt in Winkel und Straßenfluchten.

Auf der Suche nach Frischfleisch krabbelte die Spinne ins Dunkle.

Was für ein grässlicher Schrei, dachte Haust. Anders als bei einer Banshee war er so plötzlich verstummt, als wäre da wem die Kehle durchgeschnitten worden. Hausts Sinne waren nun blitzwach, und seine Angst nahm gewaltig zu. Am Nachthimmel kreisende Pterodetten flatterten und krächzten aufgebracht.

Das ist wirklich das Letzte, was ich mir auf Nachtwache wünsche, überlegte er. Eigentlich hätte er längst im Bett liegen, besser noch im Offizierskasino sitzen und billigen Wodka süffeln sollen, doch sein blöder Kommandeur hatte unsinnige Vorstellungen von öffentlicher Sicherheit. Die Straßen sollten patrouilliert, der Eindruck von Kontrolle und Autorität gewahrt, die Bevölkerung beruhigt und ihre Skepsis der Armee gegenüber verringert werden. Im Moment war es Haust egal, dass er Nachtgardist war, also unter besonderem magischem Schutz stand, denn er fror sich den Ast ab, und daran änderte alle Magie nichts.

Fackeln ließen die fallenden Flocken wie Funken eines Schmieds erscheinen – ein schöner Anblick eigentlich, doch es herrschte Eiszeit, und alle Welt hatte die Nase seit Langem gestrichen voll von dem ewigen Schnee.

Nur wenige Menschen waren um diese Zeit noch unterwegs. Zuletzt war ihm ein Mann mit Kapuze begegnet, der durch die Gassen eilte und gewissenhaft in den Zähnen stocherte. Die sture Regelmäßigkeit und nackte Modernität der Gebäude ringsum ließen auffälliges Verhalten ins Kraut schießen. Nichts als langweilige Labyrinthe! Ging man um eine Ecke, glaubte man dort zu sein, von wo man eben gekommen war, und fürchtete bald, nie mehr aus diesem Irrgarten zu finden. Die Bauten hier waren ohne ein Bedürfnis nach Schönheit errichtet worden, und Haust war froh, woanders zu wohnen.

Seit einigen Monaten erst war er bei der Nachtgarde, hielt sich aber bereits für einen Helden. Seiner Fähigkeiten als Bogenschütze wegen war er von den Dritten Dragonern, der Wolfsbrigade, in die Elitetruppe des Reichs übernommen und quer durch den Boreal-Archipel in eine Stadt gesandt worden, die zum Krieg rüstete. Groß, blond und gut aussehend, hielt er sich für unbesiegbar – und als Nachtgardist war er das ja beinahe. Der Kommandeur, ein Albino, hatte gerade ihn in die Elitetruppe berufen. Diese Beförderung war ein gewaltiger Karriereschritt und ließ ihn zu den besten Soldaten gehören. Nachts träumte er von Stimmen, die ihm zuflüsterten, er sei erwählt. Über solche Tatsachen kann man nicht hinweggehen, fand er.

Er schlang sich den schwarzen Umhang fester um den Leib und stapfte erkundend durch die Gassen. Die Altstadt lag gut anderthalb Kilometer weg, und er hielt auf die Stadtmitte jenseits der schlechten Hotels und geschlossenen Bistros zu. Torbögen aus Walfischknochen waren ins Pflaster eingesenkt – Totems der Fischer, die zu Tausenden im Laufe der Epochen auf See geblieben waren. Diese Bögen gehörten zu den wenigen erhaltenen Bauten der Stadt, die nahelegten, dass die alte Stadt einst prächtiger gewesen war. In diesem Viertel ragten auch drei riesige Reptilienflügelpaare aus Onyx auf, sechzig Meter hoch und in hundert Schritten Entfernung voneinander zu einem Dreieck arrangiert.

Wieder ein Schrei, doch er wusste nicht, von wo genau. Verflixt unheimlich hier, dachte er. Etwas bewegte sich über seinem Kopf. Ein Garuda? Warum war er so ängstlich? Immerhin war er Soldat, und man erwartete von ihm, in allerbester Verfassung zu sein.

Plötzlich kamen Katzen auf die Gasse, zwei, vier, unzählige. Ihre Pfoten huschten übers Pflaster, und mitunter schlugen sie einander, ehe sie sich kundschaftend in der Ferne verloren.

»Ist da wer?«, rief er.

Nur das Echo kehrte zurück, und er empfand eine Art Schwindel, während die Straße sich seltsam veränderte. Von einer tröstenden Flasche Wodka schien er nun unendlich weit entfernt.

Hinter der nächsten Ecke entdeckte er etwas, näherte sich und stellte fest, dass ein Toter auf dem Pflaster lag. Der junge Brustkorb war aufgebrochen, die Organe waren aufs Pflaster gerutscht. Seltsamerweise wirkte die Leiche, als wäre sie schon einige Zeit tot, länger jedenfalls als seit dem furchtbaren Schrei. Und er entdeckte Weiteres: Die Wunde war nicht sauber und überdies von losem Haar umgeben, das fein, fest und daumenlang war. Neben dem Toten lag ein blutiges, silbrig schimmerndes Fleischerbeil. Im Licht der Straßenfackeln stieg Dampf aus dem unterirdischen Heizsystem in die eisige Abendluft.

Wer mag das getan haben?

Von hinten kam jemand in Stiefeln übers Pflaster, und sofort zog Haust den Säbel. Noch konnte er nichts erkennen und folgte darum den Fassaden. An einer Ecke bröckelten rätselhafterweise Steine, doch noch immer war nichts zu sehen. Haust verharrte reglos, um mit magisch geschärften Sinnen etwas zu bemerken. Eine Katze kam aus einer Gasse getrottet, doch das war hundert Schritte entfernt. Über ihm schimmerte ein zerbrochenes und ausrangiertes Schwert. Von Süden drang der Gesang eines Jorsalirpriesters an sein Ohr, den der Wind herangeweht hatte.

Dann traf ihn ein Schlag auf den Kopf, und Haust wurde ohnmächtig …

Metallisches Kreischen weckte ihn schließlich. Rasch begriff er, dass er in einem dunklen Zimmer lag. Warum hatte er den Eindruck, es befinde sich unter der Stadt? Vielleicht wegen der Luft oder der irgendwie gewölbten Decke, die ihn an ein Grab denken ließ. Aus den Augenwinkeln sah er die Kanten und Flächen von Klingen und Messern schimmern, und an den Wänden hingen kleine Schwerter.

Plötzlich sagte eine deutliche Stimme: »Willkommen in meinem Schlachthaus!«

»Wer seid Ihr?«, keuchte Haust. Der Mann trug Zylinder, weißes Hemd, Weste und schwarze Kniehose; er war gekleidet wie die exzentrischen Gestalten in den Untergrundtheatern Villjamurs. Er war schlank, trug einen dünnen Schnurrbart und lächelte in einem fort. Rechts von ihm ragte etwas Spinnenähnliches auf, das aber fast menschliche Augen besaß. Mitunter erhob es sich auf die Hinterläufe und rieb die übrigen sechs Glieder, während das Paar Standbeine auf dem Steinboden klackte.

»Ich?«, gab der Mann mit Zylinder zurück. »Ich betreibe diese kleine Show. Also bin ich im technischen Sinne wohl dein Mörder.«

»Aber ich bin doch nicht tot … oder?« Haust ließ den Blick erneut durchs Zimmer gleiten, doch noch immer gab es keinen Hinweis für die Annahme, dass er sich noch in einer sicheren Welt befand.

»Nicht so ungeduldig, Junge«, erwiderte der Mann. »Und eine grammatische Korrektur: Ich werde dein Mörder sein. In diesen Dingen gilt es, genau zu sein! Du hast dir den falschen Abend zum Spazierengehen ausgesucht, stimmt’s?«

Haust spürte, dass er hochgehoben wurde und jemand ihm ein Seil um die Taille geschlungen hatte. Dann merkte er, dass es mit nichts verbunden war. Als hätte der gut Gekleidete seine verwirrte Miene bemerkt, sagte er: »Ach das … Daran wirst du dann zum Ausbluten und Abkühlen aufgehängt. Das sind so die Prozeduren – und manchmal bin ich sie herzlich leid … Aber du weißt ja, wie es mit diesen Dingen ist.«

Dünne Rauchspuren nahmen die Umrisse von Armen und Leibern an, schattenhafte Gestalten berührten ihn, strichen ihm fast erotisch über Hände, Hals und Gesicht. Fast glaubte er, in ihren leeren Höhlen Augen zu sehen.

