Die Legende des Phönix, Band 1: Dunkelaura - Greta Milán - E-Book

Die Legende des Phönix, Band 1: Dunkelaura E-Book

Greta Milán

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Beschreibung

In der Dunkelheit erwacht deine Phönixmagie. Einst opferte sich der letzte Phönix, um die Menschheit zu beschützen. Noch heute kämpfen auserwählte Menschen mit ihren Phönixkräften gegen dunkle Feinde. Als Eden eines Nachts in den Straßen San Franciscos von düsteren Gestalten angegriffen und von vier Fremden mit Waffen aus Licht gerettet wird, erfährt sie, dass sie selbst eine Phönixkriegerin ist. Doch wieso zeigt sich bei ihr keine Lichtgabe? Und was verbirgt der unnahbare Krieger Kane, dessen Blicke Eden unter die Haut gehen? Band 1 des Urban-Romantasy-Zweiteilers

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Seitenzahl: 529

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023 Ravensburger Verlag Copyright © 2023 by Greta Milán © 2023 Ravensburger Verlag GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de Covergestaltung: KattPhatt Verwendetes Bildmaterial von © ondrejprosicky/AdobeStock Illustrationen nach der Widmung (Karte) und im Kapitel 30: Greta Milán Verwendetes Bildmaterial von © nikiteev_konstantin, © YummyBuum, © Porcupen, © Oleksandra Klestova, © Kit8.net, © navegantez und © In Art, alle von Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473- 51182-2ravensburger.com

Für Sanni. Mit ihrem wunderschönen Licht. Mit ihrer kostbaren Seele.

Nur mit Licht in der Seele vermag es ein Mensch, wahrhaft gut zu sein.

Prolog

»Daddy, wann kommt Mommy wieder?«

Es war das erste Mal, dass Eden Bricks Hilflosigkeit in den Augen ihres Vaters sah, und obwohl sie erst fünf Jahre alt war, begriff sie, dass sich an diesem Tag etwas für immer geändert hatte.

»Weißt du, Spätzchen, Mommy hat sich entschieden, für eine Weile fortzugehen«, antwortete er, während er die Bettdecke um ihre schmale Hüfte feststopfte. Seine Mundwinkel zitterten, als er sie anlächelte.

Eden runzelte die Stirn. »Hat sie uns nicht mehr lieb?«

»Sie wird uns immer lieb haben«, antwortete er, während er seiner Tochter zärtlich eine braune Haarsträhne hinters Ohr strich. »Aber ich fürchte, meine Launen haben es ihr manchmal zu schwer gemacht.«

Seine Launen waren tatsächlich nicht immer leicht zu verstehen. Es gab Tage, an denen saß er ganz still und stierte eine leere Leinwand an. An anderen Tagen hatte er große Augen und zitterte wie Eden, wenn sie schlecht geträumt hatte. Und dann gab es diese Tage, an denen er wie ein lustiger Clown herumhüpfte und alles mit Farbe vollspritzte. Auch Eden. Damit brachte er sie immer zum Lachen. Aber ihre Mutter mochte die Sauerei nicht.

Edens Vater lehnte sich vor und drückte seine Stirn auf Edens schwarze Stoffkatze. Sie war an den Ohren ganz ausgefranzt, weil Eden immer daran zupfte, wenn sie nervös war. »Es ist meine Schuld, dass sie gegangen ist.«

Eden verstand nicht, warum er das dachte. Schließlich hatte er ihre Mutter gebeten zu bleiben. Er wusste es nicht, aber sie hatte gelauscht und genau gehört, wie er sie angefleht hatte zu bleiben.

Langsam streckte Eden die Hand aus und strich über seine zerzausten Haare. Bunte Farbspritzer hingen darin. »Das stimmt nicht, Daddy.«

Er machte ein Geräusch. Es klang wie Lachen und Weinen.

»Erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte?«, fragte sie, um ihn abzulenken. Sie mochte es nicht, wenn er traurig war.

Seufzend hob er den Kopf und rieb sich über die Augen. »Was für eine Geschichte möchtest du denn hören?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Irgendein Märchen.«

»Leider kenne ich nicht besonders viele Märchen«, erwiderte er verlegen. »Aber ich könnte dir etwas vorlesen.«

Entschieden schüttelte Eden den Kopf. Sie kannte alle Bücher in ihrem Zimmer. Ihre Mutter hatte sie ihr oft vorgelesen, und Eden wusste, dass sie sie noch schlimmer vermissen würde, wenn ihr Vater das jetzt auch tun würde. »Hat Granny dir nie Märchen erzählt, bevor sie zu Grandpa in den Himmel gegangen ist?«

»Hmm«, machte er und dachte kurz nach. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Doch, eins schon.«

»Und welches?«, fragte sie neugierig.

Er richtete sich wieder etwas auf und kräuselte die Stirn, als müsste er erst mal überlegen, wo die Geschichte begann. Dann sah er lächelnd auf seine kleine Tochter herab. »Einst wurde ein Phönix im Licht der Sonne geboren. Sein Gefieder war prächtig anzusehen. Es schimmerte in allen möglichen Rot- und Goldtönen, die du dir vorstellen kannst. Manchmal erstrahlte es auch in reinstem Weiß.«

»So funkelnd wie ein Diamant?«, fragte sie staunend.

Er nickte. »O ja. Genau so.«

Eden drückte die Stoffkatze enger an sich. »Und was ist dann mit dem Phönix passiert?«

»Der Phönix war so alt wie die Zeit und konnte ewig leben. Aber alle fünfhundert Jahre verbrannte er und wurde aus seiner Asche wiedergeboren.«

Diese Vorstellung erschreckte Eden. »Hat das nicht wehgetan?«

»Bestimmt nicht. Schließlich kehrte er jung und kräftig in die Welt zurück.« Er zwinkerte ihr zu. »Keine Rückenschmerzen mehr.«

Sie kicherte.

»Über Jahrtausende hinweg bereiste der Phönix die Welt«, fuhr ihr Vater fort. »Er beobachtete die Menschen und beschützte sie, wann immer ihnen ein Leid drohte.«

Eden runzelte erneut die Stirn. »Was für ein Leid?«

»Zum Beispiel schlimme Krankheiten. Er hatte nämlich Heilkräfte, weißt du?«

»Cool.« Eden zog das Wort in die Länge, um ihre Begeisterung auszudrücken.

»Na, jedenfalls führte der Phönix ein glückliches Leben. Er wachte über die Menschen und freute sich mit ihnen, wenn ihnen Gutes widerfuhr. Doch eines Tages erhob sich eine mächtige Armee böser Soldaten, angeführt von einem noch viel böseren Mann namens Elijah J. Wheeler.«

Eden prustete los. »Was ist das denn für ein komischer Name?«

Ihr Vater grinste. »Keine Ahnung. Deine Granny hat erzählt, dass er so hieß. Aber wir können uns auch einen anderen Namen ausdenken, wenn du willst.«

Nachdenklich schob Eden die Unterlippe vor. »Nein«, sagte sie schließlich, »ich will die Geschichte so hören, wie du sie kennst.«

»Okay, also dann.« Edens Vater räusperte sich, bevor er die Stimme senkte. »Also, dieser Mister Wheeler war so richtig gemein. Er mopste kleinen Mädchen nicht nur ihre Lieblingskaugummis, sondern war getrieben von Hass. Er hatte außerdem ganz besondere Kräfte, mit denen er immer mehr Soldaten auf seine Seite zog. Niemand konnte ihn aufhalten.«

Eden schnappte nach Luft. »Nicht mal der Phönix?«

Bedauernd schüttelte ihr Vater den Kopf. »Nicht mal der Phönix. Die fiesen Männer waren einfach zu zahlreich geworden. Die Menschen, die gegen sie kämpften, hatten keine Chance.«

»O nein!«, wimmerte Eden und rutschte ein Stück unter die Decke.

»Es sah wirklich nicht gut aus«, sagte ihr Vater traurig, tätschelte aber zugleich beruhigend ihren Bauch. »Doch da hatte der Phönix eine Idee: Er schenkte den tapfersten und ehrenhaftesten Kämpfern seine Federn, woraufhin sie ebenfalls besondere Kräfte erhielten. Sie nannten sich Phönixkrieger.«

»Und diese Phönixkrieger haben Mister Wheeler und seine Armee besiegt?«

Anthony nickte lächelnd. »Sie haben sie fertiggemacht.«

»Ein Glück«, erwiderte Eden erleichtert und stellte sich vor, wie der Phönix strahlte, während er in den Sonnenuntergang flatterte. »Und wo ist der Phönix jetzt?«

Edens Vater zögerte einen Moment. »Er ist verglüht.«

»Was?« Enttäuscht verzog Eden das Gesicht. »Aber du hast doch gesagt, er lebt ewig.«

»Weißt du, Spätzchen. Das ist eine komplizierte Sache mit der Liebe. Man muss Opfer bringen.« Zärtlich streichelte er seiner Tochter über das Haar. »Als der Phönix seine kostbaren Federn verschenkte, wusste er, dass er dadurch seine Unsterblichkeit verlieren würde. Er tat es trotzdem, um die Menschen zu retten, die er liebte.«

Darüber musste Eden erst mal nachdenken.

