Christmas at Tiffany's (Wunderschöne Weihnachtsromantik in New York) - Greta Milán - E-Book

Christmas at Tiffany's (Wunderschöne Weihnachtsromantik in New York) E-Book

Greta Milán

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Beschreibung

True love is like a diamond. Precious and unbreakable. Bis vor Kurzem war Ally Stammkundin bei Tiffany, dem edelsten Schmuckladen in New York. Nun steht sie im Weihnachtstrubel als Verkäuferin auf der anderen Seite der Ladentheke. Denn Ally hat sich geschworen, die verlogene Welt der Upper Class zu verlassen und Tristan aus ihrem Leben zu verbannen. Niemand will Ally je wieder so nahe an sich heranlassen – bis sie dem angehenden Parfümeur Lucien begegnet. Doch Tristan hat Allys Abfuhr nicht verkraftet und versucht, ihr das neue Glück zu nehmen. Weitere winterliche Romance für gemütliche Abende auf dem Sofa: "Make My Wish Come True" von Jana Schäfer "Snowflakes All Around Us" von Sarah Saxx

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Seitenzahl: 460

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HINWEIS

Dieses Buch enthält Themen, die potenziell belastend sein können.Hier befindet sich eine entsprechende Ausführung.

ACHTUNG: Diese enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

© 2023 Ravensburger Verlag GmbH

Text © 2023 Greta Milán

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Romy Pohl unter Verwendung von Fotos von Shutterstock (© boykung, Flaffy, Roma Likhvan)

Lektorat: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de)

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-473-51188-4

ravensburger.com

Für meine Familie

Prolog

»Hallo, Allison«, begrüßte mich die freundliche Kundenberaterin, kaum dass ich den Tiffany’s Store am Rockefeller Center betreten hatte.

Ich schluckte nervös. »Hallo, Chloe.«

Seit ich eine eigene Kreditkarte besaß, war ich hier Stammkundin, und dieser Laden zählte zu meinen absoluten Lieblingsgeschäften auf der 5th Avenue, denn im Gegensatz zum Flaggschiff des weltberühmten Juweliers an der Ecke der 57. Straße war dieser Concept Store klein und familiär. Außerdem gefiel mir das geschmackvolle Innendesign, das im Wesentlichen aus gläsernen Verkaufstischen, verschachtelten Holzregalen und einer Marmorwand bestand, die von dem Türkisblau des Labels durchzogen war. Im Gegensatz dazu strahlten die matten Seitenwände eine ungeheure Ruhe aus und setzten die Zitate berühmter Hollywood-Ikonen geschickt in Szene. Einfach alles war bis ins kleinste Detail aufeinander abgestimmt – von den eleganten vergoldeten Vitrinenrahmen über das illuminierte Unternehmenslogo bis hin zu den ebenso türkisblauen Schmuckschatullen in den Regalen.

Mein Magen krampfe sich voller Wehmut zusammen, während ich mich in dem Store umsah. Ich würde es vermissen, hier einzukaufen.

Chloe beugte sich ein Stück über den Verkaufstresen und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. Ihre blauen Augen musterten mich sorgenvoll. »Ist alles okay?«

Gar nichts war in Ordnung. Trotzdem zwang ich mich zu nicken. »Ja, danke.«

Ihre Miene zeigte deutlich, dass sie mir nicht glaubte. Das war etwas, das ich schon immer an ihr gemocht hatte. Sie war authentisch und aufrichtig, und im Gegensatz zu anderen Beraterinnen hielt sie sich mit ihrer ehrlichen Meinung nie zurück. Dazu liebte sie es viel zu sehr, das perfekte Accessoire für ihre Kundschaft zu finden. Wir hatten uns schon oft nett unterhalten, wenn ich hier gewesen war. Sie war bloß ein paar Jahre älter als ich und arbeitete nicht nur bei Tiffany’s, weil sie den Job mochte, sondern weil sie auch davon träumte, sich eines Tages als Schmuckdesignerin selbstständig zu machen.

Ihre Lippen hoben sich zu einem verschwörerischen Grinsen. »Ich habe etwas, das Sie aufmuntern wird. Es ist gerade erst reingekommen.«

Sie wollte sich abwenden, um besagte Aufmunterung zu holen, doch ich hielt sie auf. Im Store waren noch drei weitere Kunden, für deren Ohren das folgende Gespräch sicher nicht bestimmt war. Mein Herz begann zu rasen. »Chloe, könnten wir wohl allein miteinander sprechen, bitte?«

Überraschung huschte über ihr Gesicht, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. »Natürlich. Folgen Sie mir.«

Sie führte mich zwischen zwei Glastischen hindurch in ein Separee, das nur den exklusivsten Kunden vorbehalten war. Zwei hübsche Sofas im Louis-quatorze-Stil, die mit türkisblauem Samt bespannt waren, standen sich einander gegenüber, und die hintere Wand war zu einer voll beleuchteten Glasvitrine umgebaut worden, in der nur ganz erlesener Schmuck präsentiert wurde.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Chloe, während sie auf eines der Sofas deutete. Unter uns verzichteten wir schon seit Monaten auf die Etikette.