»Was sind das für welche?« Haust war gelähmt, zitterte nur im festen Griff der Geister.

»Die dich da heben, nennen wir Phonoi«, sagte der Mann. »Prächtige Geschöpfe, nicht wahr?«

Eine der Erscheinungen flüsterte: »Sollen wir ihn jetzt fallen lassen, Sir? Sollen wir?«

»Sir, was sollen wir mit ihm anstellen?«, murmelte eine andere Stimme. »Was sollen wir tun?«

»Ihm die Knochen brechen?«

»Ihn vorher zerreißen?«

»Ihm die Innereien entfernen?«

»Dürfen wir?«

Sie schwebten mit ihm zu einem riesigen Kessel, an dem Flammen emporzüngelten und aus dem Dampf stieg. Haust schrie erneut, während der lächelnde Mann mit Zylinder sich winkend und mit einer Verbeugung von ihm verabschiedete.

Dann fiel der Soldat plötzlich und brüllte verzweifelt auf. Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde ihm schwarz vor Augen …

KAPITEL 1

Es begann damit, dass jemand mitten in der Nacht an die Tür klopfte und eine unbekannte Stimme seinen Namen dringlich durchs Schlüsselloch flüsterte.

»Ermittler Jeryd?«

In seiner Traumverlorenheit schienen die Worte wie ein geisterhaftes Geräusch auf ihn zuzuströmen. Was ging hier vor?

Er lag mit seiner Frau Marysa im Bett und verbrachte die achte richtige Nacht in Villiren. Jeryd hatte sich eben erst an den späten Lärm gewöhnt, an den dauernden Trubel und daran, dass zu jeder Nachtstunde Leute an seinem Fenster vorbeikamen: Geräusche, die ihn auch beim Einschlummern noch beschäftigten. Schlaf war kostbar, und in einem anderen Bett zu liegen, war, als lebte man in einem anderen Umfeld. Er hatte das Gefühl, sein Leben sei ganz durcheinandergeraten, und das war eigentlich paradox, weil es tatsächlich aufs blanke Minimum reduziert war.

Er rieb sich den Bauch und wedelte gedankenverloren mit der Schwanzspitze. Zu spät am Abend für so eine Störung, dachte er. Weit über hundert Jahre konnte er zurückblicken, vermochte sich aber nicht zu erinnern, dass das Dasein ihm auf längere Zeit so ungewiss erschienen war. Bis vor Kurzem war die Arbeit sein Leben gewesen. Er hatte sich sicher gefühlt, als er noch für Villjamurs Inquisition tätig war, hatte den Alltag der Behörde gekannt und gewusst, was von ihm erwartet wurde. Ihm war klar gewesen, worauf es ankam, wo er hinpasste und wohin nicht. Nun aber war sein Alltag dahin und das Selbstvertrauen seiner vielen Berufsjahre untergraben.

Das Einzige, was ihn mit seinem früheren Dasein verband und ihm so Orientierung gab, war seine Frau Marysa. Ehen haben gute und weniger gute Phasen, doch in letzter Zeit hatten sie ihre Liebe zueinander wiederentdeckt, und deshalb war er mit seinem Leben sehr zufrieden. Tatsächlich hatte die Trennung von der Heimatstadt sie näher zusammengebracht. Viel mehr konnte er nicht verlangen. Intuitiv warf er Marysa einen Seitenblick zu. Auf ihr weißes Haar, das einen starken Kontrast zu ihrer festen schwarzen Haut bildete, fiel durch die Fensterläden das Licht eines der beiden Monde. Auch ihr Schwanz wedelte sanft unter den Laken, und ihr schlafender Umriss hatte etwas ungemein Beruhigendes.

Wieder das Flüstern: »Ermittler Rumex Jeryd?«

»Mensch, warte gefälligst!«

Inzwischen war er kaum mehr neugierig, warum ihn jemand sprechen wollte, und vor allem verärgert über die Störung seiner Nachtruhe. Er lag da und dachte: Wenn jemand mitten in der Nacht zu einem kommt, dann kaum, um etwas Nettes zu berichten. Soll ich mir da die Mühe machen nachzuschauen?

Im Kamin glühten noch Scheite, und der Staub, der sich über Jahre im Zimmer gesammelt hatte, stach ihm in die Nase. Doch das war nur ein Übergangsquartier, denn angesichts des angekündigten Krieges wusste er nicht, wie lange er in Villiren bliebe.

»Bitte öffnet!« Die Stimme klang ruhig und entschlossen und war das Befehlen offenbar gewöhnt.

Konzentrier dich, Jeryd!

Er schwang sich aus dem Bett. Obwohl er bereits dick angezogen war, trug er obendrein eine abscheuliche rote Nachthose, in die Hunderte winziger goldener Sterne gestickt waren. Marysa hatte sie bei der Abreise aus Villjamur für ihn gekauft und behauptet, er sei zu mürrisch, müsse aufgeheitert werden und solle öfter lächeln. Irgendwie beschämt und fast unfähig zu lächeln, schlich er durchs Zimmer, und seine Fersen ließen die Bohlen knacken.

Eine Spinne flitzte über den Boden und unter den Schrank, und er erstarrte. Das war Jeryds geheime Schwäche: Er fürchtete und hasste diese Tiere seit seiner Kindheit. Schon ihr Anblick lähmte ihn und ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen. Ihr knolliger Umriss und ihre rasend schnellen Bewegungen –widerliche Geschöpfe waren das!

Fröstelnd, nun aber hellwach bückte er sich, sah durchs Schlüsselloch, konnte aber nur Schwärze erkennen …

Dann tauchte ein beinahe rotes Auge auf und starrte ihm durch das Loch entgegen.

Jeryd machte einen Satz rückwärts, sagte: »Moment«, und öffnete.

Ein Albino stand auf der Schwelle, und seine Haut schimmerte selbst in diesem Licht weiß, sodass man ihn für einen Geist hätte halten mögen. Sein Jamur-Stern an der Brust stach von der schwarzen Uniform ab. »Sele von Jamur, Ermittler Jeryd! Ich bin Kommandeur Lathraea.«

Jeryd erkannte den leise sprechenden Offizier, der ihm schon in Villjamur ein Begriff gewesen war, ohne ihm je begegnet zu sein. Lathraea war ein groß gewachsener Mann mit schmalen Wangen, dünner Nase und aristokratischer Anmutung. Doch Jeryd hatte auch gehört, dass er Mut und Wissen besaß; Eigenschaften, die man bewundern, Merkmale, auf die er zählen konnte. Und er hatte Geschichten aufgeschnappt, wie gut er focht, welch großartiger Stratege er auf dem Schlachtfeld war und wie ungewöhnlich mitfühlend er als Heerführer handelte.

»Sele von Jamur, Kommandeur!«, erwiderte er murmelnd und rieb sich die Augen. »Was kann ich für Euch tun?«

Der Offizier trat beiseite, als Jeryd auf den Flur kam und die Tür zuzog, um seine Frau nicht zu stören. Einen Moment lang musterte der Soldat fasziniert seine Kniehose. Warum hatte Marysa ihm auch nichts Schwarzes oder Braunes gekauft, das im Dunkeln nicht auffiel? Rot mit goldenen Sternen – gute Güte!

»Ich suche einen Ermittler«, fuhr der Kommandeur fort, »und habe erfahren, dass Ihr jüngst aus Jokull eingetroffen seid. Ich möchte gern jemanden ins Vertrauen ziehen, der nicht von dieser Insel kommt.«

Das gefiel Jeryd, denn es bestätigte zwei seiner Vermutungen: dass der Kommandeur auf der Basis von Loyalität operierte und dass er, Jeryd, nicht der Einzige war, der annahm, dass diese Stadt voller Mistkerle steckte.

»Nun, ich bin so paranoid, wie man heutzutage leicht werden kann«, gab er zurück. »Eure Geheimnisse sind bei mir also gut aufgehoben, Kommandeur. Obwohl Ihr auch sagen könntet, dass ich dort nicht allzu wohlgelitten bin …«

»Wie kommt es, dass Ihr hier gelandet seid?«

Ich hab nur Korruption im Herzen des Reichs aufgedeckt und dadurch den Kanzler – und jetzigen Kaiser – verärgert. Dann bin ich vor denen geflohen, die mich womöglich herbeizitiert hätten, und in die einzige Stadt im Reich gegangen, die das Gesetz in ihre eigenen Hände genommen hat und deren Inquisition unabhängig von der in Villjamur arbeitet, obwohl das eigentlich nicht sein sollte. So habe ich einen Ort gefunden, an dem ich mein Amtsabzeichen und meine Verbindungen nutzen konnte, um Arbeit zu bekommen und in der Eiszeit nicht zu verhungern – und zwar, ohne dass mir irgendwelche Fragen gestellt wurden. All das hätte er sagen mögen, um es sich mal von der Seele geredet zu haben.