»Würdest du dein Leben für mich opfern?«, fragte sie schließlich leise und spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

Ihr Vater beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er ihr fest in die Augen sah. »Es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde, mein kleiner Paradiesvogel.«

1

EDEN

»Jo, Eden, sieh dir das an!«

Stirnrunzelnd ließ ich die Spiegelreflexkamera sinken und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an, das die winzige Rasenfläche des Koshland Parks im Herzen von Hayes Valley flutete. San Francisco hatte in diesem Stadtviertel nicht viele grüne Oasen zu bieten. Deshalb war es an diesem Nachmittag inmitten der Sommerferien ziemlich voll hier. Auf dem Spielplatz ein Stück weiter war jedes Klettergerüst mit Kleinkindern bedeckt, sodass der Eindruck entstand, die Teile selbst wären lebendig. Eltern besetzten die umliegenden Bänke, und ein paar Leute nutzten das schöne Wetter, um mit ihren Hunden spazieren zu gehen. Der Park war ein Stück Idylle inmitten des Großstadttrubels.

»Eden!«

Die Stimme wurde nun ungeduldiger, weshalb ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die fünf Jugendlichen richtete, die vor mir auf der Wiese herumlümmelten, während ich als ihre Aufsichtsperson im Schneidersitz auf einer Steinmauer saß und mit meiner Kamera experimentierte. »Was ist los, Javier?«

Javier war erst dreizehn, hatte aber die große Klappe eines Siebzehnjährigen. Wahrscheinlich wollte er damit seine geringe Körpergröße kompensieren, denn er hinkte den anderen beiden Jungs und deren Freundinnen um einen halben Kopf hinterher. Er rückte sein Basecap zurecht, warf einen Hacky Sack in die Höhe und fing ihn mit dem Schirm der Mütze auf. Dann grinste er stolz. »Krass, oder?«

»Total«, stimmte ich ihm schmunzelnd zu, während Camille die Augen verdrehte.

Eigentlich war sie mit Javiers Kumpel Ace zusammen. Allerdings bahnte sich da ein waschechtes Teenie-Drama an, denn ihr Blick zuckte trotz ihrer zur Schau getragenen Gleichgültigkeit immer wieder zu Javier. Sie mochte ihn, und zwar mehr als Ace gutheißen würde – wenn er es mal schaffte, die Nase von seinem Handy zu nehmen.

Britney, die mit ihren zwölf Jahren Javier in Sachen loses Mundwerk in nichts nachstand, ließ eine Kaugummiblase platzen. »Mir ist langweilig.«

»Geh shoppen«, brummte Himal. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen.

Britney warf ihm einen giftigen Blick zu, den er nicht mitbekam, da er die Augen geschlossen hatte. »Du weißt genau, dass ich mir keine neuen Klamotten leisten kann, Arschloch!«

»Keine Kraftausdrücke, Leute«, tadelte ich sie und fühlte mich plötzlich widerwärtig spießig für eine Achtzehnjährige.

Himal grinste. »Du kannst ja Eden anpumpen. Vielleicht kauft sie dir ein T-Shirt ohne Loch.« Blind streckte er die Hand nach Britney aus und zupfte am Saum ihres Shirts, das so stark zerschlissen war, dass sich der billige Stoff bereits auflöste.

Die Kleidung der anderen Kids sah nicht besser aus, und mir wurde schwer ums Herz. Ich hätte ihnen allen unglaublich gern neue Klamotten gekauft. Einen ganzen Schrank voll. Aber leider hatte ich weder die finanziellen Mittel noch die Erlaubnis dazu. Schließlich war ich als Trainee im Youth Center dazu verpflichtet, alle Kids gleich zu behandeln. Ich durfte niemanden bevorzugen, damit sich auch niemand vernachlässigt fühlte. Denn diese Ungerechtigkeit erlebten die meisten Kinder zu Hause schon oft genug.

»Ich brauche keine Almosen«, fauchte Britney und zog so fest an ihrem Zopfgummi, dass sie sich mit Sicherheit ein paar Haare ausriss.

»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei, hob meine Kamera und spähte durch die Linse.

Britneys Gesichtsausdruck war kämpferisch. Sie weigerte sich, ihr Schicksal hinzunehmen, was sie in meinen Augen nur noch stärker machte. Die Sonne schien auf sie herab, und ein heller Schein umgab ihren Kopf, sodass ihr dunkelblondes Haar engelsgleich erstrahlte.

Ich drückte den Auslöser, ließ die Kamera sinken und betrachtete die Aufnahme auf dem Display. Dann lächelte ich zufrieden. »Du bist auch so wunderschön, Brit.«

Obwohl ich dem Mädchen ansehen konnte, dass sie neugierig war, bewegte sie sich nicht vom Fleck. In ihren dunklen Augen schimmerte Schmerz, den ein Kind niemals ertragen sollte.

Das Leben hatte es nicht besonders gut mit diesen Kids gemeint. Die meisten wohnten südlich von Hayes Valley im Mission District, der größtenteils von Armut und Kriminalität geprägt war. Trotzdem kamen sie fast jeden Nachmittag nach der Schule zum Youth Center, ließen sich bei Hausaufgaben helfen und träumten davon, dieser Hölle eines Tages zu entfliehen. Leider schafften das die wenigsten.

Frust ballte sich in meinem Magen zusammen, doch ich schob ihn entschlossen beiseite und rutschte von der Mauer. Meine Füße kribbelten, als ich zu den Kids ging. Ich hockte mich neben Britney ins Gras und hielt ihr einladend die Kamera hin. Doch nicht sie, sondern Javier und Camille rutschten an mich heran und schauten auf das Display.

Javier stieß einen schrillen Pfiff aus. »Oh, là, là, Chica.«

»Wow, Britney!«, rief Camille aus, und diesmal war da keine Gleichgültigkeit in ihrer Stimme, sondern aufrichtige Bewunderung. »Das Foto ist der Hammer.«

Die Reaktion der beiden weckte nun doch auch Ace’ Neugier, und er schaffte es endlich, sich von seinem Handydisplay zu lösen.

Auch Himal setzte sich auf, um das Foto zu begutachten.

»Gar nicht mal so übel«, befand er, und Ace stimmte ihm zu.

Britney wurde rot. »Es ist doch nur ein blödes Foto.«

Falsch. Es war nicht nur ein Foto, sondern ein Zeugnis davon, welche innere Kraft in dem Mädchen ruhte, auch wenn ich den Lichteffekt der Sonne leider nicht eingefangen hatte.

»Ich könnte nie so ein tolles Foto machen«, sagte Camille und sah mich voller Bewunderung an. »Das hast du bestimmt von deinem Dad.«

»Was hat Edens Dad damit zu tun?«, fragte Javier irritiert.

Ace stöhnte genervt. »Er ist ein Künstler, du Idiot. Das hat Miss Rod uns doch erzählt. Von ihm ist dieses riesige Metallteil auf dem Octavia Boulevard.«

»Echt?« Javier sah mich mit großen Augen an. »Die ist von deinem Vater?«

Ich nickte und bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Es war nicht so, dass ich nicht stolz auf meinen Vater war, weil er vor fünfzehn Jahren ein Kunstwerk auf einer der höchstfrequentierten Straßen in Hayes Valley erschaffen hatte. Aber seither hatte sich vieles verändert. Der große Anthony Bricks war nur noch ein Schatten seiner selbst und lebte zurückgezogen in unserer Dachgeschosswohnung in der Oak Street. Er ging nur noch vor die Tür, um seine Bilder in die Galerie eines Freundes zu bringen, wenn das Geld knapp wurde, oder um im Asia Store an der Ecke diese Glasnudelsuppe zu kaufen, nach der er praktisch süchtig war.

»Voll krass«, sagte Himal und klang fast widerwillig beeindruckt. »Und was baut er jetzt gerade?«

Ich lächelte milde. »Gar nichts. Er malt hauptsächlich Bilder.«

Wirres Zeug in abstrakten Formen und ohne erkennbares Thema. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte Dad atemberaubende Porträts und Landschaften gemalt. Doch in letzter Zeit waren seine Bilder genauso chaotisch wie sein Verstand. Der Anblick machte mich traurig, weshalb ich sein Atelier inzwischen kaum noch betrat. Ich war überzeugt, dass Dad professionelle Hilfe brauchte. Doch der Psychiater, zu dem ich ihn vor einigen Monaten geschleift hatte, hatte meine Sorge nur belächelt und Dads Launen als künstlerisches Temperament abgetan. Ich wollte gern eine weitere Meinung einholen, aber dazu fehlte mir das nötige Geld.

»Yo, kannst du auch ein Foto von mir machen?«, fragte Javier und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Dann kann ich meine neue Nachbarin beeindrucken.«

Camille biss die Zähne zusammen.

Jepp, da bahnte sich definitiv ein Drama an.

»Na klar«, erwiderte ich trotzdem. Nicht, weil ich mich selbst für eine Künstlerin hielt. Ganz im Gegenteil. Ich konnte nicht mal einen geraden Strich malen, geschweige denn ein richtiges Bild mit Ölfarbe. Aber ich wollte, dass Javier sich selbst genauso sah, wie ich ihn sehen konnte. Denn trotz seines losen Mundwerks war er ein sensibler Junge. Er haderte ständig mit sich und fürchtete sich mehr als alles andere vor einer Zukunft ohne Perspektive, zumal seine Schulnoten aufgrund einer Leseschwäche nicht gerade die Besten waren.