»Ein Wasser wäre toll«, krächzte ich, weil meine Kehle plötzlich staubtrocken war.

»Kommt sofort.« Sie huschte davon, während ich versuchte, meinen viel zu schnellen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich straffte die Schultern und atmete mehrfach tief durch, sorgsam darauf bedacht, meine mühsam errichtete Fassade aufrechtzuerhalten.

Als Chloe wenig später mit einer Flasche Voss und zwei Gläsern auf einem silbernen Tablett zurückkehrte, fühlte ich mich einigermaßen stabil und in der Lage, diese Sache hier durchzuziehen. Allerdings geriet mein Puls erneut ins Taumeln, als Chloe mir gegenüber Platz nahm und mich mit aufrichtiger Sorge betrachtete. Sie schien intuitiv zu spüren, dass sie heute keinen Umsatz mit mir machen würde.

»Also, was kann ich für dich tun«, fragte sie, als ich keinen Ton hervorbrachte.

Stocksteif saß ich da und starrte sie an. Ich konnte sehen, wie verwirrt sie gerade war, weil sie das Bild der sonst so selbstbewussten Upper-East-Side-Prinzessin nicht mit der Frau ihr gegenüber in Einklang bringen konnte. Ich trug zwar immer noch Designerklamotten – ein geblümtes Sommerkleid von Ralph Lauren und Gucci-Sandalen –, und mein Make-up war tadellos, aber etwas in mir war zerbrochen, und ich … ich konnte es nicht reparieren. Niemand konnte das.

Meine Sicht verschwamm, und ich biss mir heftig auf die Unterlippe, um mich durch den Schmerz von den Tränen abzulenken, die in mir aufstiegen.

Chloe schnappte leise nach Luft und wollte aufstehen, doch ich hielt sie zurück. Wenn sie jetzt zu mir rüberkam, um mich zu trösten, würde mir ihre Freundlichkeit den Rest geben. Wahrscheinlich würde ich nie wieder aufhören zu weinen.

Gott, ich war wirklich jämmerlich!

In dem Versuch, mich zusammenzureißen, zog ich wenig damenhaft die Nase hoch und öffnete meine Birkin Bag, die ich in den verkrampfen Händen hielt. Dann holte ich fünf Schachteln in dem für das Tiffany’s charakteristischen Türkisblau heraus und legte sie auf den Glastisch zwischen uns. »Ich möchte diese Sachen gern zurückgeben.«

Chloe runzelte die Stirn, ehe sie sich nach vorn beugte und einen Deckel nach dem anderen aufklappte. Mir blutete das Herz, als ich die Kostbarkeiten betrachtete. Es waren zwei Ketten, ein Armband und zwei Damenuhren in limitierter Auflage – und ich liebte jedes dieser Stücke heiß und innig.

Andächtig strich Chloe über einen in Platin eingefassten Diamantanhänger. »Du willst all diese Schmuckstücke zurückgeben?«

Ja, gut, von wollen konnte keine Rede sein. Aber mir blieb keine Wahl. Ich nickte knapp.

»Warum?«, fragte Chloe leise.

Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte ich ihr vermutlich gesagt, dass es sie nichts anging, warum ich welche Entscheidungen traf. Aber ihr Ton war so mitfühlend, dass vollkommen andere Worte aus mir herauspurzelten. »Ich bin pleite.«

Sie blinzelte, als hätte sie Mühe, die Bedeutung meiner Worte zu erfassen. Das konnte ich durchaus nachvollziehen. Schließlich war der Name Harford weit über Manhattans Grenzen hinaus bekannt. Er stand für Immobilien im Wert von mehreren Milliarden Dollar, und sie gehörten alle demselben Mann: Winston Harford, meinem Vater.

Schwer vorstellbar, dass dessen einzige Tochter, die einen entsprechenden Status in der High Society genoss, plötzlich keinen Cent mehr besaß. Aber tatsächlich hatte ich all meine Zelte innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden abgebrochen. Und ich meinte wirklich alle.

Unweigerlich tauchte vor meinem geistigen Auge das Bild der zerschnittenen Kreditkarten auf dem Esstisch auf, direkt daneben mein iPhone und die Schlüssel zu dem Penthouse, das in den letzten einundzwanzig Jahren mein Zuhause gewesen war. Abgesehen von ein paar Klamotten, Schuhen und meinen Collegelehrbüchern hatte ich nichts mitgenommen.

Nun befanden sich meine wenigen Habseligkeiten in zwei Koffern, die in einem winzigen Hotelzimmer auf meine Rückkehr warteten. Ich würde sie nicht auspacken, sondern mir gleich morgen eine neue Unterkunft suchen, denn auch das billigste Hotel kostete in Manhattan ein Vermögen, und auf Dauer konnte ich mir das unmöglich leisten. Vielleicht gab es noch freie Zimmer in den Verbindungshäusern oder etwas Annehmbares in den Studentenwohnheimen direkt auf dem Campus.