Stattdessen brummte er: »Mir wurde stets verübelt, dass ich mit dem Papierkram hinterherhinke. Darum ist dieses unwissende Loch von einer Stadt für mich der beste Ort.«

Der Kommandeur runzelte die Stirn und nickte taktvoll. »In Ordnung.«

»Und Ihr, Kommandeur? Für Euch ist das auch nicht der schönste Standort.«

»Nein, aber die Stadt muss behauptet werden. Sie sieht sich militärischen Drohungen ausgesetzt, und wir sind hier, um die Verteidigungsmaßnahmen zu beaufsichtigen.«

»Dabei soll ich Euch doch wohl nicht helfen?«

»Nein, aber ein Soldat wird vermisst, ein Nachtgardist namens Haust. Er ist groß, schlank, blond, blauäugig, wie die Bewohner der südwestlichen Inseln es eben sind. Seit einigen Monaten erst ist er in unserer Einheit und ungemein stolz, hier zu dienen. Es gibt keinen Grund, warum er seinen Posten hätte verlassen sollen, zumal er seine Pflichten noch nicht erfüllt hatte. Dafür wird man unehrenhaft entlassen, und doch ist er nun schon seit sechs Tagen verschwunden.«

»Und warum kommt Ihr erst jetzt zu mir?«

»Anfangs haben wir selbst nach ihm gesucht, doch unsere Ressourcen sind begrenzt – und die Inquisition vor Ort behauptet, es gebe zu viel zu tun. Dann hat jemand einen Beamten aus Jokull erwähnt, der in der Stadt sei und nicht viele Fälle bearbeite. Ich habe leichten militärischen Druck eingesetzt, um Euren Namen und Eure Adresse zu erfahren.«

Jeryd fragte sich kurz, wie rasch sein Aufenthaltsort an einen cleveren Mistkerl in Villjamur verraten werden mochte. Natürlich nur, falls der neue Kaiser sich die Mühe machte, nach ihm suchen zu lassen.

»Und ich habe gehört, dass nicht nur Haust, sondern auch andere verschwunden sind – in erstaunlich großer Zahl sogar.«

»Vielleicht sind sie wegen der Winterstarre getürmt«, wandte Jeryd ein und überlegte dabei, welche Möglichkeiten er hatte.

»Nicht so viele und nicht spurlos«, entgegnete der Kommandeur. »Die meisten Bewohner dieser Stadt sind vollauf damit beschäftigt, sich von einem Tag zum anderen durchzuschlagen, und versuchen nicht, dem Eis zu entkommen – oder sogar dem drohenden Krieg. Und wohin sollten sie auch gehen? Nein, nach allem, was ich gehört habe, sind diese Menschen einfach verschwunden.«

Jeryd fragte nach den üblichen Einzelheiten, um den einen oder anderen Hinweis zu bekommen, der ihm im Fall des vermissten Nachtgardisten sofort weiterhelfen mochte. Für ihn zählte jedes Detail. Nach den Aussagen des Kommandeurs mochte durchaus ein Mord stattgefunden haben, doch in einer unruhigen Stadt wie Villiren konnte Jeryd bei so dürftigen Hinweisen wenig unternehmen. Leute verschwanden laufend. Nach seiner Erfahrung handelte es sich dabei um ein allzu verbreitetes Rätsel.

»Normalerweise würde ich einige meiner Männer ermitteln lassen«, fuhr der Kommandeur fort, »aber angesichts der Ereignisse im Norden und der Dinge, die zu befürchten stehen, sind wir zu sehr mit strategischen Planungen und mit Exerzieren beschäftigt. Deshalb muss ich diese Angelegenheit jemandem anvertrauen.«

»Ihr seid ein sehr argwöhnischer Mensch«, sagte Jeryd anerkennend.

»Dazu habe ich auch allen Grund. Ich traue nicht einmal unserem Kanzler, der nun natürlich Kaiser ist. Entschuldigt, aber ich habe mich noch immer nicht an den Sturz der Jamur-Linie gewöhnt.«

»Da haben wir etwas gemeinsam, Kommandeur.«

Jeryd erinnerte sich nur zu genau daran, was sich in Villjamur zugetragen hatte. An die Fakten, die er aufgedeckt hatte. Daran, wie die Jamur-Linie durch einen neuen Regenten ersetzt wurde. An die Verschwörungen der religiösen Kulte. Daran, wie Urtica über Nacht vom Kanzler zum Kaiser geworden war, indem er listig Tatsachen und Worte verändert und Menschen bestochen hatte.

Der Albino nickte ihm lächelnd zu und bestätigte so, dass sie einer Meinung waren. Jeryd kam daraufhin zu dem Schluss, dass sie eine Vereinbarung getroffen hatten und er sich am Morgen sofort um die Angelegenheit kümmern würde.

Während der ranke Kommandeur den Flur entlangging, schlurfte Jeryd mit seiner zweifelhaften Hose zurück ins Bett, umarmte Marysa, kuschelte sich an sie und überlegte, wie er sich in einer Stadt zurechtfinden sollte, über die er noch immer fast nichts wusste.

KAPITEL 2

Als Brynd Lathraea und Bürgermeister Lutto in die Unterwelt von Villiren abstiegen, drang ihnen schonvon fern aus dem Versammlungssaal ein solches Donnergrollen entgegen, als stammte es von einer angreifenden Armee. Hier unten waren sie mitunter so abgeschnitten von der Erdoberfläche, dass Brynd sich fragte, ob er sich in einem Albtraum befand.

Es taute, und fauliges Wasser sickerte auf ihren Weg und mischte sich mit den Abwässern und mit etwas, das er nicht zu benennen wagte.

»Lutto ist sich des Gestanks wohl bewusst«, brummte der Bürgermeister von Villiren, »doch in Krisenzeiten ist der Geruch meiner schönen Stadt – will sagen: von des Kaisers schöner Stadt, ha! – meine geringste Sorge.« Er watschelte wie eine Ente durch die dunklen und monotonen Gänge, hielt die Arme von seinen fetten Flanken gespreizt, trug in einer Faust eine Kerze und führte sie immer tiefer hinab, dem dröhnenden Krach entgegen. Wenigstens hatte Brynd nun Luttos Rücken vor sich, musste also nicht mehr in sein verlogenes Gesicht mit dem seltsam hypnotischen Schnurrbart blicken. Er hatte den Eindruck, Lutto habe ihn sich so stehen lassen, damit die Leute nicht anfingen, in seinen Augen nach Anzeichen irgendwelcher Reste von Wahrheit zu suchen, die in dem, was er sagte, verborgen sein mochte. Lutto war noch nicht gänzlich in Dummheit versunken, doch den wenigen Gesprächen nach zu urteilen, die sie miteinander geführt hatten, konnte es jeden Moment so weit sein. Dahinter aber lauerte noch etwas, eine bösartige und gehässige Intelligenz, die er mitunter anzapfte. Einige flüsterten, eigentlich stecke seine Frau dahinter, und wirklich war es Brynd schleierhaft, wie Lutto erfolgreich eine Stadt regieren konnte. Er war erst wenige Wochen in Villiren und begann schon, sich über Luttos Auftreten mächtig zu ärgern – über seine Ausdrucksweise und seine Art, Menschen zu behandeln, darunter auch ihn selbst.

»Wie weit ist es noch?«, wollte er wissen.

»Immer diese Ungeduld. Ein Soldat, dünkt mich, sollte –«

»Wie weit?«, knurrte Brynd.

»Verzeihung, Kommandeur! Wir sind gleich da, in zehn Minuten. Das verspricht Lutto.«

»Verratet Ihr mir bei Gelegenheit, warum ich auf dieser Expedition Zivil tragen sollte?« Brynd trug ein einfaches braunes Gewand, einen langweiligen grauen Umhang und einen breitkrempigen, tief in die Stirn gezogenen Hut und hatte sich sogar etwas Erde ins Gesicht geschmiert, um die Tatsache zu bemänteln, dass er ein Albino war.