»Hammer!« Javier sprang auf, nahm eine Pose ein, die nur ein Dreizehnjähriger cool finden konnte, und grinste auf mich herab.

Belustigt kam ich ebenfalls auf die Beine, da die Froschperspektive für Porträts nicht wirklich geeignet war. Ich hob die Kamera und nahm ihn ins Visier. Sonnenlicht fiel auf ihn herab, und wie bei Britney verlieh sie dem Jungen einen leichten Schimmer. Nur ganz dezent, kaum sichtbar. Aber dennoch hübsch.

Ich wollte gerade den Auslöser drücken, um Javiers freches Grinsen einzufangen, als ich eine Bewegung hinter ihm wahrnahm. Gut zwanzig Meter entfernt schlurfte ein Kerl den Kiesweg entlang. Er war vielleicht Mitte zwanzig, groß, hager. Er trug zerschlissene Jeans und trotz der sommerlichen Hitze einen dicken Hoodie. Etwas war seltsam an ihm. Allerdings konnte ich nicht auf Anhieb ausmachen, was das war. Erst als Javier einen Schritt nach links machte und ich erneut den diffusen Schimmer wahrnahm, der den Jungen umgab, fiel mir der Unterschied zu dem fremden Kerl auf. Denn obwohl dieser ebenfalls mitten in der Sonne ging, schien er jedes Licht zu absorbieren.

Eine Gänsehaut kroch meinen Nacken hinauf. Ich wünschte bei Gott, ich könnte behaupten, dass ich so etwas bisher noch nie gesehen hatte. Leider besagte ein Ordner namens Shadys auf meinem Laptop, dass das nicht stimmte.

Seit ich vor zwei Jahren mit dem Fotografieren angefangen hatte, waren mir insgesamt acht solcher Leute begegnet, die nicht nur ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend auslösten, sondern auch irgendwie düster wirkten. Es waren Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, die mal mehr mal weniger ausgemergelt aussahen und bei denen ich abgesehen von der Abwesenheit besagten Schimmers keinerlei Gemeinsamkeiten feststellen konnte. Allerdings musste ich zugeben, dass ich mich auch niemals mit einem von ihnen unterhalten hatte, denn davon riet mir bei Bauchgefühl entschieden ab. Also hatte ich zu gleichen Teilen verunsichert und fasziniert ein paar Bilder von ihnen geschossen und war anschließend in die entgegengesetzte Richtung abgehauen.

Auch jetzt rumorte ein ungutes Gefühl in meiner Brust, und am liebsten hätte mir ich die Kids geschnappt und wäre mit ihnen zurück zum Youth Center gesprintet. Aber das wäre eine völlig überzogene Reaktion gewesen, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Miss Rodriguez dazu sagen würde. Schließlich kannte sie die Gerüchte, die sich um meinen Vater rankten, und ich wollte sicher nicht, dass sie sein Verhalten für erblich hielt.

Also riss ich mich zusammen, machte lediglich ein paar Schnappschüsse von dem Typen und konzentrierte mich anschließend wieder auf Javier. Der nahm an, dass ich die ganze Zeit über ihn fotografiert hatte, und warf sich von einer seltsamen Pose in die nächste.

Die übrigen vier Kids lachten. Doch das störte ihn nicht. Stattdessen setzte er sogar noch eins drauf, indem er mit seinem Cappy einen auf Fred Astaire machte.

Im Augenwinkel sah ich, wie Shady Nummer 9 ein paar Meter von uns entfernt vorbeischlurfte. Mir blieb kurz das Herz stehen, als er seine Schritte verlangsamte und uns beobachtete. Aber zu meiner Erleichterung setzte er seinen Weg schließlich fort, als ihm keiner von uns Beachtung schenkte.

Ich atmete erleichtert aus und konzentrierte mich wieder auf die Kids. Nach einer Stunde hatte ich über zweihundert Bilder von ihnen gemacht. Morgen würde ich die schönsten ausdrucken und ihnen schenken, damit sie niemals vergaßen, wie wundervoll sie waren. Denn mehr konnte ich leider nicht für sie tun.

Als wir zurück ins Youth Center kamen, zerstreute sich unsere Gruppe, und ich machte mich auf den Weg zu Miss Rodriguez’ Büro. Es befand sich in der ersten Etage des dreistöckigen Gebäudes und war lediglich mit einem Schreibtisch samt Computer, zwei Stühlen sowie einem Aktenschrank ausgestattet. Trotzdem hatte sich Miss Rod einen gemütlichen Arbeitsplatz eingerichtet. Die Wände waren übersät mit Fotos und Bildern der Kinder, und unzählige Topfpflanzen standen auf dem Fensterbrett und dem Regal.

»Hey, Miss Rodriguez.« Ich nahm auf dem freien Besucherstuhl Platz und legte meine Umhängetasche auf meinen Schoß. »Wir sind zurück.«

Die Leiterin des Jugendzentrums war eine winzige Frau mit hispanischen Wurzeln. Ihre dunklen Locken waren von grauen Strähnen durchzogen, und um ihre braunen Augen hatten sich im Laufe der Jahre unzählige Lachfältchen gebildet. Sie war unglaublich empathisch. Meistens genügte ihr ein kurzer Blick, und sie konnte erahnen, in welcher Stimmung ihr Gegenüber war, was ich echt faszinierend fand. Diese Gabe hätte ich nämlich auch gern besessen.

»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sie sich.

»Es war alles super«, erzählte ich ihr und bemühte mich um einen besonders professionellen Tonfall, als ich von meinen Eindrücken mit den Kids berichtete.

»Sehr schön.« Die Jugendhausleiterin nickte zufrieden. Doch dann wurde ihre Miene bedauernd. »Ich habe heute übrigens mit meiner Bekannten am City College telefoniert.«

Ihr Tonfall verriet, dass das Gespräch nicht sonderlich gut gelaufen war, und am liebsten hätte ich sie gebeten, nicht weiterzureden. Aber da das sowieso nichts geändert hätte, schwieg ich.

»Sie hat deinen Antrag auf ein Stipendium nochmals überprüft. Leider kann sie dich trotz meiner Empfehlung nicht bei der Vergabe berücksichtigen. Es tut mir sehr leid, Eden.«

Verdammt! Dabei hatte ich so gehofft, dass mir Miss Rods Beziehungen vielleicht doch noch einen Weg ans College eröffnen könnten.

»In Ordnung«, krächzte ich, obwohl im Grunde rein gar nichts in Ordnung war.

Sie lächelte mitfühlend. »Ich weiß, dass das ein Rückschlag für dich ist. Aber bestimmt klappt es im nächsten Semester, und bis dahin kannst du hier so oft als Trainee aushelfen, wie du willst.«

Ich wusste das Angebot zu schätzen, ebenso wie das Vertrauen, das Miss Rodriguez in mich setzte. Mir war klar, dass sich nicht jede frischgebackene Highschool-Absolventin mit ihren Schützlingen in den angrenzenden Park entfernen durfte. Nur nützte mir all das rein ganz nichts, wenn ich meine Kompetenzen nicht erweitern konnte.

Sicher machte es mir Spaß, Zeit mit den Teenagern zu verbringen. Aber langfristig gesehen war mir das nicht genug. Ich wollte raus auf die Straße, die Kids aus den gefährlichen Ecken holen, sie psychologisch betreuen und ihnen eine Zukunft fernab der sozialen Brennpunkte aufzeigen. Allerdings brauchte ich dazu einen qualifizierten Abschluss in Sozialpädagogik, und genau diesen konnte ich mir ohne ein Stipendium nicht leisten. Ich konnte nur so weitermachen wie bisher und darauf hoffen, wenigstens ein bisschen was bei Javier und seinen Freunden zu bewirken.

»Danke.« Ich nickte tapfer, obwohl mir zum Heulen zumute war. »Für das Angebot und auch, dass Sie es versucht haben.«

Miss Rodriguez seufzte leise. »Ich wünschte, ich hätte mehr für dich erreicht.«

Ich auch.

2

EDEN

Irgendwie schaffte ich es, Miss Rodriguez’ Büro zu verlassen, ohne in Tränen auszubrechen. Ich winkte Javier und Ace, die sich im Erdgeschoss eine Schlacht am Tischkicker lieferten, noch mal zum Abschied zu, ehe ich das Youth Center verließ und mich auf den Heimweg machte.

Obwohl es mittlerweile fast sechs Uhr abends war, lag noch immer eine drückende Hitze auf der Stadt. Trotzdem waren die Cafés, an denen ich reichlich unmotiviert vorbeischlenderte, bis auf den letzten Platz besetzt. Ich wollte gerade die Straße überqueren, als jemand meinen Namen rief.

»Eden Bricks, meine Lieblingssamariterin. Bleib sofort stehen!«

Innerlich stöhnte ich auf. Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich diesen dämlichen Spitznamen mit meinem Highschool-Abschluss loswurde. Aber wie es schien, war er nicht so leicht abzuschütteln.

Ich drehte mich um und war nicht überrascht, als meine Freundin Harper begeistert auf mich zurannte. Sie trug ein hübsches Sommerkleid, und ihre roten Haare flatterten, weil sie so ein hohes Tempo draufhatte. Verschwitzt oder nicht, ich kam nicht um eine Umarmung herum.

»Wo hast du gesteckt, du Miststück?«, quietschte sie mir ins Ohr, und ich musste mir auf die Zunge beißen, um sie nicht ebenfalls an ihre Ausdrucksweise zu erinnern.