Irgendeinen Ort, wo ich neu anfangen konnte.

Vorausgesetzt, Chloe nahm den Schmuck zurück und zahlte mich bar aus.

Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, und ich musste mehrfach schlucken, ehe ich weitersprechen konnte. »Die Sache ist die …«, setzte ich an und nestelte nervös am Riemen meiner Tasche. »… ich will nicht länger von meinem Vater abhängig sein, sondern auf eigenen Beinen stehen, und dafür brauche ich ein finanzielles Polster. Ich wäre dir also wirklich sehr dankbar, wenn du einen Weg findest, diese Käufe zu stornieren.«

Chloe betrachtete mich schweigend. Dann stand sie doch auf, setzte sich zu mir und ergriff meine kalte Hand. »Was ist passiert, Ally?«

Ally.

So hatte mich noch nie jemand genannt. Es klang vertraut, freundschaftlich.

Erneut brannten Tränen in meinen Augen, und diesmal war ich nicht in der Lage, sie zurückzuhalten.

Vermutlich sollte es mich nicht überraschen, dass Chloe sich fragte, warum ich vor einem Leben im Luxus floh, während mein Vater vermutlich nur ein genervtes Augenrollen aufbringen würde, sobald er meine Sachen auf dem Esstisch fand. Ich musste zugeben, dieser Schritt war tatsächlich drastisch. Aber mein Entschluss stand fest. Ich konnte und wollte nicht zurück. Nicht nachdem …

Ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle.

Gott, das war ja so demütigend.

»Schon gut«, murmelte Chloe leise und strich mir behutsam über den Handrücken.

Ich schüttelte den Kopf. Gar nichts würde wieder gut werden. Mit tränenverschleiertem Blick musterte ich unsere Hände. Der Wunsch, mich Chloe anzuvertrauen, wurde geradezu übermächtig. Das überraschte mich ein wenig. Schließlich kannte ich sie kaum. Andererseits war sie die einzige Person in ganz New York, die stets nett zu mir gewesen war, ohne scheinheilig zu sein. War es so verkehrt, wenn ich nach all dem Drama eine Freundin in ihr suchte?

»Da ist dieser Kerl«, brachte ich schließlich krächzend hervor. Sein Name war Tristan Sterling, doch ich sprach ihn bewusst nicht aus. Immerhin zählte die Sterling Company zu den Top 10 der New Yorker Bauunternehmen, und Mrs Sterling war eine gern gesehene Stammkundin bei Tiffany’s. Die gute Frau war ziemlich empfindlich, wenn es um die Beschmutzung ihres feinen Rufes ging. Ich wollte Chloe nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Wir kennen uns schon seit Jahren«, fuhr ich fort, und ein bitteres Lachen brach aus mir hervor. »Ich dachte, wir wären Freunde. Aber wie sich herausgestellt hat, wollte er mir bloß an die Wäsche.«

Chloe sog scharf Luft ein. »Hat er etwa …?«

»Nein«, unterbrach ich sie sofort. »So weit ist es nicht gekommen. Ich habe ihn … gestoppt.«

»Gestoppt?«, hakte Chloe mit einem Hauch von Misstrauen nach – vermutlich, weil ich nicht unbedingt den kämpferischsten Eindruck auf sie machte. Ich war eins siebenundsechzig, und die wenigen Muskeln, die ich besaß, waren eher fein definiert. Offen gestanden wirkte ich vielmehr wie eine Ballerina, die schon der kleinste Windhauch umpusten konnte, was auch der Grund dafür war, dass ich seit fünf Jahren einen Selbstverteidigungskurs besuchte.

Diesmal war das Lächeln, das an meinen Mundwinkeln zupfte, aufrichtig. »Ein gezielter Schlag in den Solarplexus und ein Tritt zwischen die Beine haben ihn in seine Schranken verwiesen.«

Ich sah ihn immer noch vor mir, wie er sich auf dem Boden krümmte und die Hände, die mich eben noch gierig betatscht hatten, schützend vor seine kümmerlichen Eier hielt. Er hatte mit geröteten, schreckgeweiteten Augen zu mir aufgesehen. Sein Blick war unfokussiert gewesen, nicht nur aufgrund der Schmerzen, sondern auch wegen der zahlreichen Drinks, die er bei der Party konsumiert hatte. In seinem bleichen Gesicht hatte sich absolute Fassungslosigkeit abgezeichnet. Denn niemand ließ ihn abblitzen. Schließlich zählte er genau wie sein älterer Bruder Gideon zu den begehrtesten Junggesellen der Upper East Side.

Übelkeit ballte sich in meinem Magen zusammen, als ich an all die Frauen dachte, die die berüchtigten Sterling-Brüder in den letzten Jahren abgeschleppt hatten. Ihr Verhalten war dabei immer herablassend und absolut widerlich gewesen. Trotzdem hatten sie unzählige Herzen gebrochen. Und ich hatte tatenlos zugesehen.