»Einigen dieser Leute gegenüber muss man unbedingt getarnt auftreten«, war alles, was der Dicke zur Antwort murrte, und Brynd war seine rätselhafte und ausweichende Redeweise inzwischen gewöhnt. Sie ging ihm gewaltig gegen den Strich, doch er konnte den bedeutungsschweren Sätzen mit ihren verborgenen Bedeutungen einfach nicht entgehen.

Und es war ja nicht so, als wäre Brynd nicht selbst mit ein paar Geheimnissen belastet.

Diese kleine Reise, so hatte Lutto gesagt, könnte für die Verteidigung der Stadt entscheidend sein, und Brynd war sehr daran interessiert, all seine Möglichkeiten auszuloten. Sich angemessen auf die wahrscheinliche Belagerung durch einen ungleichen Gegner vorzubereiten, war unerlässlich.

Dieser Gang erinnerte ihn an die ebenso gekrümmten und dunklen unterirdischen Wege in Villjamur, die auch keinem Zweck zu dienen schienen, obwohl der hier neueren Datums und seine Steine mitunter noch scharfkantig waren. Fünf Minuten später erreichten sie eine noch tiefere Ebene, was Brynd daran merkte, dass der Pfad sich ein wenig stärker abwärts neigte. Ratten flohen vor ihnen den Gang entlang und jagten Schatten nach. Es roch immer stärker nach Räucherstäbchen, der Lärm einer nahen Menschenmenge nahm immer deutlicher Gestalt an, und Brynds Herzschlag beschleunigte sich ein wenig.

»Wir sind fast da«, flüsterte Lutto und wies nach vorn.

Sie öffneten zwei unauffällige Türen und betraten den Versammlungssaal; ein weites Steinrund, dessen Sitzreihen sich abwärts zu einer Art Bühne verengten, einem mit Seilen abgetrennten Quadrat mit einer Länge von vierzig Schritten. Pfeiler trennten die beiden rivalisierenden Zuschauerränge, auf denen gesungen und gepfiffen wurde. Vier-, fünfhundert Menschen waren bereits zugegen, und die Reihen füllten sich zügig. In Dutzenden aufgesockelter Urnen züngelte ein flüssiges Feuer und erhellte diesen Ort tief unter der Stadt in erstaunlichem Maße.

Brynd betrachtete die Versammlung ungläubig. »Ist so was denn legal?«

»Ihr Soldaten!«, lachte der dicke Bürgermeister. »Ewige Paragrafenreiter. Lutto kann dem Kommandeur versichern, dass alles hier durch unsere ehrwürdige Gemeindeordnung gedeckt ist.«

Brynd funkelte ihn zornig an. »Gemeindeordnung, ja? Das klingt fadenscheinig. Ich vermute, auch Ihr profitiert von dem, was hier unten stattfindet?«

»Eine geringe Gebühr kassiere ich dafür, mehr nicht«, erwiderte Lutto lächelnd. »Wir müssen versuchen, endlich etwas von diesem schlechten Geld zu verwenden. Wenn ich dies alles unterbinden würde, könnten wir unerlässliche Dinge nicht bezahlen, und Lutto müsste die ganze Zeit Menschen hinterherhetzen, die stärker und schneller sind als er.«

Du gibst ohnehin kaum Geld für kommunale Aufgaben aus, dachte Brynd. Ich hab die Bilanzen doch gesehen!

Die unheimliche Atmosphäre des Saals wurde noch durch verblüffende, gallertartige Lichtquellen gesteigert, die an Nägeln befestigt oder in kleinen Käfigen versammelt waren. Ab und an begossen fleißige Hände sie mit Wasser, was sie stärker leuchten und zudem flackern und oszillieren ließ.

»Was sind das für Lampen?«, fragte Brynd.

»Eingefangenes Meeresleuchten«, erwiderte Lutto. »Wir bedienen uns dieser Algen noch nicht lange, und ökologisch ist das auch nicht ratsam, lässt sich aber nicht vermeiden.« Von Meeresleuchten hatte Brynd noch nie gehört. Lutto wollte schon etwas hinzusetzen, besann sich aber eines Besseren.

Als sie ihre Plätze in den hinteren Reihen einnahmen, beugte sich der Dicke zu Brynd und erklärte ihm, wie man so hoch im Norden kämpfte. »Malum ist es, den Ihr erleben sollt. Dann erkennt Ihr sofort, warum ein Treffen mit ihm nützlich sein kann. Er dürfte sehr bald rauskommen.«

»Dieser Malum ist also ein guter Kämpfer?«

»Er soll Golemkämpfe lieben, und wer tut das nicht? Schließlich bieten sie den Gegnern Gelegenheit, sich ihres Könnens zu versichern. Bisweilen werdet Ihr bedeutende Kultisten des Untergrunds sehen, seien es Gento Dumond, Feltok Dupre oder gar der alte Golemist Sechsundneunzig – alle bringen ihre Talente und Relikte zu Arenen wie dieser, wo ihre unförmigen Golems sich von Stein zu lebendigen Kämpfern verwandeln. Wie sie sich dann auf den Leib rücken, sich gegenseitig Stücke aus dem Körper reißen und sich schließlich ruhig in eine Ecke setzen und wieder zu Stein werden, sofern sie den Kampf überlebt haben: Glaubt mir, das ist große Bühnenkunst! Aber dreimal im Jahr bringen die Kultisten noch etwas Exotischeres mit – nennen wir es seltsame tierische Mischwesen, die sie mithilfe von Relikten erschaffen haben. Und es gibt Zeiten, zu denen Sterbliche sich als würdig zu erweisen haben, aufstrebende Bandenführer zu sein. Sie müssen in den Ring treten und sich dem Kampf mit diesen Wesen stellen … diesen bizarren Missgeburten, die die Kultisten aus einem Spleen erschaffen haben. Seht, da kommt eines dieser Wesen!« Lutto wies mit fetter Hand auf den Ring.

Drei Gestalten in braunen Kapuzenumhängen zogen etwas aus einer Luke zu der Stelle, an der an einem Ring zwischen den Sitzen ein Loch klaffte. Kaum öffnete sich die Falltür, erhob sich Jubel, dem sofort ein Luftschnappen des Publikums folgte.

Drei plumpe, groteske Geschöpfe – anscheinend halb Reptilien, halb Männer – kamen in den Ring geschlurft; grüne Stammeszeichen waren ihnen auf die wichtigsten Muskelgruppen tätowiert, und sie überragten selbst die größten Menschen im Saal mindestens um Haupteslänge.

»Was sind das denn für drei?«, fragte Brynd bewundernd. »Lutto, worum handelt es sich da?«

»Wie gesagt – Kultisten erschaffen diese Ausgeburten nach Lust und Laune. Sind sie nicht entzückend? Schon der Einfallsreichtum, der –«

»Ist das denn erlaubt?«

»Hier in Villiren natürlich.« Der fette Bürgermeister legte die Hand aufs Herz und schüttelte den Kopf. »Wirklich sehr ausgefuchst. Diese Wesen wurden nur erschaffen, um hier zu kämpfen – deshalb ist das völlig in Ordnung. Und sie sind beeindruckender als alle, die ich seit Langem gesehen habe!«

Die drei Reptilienmenschen torkelten mit merkwürdigen Bewegungen vorwärts, die übertrieben und doch zögerlich wirkten, abgezirkelt und zugleich überspannt. Die Art, in der sie an den Seilen um ihren Hals zerrten, ließ vermuten, dass ihnen der bevorstehende Kampf bewusst war. Plötzlich schlug eins der Geschöpfe zu Boden, als hätte es vergessen, wie man geht, und sofort kam einer mit einem Metallgegenstand angerannt, schob ihn dem Wesen in den Mund, drehte ihn herum, feuerte einen purpurnen Blitz ab und zog sich wieder in die Menge zurück, während das Mischwesen sich aufrappelte.

»Das war ein Kultist«, erklärte Lutto, und Brynd nickte. Was sie hier sahen, war nichts Natürliches.

In kürzester Zeit waren an alle Mischwesen Krummsäbel und Keulen ausgeteilt, und sie redeten in einer primitiven Sprache miteinander, die nur aus Kehllauten bestand.

Dann strebten sie auseinander, nahmen die Waffen fest in die Hände und blickten sich aufmerksam um. Schreie und Pfiffe erklangen, als die Geschöpfe sich in drei Ecken des Ringgevierts in offenbar vertrauter Positur zum Kampf aufpflanzten.