»Hab gearbeitet«, erwiderte ich ausweichend, als sie sich von mir löste und eingeschnappt das Gesicht verzog.

»Du hättest mich ruhig mal anrufen können. Unser Abschluss ist drei Wochen her.«

Ihr Vorwurf war nicht ganz unberechtigt. Immerhin hatten wir einen Großteil der letzten Jahre gemeinsam verbracht. Harper, Kim, Manju und ich waren nicht nur zusammen bei den Cheerleadern gewesen und hatten Partys gefeiert, sie hatten mir auch den Rücken gestärkt, wann immer ich in Schwierigkeiten geriet – was leider recht häufig der Fall gewesen war.

Ich war keine Draufgängerin. Ganz im Gegenteil. Aber ich hatte es oft nicht geschafft, einfach wegzuschauen, wenn andere schikaniert wurden. Meistens wäre meine Einmischung nicht ohne Folgen geblieben, hätte es Harper und die anderen nicht gegeben. Sie waren gute Freundinnen gewesen, weshalb sich nun doch mein schlechtes Gewissen regte, weil ich mich nach unserem Abschluss nicht mehr gemeldet hatte.

»Tut mir leid«, erwiderte ich zerknirscht.

Es war keine bewusste Entscheidung gewesen, mich von meinen Freundinnen zu distanzieren. Aber ich hatte Angst vor ihren mitleidigen Blicken, wenn sie erfuhren, dass mein Antrag auf ein Stipendium an der San Francisco State University abgelehnt worden war und ich mir ein Studium nicht leisten konnte. Bei unserem Abschluss waren sie einfach davon ausgegangen, dass es geklappt hatte, und ich hatte sie nicht korrigiert in der Hoffnung, dass es vielleicht doch noch irgendwo klappte. Aber auch keine andere Uni wollte mich finanziell unterstützen. Ich war ihnen offenbar nicht besonders genug.

Erneut brannten Tränen in meinen Augen. Doch Harper war zu glücklich über unsere zufällige Begegnung, um meinen Kummer zu bemerken.

Sie legte mir einen Arm um die Schulter. »Du kannst es wiedergutmachen, indem du dich zu uns setzt.«

Erst jetzt sah ich, dass Kim und Manju nur ein paar Meter entfernt im Außenbereich eines mexikanischen Restaurants saßen und uns freudig winkten.

Ich hatte keine Chance mehr, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, denn schon zog Harper mich mit sich. Kim und Manju begrüßten mich nicht minder überschwänglich mit Wangenküssen und Umarmungen, bevor sie mich mit Fragen bombardierten.

»Was hast du die ganze Zeit getrieben?«, fragte Manju, während sie an ihrem kurzen Pony herumzupfte. Das war eine Macke von ihr. Nervig, aber liebenswert. »Wir haben dich total vermisst.«

Kim, die gerade ein Glas Eistee in der Hand hielt, nickte. »Es ist bloß noch ein Monat, bis wir uns in sämtliche Richtungen zerstreuen, Eden. Da kannst du doch nicht einfach untertauchen.«

Bitterkeit ballte sich in meinem Magen zusammen. Natürlich freute ich mich für meine Freundinnen, die im Herbst an ein College in der Stadt ihrer Wahl zogen, aber ich beneidete sie eben auch um dieses Glück. Ich versuchte, mir einzureden, dass diese Gefühle einfach menschlich waren und mich ja schließlich niemand dazu zwang, hier bei meinem Vater zu bleiben. Es war allein meine Entscheidung gewesen, und ich bereute sie auch nicht. Aber – verdammt! – wenn ich mir wenigstens die Studiengebühren fürs City College hätte leisten können, wäre das alles für mich leichter zu ertragen gewesen. Niedergeschlagen senkte ich den Blick.

»Oh, Eden!« Betroffen legte Harper mir eine Hand auf den Arm. »Was ist los? Hast du dich mit Ian gestritten?«

Ian.

Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, während ich ein zittriges Lachen ausstieß. »Nein. Wir haben uns vor zwei Wochen getrennt.«

»Was?«, riefen die drei gleichzeitig aus.

Kim schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber ihr liebt euch doch!«

Da hatte sie nicht ganz unrecht. Genau deshalb wollte ich ihm auch nicht im Weg stehen.

Ian würde im September an die Cornell gehen und fast dreitausend Meilen weit wegziehen. Das war eine Riesensache, und ich war wahnsinnig stolz auf ihn, weil er es an ein Ivy-League-College geschafft hatte. Es wäre selbstsüchtig von mir gewesen, an einer Beziehung festzuhalten, die uns beide nur unglücklich machen würde. Also hatte ich ihm gesagt, dass es besser wäre, wenn wir uns trennten.

Anfangs hatte Ian sich dagegen gewehrt. Doch nach endlosen Gesprächen hatte er eingesehen, dass er mich nicht umstimmen würde und es wirklich die beste Lösung für uns beide war.

»Wir sind im Guten auseinandergegangen und bleiben auch Freunde«, sagte ich, und diesmal war mein Lächeln echt, als ich meine bestürzten Freundinnen der Reihe nach ansah. »Das klappt gut. Wir telefonieren alle paar Tage. Er tourt gerade mit seiner Familie durch den Yellowstone Park.«

Manju runzelte die Stirn. »Und das ist wirklich in Ordnung für dich?«

Rational betrachtet, absolut. Emotional gesehen würde es wohl noch eine Weile dauern, bis ich über meine Jugendliebe hinweg war. Meine Gefühle hatten sich schließlich nicht von jetzt auf gleich in Luft aufgelöst, nur weil ich unsere Beziehung beendet hatte.

Es gab Momente, da vermisste ich ihn und was wir hatten so sehr, dass mir das Atmen schwerfiel. Ian war immer mein Anker gewesen, der Junge, der mich mit seinem frechen Grinsen all meine Probleme vergessen ließ. Aber ich musste damit fertigwerden – und das würde ich auch. Die Arbeit im Youth Center lenkte mich schließlich genügend ab.

»Ich komme klar, ehrlich«, sagte ich, und obwohl mir das Gespräch mit Miss Rodriguez zweifellos einen Dämpfer verpasst hatte, war ich fest entschlossen, mich mit meinem neuen Leben zu arrangieren.

Ich würde mich um Dad kümmern und dafür sorgen, dass er wieder mehr aß, denn in den letzten Wochen war er immer dünner geworden. Außerdem würde ich mir noch einen weiteren Job suchen, um mehr Geld für eine Therapie anzusparen. Ich könnte abends in einem Restaurant aushelfen. Dann hätte ich tagsüber genug Zeit für das Youth Center, um noch mehr Erfahrungen zu sammeln. Wenn ich mich gut genug anstellte, erlaubte Miss Rod es vielleicht sogar, dass ich Jeff oder einen der anderen Streetworker auf ihren Touren begleitete.

In dem Moment kam die Kellnerin und brachte den Mädels drei reich befüllte Tacos. Der Duft ließ meinen Magen knurren. Trotzdem bestellte ich bloß eine Cola light, weil ich nur noch vier Dollar dabeihatte.

Danach wandten wir uns zum Glück anderen Themen zu, und die drei erzählten mir, was sich sonst in den letzten Wochen in unserem Freundeskreis zugetragen hatte und welche Pläne sie noch für den Sommer schmiedeten. Der Abend schritt schnell voran, und obwohl ich anfangs nicht wirklich Lust gehabt hatte, mich zu meinen Freundinnen zu gesellen, war ich letztlich doch froh, es getan zu haben. Immerhin hatten sie recht. Besonders viele Gelegenheiten für ein solches Treffen würde es in Zukunft nicht mehr geben, und auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, würde ich das hier vermissen.

Leider beendete Harper unser gemütliches Beisammensein, als sie kurz vor neun vorschlug, die neue Bar zu besuchen, die vor Kurzem ein Stück weiter eröffnet hatte. »Ich habe gehört, die Mojitos sollen der Wahnsinn sein, und die Besitzer nehmen es wohl nicht ganz so genau mit dem Alter. Außerdem spielt heute irgendeine angesagte Live-Band.«

Sofort schoss Kims Arm in die Höhe. »Die Rechnung, bitte!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die uns dort reinlassen«, wandte ich ein und sah kritisch an mir herab. Ich trug Jeansshorts, eine lockere Bluse, die mir über die Schultern fiel, und ein Paar flache Sandalen. Außerdem hatte ich mein braunes Haar schon am Nachmittag zu einem Knoten auf dem Hinterkopf zusammengebunden.

»Mit diesem Look ganz sicher nicht«, stimmte Manju mir zu und reichte mir ihre Handtasche über den Tisch. »Leg mal ein bisschen Make-up auf, Süße. Damit siehst du mindestens drei Jahre älter aus.«

Das wagte ich zu bezweifeln. Aber ich wollte keine Spielverderberin sein. Also folgte ich den Anweisungen meiner Freundinnen, während am Tisch diverse Schminkstifte hin- und hergereicht wurden. Hinterher sah ich tatsächlich älter aus, auch wenn mir mein Spiegelbild recht fremd vorkam.