Nun bekam ich die Quittung dafür.

»Hoffentlich hast du ordentlich zugetreten!«, stieß Chloe hervor. Sie drückte unbewusst meine Hand vor Zorn. »Du solltest dieses Schwein anzeigen. Niemand, absolut niemand, sollte mit so einer Aktion ungestraft davonkommen.«

Der Ansicht war ich auch. Denn obwohl es nicht zum Äußersten gekommen war, hatte ich mich wahnsinnig verletzlich gefühlt. Gleich am nächsten Morgen hatte ich mich an meinen Vater gewandt. Ich wollte einen Anwalt einschalten, zur Polizei gehen und diesem Scheißkerl eine Lektion erteilen. Aber Tristan war mir zuvorgekommen und hatte meinen Vater überzeugt, dass rechtliche Schritte absolut überflüssig waren. Schließlich wäre eine Allianz unserer Familien viel lukrativer für alle Beteiligten. Also hatte mein Vater mich verkauft.

Einfach so.

Als wäre ich nicht seine Tochter, sondern lediglich ein Objekt, das zu seinem Vorteil herumgereicht wurde. Die beiden hatten dagestanden und mir aufgezählt, welche Vorteile eine offizielle Beziehung mit sich bringen würde, während ich ihnen am liebsten vor die Füße gekotzt hätte.

Weitere Tränen benetzten meine Wangen. Ich kam mir so unendlich dumm vor. Mein ganzes Gesicht brannte vor Scham, während ich abermals den Kopf schüttelte.

»Keine Anzeige«, flüsterte ich. »Ich will das alles einfach nur hinter mir lassen.«

Chloe schwieg lange. Sicher war ihr klar, dass ich ihr längst nicht alles erzählt hatte. Aber diesmal hakte sie nicht weiter nach, sondern drückte ein weiteres Mal meine Hand. »Ich würde dir wirklich gern helfen, aber die offizielle Rückgabefrist ist leider abgelaufen. Ich muss das mit meiner neuen Chefin sprechen. Sie hat die Filiale erst vor ein paar Wochen übernommen. Vielleicht kann sie ein Auge zudrücken.«

Ich nickte dankbar. »Okay.«

Sie ließ mich allein und gab mir damit die Gelegenheit, mich ein wenig zu sammeln. Hastig wischte ich mir über das Gesicht und atmete mehrfach tief durch, um meine verstopfte Nase freizukriegen. Als ich gerade in meiner Handtasche nach einem Feuchttuch suchte – etwas, das man in einer Stadt wie New York grundsätzlich immer gebrauchen konnte, auch wenn man keine Kinder hatte –, kehrte Chloe mit einer älteren Frau im Schlepptau zurück.

Obwohl ihre Haut glatt war, war sie sicher über fünfzig Jahre alt. Sie trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug, der mit einer Perlenkette und passenden Ohrringen des Hauses aufgewertet wurde. Eine dicke Strähne ihrer aschblonden Kurzhaarfrisur fiel ihr in die Stirn und lenkte meinen Blick auf ihre stark geschminkten Augen. Sie waren von einem kühlen Blauton, musterten mich jedoch überraschend sanft.

»Miss Harford«, begrüßte sie mich und streckte mir die Hand entgegen. »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen.«

Das würde sie in fünf Minuten sicher nicht mehr sagen, wenn ich sie bat, mir einen fünfstelligen Umsatz zurückzuzahlen.

Ich rang mich zu einem Lächeln durch, das sich reichlich verkrampft anfühlte. »Gleichfalls, Miss …?«

Sie lachte leise. »Ich bin Maurine.«

Natürlich. Alle Kundenberaterinnen bei Tiffany’s stellten sich ausschließlich mit ihrem Vornamen vor.

Es war mir unangenehm, meinen Wunsch auch vor Maurine vorzutragen. Aber diesmal schaffte ich es mit ein bisschen mehr Würde und ohne Nervenzusammenbruch.

Die Filialleiterin begutachtete den Schmuck sorgfältig, dann nickte sie zu meiner Erleichterung. »Die Stücke sind alle in tadellosem Zustand, und von Chloe weiß ich, dass Sie schon seit vielen Jahren Stammkundin sind. Insofern können wir eine Ausnahme machen, denke ich.«

Vor Erleichterung hätte ich beinahe laut aufgeschluchzt. »Ich danke Ihnen.«

Maurine nickte. »Wenn Sie mir Ihre Kreditkarte aushändigen, werde ich alles Notwendige veranlassen.«

Meine Freude verpuffte. »Oh! Ich hatte gehofft, Sie könnten mir den Betrag in bar zurückzahlen.«

Zum ersten Mal zeigten sich Fältchen auf Maurines glatter Stirn, als sie die fein gezupften Brauen zusammenzog. »Ich fürchte, das wird leider nicht möglich sein.«

»Wieso denn nicht?«, fragte ich entgeistert.