Ein Wort lief um, erst nur als Flüstern, das im Lärm unterging, dann immer bestimmter und lauter:

»Ma-lum! Ma-lum!«

»Was wird da skandiert?«, wollte Brynd wissen.

»Sie fordern ihren Lieblingskämpfer«, erklärte Lutto, »den Helden unserer kleinen Vorführung.«

»Den Mann, den ich mir ansehen soll?«

Lutto nickte, und sein Mehrfachkinn wackelte, während der Schweiß ihm auf der Stirn glänzte. Der stürmische Gesang der Menge wurde schließlich belohnt, als eine Gestalt mit Kapuze vor die Zuschauer trat. Zwei Männer nahmen ihr den Umhang ab, unter dem ein nackter Oberkörper zum Vorschein kam. Der muss doch frieren, dachte Brynd, wo die ganze Stadt unter einer Eisdecke liegt. Nur mit schwarzer Kniehose bekleidet, duckte Malum sich unterm Seil durch und trat in den Ring. Dann erkannte Brynd, dass er zudem eine rote Maske trug, die seine obere Gesichtshälfte verbarg. Tatsächlich waren auch viele Zuschauer maskiert– weit mehr jedenfalls als oben auf der Erde. An diesen kulturellen Tick in Villiren hatte er sich immer noch nicht gewöhnt.

Malum ließ sich von einem Wächter ein Kurzschwert mit spitzer Klinge geben. Es handelte sich um die bevorzugte Waffe des einfachen Mannes, und vielleicht verriet diese Wahl etwas über ihn. Schlank war er, muskulös und an Armen, Flanken und Steißbein tätowiert. Sein Haar war schwarz, und er trug einen Dreitagebart. Sein Gebiss hatte etwas äußerst Animalisches, und er schien genau zu wissen, wie er sich in einer dunklen Nacht wie dieser bewegen musste.

»Wie heißt er?«, fragte Brynd, um sicher zu sein.

»Das ist Malum, der Anführer der Bloods. Er gilt als mächtigster Mann von Villirens Unterwelt. Die Bloods haben Hunderte, vielleicht Tausende Mitglieder, und auch Lutto hatte mehrmals mit ihm zu tun – schließlich ist es besser, solche Typen auf seiner Seite zu haben, nicht? So hat auch Lutto die Kontrolle.«

Malum nahm seinen Platz in der vierten Ecke des Rings ein und würdigte die Reptilienmischwesen in den übrigen Ecken kaum eines Blicks. Das Gesicht auf seiner Maske wirkte, als erinnerte sich sein Träger einer längst vergangenen Wut.

Schließlich läutete eine Glocke, und es wurde ziemlich still. Ein Mann verkündete mit lauter Stimme die Regeln des Kampfs, falls von Regeln die Rede sein konnte: Alles ist erlaubt. Wer als Letzter aufrecht steht, ist Sieger. Keine Pausen. Und los!

Erneut ertönte die Glocke. Die Menge grölte los, und Malum war sofort hellwach. Er bewegte sich Richtung Ringmitte und hob das Kurzschwert zum Kampf. Kaum kamen die drei Mischwesen angestürmt, schaltete er auf Verteidigung um. Das Johlen der Zuschauer übertönte die Kehllaute, mit denen die drei Kreaturen sich verständigten. Einen Moment lang sahen die grünhäutigen Bestien auf Malum herunter, als überlegten sie, wie sie ihn angreifen sollten. Dann holte das erste Wesen mit der Keule aus, der Malum flink auswich, während das zweite Geschöpf mit dem Säbel attackierte. Malum konterte nicht, sondern schien damit zufrieden, den Angriffen hierhin oder dahin auszuweichen. Sein Verhalten zeigte, dass er die Geschöpfe genau studierte, um zu lernen, nach welchen Gesetzen sie sich bewegten. Das dritte Mischwesen kreischte auf und stieß mit dem Krummsäbel nach ihm, doch er duckte sich, stieß ihm rasch und überlegt das Kurzschwert in den Bauch und zog sich zurück, während schwarzes Blut aus der Wunde schoss. Das Geschöpf starrte die Verletzung ungläubig an und wandte sich wieder seinem Opfer zu. Doch ehe es einen weiteren Gedanken fassen konnte, hatte Malum ihm schon mit seiner Klinge die Kehle durchgeschnitten. Das Wesen sank mit vorquellenden Augen aufs Knie und schlug bäuchlings auf den Boden. Die beiden anderen Mischwesen indessen kamen ohne Zögern angetorkelt und ließen ihre Waffen mit voller Wucht auf Malum niedergehen, der aber mit einer Rückwärtspirouette aus ihrer Reichweite sprang, die beiden erstaunlich rasant umging und dem Keulenkämpfer mit dem Kurzschwert die Ferse abschlug. Die Bestie brüllte auf und sank aufs Knie, während Blut über den staubigen Boden strömte. Die Menge jubelte, und Malum lächelte und zeigte den Zuschauern sein Schwert. Er genoss den Kampf, und selbst als er sich den beiden Wesen wieder zuwandte, blieb er überheblich.

Die Kreatur mit dem Säbel attackierte ihn energisch und mit einer Abfolge von Fechtfiguren, und Malum schien kurz Probleme zu haben, ehe er ihr seine Schneide in die Flanke schlug. Der nächste Streich des Mischwesens hätte Malum den Kopf gekostet, wenn er nicht erneut blitzschnell den Ort gewechselt hätte. Sein nahezu unmenschliches Tempo hatte etwas Beunruhigendes. Malums Muskeln bogen sich, seine Sehnen traten hervor, sein Oberkörper glänzte vor Schweiß, doch er grinste noch immer.

Brynd war sich nicht sicher, ob das Licht ihn getäuscht hatte, doch ihm war beinahe, als besäße Malum Fänge.

Das Geschöpf mit der Keule hinkte nun am Rand des Rings entlang, und als es Malum kurz den Rücken kehrte, sauste er heran, stieß ihm das Kurzschwert in den Nacken und fuhr damit das Rückgrat entlang abwärts. Schon auf halber Höhe brach die Bestie zusammen und zuckte nur noch. Wieder brandete Jubel auf, da der nächste Gegner ausgeschaltet war. Malum drehte sich um und fasste das übrig gebliebene Geschöpf ins Auge, das von den dreien eindeutig der beste Kämpfer war.

Er stieß ihm das Schwert mit allem Geschick und Selbstvertrauen in den Leib und verblüffte die gesamte Zuschauerschaft mit seinen ebenso eleganten wie schwungvollen Bewegungen. Es schien, als befände er sich in einer anderen zeitlichen Dimension.

Das Mischwesen kassierte erst eine klaffende Wunde am Arm, dann an der Flanke, dann im Gesicht und erschlaffte wie eine sterbende Blume, als Malum es zurücktrieb und über einen seiner getöteten Kameraden stolpern ließ. Schließlich trennte er dem Geschöpf die Schwerthand glatt vom Arm und stieß ihm die Klinge in die Brust. Ein, zwei Sekunden später zitterte die Kreatur und blieb dann reglos liegen.

Malum stand schwer atmend und von unnatürlichem Blut überströmt da. Er wandte sich der jubelnden Menge zu, gab durch seine Körperhaltung zu verstehen, dass er den Sieg unbedingt verdient hatte, und nahm die Rufe und Pfiffe von allen Seiten gelassen in sich auf, wie um den Zuschauern zu bedeuten, sie sollten nur niemals an seinem Wert zweifeln. Er leckte sogar ein wenig Gegnerblut von seinem Körper und schien dessen Geschmack ungemein zu genießen.

Jemand rief: »Nächster Kampf – du und du«, und zwei massige Männer mit gewaltigen Schultern und schmaler Taille erhoben sich in der vordersten Reihe, musterten einander und waren bereit, mit bloßen Fäusten aufeinander loszugehen.

»Seltsam«, erklärte Lutto, »dass selbst hochentwickelte Kulturen stets das Bedürfnis haben, vorgeführt zu bekommen, wie zäh die Leute sein können, oder? Vermutlich soll ich für Euch nun ein Treffen mit Malum einrichten, was, Kommandeur? Meint Ihr, er kann uns von Nutzen sein?«

Malum war erstaunlich gewesen, faszinierend, grausam. Lange war Brynd keinem Soldaten mit solchen Fähigkeiten mehr begegnet, und vielleicht übertraf Malums Können selbst das Geschick seiner besten Männer. Leute wie er konnten sich im Ernstfall als unschätzbar erweisen. Es hatte keinen Sinn, noch zu überlegen: Er brauchte jede Hilfe, die er bekommen konnte.