»Eine Sache noch«, sagte Kim, sobald wir zu viert auf dem Gehweg standen. Sie trat hinter mich und zupfte vorsichtig an dem Haargummi, woraufhin sich mein dichtes kastanienbraunes Haar bis zu meinem Po ergoss. Anschließend zwinkerte sie mir verschwörerisch zu. »Wenn die Türsteher diese Pracht sehen, werden sie dich mit Freuden vorbeiwinken.«

»O Mann, was täte ich für solche Haare«, murmelte Manju und zupfte erneut die kurzen Strähnen auf ihrer Stirn zurecht.

Harper kicherte. »Was täten wir nicht dafür?«

»Ich hoffe nichts Illegales«, erwiderte ich trocken und unternahm einen letzten Versuch, meine Freundinnen von diesem Vorhaben abzubringen. »Wollen wir nicht doch lieber woanders hingehen?«

Entschieden schüttelte Kim den Kopf. »Definitiv nicht.«

»Jetzt sei nicht so eine Spaßbremse, meine kleine Samariterin«, rief Harper. »Du kannst dich morgen wieder an die Regeln halten. Heute wollen wir uns einfach nur ein bisschen amüsieren, ja?«

Ich für meinen Teil hatte mich überraschend gut in dem mexikanischen Restaurant amüsiert und wäre durchaus zufrieden gewesen, es dabei zu belassen. Allerdings hatten meine Freundinnen nun ein neues Ziel, und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ich sie davon nicht mehr abbringen würde.

Gut gelaunt hängte Harper sich bei mir ein, bevor wir gemeinsam in Richtung Norden spazierten. Wir liefen an einer Reihe viktorianischer Villen vorbei, für die San Francisco so berühmt war, bevor wir auf den belebten Octavia Boulevard abbogen.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Temperaturen waren endlich in einen annehmbaren Bereich gesunken. Straßenlaternen beleuchteten den Weg, und vereinzelt blinkten Reklametafeln. In der Ferne sahen wir bereits das Neonschild des Spexx und die Menschentraube, die sich vor der Bar versammelt hatte.

Kim stöhnte. »Anscheinend sind wir nicht die Einzigen, die auf die glorreiche Idee gekommen sind, die Bar heute auszuchecken.«

»Das muss an der Live-Band liegen«, meinte Harper stirnrunzelnd, zog mich aber entschlossen weiter. »Schauen wir mal, ob wir uns irgendwie durchmogeln können.«

Ich war vorher schon nicht sonderlich begeistert von dieser Idee gewesen. Aber jetzt sank meine Laune praktisch auf den Gefrierpunkt, als ich die vielen Leute sah. Die meisten waren etwa Anfang zwanzig, überwiegend Studentinnen und Studenten, die in Gruppen zusammenstanden, rauchten und lachten. Die Stimmung war ausgelassen. Dennoch kribbelte mein Nacken unangenehm, während ich den Blick über die Gesichter wandern ließ.

Und dann sah ich ihn.

Abrupt blieb ich stehen und fixierte Shady Nummer 9, der etwas abseits am Eingang zu einer Gasse herumlungerte. Er beobachtete die Leute aus dem Schatten heraus, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er nichts Gutes im Sinn hatte.

»Was ist los?«, fragte Harper irritiert und folgte meinem Blick. »Kennst du den Typen?«

Ich stieß ein schnaubendes Geräusch aus. »Ganz sicher nicht.«

»Warum bleibst du dann stehen?« Ungeduldig zog sie mich weiter. »Der tut uns schon nichts.«

Ich stemmte die Füße in den Boden, weil ich absolut nicht an ihm vorbeigehen wollte. »Ehrlich, Harper. Ich denke nicht, dass wir uns diesem Typen nähern sollten.«

Nachdenklich betrachteten meine Freundinnen den Kerl, der sich nun etwas tiefer in die Gasse hineindrückte.

Schließlich winkte Kim ab. »Das ist doch bloß ein Junkie, Eden.«

»Nein«, widersprach ich und schüttelte den Kopf. Wenn man in einer Metropole wie San Francisco aufwuchs, begegneten einem zwangsläufig irgendwann Drogenabhängige. Außerdem hatte ich im letzten Winter oft in der Suppenküche im Mission District ausgeholfen und war dort einigen sehr tragischen Gestalten begegnet. Meistens hatte mich der Anblick mitgenommen, aber so ein mieses Gefühl wie jetzt hatte ich bisher noch nie gehabt. »Irgendetwas ist komisch an dem Kerl.«

Manju kicherte. »O mein Gott, Eden. Jetzt sei nicht so paranoid. Du klingst ja schon wie dein Dad.«

Ich zuckte zusammen.

Harpers Augen schmal wurden. »Das war nicht nett, Manju.«

»Sorry«, murmelte sie und sah mich schuldbewusst an. »Ich meine es nicht böse. Aber du musst zugeben, dass deine Reaktion schon ziemlich übertrieben ist.«

Kim nickte zustimmend. »Dieser Kerl interessiert sich maximal für seinen nächsten Kick.«

Vielleicht führte er aber auch etwas ganz anderes im Schilde. Aber was sollte das sein? Hier waren viel zu viele Leute, um irgendein krummes Ding abzuziehen. Und es war ja auch nicht so, als hätte er mich persönlich ins Visier genommen. Dazu huschte sein Blick viel zu unfokussiert hin und her.

Hatten meine Freundinnen etwa recht und ich wurde meinem Vater immer ähnlicher?

Der Gedanke reichte aus, um mich zum Weitergehen zu bewegen. Dabei hatten meine Freundinnen nicht mal den Hauch einer Vorstellung, wie dramatisch sich der Zustand meines Vaters in den letzten Monaten verschlechtert hatte. Nicht mal Ian hatte ich davon erzählt.

Es war schon schlimm genug gewesen, was sie im letzten Frühling miterleben mussten. Sie hatten mich zu meinem Geburtstag überraschen wollen, doch Dad war vollkommen ausgerastet, als sie mit Kuchen und Geschenken in unsere Wohnung stürmten.

Nicht heute! Nicht heute! Nicht sie! Nicht sie!

Noch immer erinnerte ich mich mit Grauen an die verstörten Gesichter meiner Freundinnen und das Mitgefühl in Ians Blick, während Dad diese Worte wieder und wieder wie am Spieß brüllte. Es hatte ewig gedauert, bis er sich beruhigte. Danach waren meine Freundinnen und Ian nie wieder unangekündigt bei mir vorbeigekommen. Und ich hatte sie nicht eingeladen.

»Siehst du, alles ist gut«, murmelte Harper und tätschelte beruhigend meinen Arm. »Der Kerl ist weg.«

Ich blinzelte und suchte hektisch die Umgebung ab, wütend auf mich selbst, weil ich mich von meinen eigenen Gedanken hatte ablenken lassen. Shady Nummer 9 war tatsächlich nicht mehr zu sehen. Dennoch rumorte es in meinem Magen, und der Drang, von hier zu verschwinden, ebbte einfach nicht ab.

Beklommen rieb ich mir über die Stirn. »Wisst ihr was? Vielleicht ist es doch besser, wenn ihr allein weiterzieht. Ich hatte echt einen langen Tag.«

Harper schüttelte widerwillig den Kopf. »Jetzt komm schon, Eden. Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Bleib wenigstens auf einen Drink«, fügte Manju hinzu, die sichtlich mit ihrem schlechten Gewissen rang, weil sie so unsensibel gewesen war.

Ich zwang mich zu einem versöhnlichen Lächeln. »Beim nächsten Mal, ja? Ich will gerade einfach nur ins Bett.«

Die drei sahen ein, dass sie mich nicht mehr von meinem Entschluss abbringen konnten, ließen mich jedoch erst gehen, als ich ihnen geschworen hatte, mich bald wieder mit ihnen zu treffen.

Ganz ehrlich? Ich hätte ihnen sogar ein Pony versprochen, solange ich endlich von hier wegkam.

Nachdem wir uns mit herzlichen Umarmungen voneinander verabschiedet hatten, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging eiligen Schrittes nach Hause. Es waren bloß ein paar Querstraßen bis zur Lagune Street, wo Dad und ich im Dachgeschoss eines mehrstöckigen Apartmenthauses wohnten.

Trotz der angenehmen Kühle klebte mir schon nach wenigen Metern der Schweiß im Nacken. Dabei kannte ich die Gegend hier gut. Hübsche Reihenhäuser mit prächtig blühenden Vorgärten zogen sich an der Straße entlang. Allerdings trug es nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei, dass es immer stiller um mich herum wurde, je weiter ich mich vom Spexx entfernte. Die Straßenlaternen warfen kaum genug Licht auf den Gehweg, weshalb ich mein Tempo noch weiter beschleunigte.

Ich hatte gerade die zweite Querstraße passiert, als ich plötzlich dumpfe Schritte hinter mir vernahm. Adrenalin explodierte in meinem Körper. Hastig warf ich einen Blick über die Schulter, um mir selbst zu beweisen, dass ich tatsächlich bloß ein bisschen paranoid war und nicht von diesem gruseligen Kerl verfolgt wurde.

Leider irrte ich mich – und noch schlimmer war, dass er nicht mehr allein war. Neben ihm ging ein weiterer Mann, und obwohl ich es mir nicht erklären konnte, wusste ich ohne Zweifel, dass auch er von diesem Furcht einflößenden Nichts umgeben sein würde, sobald er in die Sonne trat.

Ein leises Wimmern entschlüpfte meiner Kehle, und ich rannte los, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her.