»Weil es klare Vorgaben hinsichtlich des Rückerstattungsprozederes gibt«, erklärte Maurine. »Die Beträge werden ausschließlich auf das Konto des Käufers zurückgebucht.«

Aber all meine Konten liefen auf meinen Vater, verdammt!

Die Filialleiterin warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Damit sollen Betrugsfälle oder unerfreuliche Konfliktsituationen vermieden werden.«

Ich ließ den Kopf hängen. »Ich verstehe.«

»Es steht Ihnen natürlich frei, den Schmuck anderweitig zu verkaufen«, sagte Maurine und schaffte es, ihre Stimme absolut wertungsfrei zu halten. »Allerdings müssten Sie immense Verluste hinnehmen.«

»Nein!« Chloe schaute so bestürzt drein, als würde ich ihr das Herz brechen, wenn ich diesen Vorschlag auch nur in Erwägung zog. »Wer weiß, wo diese Kostbarkeiten dann landen?«

Frustriert biss ich mir auf die Unterlippe. Sie hatte ja recht. Mir gefiel es auch nicht, meine Schätze einem Pfandleiher zu überlassen oder sie bei eBay zu verhökern, zumal ich sicher nur einen Bruchteil dessen erhalten würde, was der Schmuck eigentlich wert war. Aber mir blieb gar nichts anderes übrig, wenn ich nicht in einer Woche auf der Straße sitzen wollte.

»Ich muss das tun.« Mit zittrigen Händen verstaute ich die Schmuckschatullen wieder in meiner Handtasche, ehe ich mich erhob und den beiden höflich zunickte. »Vielen Dank für Ihre Zeit. Ich werde dieses Geschäft sehr vermissen.«

Maurine legte den Kopf schief. »Tatsächlich?«

»Natürlich.« Ich lachte wehmütig. »Es hat mich immer sehr glücklich gemacht, hier zu sein. Die Blue-Book-Kollektion ist der Wahnsinn.«

»Was gefällt Ihnen denn so daran?«, erkundigte Maurine sich interessiert.

Machte sie Witze? Ich wusste nicht mal, wo ich anfangen sollte. Mein Magen kribbelte. Schon sah ich die auserlesenen Schmuckstücke in all ihrer Pracht vor mir.

»Offen gestanden haben es mir die Edelsteine ziemlich angetan. Ich liebe diese intensiven Farben. Jean Schlumberger hat ein außergewöhnliches Talent, unkonventionelle Designs zu kreieren und dabei die Eleganz von Tiffany’s in jedes einzelne Schmuckstück einzuarbeiten. Wobei ich auch die Looks von Paloma Picasso sehr mag, weil sie dezenter sind. Im Alltag sind sie ein bisschen praktischer als die aufwendigen Colliers und deshalb …«

Ich stutzte, als sich Maurines Lippen zu einem Lächeln verzogen. Dann kroch mir Hitze in die Wangen. »Entschuldigung. Jetzt habe ich mich hinreißen lassen.«

Chloe kicherte. »Das war echt beeindruckend, Ally.«

Ally. Schon wieder dieser Spitzname. Ich stellte fest, dass ich ihn mochte.

»Ich meine, ich wusste ja, dass du auf Schmuck stehst«, fuhr Chloe aufgeregt fort. »Allerdings war mir nicht klar, dass du genauso besessen bist wie ich.«

»Schon ein bisschen«, räumte ich verlegen ein.

»Wenn das so ist«, sagte Maurine langsam, »gibt es vielleicht doch etwas, das ich für Sie tun kann.«

Kapitel 1

Gedankenversunken starrte ich auf die schwarzen Buchstaben, die sich scharf von der türkisblauen Wand abhoben.

New York is always hopeful.

Dorothy Parker mochte recht haben. Trotzdem fühlte ich mich nicht besonders hoffnungsvoll, auch wenn meine Situation nicht mehr ganz so ausweglos war wie vor einem halben Jahr. Nachdenklich strich ich über das kühle Glas unter meiner Handfläche. Direkt darunter befanden sich hübsch arrangiert diamantbesetzte Colliers, Edelstahluhren mit feinstem Leder, Ringe in verschiedenen Goldnuancen, Armbänder, Ketten und Charms. Nur wenige Zentimeter entfernt und doch unerreichbar. Weil ich jetzt hinter dem Verkaufstresen im Tiffany’s stand und nicht mehr davor.

Zugegeben, es gab nun wirklich miesere Arbeitsplätze. Aber ich konnte nicht leugnen, dass es immer auch ein bisschen wehtat, wenn ich ein kleines Tütchen seinem neuen Besitzer überreichte und zusah, wie ein weiterer Schatz den Laden verließ. Außerdem glichen meine Schichten tagtäglich einem Spießrutenlauf, weil meine Kollegen nicht vergessen hatten, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit einfach über sie hinweggesehen hatte, als würden sie nicht existieren.

Bethany und Vanita waren am schlimmsten. Sie hatten sich von Anfang an keine besondere Mühe gegeben, ihr Getuschel zu verbergen. Und auch die meisten Jungs vom Security-Team musterten mich mit unverhohlener Skepsis. Als würde ich mir bei der ersten Gelegenheit ein Schmuckstück unter den Nagel reißen und aus dem Laden flüchten.