»Das meine ich allerdings«, gab Brynd zu. »Und falls es weitere Männer mit solchen Fähigkeiten und Begabungen gibt, würde ich auch von ihnen gern erfahren. Sie könnten darüber entscheiden, ob Eure Stadt überlebt oder in Schutt und Asche sinkt.«

»Lutto versteht genau«, gab der dicke Bürgermeister zurück, »und wird entsprechende Erkundigungen einziehen.«

KAPITEL 3

Mein Schatz, der ist Soldat, und er sieht blendend aus, sang Arletta, Villirens erotischer Star. Sechsundvierzig war sie, besaß ein ziemlich breites Becken und machte noch immer das Beste aus ihren Kurven. Im Schutz seiner roten Maske beobachtete Malum, wie sie in einem zu engen Funkelkleid bei Lampenschein und Kerzenschimmer über die Bühne stolzierte. Der Gitarrist schlug einen weiteren misstönenden Akkord, und sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Mein Liebster, lass dir sagen, was du tun sollst.«

Wieder eine Nacht im Partisan Club, und es war unerlässlich, dass Malum jetzt hier gesehen wurde. Seine Gegenwart war sein Alibi, würde bestätigen, dass er für das kommende Verbrechen nicht verantwortlich war.

Ein ungewöhnlich solidarischer Geist hatte sich in der Stadt ausgebreitet. Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg schossen ins Kraut, und in solchen Zeiten schien jeder, der in Villiren über Geld verfügte, es in Clubs wie diesem durchbringen zu wollen. Er hatte gehört, dass Arletta beste Geschäfte machte, und nun warf sie ihm ein geschminktes Lächeln zu und verbeugte sich dann zu donnerndem Applaus und begeisterten Pfiffen der Zuschauer. Sie wusste, wer er war – wie die meisten hier oder wie doch alle, die etwas für ihre Laufbahn oder sogar für ihr Leben tun wollten. Malum gefiel, welche Reputation er sich aufgebaut hatte. Der Kellner wollte ihm die Rechnung bringen, doch jemand sagte ihm etwas ins Ohr, und der Ober bekam seine »Ach, der ist das!«-Miene und zog sich wieder ins Halbdunkel hinter dem Tresen zurück.

Malum musste gehen. Er nahm die Maske ab und legte sie für JC auf den Tisch, der direkt hinter ihm wartete und an diesem Abend erstaunlich nüchtern war. JC zog rasch einen Hut wie Malum auf, schlüpfte in den gleichen Mantel, schob sich die rote Maske vors Gesicht und setzte sich auf Malums Stammplatz, der in angenehmem Halbdunkel an der Wand gleich links der Bühne lag.

Und Malum schlich davon, um seinen Mantel zu holen und sich hinaus in die Kälte zu begeben.

Die Nacht war eisig. Malum trug inzwischen eine weiße Maske und hielt sich ganz in der Nähe der Rue Nár auf. Das war unangenehm nah an seiner Wohnung, doch er musste diese Angelegenheit hinter sich bringen. Hundert Laternen und gelegentliches Meeresleuchten bewegten sich durch die Straßen der Stadt wie nächtliche Sterne am Himmel. Noch immer waren Fiaker unterwegs und brachten Nachtschwärmer zu verbotenen Adressen. Zwei blonde Mädchen in Umhängen kamen lachend und mit Flaschen anstoßend auf klackenden Absätzen vorbei, wie es in dieser Gegend Villirens gang und gäbe war. Eine hochschwangere Rothaarige kam angeschlurft, stolperte und ließ ihre Tasche aufs Pflaster fallen. Offenbar hatte sie sich keinen ihrem Bauchumfang gemäßen Mantel leisten können, und ihr praller Leib ließ das Gewebe spannen. Ob das Ungeborene davon etwas mitbekam? Ob es ahnte, in welche Trostlosigkeit es geboren wurde?

Meine Tarnung wird schon nicht auffliegen, dachte Malum und half der Schwangeren, das auf der Straße verstreute Fleisch einzusammeln. Erst hatte sie womöglich gedacht, er wolle sie ausrauben, doch dann nahm sie ihre Einkäufe mit einem gemurmelten Danke entgegen. Als sie sich kurz in die Augen sahen, witterte Malum den Geruch ihres …Blutes.

Seit Langem hatte er sich nicht mehr so gefühlt, weil er sein Begehren normalerweise beherrschen konnte. Sofort wandte er sich ab, und die Schwangere setzte ihren Weg fort.

Er musste zurück in die Zone gelangen, in die mentale Verfassung also, in der er sich zu bewegen hatte, um das zu erledigen, was er beabsichtigte.

Malum befand sich auf einem von Dutzenden öffentlichen Plätzen Villirens, allerdings in einem der wenigen Bezirke, die nicht mit monotoner Unaufhörlichkeit ständig umgestaltet wurden. Erstaunlich, wie rasch sich anderswo alles verändert hat, dachte er – wie Holzhäuser unausweichlich Steinbauten gewichen sind. Das Geld der Bergwerksindustrie hatte die Schmiede der Stadt zu Reichtum kommen lassen und eine so rasante Bautätigkeit ausgelöst, dass man den Neubauten buchstäblich beim Wachsen zusehen konnte.

Überprüf deine Messer, sagte er sich. Eins steckte im Stiefel, eins im Ärmel – zwei glatte Schneiden, wie er sie brauchte, um diesen Auftrag zu erfüllen. Mit vor den Mund geschlungenem Schal und dickem Mantel, der den feinen Schneeregen abhielt, mit in die Stirn gezogenem Dreispitz und weißer Halbmaske stand er pochenden Herzens da und spürte seine Beklemmung.

Doch weiter voran! Ein paar Händler waren noch auf den Straßen und boten Gebratenes, warme Kleidung sowie Krüge, Töpfe und Teller an. Er bemerkte einen Jungen, dem er – wie er glaubte – ein geraubtes Relikt verkauft hatte, und staunte, dass der Kleine noch lebte. Dass ein paar Jugendliche auf den Straßen herumlungerten, war in dieser Gegend unausweichlich. Obwohl hier jede Menge Ablenkungen geboten wurden und es bei Tage Hunderte Verkaufsstände gab, vermochten sie sich trotz des reich gemischten Publikums und der nächtlichen Vergnügungen für nichts längere Zeit zu interessieren. Nein, offenbar wollten sie einfach abhängen.

Ein beleuchtetes Rechteck zeigte ihm die Tür, zu der er unterwegs war. Drin war der stehende Umriss eines massigen Mannes in dickem Mantel zu sehen. Kaum blickten sie einander in die Augen, erkannten sie sich, wussten aber, dass sie sich dies nicht anmerken lassen durften. Malum steckte ihm ein paar Silberlordil zu und ging hinein und treppab in eine relative Wärme, wo Moschusgerüche das plötzliche Gefühl der Beengung noch verstärkten. Die Aufträge wurden nicht leichter, doch ihm war sofort klar gewesen, dass er den hier persönlich übernehmen musste.

Tindar Lesalt führte ein paar Bordelle in den wenigen eleganteren Gegenden Villirens. Auch ein paar betrügerische Spielhallen gehörten ihm, doch die kümmerten Malum nicht weiter. Wenn man es am Türsteher vorbeischaffte, konnte man Tindar jede zweite Nacht im Keller eines Bordells treffen. Dort arbeiteten Frauen, die von den Stämmen ringsum gekauft worden waren, und das empörte Malum erheblich mehr. Diese Frauen waren aus ihren Dörfern geraubt und gezwungen worden, die Beine für Geschäftsleute und Bandenmitglieder breitzumachen, die importierten Wodka tranken, vögelten, was an Frauen da war, über dieses Vögeln redeten und die guten, alten Zeiten feierten.

Malum war gewiss keiner dieser Kunden. Sie passten einfach nicht zu ihm, und er nahm an, dass sie die Banden in Verruf brachten. Einige behaupteten, Tindar betreibe zudem ein Geschäft, bei dem Kultisten menschliche Körper für riesige Geldsummen verbesserten. Die abseitigeren Gerüchte sprachen davon, Menschen würden auf Kosten des Kaiserreichs mit Tierteilen ausgestattet und im Archipel gebe es schon Siedlungen, in denen derart veränderte Geschöpfe lebten. Malum fand das glaubwürdig – er hatte bisweilen künstlich veränderte Exemplare gesehen; auch sehr viel schlimmere als die Mischwesen, die er so oft unter der Erde bekämpfte. Auf Dockull und Maour, also außerhalb des Kaiserreichs, gab es entlegene Dörfer, in denen solche Mischwesen sich sogar gegenseitig erschreckten, wenn sie mit seltsamen Bewegungen von Behausung zu Behausung tapsten.