In der Schule hatte ich nie zu den besten Läuferinnen gehört, aber ich war auch nicht allzu schlecht gewesen. Deshalb schockierte es mich bis ins Mark, dass ich keine zehn Meter weit kam, bis jemand grob meinen Arm packte.

Ich schrie auf, holte aus und schlug mit geballter Faust zu. Schmerz durchzuckte mich, als ich den Kiefer von Shady Nummer 9 traf und meine Fingerknöchel aufplatzten.

Er knurrte, hielt mich aber weiter fest und zerrte mich wild entschlossen mit sich in eine schmale Gasse, die sich rechts neben uns auftat.

»Lass mich sofort los!«, brüllte ich, während ich am ganzen Leib vor Angst und Wut zitterte. Ich holte mit dem Fuß aus, um den Kerl vors Schienbein zu treten, doch diesmal wich er geschickt aus. Ohne auf meine Gegenwehr zu achten, riss er mich mit sich.

Gott, war der Kerl stark! Ich hatte keine Chance gegen ihn, und als mich von hinten jemand mit brutaler Härte schubste, wurde mir mit entsetzlicher Klarheit bewusst, dass etwas Grauenvolles passieren würde, wenn es den beiden gelang, mich ganz von der Straße zu ziehen. Das durfte ich auf keinen Fall zulassen.

Panisch schlug und trat ich um mich, verfehlte aber jedes Mal mein Ziel, weil die Mistkerle mir ständig auswichen. Auf einmal ließ Shady Nummer 9 mich los. Doch mir blieb keine Zeit, mich darüber zu freuen, denn gleich drauf griff Shady Nummer 10 in mein offenes Haar. Als er mich mit sich schleifte wie eine Stoffpuppe, konnte ich den verzweifelten Laut nicht länger zurückhalten, der schon in meiner Kehle feststeckte, seit der Kampf begonnen hatte.

Die Gasse lag in absoluter Finsternis und wirkte wie das Tor zur Hölle. Ich stolperte und fiel auf den Boden. Meine Kopfhaut schmerzte, weil Shady Nummer 10 noch immer an meinen Haaren zerrte, und auch meine Knie brannten wie Feuer, als der Kerl mich erbarmungslos weiterzog. Aber ich ignorierte die Schmerzen und tastete stattdessen panisch den Boden nach etwas ab, womit ich mich verteidigen könnte. Ich griff in mehrere matschige Pfützen, von denen ich lieber nicht wissen wollte, worum es sich genau handelte, bis ich plötzlich wie durch ein Wunder einen Backstein in den Händen hielt.

Mit letzter Kraft sprang ich auf die Beine und schlug mit einer Grausamkeit, die mich selbst erschreckte, dorthin, wo ich den Kopf von Shady Nummer 10 vermutete.

Ein Stich durchzuckte mein Handgelenk, als ich tatsächlich traf. Eine Sekunde später ließ der Kerl mich los und fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden.

Fauchend packte Shady Nummer 9 mich am Nacken und schleuderte mich gegen die Hauswand auf der rechten Seite.

Der Aufprall presste sämtliche Luft aus meiner Lunge. Doch ich hatte keine Gelegenheit, den Schmerz zu verarbeiten, weil mein Kopf im nächsten Moment zur Seite flog. Meine Wange ging in Flammen auf. Blut flutete meinen Mund, und ich blinzelte hektisch gegen die grellen Punkte an, die vor meinen Augen tanzten.

Eine kalte Hand legte sich um meine Kehle und drückte zu.

Ich schnappte nach Luft, aber ich bekam einfach keinen Sauerstoff mehr in meine Lunge. Mein Puls rauschte mir in den Ohren, und die Angst peitschte meine Sinne weiter an. Ich spürte die raue Wand, die mir die Haut am linken Schulterblatt aufriss, wo meine Bluse nach unten gerutscht war, vermisste das Gewicht meiner Handtasche, die ich bei meinem Sturz verloren haben musste, hörte meinen rasselnden Atem, nahm den beißenden Gestank von Urin und Müll wahr und schmeckte das metallische Aroma meines eigenen Blutes …

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Menschen angesichts der Unausweichlichkeit ihres Todes alles intensiver spürten. War das so? Starb ich jetzt?

Als hätte Shady Nummer 9 die Frage in meinem Kopf gehört, drückte er mir die Kehle noch fester zu.

Verdammte Scheiße! Ich wollte nicht in einer Gasse verrecken.

Meine Muskeln protestierten, als ich die Hände hob und meine Fingernägel wie von Sinnen in seine Unterarme trieb. Leider beeindruckte ihn das herzlich wenig. Auch meinen Tritten, die immer kraftloser wurden, wich er aus.

Die Punkte wurden heller, meine Wahrnehmung diffuser.

Da hörte ich wie durch Watte plötzlich jemanden rufen. »Hierher!«

Es war eine Frau, und sie suchte sicher nicht mich. Trotzdem mobilisierte ich meine letzten Kräfte, spukte das Blut in meinem Mund aus und stieß das absolut jämmerlichste Kreischen aus, das ich jemals gehört hatte. Ich konnte nur beten, dass mich die Frau nicht für eine sterbende Katze hielt.

Abermals flackerten Lichtblitze vor meinen Augen, als ich mit erbitterter Entschlossenheit darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Dann war der Druck auf meinem Hals plötzlich verschwunden. Überrumpelt und hustend kippte ich nach vorn und wäre sicher auf den Boden geknallt, hätte mich nicht jemand aufgefangen.

»Schon gut«, sagte die Frau, die auf einmal viel jünger klang.

Du liebe Zeit! Ich hatte doch nicht etwa ein unschuldiges Mädchen in diese Horrorgasse gelockt?

»Komm mit.« Ich spürte, wie sie sich meinen Arm über die Schultern legte und mich an der Hüfte stützte, bevor sie mich aus der Gasse dirigierte.

Ich taumelte mehr, als dass ich ging, und immer wieder knickten meine Knie ein. Nur dank ihrer Hilfe fiel ich nicht der Länge nach hin.

Als hinter mir Kampfgeräusche erklangen, drehte ich mühsam den Kopf und schaute über die Schulter. Mein Herz klopfte immer noch wild in meiner Brust, während ich gierig nach Atem rang. Mein Hals brannte wie Feuer. Doch ich achtete nicht darauf, denn plötzlich wurde ich von gleißendem Licht geblendet. Erst hielt ich es nur für weitere Blitze, die vor meinen Augen tanzten. Doch dann fiel mir auf, dass dieses Licht anders war. Es erinnerte mich an den Schimmer, den die Sonne manchmal um lachende Menschen zauberte. Javier hatte geschimmert.

Und Britney auch.

Aber jetzt war es Nacht.

»Wo kommt das Licht her?«, krächzte ich, während ich versuchte, trotz der Tränen, die mir in die Augen traten, etwas in dem Licht zu erkennen. Den Bewegungen nach zu urteilen, mussten noch mehr Leute gekommen sein.

Schwindel erfasste mich, und die ganze Straße schwankte. Die Gefahr war aus meiner Sicht längst nicht gebannt, doch als mich das Mädchen auf einer Bank absetzte, verließ auf einen Schlag sämtliche Energie meinen Körper, und ich kippte zur Seite wie ein gefällter Baum.

Das Letzte, was ich hörte, war die sanfte Stimme der Fremden. »Es ist okay. Ruh dich aus. Du bist jetzt in Sicherheit.«

3

EDEN

Ich war maximal fünf Sekunden weg, bevor mich mein Stolz und eine gehörige Portion Adrenalin zurück ins Bewusstsein katapultierten. Immerhin war ich gerade von zwei gruseligen Typen angegriffen worden, und wie es schien, war der Kampf mit meinen Rettern noch in vollem Gange. Immer wieder leuchtete dieses seltsame Licht in der Gasse auf, und ich hörte dumpfe Schläge und Ächzen. Da konnte ich nicht wie eine Jungfrau in Nöten auf der Bank herumliegen.

Ich sammelte meine Kräfte, ehe ich mich stöhnend aufrichtete. Mir dröhnte der Kopf. Es war schlimmer als nach der Nacht, in der Harper, Kim und ich heimlich die Wodka-Vorräte von Kims Eltern geplündert hatten, weil wir wissen wollten, was so toll daran war, betrunken zu sein. Wir waren damals vierzehn gewesen und hatten dieses Gefühl urkomisch gefunden – bis der Kater kam.

Sowie ich daran dachte, krampfte sich mein Magen vor Übelkeit zusammen. Ich war froh, dass ich zuvor auf einen Tacco verzichtet hatte, denn ich wollte mir nicht auch noch die Seele aus dem Leib kotzen. Mir ging es auch so schon dreckig genug. Meine Wange hämmerte, meine Unterlippe war aufgeplatzt, meine Fingerknöchel brannten, mein Rücken schmerzte und meine Haut war an zahlreichen Stellen aufgeschürft. Insgesamt gab ich mit Sicherheit ein erbärmliches Bild ab. Aber wenigstens war mir jemand zu Hilfe gekommen.