Alles in allem nicht gerade schmeichelhaft. Andererseits hatte ich es wohl auch nicht besser verdient. Hinzu kam, dass es mir schwerfiel, mich anderen zu öffnen. Natürlich war ich freundlich und hilfsbereit. Aber ich wollte nie wieder den Fehler begehen, einem anderen Menschen zu vertrauen. Ich hatte meine Lektion endgültig gelernt.

»Hey.« Chloe legte mir den Arm auf die Schulter und beugte sich zu mir, bevor sie mit gesenkter Stimme sagte: »Du starrst schon wieder Löcher in die Luft.«

Verdammt, sie hatte recht.

Ich verzog das Gesicht, ehe ich ihr ein gequältes Lächeln schenkte. »Das war ein langer Tag.«

Chloe war die einzige Person, die sich von meiner Zurückhaltung nicht beirren ließ. Stattdessen schien sie die unheimliche Gabe zu besitzen, direkt in mein Inneres zu blicken.

Manchmal machte mir das Angst. Doch dann beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass Chloe von Natur aus aufmerksam und selbstlos war. Immerhin hatte sie mir nach Maurines spontanem Jobangebot vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen, und mir ein Zimmer in ihrem Apartment in West Harlem untervermietet. Es war kleiner als mein ehemaliger Kleiderschrank, aber es reichte für ein Bett, eine Kommode und ein schmales Bücherregal.

Ja, mein Reich war auf eine Sardinenbüchse geschrumpft. Aber es gehörte ganz allein mir, und ich konnte es kaum erwarten, mich dort zu verkriechen. Der Gedanke an mein kuschliges Bett ließ mich müde blinzeln.

Chloe warf mir einen vorsichtigen Blick zu. »Vielleicht solltest du doch ein paar Kurse auf die nächsten Semester verschieben.«

Sofort schüttelte ich den Kopf. Ich konnte es mir nicht leisten, noch ein Semester dranzuhängen. Früher hatte ich mich kein bisschen darum geschert. Ich war eine verwöhnte Traumtänzerin gewesen, die zwischen Shoppingtouren, Partys und dem Campus hin und her geschwebt war, ohne weiter als bis zum nächsten Wochenende zu denken. Doch das war inzwischen vorbei. Meine Studiengebühren waren noch für ein Jahr bezahlt. Danach hatte ich entweder meinen Abschluss in der Tasche oder ich stand mit leeren Händen da, wenn ich keinen exorbitanten Kredit aufnehmen wollte.

»Du siehst fix und fertig aus«, stellte Chloe nun besorgt fest. »Du kippst noch um, wenn du so weitermachst.«

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, widersprach ich matt und massierte meinen Nacken, um wieder etwas wacher zu werden.

Meine Mitbewohnerin schnaubte. »Fassen mir mal kurz zusammen: Du stehst um sechs Uhr morgens auf, um zu büffeln, rackerst dich anschließend sieben Stunden am College ab, arbeitest danach hier bis zum Abend …«

»Jeden zweiten Sonntag und montags nicht«, warf ich ein.

Chloe verdrehte lediglich die Augen. »… und lernst hinterher noch bis in die Nacht hinein.«

Ich zuckte betont gleichmütig mit den Schultern. »Die meisten Studenten haben Nebenjobs.«

»Aber die versuchen nicht, ihre Regelstudienzeit um ein ganzes Jahr zu verkürzen. Das ist absoluter Wahnsinn, Ally.«

Ich knipste mein strahlendstes Verkäuferinnenlächeln an. »Ich nenne es ambitioniert.«

Seufzend schüttelte Chloe den Kopf. »Ich hoffe wirklich, du weißt, was du tust.«

Das wusste ich leider keineswegs – was vor allem daran lag, dass ich Betriebswirtschaft stinklangweilig fand. Der Studiengang war nicht meine eigene Wahl gewesen. Mein Vater hatte darauf bestanden, um mich optimal auf meinen Platz im Familienunternehmen vorzubereiten, und ich hatte mich nicht gewehrt, weil es mir schlichtweg egal gewesen war.

Inzwischen sah die Sache ein bisschen anders aus. Ich hatte nicht vor, je einen Fuß in das Unternehmen meines Vaters zu setzen, aber wenn ich mein Studium jetzt abbrach, hatte ich dreieinhalb Jahre vergeudet und keinerlei berufliche Perspektive. Mit dem Abschluss konnte ich vielleicht in einem anderen Unternehmen Fuß fassen. Ich musste das also jetzt durchziehen, auch wenn ich tatsächlich am Ende meiner Kräfte war.