Über diese zweifelhaften Aktivitäten hinaus verfolgte Tindar noch manch andere Ziele, deretwegen Malum aber nicht gekommen war.

Er kam an drei Türen vorbei und befand sich nun vor der letzten auf der linken Seite des Gangs. Überdrehtes Plappern und schrilles Gelächter drangen heraus. Malum öffnete die Tür und schob sich seitwärts über die Schwelle. Alte, maskierte Männer saßen kartenspielend unter dem Licht grünen Meeresleuchtens. Andere tranken an einem Tresen, wo ein zwielichtiger Kultist sich eifrig bemühte, die Freier zu überreden, an ein Relikt zu glauben, und sie dazu zu bringen, Gliedmaßen oder sogar ihr Leben an seine kaputte Magie zu verlieren. Malum ging bis in die Mitte des Zimmers, als wollte er sich an einen leeren Tisch setzen, und hielt dann inne. Auf der einen Seite gab es Hunde, die in Käfigen gegeneinander kämpfen sollten: ungeheure, mit Gheelen oder anderen Wesen gekreuzte Rassen mit teils gewaltigen Fängen und zwei Köpfen– Wesen, die all die absonderlichen Gerüchte zu bestätigen schienen. Im Halbdunkel wechselte das Geld noch schneller den Besitzer als oben in der Stadt. Hier unten verdunstet es einfach, dachte Malum. Er fing rasche Seitenblicke auf. Einige der Anwesenden kannte er, andere hatte er nie gesehen.

Da drüben! Zwei rothaarige Huren in voller Montur saßen mit gespreizten Beinen auf einem muskulösen, reich wirkenden Mann. Es handelte sich um Tindar persönlich, der in einer Ecke zusammengesackt war und braune Kniehosen und sonst nur eine ungemein edle Weste trug. Er betrachtete Malum mit einem Lächeln, das womöglich besagte, er habe ihn erkannt. Einen Moment lang war es im Zimmer völlig still.

Mit einer Handbewegung sorgte Malum dafür, dass die armen Mädchen von Tindar abließen und zum Tresen eilten. Dann schüttelte er sein Messer aus dem Ärmel. Zornig bleckte er die Zähne, sodass seine Fänge zu sehen waren. Beherrschdich!Beherrschdich! Unterdessen schob Tindar sich in seinem Stuhl zurück und wäre dabei fast gestürzt. »Was macht du da, verdammt?«, zischte er.

Malum fuhr seinem Opfer mit dem Messer quer über den Oberkörper und brachte ihm eine klaffende Wunde von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte bei. Sofort füllte sich der Spalt mit Blut, doch er würde es nicht trinken, nicht das Blut dieses Dreckskerls. Dann setzte er das Messer an der linken Schulter an und fuhr zur rechten Hüfte runter, sodass Tindar ein großes X auf dem Oberkörper trug.

Mit vortretenden Augen griff der Mann zaghaft nach seinem sich öffnenden Bauch.

Ein hübscher magerer, ganz in Schwarz gekleideter Mann – vielleicht der Sohn des Opfers – sprang vor und rief: »Packt ihn!« Malum stieß zweimal zu, fauchte, bleckte die Fänge, brachte dem Angreifer mit dem Messer feine Wunden bei, packte ihn am Handgelenk und rammte ihm die Stirn mit voller Wucht ins Gesicht, sodass dem Gegner Blut aus der Braue schoss. Dann versenkte er sein Messer im Mund des anderen und zog es mit rascher Bewegung zurück, woraufhin der Mann mit zum Schrei verzerrter Miene auf den Boden sank.

Malum hatte damit gerechnet, flüchten zu müssen, doch niemand sonst erhob sich, um ihn aufzuhalten.

Viele taten, als hätten sie nichts mitbekommen, konzentrierten sich auf die Kampfhunde, das Kartenspiel oder ihr Getränk und rückten im schwachen Licht unbehaglich hin und her. Nur die Mienen der Mädchen waren besorgt.

Malum stieg die Treppe hoch, trat in die Kälte hinaus, wäre auf dem Eis beinahe ausgerutscht, verschwand rasch um zwei Ecken – und war entkommen.

Eine Hand an die Mauer gestützt, zog er die Maske ab und warf sie auf die Straße. Dann atmete er tief ein, beugte sich vor und legte den Kopf an die kalten Ziegel. Adrenalin rauschte durch seine Adern.

Er betastete seine Fänge, als wollte er sie wieder in die Kiefer drücken und leugnen, dass er zur Hälfte etwas anderes als ein Mensch war. Wenn die Wut einsetzte, konnte er außer Kontrolle geraten – und das ließ ihn sogar für sich selbst zur Gefahr werden. Ein Halbvampyr zu sein, bereitete ihm arge Qual, doch es war ihm noch stets gelungen, seine dunkleren Begierden mit knapper Not im Griff zu behalten. Jahrelang hatte er menschliche Normalität ersehnt. Und nach einem solchen Mord konnte er mit Blick auf seinen Bewusstseinszustand nur eines denken: dass er hoffentlich bald wieder normal war.

Malum machte sich zielstrebig auf den Heimweg und ließ Schal und Hut in einer Gasse zurück. Dreitausend Männer gehorchen meinem Befehl, dachte er, aber gewisse Dinge muss man selbst erledigen.

Tindar hatte gewagt, sich Mitgliedern der Bloods gegenüber einträglicher Geschäfte mit Kindesmissbrauch zu rühmen. Er hatte zigfach unschuldiges Leben zerstört und junge Gemüter den grausamen Perversionen einflussreicher Bürger ausgeliefert. Darum hatte Malum ihn persönlich töten müssen.

Mit knappem Nicken passierte Malum zwei ehemalige Soldaten mit rasierter Glatze – Wächter ohne Uniform, die brutal wirkten und sehr effizient waren.

»Sir.« Sie musterten erst ihn, dann die Straßen ringsum. Wie er es ihnen beigebracht hatte, waren sie stets misstrauisch, da es immer irgendwen gab, der ihn tot sehen wollte.

»Nacht.« Malum stieß eine kaum hörbare Antwort hervor. Die Worte erstarben ihm in der Kehle, weil der Mord von vorhin ihm nun zusetzte wie ein Kater nach einem Gelage. Natürlich war er erleichtert, wieder in der Rue Una zu sein, einer wohlhabenden Straße am anderen Ende der Altstadt unter dem Mondschatten eines großen Onyxflügels.

Hoffentlich würde sie heute Nacht keine Fragen stellen.

Ein großes, weiß getünchtes Gebäude ragte vor ihm auf. Sein Zuhause. Nach den Maßstäben von Villiren handelte es sich praktisch um einen Palast – die echten Paläste waren Jahrzehnte zuvor von Bauträgern zerstört worden, die keinen Sinn für das architektonische Erbe der Stadt besessen hatten.

Bisweilen empfand er sich sogar als Aristokrat: Bei den Bloods hatte er seine eigene Miliz – Männer und Frauen, die alles für ihn tun würden, ohne Fragen zu stellen – und verfügte über mehr treue Anhänger als je ein Grundbesitzer zusammenbekäme. Täglich floss Geld durch seine Hände, und er war mit einer klugen, begabten und bildschönen Frau vermählt.

Doch die Dinge waren nicht mehr, was sie einst gewesen waren.

Er trat ins Haus und streifte mit tiefem Seufzer seinen Umhang ab. Schmerz jagte ihm in die Beine, als er sich die Treppe hochschleppte. In einem großen Zimmer im ersten Stock ließ er sich in einen burgunderroten Sessel sinken und betrachtete sein luxuriöses Heim mit beiläufigem Stolz. Zwei Bodenvasen schimmerten im Mondschein, der durchs Oberlicht fiel. Er hatte sie vor einigen Jahren gekauft, als die Bloods das fünfhundertste Mitglied aufnahmen. Angeblich stammten sie aus der Zeit von König Hallan Helfen, der vor elftausend Jahren – vor Beginn der Kaiserzeit – die ursprüngliche Anlage von Villjamur vollendet hatte. Als erster Regent hatte er einen Vertrag mit den Kultisten geschlossen, um deren Kriege zu beenden. Bei der Herstellung seiner Vasen sollten sogar Relikte im Spiel gewesen sein.