Kraftlos wischte ich mir über den blutverschmierten Mund und hob den Kopf, um mich nach meiner Retterin umzusehen. Sie stand ein paar Meter entfernt mit dem Rücken zu mir und hielt ihre Aufmerksamkeit auf die dunkle Gasse gerichtet. Ihr schulterlanges Haar war schwarz und ging an den Spitzen in ein sattes Blau über. Trotz der Hitze trug sie robuste Schuhe, eine lange schwarze Skinnyjeans und ein dunkles Tanktop. An ihrer linken Hüfte baumelte eine Gürteltasche, auf der ihre Hand ruhte.

Du meine Güte! Hatte sie da etwa eine Waffe drin? Das würde zumindest erklären, warum sie vollkommen entspannt wirkte.

Sie warf einen Blick über die Schulter, und als sie merkte, dass ich wach war, kam sie sofort auf mich zu. »Oh! Du bist ja doch nicht k. o. gegangen«, stellte sie überrascht fest, ging unmittelbar vor mir in die Knie und musterte mich mit aufrichtiger Sorge. Sie schien in meinem Alter zu sein, hatte ein fein geschnittenes Gesicht, freundliche braune Augen, eine niedliche Stupsnase und einen vollen Mund, mit dem sie mich zaghaft anlächelte. »Wie fühlst du dich? Du hast ganz schön was abgekriegt.«

»Ich … keine Ahnung.« Benommen schüttelte ich den Kopf. »Geht’s dir gut?«

Das Mädchen lachte auf. »Mit mir ist alles in Ordnung. Mein Name ist übrigens Victoria. Aber meine Freunde nennen mich Tori.«

»Ich bin Eden.«

»Eden«, wiederholte sie und grinste schief. Dabei gruben sich zwei unglaublich süße Grübchen in ihre Wange. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Andere Umstände wären mir lieber gewesen«, murmelte ich und spähte zur Gasse, in der es schon wieder aufblitzte. »Was ist das für ein seltsames Licht?«

Ihr Lächeln gefror. »Du kannst das Licht sehen?«

Ich nickte geistesabwesend. In der Gasse wurde es mucksmäuschenstill, was mich keineswegs beruhigte. Ich wollte aufstehen, zuckte jedoch zusammen, als ein scharfer Schmerz durch meinen Körper rauschte.

Behutsam drückte Tori mich zurück auf die Bank. »Bleib sitzen. Dir wird nichts passieren.«

Ich verzog das Gesicht. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil wir dafür sorgen«, erwiderte sie.

Als ich den Mund aufklappte, um sie zu fragen, wen genau sie mit wir meinte, durchschnitt plötzlich eine vertraute Melodie die nächtliche Stille. Jemand pfiff Scott McKenzies If you’re going to San Francisco, was sich angesichts der Situation absolut bizarr anfühlte. Kurz darauf trat ein junger Mann aus dem Schatten der Gasse und schlenderte lässig auf uns zu, während er sich die Hände an seiner Hose abklopfte. Er war groß, blond, gut aussehend und ebenfalls in robuste Kleidung gehüllt. Erst als er uns erreicht hatte, unterbrach er sein Ständchen.

»Irgendwie hatte ich die goldene Stadt für sauberer gehalten«, sagte er.

Ernsthaft? Das beschäftigte ihn in diesem Moment?

Ich konnte ihn nur entgeistert anstarren.

Tori verdrehte die Augen. »Du kannst dich ja bei der Stadtverwaltung beschweren.«

Er lachte leise, bevor er mir seine Aufmerksamkeit widmete. »Hi. Ich bin Aaron.«

In einer freundlich gemeinten Geste streckte er mir die Hand entgegen, doch ich war außerstande, sie zu schütteln, denn erstens tat mir jeder Knochen im Leib weh, und zweitens wusste ich beim besten Willen nicht, was ich von diesem seltsamen Paar halten sollte. Also nickte ich ihm nur knapp zu und stellte mich vor.

Im selben Moment kamen zwei weitere Männer aus der Gasse. Auch sie trugen Kleidung, die fast an eine Kampfmontur erinnerte. Der linke von ihnen hatte kurze Locs, die in alle Richtungen abstanden, und krasse blaue Augen, die einen Wahnsinnskontrast zu seiner dunkelbraunen Haut bildeten. Er war auch ein Stück größer und schmaler als sein Begleiter. Dieser hatte wildes braunes Haar, scharfe Gesichtszüge und braune Augen, die im Gegensatz zu Toris aber weit weniger herzlich wirkten. Sein einziger Pluspunkt, abgesehen von seiner nett anzusehenden Statur vielleicht: Er hatte meine Handtasche.

Nun schaffte ich es doch irgendwie, aufzustehen und die Hand nach ihm auszustrecken.

Er blieb abrupt stehen, betrachtete mich von oben bis unten und runzelte die Stirn. »Vielleicht solltest du besser sitzen bleiben.«

»Mir geht’s gut«, presste ich mit einiger Anstrengung hervor und versuchte, den Schmerz möglichst unauffällig wegzuatmen. »Könnte ich die bitte wiederhaben?«

Schweigend übergab er mir die Tasche, doch mein Arm fiel sofort kraftlos herab, weil die Kamera darin plötzlich eine Tonne zu wiegen schien. Bevor meine Finger auch noch aufgaben und die Tasche auf den Boden plumpste, stülpte ich mir schnell den Gurt über den Kopf. Der Stoff rieb unangenehm an meinem Hals, aber ich ignorierte das Brennen.

»Eden, das sind Lennox und mein Bruder Kane«, stellte Tori die beiden vor.

Da es offensichtlich war, wer von beiden mit ihr verwandt war, hakte ich nicht weiter nach, sondern überlegte, was diese illustre Truppe hier zu suchen hatte. Sie waren alle um die zwanzig, trugen dunkle Kleidung und waren vielleicht sogar bewaffnet. »Seid ihr von der Neighborhood Watch oder so was?«

Tori schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir sind nicht aus der Gegend. Am besten kommst du mit uns mit. Dann können wir dir alles in Ruhe erklären.«

Perplex starrte ich sie an. Sie konnte nicht ernsthaft denken, dass ich jetzt noch in der Stimmung für ein kleines Schwätzchen war.

»Was soll das, Tor?«, fragte Kane nicht minder irritiert. Offenbar hielt er ebenso wenig von ihrem Vorschlag wie ich. »Wir haben keine Zeit dafür.«

Tori nickte vielsagend in meine Richtung. »Sie hat gefragt, was das gerade für ein seltsames Licht war.«

»Wirklich?«, fragte Aaron überrascht, und auch Lennox horchte auf.

Kane hingegen musterte mich skeptisch. »Was für ein Licht hast du denn gesehen?«

Mein Nacken begann zu kribbeln. Ich hätte mir gern eingeredet, dass das sicher bloß eine superkrasse UV-Lampe gewesen war. Aber ich erinnerte mich deutlich daran, dass der Schein dieselbe Intensität gehabt hatte, wie der Schimmer, der manchmal die Menschen umgab. Da das aber völlig verrückt klang, blieb ich so vage wie möglich. »Es war sehr hell, strahlend weiß und schimmernd. Wie die Sonne auf frisch gefallenem Schnee. Irgendwie übernatürlich schön.«

Kanes Miene wechselte von Skepsis zu Unglauben, und sofort kam ich mir total blöd vor. Offenbar hatte mein Gehirn noch immer mit den Folgen des Sauerstoffmangels zu kämpfen. Ich wollte schon den Mund öffnen, um eine weniger verblendete Umschreibung zu versuchen, als Aaron verblüfft auflachte.

»Wie ist das möglich?«, fragte er Kane, der nun gar keine Regung mehr zeigte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Sein Blick wurde durchdringend. »Ist dir an diesen Typen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Ich schnaubte. »Du meinst, abgesehen davon, dass sie mich überwältigt und in eine finstere Gasse gezerrt haben?«

»Beantworte meine Frage«, erwiderte er angespannt.

»Bitte«, fügte Tori hinzu.

»Nein, mir ist nichts aufgefallen.« Mir entwich ein hysterisches Lachen. Offenbar hatte ich mein Limit erreicht. »Normalerweise schlurfen Shadys einfach an mir vorbei. Sie grüßen nicht mal.«

Tori stieß einen spitzen Schrei aus. Gleichzeitig lachte Lennox auf und stimmte den Refrain von Eminems TheReal Slim Shady an. Er fing sogar an, zu tanzen. Was war bloß los mit diesen Typen?

Während Lennox fröhlich rappte, zog Kane eine Braue hoch und musterte mich, als wäre ich nicht ganz dicht. »Shadys?«

Jetzt reichte es.

Jede Zelle in meinem Körper schmerzte, und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Da würde ich sicher nicht länger auf der Straße stehen und mich verspotten lassen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Tori dem Rapper einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, woraufhin er verstummte.

»Das ist nicht lustig«, fauchte sie ihn an, ehe sie sich wieder an mich wandte. »Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber das ist gerade ein ziemlicher Schock für uns.«

Ach, sie waren geschockt?