»Es sind doch bald Weihnachtsferien«, sagte ich in dem Versuch, Chloe abzulenken und mich selbst aufzumuntern. »Da kann ich einen Gang zurückschalten.«

Vielsagend schaute meine Freundin auf den stylischen Kalender, der das Holzregal neben uns schmückte. Ein filigraner Silberring kreiste den 17. November ein. »Das ist noch eine halbe Ewigkeit bis dahin.«

Das lag wohl im Auge des Betrachters. Für mich waren sieben Wochen nicht ansatzweise genug, um all die Aufgaben zu erledigen, die mein Lehrplan vorsah. Trotzdem musste ich das irgendwie hinkriegen. »Ich schaffe das.«

Keine Ahnung, wen ich damit mehr überzeugen wollte. Aber zumindest bei Chloe schien es zu wirken. Sie lächelte sanft. »Natürlich tust du das. Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass du dir hin und wieder eine kleine Auszeit gönnst.«

Sofort wurde ich misstrauisch. »Ach ja?«

Sie nickte eifrig. »Ich will gleich mit ein paar Leuten ins Valerie’s. Komm doch mit. Es wird bestimmt lustig.«

Unbehaglich verlagerte ich das Gewicht. Die Bar zählte zu den liebsten Anlaufstellen meiner ehemaligen Clique. Irgendwer lungerte mit Sicherheit auch heute Abend dort rum und gönnte sich einen Cocktail zur Afterhour, und ich hatte keine Lust, einem von ihnen über den Weg zu laufen. Aber ich wollte Chloe auch nicht die Vorfreude versauen, indem ich sie auf die Snobs aufmerksam machte, die sich dort unter die Gäste mischten.

»Tut mir leid«, sagte ich daher. »Heute ist schon Mittwoch, und ich muss noch bis Samstagmorgen diese Hausarbeit fertig schreiben, deshalb …« Ich ließ den Satz verklingen, weil ich Chloe ansehen konnte, dass sie mir diese lahme Ausrede sowieso nicht abkaufte.

Ein resignierter Ausdruck trat auf ihre feinen Züge. »Okay.«

Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Ein anderes Mal, in Ordnung?«

In einer anderen Bar, in einem anderen Leben.

Chloe nickte, aber so ganz gelang es ihr nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Klar.«

Sie ging nach hinten, und ich schnappte mir die Liste, um mich auf den Kassensturz vorzubereiten. Froh über die Ablenkung ging ich akribisch die Verkäufe an diesem Tag durch, und wie immer atmete ich erleichtert auf, als die Einnahmen mit den gebuchten Beträgen übereinstimmten. Eine halbe Stunde später wünschte ich den Securitys am Eingang einen schönen Abend und trat hinaus in den eiskalten Abend.

»Und du willst ehrlich nicht mitkommen?«, hakte Chloe nach, die mir gefolgt war.

Ich schüttelte den Kopf, während ich mir meinen langen Schal mehrfach um den Hals wickelte. »Sorry, nein. Aber hab viel Spaß. Wir sehen uns später.«

Chloe ließ es sich nicht nehmen, irgendetwas von Spaßbremse zu brummen, ehe sie mir einen Kuss auf die Wange drückte und mitten im Gewusel aus Touristen und New Yorkern in Richtung 57. Straße verschwand.

Als sie fort war, holte ich tief Luft. Weiße Wölkchen stiegen vor mir empor, und ich vergrub mein Gesicht bis zur Nasenspitze in der weichen Wolle des Schals. Anschließend zog ich mir eine Beanie über den Kopf und schlenderte in die entgegengesetzte Richtung.

Ich hatte keine Angst, dass mich jemand erkannte. Nicht mehr. Wenn man in New York unsichtbar sein wollte, dann wurde man unsichtbar. So einfach war das. Inmitten von all den Passanten fiel ich mit meinem dunkelblauen Trenchcoat kein bisschen auf, zumal die meisten Leute ihre Aufmerksamkeit ohnehin auf die Boutiquen oder die bezaubernde Dekoration der Channel Gardens gerichtet hatten.

Seit Anfang der Woche waren die Brunnen, die sich durch die Anlage erstreckten, mit Tannenzweigen abgedeckt. Hunderte kleine Lichter schimmerten nun in dem satten Grün, und auf der Brunnenkante bliesen illuminierte Engel aus Draht in bronzene Fanfaren. Am Ende der Passage, direkt am Fuße des Rockefeller Centers, erhob sich dunkel und auch ein bisschen bedrohlich, eine knapp achtzig Fuß hohe Norwegische Fichte. Sie war letzten Freitag mit viel Aufhebens aus Maryland hergebracht worden, und seither waren unzählige Leute damit beschäftigt, die Lichterketten auf den langen Ästen anzubringen, damit der Baum pünktlich am ersten Dezember in den schönsten Farben erstrahlte.

Unweigerlich dachte ich daran, wie ich vor einem Jahr zur Vorweihnachtszeit durch die Geschäfte flaniert war. Jedes Mal hatten meine Kreditkarten geglüht, weil ich an keinem noch so unbedeutenden Accessoire hatte vorbeigehen können. Ich gab es ungern zu, aber ein Großteil der Tücher, Schals und Handschuhe war im Anschluss an meine exzessiven Einkaufsbummel mitsamt der Tüte in meinem Kleiderschrank gelandet, und ich hatte nie wieder an sie gedacht.