Um ehrlich zu sein, war Malum das herzlich egal. Die Vasen passten einfach sehr gut in sein Haus. Und wer behauptete, Verbrechen würde sich nicht auszahlen? Er hatte auf ein paar Antiquitäten aus der vierzigtausend Jahre zurückliegenden Shalafar-Epoche gehofft. Einfach um sagen zu können, er besitze Kunstwerke aus jener Zeit, und dadurch zu vermitteln: Ich bin besser als du. An Gegenstände aus der Máthema-Zeit war noch schwerer zu gelangen, doch das hatte ihn nie abgehalten, danach zu suchen.

Er schenkte sich Schwarzherz-Rum ein und nutzte die Ruhepause, um über die nächsten Tage nachzudenken. Gerüchten zufolge hatte man den Straßenbanden angeboten, mit den Nachtgardisten zu beraten, wie sie angesichts des erwarteten Kriegs von Nutzen sein könnten. Auch war von ehrlichen Löhnen die Rede – nicht bloß von Bestechungsgeldern –, von Einkünften also, die dafür sorgen würden, dass die meisten seiner Jungs auf Jahre hin gut zu essen hätten. Nichts Geringeres als Jamúns sollten zur Auszahlung gelangen! Und vom Bürgermeister her war durchgesickert, Unternehmen hätten Interesse bekundet, Malums Sachkunde in Anspruch zu nehmen, um mit ihren vielen Arbeitnehmern klarzukommen. Das könnte aus dem Ruder laufen, überlegte er.

»Ich dachte doch, ich hätte dich heimkommen hören.«

In dicke Decken gewickelt, stand Beami auf der Schwelle ihres Schlafzimmers wie ein riesiges, wollenes Insekt. Das hätte nicht nötig sein sollen, und es ärgerte ihn, weil er den besten Handwerkern der Stadt viel Geld dafür bezahlt hatte, ins ganze Haus eine neue Feuerkornheizung einzubauen. Beamis glattes, verwegen ausgefranstes Haar schimmerte im schwachen Licht, das ihr Gesicht überdies wunderschön wirken ließ. Ihre Augen schienen das Dunkel anzuziehen, und am Schlüsselbein, unter der sanft gerundeten Nase und um die vollen Lippen sammelten sich Schatten. Er betete sie an.

Tue ich das wirklich?

Sie war sein einziger Grund, normal zu sein oder es wenigstens zu versuchen. Beami war klug, groß gewachsen und gut aussehend. Ich sollte also wohl etwas fühlen? Ja – und das will ich auch.

Beami seufzte. »Warum bist du so spät noch wach? Oder war heute Abend ein Kampf?«

»Ja«, log er. Dabei hatte der Kampf am Abend zuvor stattgefunden. Heute war er geschäftlich unterwegs gewesen.

»Du lädst mich gar nicht mehr dazu ein.«

»Du bittest mich ja auch nie darum.«

Unaufdringlich und mit großer Rücksichtnahme war es ihm gelungen, seine Geschäfte weitgehend für sich zu behalten. Sie wusste von den Kämpfen, die er aus sportlichen Gründen bestritt – es wäre unmöglich gewesen, ihr die Narben zu verbergen, die er gelegentlich davontrug. Doch es erschien ihm wichtig, diese Aspekte seines Lebens getrennt zu halten, um sein alltägliches Dasein möglichst normal erscheinen zu lassen. Er durfte nicht darauf hoffen, ihr seine Bedürfnisse erklären zu können.

»Immerhin habe ich gewonnen«, stellte er fest.

»Mein starker Held.« Beami gähnte. Einst hatte er ihren Sarkasmus bewundert, doch nun hasste er ihre wegwerfende Art ihm gegenüber. Seltsam, wie Kleinigkeiten, die einem anfangs gefallen, oft zu dem werden, was man letztlich verabscheut. »Kommst du ins Bett?«

Als wollte sie die folgende Stille unterstreichen, pfiff die Heizung wie ein Alter, der an Lungenentzündung stirbt. Offenbar staute sich das Feuerkorn in den Rohren. Handwerkerpfusch, dachte Malum. Plötzlich bebte das ganze Haus wie etwas Lebendiges.

»Ich entspann mich noch. Bin gleich bei dir.«

Beami zwang sich zu einem Lächeln, wandte den Blick ab und brauchte eine Weile, ehe sie fragte: »Willst du es heute Abend wieder versuchen?«

»Vielleicht.«

Sie verließ das Zimmer, und nur der Rum und seine kostbaren Besitztümer blieben ihm zum Trost. Als er es das letzte Mal probiert hatte … war es nicht gut ausgegangen. Ihre gemeinsamen Versuche gingen immer schief.

Und hinterher überkommt mich der Zorn, und ich gebe mir alle Mühe, mich nicht vor ihren Augen zu verwandeln …

Faulheit, Müdigkeit oder etwas anderes ließen ihn einige Zeit brauchen, sich aus dem Sessel zu erheben. Dann quälend langsame Schritte zum Schlafzimmer. Dort lag sie in dem riesigen Bett und wirkte inmitten der vielen Decken ganz klein; ihr Haar floss über die Kissen. Er zog erst die Stiefel, dann die Kleidung aus und schlüpfte neben sie; im Hintergrund waren gedämpft die Geräusche der Stadt zu hören.

Wärme und weiche Haut.

Er drückte sich an sie und fragte sich, ob sie noch wach war. Als Beami sich zu ihm umwandte, schlug ihn – wie stets – die Scheu. Küsse halfen da wenig, obwohl sie es damit versuchte, auf den Hals, am Kiefer entlang, und sie machte die Geräusche, von denen sie glaubte, er höre sie gern, leises Stöhnen, um ihm das Gefühl zu geben, er befriedige sie, und so sein Selbstvertrauen zu stärken. Ihre Hände strichen über seine nackte Haut.

Nichts, kein Gefühl.

Auch er bemühte sich; er lag nicht einfach da, sondern tastete nach der Hitze ihres Bauchs, erkundete zögernd ihre Feuchtigkeit. Als er mit dem Mund über ihren Nacken fuhr, widerstand er dem Drang, sie zu beißen, und konzentrierte sich auf Dinge, von denen er annahm, er sollte sie empfinden. Das ging eine Weile lang so und ließ ihm jede seiner Bewegungen gleichsam doppelt erscheinen; als sie schließlich sein Glied umfasste, hielt er vor Erwartung den Atem an …

Aber nichts. Keine Reaktion.

Die Zeit wurde konkreter und wichtiger, und dieser zusätzliche Handlungsdruck ließ seine Stimmung umschlagen. Zorn hatte unter der Oberfläche gelodert. Er hatte ihn nicht zeigen wollen, doch nun tat er es … »Lass mich einfach in Ruhe!«

Er schob sie weg und wandte sich ab; wenn er sie nicht sah, würde es auch nicht geschehen. Er kochte nun vor Wut und wollte auf alles losgehen … Doch irgendwie beherrschte er sich. Es war nicht leicht, doch er schaffte es, sich nicht vor ihren Augen zu verwandeln.

In tiefster Nacht lag er da, bekam keinen hoch und überlegte etwas, das er nicht auszusprechen wagte, auch ihr gegenüber nicht, und das er kein Mitglied seiner Bande fragen konnte, weil es mit Scham und Peinlichkeit befrachtet war.

Bin ich überhaupt noch ein Mann?

KAPITEL 4

Nachtgardist Lupus Bel erzählte Brynd, das heutige Villiren unterscheide sich vollkommen von der Stadt seiner Kindheit, und angesichts der Baukonjunktur konnte Brynd sich lebhaft vorstellen, wie anders die Erinnerungen des Soldaten sein mussten.

Unter den sich ewig hinstreckenden Flachdächern und in den so überfüllten wie trostlosen Straßen suchten Männer und Frauen der Wirklichkeit auf immer mannigfaltigere Weise zu entfliehen. So sei es früher nicht gewesen, versicherte ihm Lupus. Die Leute erfuhren ständig schlimme Geschichten von den Nachbarinseln, die im Weitererzählen ausgeschmückt wurden. Was sollten sie also sonst tun, als sich ins Vergessen zu trinken und zu feiern?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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