»Tut mir leid, dass ich euch den Abend ruiniert habe«, sagte ich und machte mir nicht die Mühe, meinen Sarkasmus zu verbergen. Mit zittrigen Fingern kramte ich mein Handy hervor. »Ich werde jetzt die Cops rufen. Ihr solltet lieber gehen. Nicht, dass ihr auch noch Ärger bekommt.«

Bevor ich reagieren konnte, nahm mir Kane das Handy weg. »Du wirst niemanden rufen.«

Mit einer Geste, über die ich vorher besser nachgedacht hätte, wies ich zur Gasse. Mein Rücken protestierte, doch ich ignorierte den Schmerz. »Aber diese Typen haben mich angegriffen.« Ich schaffte es nur mit Mühe, mich nicht völlig zum Affen zu machen, indem ich mit Kane um mein Handy rangelte. »Und wenn sie niemand daran hindert, werden sie sich sicher bald das nächste Opfer suchen.«

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Lennox gut gelaunt.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaubt ihr, nur weil ihr ihnen eine Abreibung verpasst habt, werden sie sich in Zukunft benehmen?«

Kane schob sich mein Handy in die hintere Tasche seiner schwarzen Jeans. »Genau genommen werden sie überhaupt nichts mehr tun.«

Ich war zu schockiert über seine Kompromisslosigkeit, um mich über mein verlorenes Handy zu ärgern. Mein Nacken kribbelte, während ich langsam vor den vier Fremden zurückwich. »O mein Gott! Habt ihr sie etwa umgebracht?«

»Also, äh, das ist etwas komplizierter«, sagte Tori und kam mit erhobenen Händen auf mich zu. »Du solltest wirklich mit uns kommen, Eden. Dann werden wir dir alles in Ruhe erklären.«

Ungläubig sah ich zwischen ihnen hin und her. »Ihr habt gerade praktisch zugegeben, dass ihr zwei Menschen auf dem Gewissen habt, und jetzt erwartet ihr allen Ernstes, dass ich einfach mit euch mitgehe?«

Tori schnitt eine Grimasse. »Ich weiß, das sieht übel aus. Aber hier ist nicht der richtige Ort, um in Ruhe zu reden. Deshalb bitte ich dich ja, uns zu begleiten.«

Ich unterdrückte ein Schnauben. »Und wohin?«

»Nach Little Meadows.«

»Little Meadows?« Ich hatte noch nie von diesem Ort gehört. »Wo soll das sein?«

»Etwa vierhundert Meilen südlich von hier, in der Nähe des Death Valleys.«

Mir entwich ein ersticktes Lachen. Das sollte wohl ein Witz sein.

Nicht einmal, wenn sie mir erklärt hätte, dass sie gleich um die Ecke ein Büro besaßen, hätte ich es ernsthaft in Erwägung gezogen, mit ihnen zu gehen. Obwohl ich zugeben musste, dass ich schon neugierig war, was sie über dieses geheimnisvolle Licht und die Shadys wussten. Allerdings hing ich an meinem Leben. »Danke für das Angebot. Aber ich werde jetzt lieber nach Hause gehen«, sagte ich so würdevoll wie möglich und setzte mich in Bewegung.

Sofort verstellte Kane mir den Weg. »Eigentlich war das keine höfliche Einladung.«

Empört funkelte ich ihn an. »Ich habe Nein gesagt.«

Er lehnte sich ein Stück vor, doch ich wich nicht zurück. Stattdessen starrte ich so entschlossen wie möglich in seine tiefbraunen Augen, die nun gefährlich glitzerten. »Du kannst nicht einfach Nein sagen.«

»Na, dann pass mal auf«, fauchte ich und holte Luft, um ihm ein weiteres fettes Nein ins Gesicht zu schleudern.

Doch Kane ließ mich gar nicht zu Wort kommen. »Fordere mich nicht heraus.«

»Sonst was?« Mir war durchaus klar, dass ich gerade ziemlich undankbar wirken musste. Das war sicher keine böse Absicht. Aber dieser Typ provozierte mich dermaßen, dass sogar mein Herz vor Wut raste.

»Kane!« Mit einem schnellen Schritt trat Tori zwischen uns und schob ihren Bruder ein Stück zurück, der sie tatsächlich gewähren ließ. »Ich denke nicht, dass das sonderlich hilfreich ist.«

Ich lachte. »Ist es definitiv nicht.«

Kane biss die Zähne zusammen, widersprach jedoch nicht.

Dafür mischte sich nun Aaron ein. »Wir wollen dir wirklich nichts tun. Wir haben dir geholfen, erinnerst du dich?« Sein Ton war so sanft, als würde er auf ein kleines Kind einreden, was ich ziemlich befremdlich fand.

Kane verdrehte die Augen. »Ich habe das Gefühl, wir drehen uns hier im Kreis. Können wir das vielleicht etwas beschleunigen?«

»Wie denn, Kumpel?«, murmelte Aaron. »Willst du sie einfach k. o. schlagen?«

Toris Bruder sah aus, als würde er diesen Vorschlag tatsächlich in Erwägung ziehen. Mein Mund klappte auf, doch bevor ich losschreien konnte, verpasste Tori ihm einen Tritt gegen das Bein.

»Das war bloß ein Witz, Eden.«

Irgendwie fiel es mir schwer, ihr zu glauben.

»Hör zu«, fuhr sie fort. »Mir ist klar, dass das alles schrecklich verwirrend für dich sein muss. Glaub mir, für uns gilt dasselbe. Wir haben noch nie jemanden zufällig getroffen, der so ist wie wir.«

Meine Kehle wurde trocken. »Was meinst du damit?«

Tori öffnete den Mund, antwortete mir aber nicht, sondern schaute zu ihrem Bruder, als würde sie stumm um seine Erlaubnis bitten.

Er musterte mich mit unergründlicher Miene. Dann reckte er stolz sein Kinn vor. »Wir sind Phönixkrieger.«

4

EDEN

Entgeistert starrte ich die vier Fremden an, die mir gegenüberstanden und jede meiner Reaktionen mit Argusaugen beobachteten.

Natürlich erinnerte ich mich an die Geschichten, die Dad mir erzählt hatte, als ich noch klein gewesen war. Manchmal hatten wir sogar Details ausgeschmückt oder uns überlegt, welche Superkräfte die legendären Phönixkrieger wohl haben könnten. Es war unser festes Abendritual gewesen, bis wir beide unseren Schmerz darüber verarbeitet hatten, dass meine Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.

»Du hast schon mal von den Phönixkriegern gehört«, riss Kane mich aus meiner Erinnerung. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Ich lachte irritiert. »Ja. In einem Kindermärchen.«

»Und was passiert darin?«, erkundigte Tori sich neugierig.

Da musste ich nicht lange überlegen. »Es geht um einen Phönix, der mithilfe seines Gefieders die Phönixkrieger erschuf, die daraufhin besondere Kräfte erhielten.«

Tori tauschte einen vielsagenden Blick mit ihrem Bruder, ehe sie voller Begeisterung nickte. »Das ist richtig. Genau so ist es gewesen.«

Fassungslos sah ich zwischen ihnen hin und her. »Das ist wirklich euer Ernst.«

Sie lachte. »Ja.«

Ich versuchte, cool zu bleiben, obwohl mein Puls schon wieder durch die Decke schoss. Dass ausgerechnet jetzt diese Leute auftauchten und behaupteten, ein Teil meines Lieblingsmärchens zu sein, konnte im Grunde nur eines von zwei ziemlich üblen Dingen bedeuten:

Erstens, ich war immer noch ohnmächtig, und meine Psyche bastelte sich gerade einen schrägen Traum zurecht, damit ich mich nicht mit dem Trauma des Überfalls auseinandersetzen musste. Damit käme ich klar. Das Problem war nur, dass sich mein Körper anfühlte, als hätte mich ein Bus überrollt. Ich war also definitiv wach.

Blieb nur noch zweitens – und diese Erklärung war sehr viel beängstigender: Ich träumte gar nicht, sondern halluzinierte auf offener Straße.

Kane schob Tori wieder beiseite und ging ein bisschen in die Knie, um meinen Blick einzufangen. »Du flippst doch jetzt nicht aus, oder?«

Wer? Ich? Keineswegs. Ich war ja nur kurz davor, meinen verdammten Verstand zu verlieren.

Obwohl, vielleicht drehte ja gar nicht ich durch. Vielleicht waren diese vier einfach nur ein paar Spinner, die nachts gern Helden spielten und zufällig in ihrer Kindheit das gleiche Märchen gemocht hatten.

Ja, diese Variante gefiel mir schon deutlich besser – sofern die vier wirklich keine Einbildung waren.

Ohne mir dessen bewusst zu sein, streckte ich die Hand aus und berührte Kanes Wange. Sie war warm und ein bisschen kratzig von den Bartstoppeln, die kaum sichtbar sein Kinn bedeckten.

Er riss die Augen auf, wich aber nicht zurück.

Meine Geste schien ihn zu überfordern. Unter anderen Umständen hätte ich diesen kleinen Sieg gefeiert. Aber so ließ ich einfach nur erleichtert, weil ich offenbar doch nicht halluzinierte, die Hand sinken. Grinsend deutete ich eine Verbeugung an. »Wohl an, ihr edlen Phönixkrieger. Habt dank für eure Dienste oder so. Und nun lebt wohl!«

Kane runzelte die Stirn, während ich mich an ihm vorbeischob, um endlich nach Hause zu gehen.

Hinter mir brach Tori in schallendes Gelächter aus, und auch die zwei Jungs glucksten amüsiert. Dann stand sie auch schon wieder vor mir und grinste von einem Ohr zum anderen. »Respekt! Das war das erste Mal, dass ich meinen Bruder innerhalb von zehn Sekunden zweimal sprachlos erlebt habe.«

Das überraschte mich nicht. Kane schien gern das letzte Wort zu haben.