Früher hatte ich mir nie Sorgen um Geld gemacht, geschweige denn über steigende Mieten oder Stromkosten. Haushaltsführung war praktisch ein Fremdwort für mich gewesen. Ich konnte weder Wäsche waschen noch anständig mit Reinigungsmitteln umgehen. Genau genommen hatte ich es kaum geschafft, mir eine Tasse Tee zu kochen, ohne die halbe Küche abzufackeln. Für so etwas hatte Dad Leute eingestellt, die mich rund um die Uhr bedienten.

Und dann hatte das alles plötzlich aufgehört.

Anfangs hatte ich mir noch eingeredet, ich würde schon irgendwie zurechtkommen. Aber die Realität hatte mich recht schnell auf den Boden der Tatsachen geholt. Ich bekam immer noch heiße Wangen, wenn ich an meine ruinierten Seidenblusen dachte, die ich versehentlich gekocht hatte, oder an Chloes Staubsauger, den ich erledigt hatte, weil ich einfach alles aufgesaugt hatte, was mir im Weg war. Ich musste zugeben, in jenen Momenten hatte ich mir sehnsüchtig unsere Haushaltshilfe herbeigesehnt. Es hatte eine ganze Weile und mehrere Anläufe gebraucht, bis ich das Klo putzen konnte, ohne mich übergeben zu wollen, und verinnerlicht hatte, dass eine gewisse Ordnung im Küchenschrank durchaus Sinn ergab. O ja, ich war eine verwöhnte Tussi gewesen. Der Inbegriff eines Upperclass-Püppchens, das Daddys Kohle schamlos zum Fenster rauswarf.

Während ich gedankenversunken die Auslage von Kate Spade musterte, fragte ich mich nicht zum ersten Mal, ob ich die Reaktion meines Vaters auf die Sache mit Tristan vielleicht sogar provoziert hatte. Immerhin war mein Lebensstil weit davon entfernt gewesen, tiefgründig zu sein.

Nach Moms Tod hatte sich mein Vater nie die Mühe gemacht, eine Beziehung mit mir aufzubauen. Und da ich es nur so kannte, blieb alles um mich herum oberflächlich.

Oberflächliche Bekanntschaften.

Oberflächliche Affären.

Oberflächliche Partys.

Scheiße. Mein ganzes verdammtes Leben war eine Aneinanderreihung von oberflächlichen Ereignissen gewesen. Kein Wunder, dass Dad nicht mal mit der Wimper gezuckt hatte, als er die Gelegenheit bekam, meine Schulden mitsamt den Zinsen einzutreiben und mich gewinnbringend zu verkuppeln.

Bevor ich es verhindern konnte, stiegen mir Tränen in die Augen. Was war denn heute nur los mit mir?

Trotzdem, es war nicht richtig gewesen, mich nur aufgrund einer lukrativen Verbindung an Tristan zu verschachern wie ein Zuchtrind. Mein Vater hätte mich beschützen und diesem Mistkerl eine Lehre erteilen müssen.

Ich wandte mich abrupt vom Schaufenster ab. Warum quälte ich mich überhaupt mit diesen Gedanken? Das musste an der Jahreszeit …

Rums.

Mit voller Wucht rannte jemand in mich hinein und fegte mich beinahe von den Füßen. Ich stolperte zur Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich mich schon der Länge nach auf den Asphalt klatschen. Doch da packte dieser jemand meinen Oberarm und zog mich mit einem energischen Ruck zu sich.

»Oh! Merde!«, ertönte eine tiefe Stimme, die zweifellos einem Mann gehörte, gefolgt von einem seltsamen Knacksen. Sofort wurden meine Sinne überflutet von einem krachsüßen und zugleich säuerlichen Geruch, der in einem scharfen Kontrast zu der breiten Brust stand, die mir die Sicht verdeckte.

Verwirrt wich ich zurück. Die Hand um meinen Arm verschwand, und ich senkte den Blick, um diesen seltsamen Duft zu lokalisieren. Der Typ hielt eine zersplitterte Glasphiole in der Hand. Er musste sie zerbrochen haben, als er mich gepackt hatte. Zum Glück trug er Lederhandschuhe. Andernfalls hätte das wohl ein paar üble Verletzungen gegeben.

»Sorry«, stammelte ich, obwohl der Kerl ja streng genommen mich übersehen hatte. Er schien das allerdings anders zu sehen, denn er stieß ein entrüstetes Schnauben aus.

Ruckartig hob ich den Kopf. Seine Augen waren dunkelbraun und erinnerten mich irritierenderweise an flüssige Schokolade, obwohl sein Blick hart war. Er war etwa in meinem Alter. Braune Locken standen ihm verwuschelt vom Kopf ab und überdeckten seine Ohren. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Zweifellos war er sauer auf mich. Dabei hatte ich ja nun wirklich nichts falsch gemacht.

Ich zog eine Braue hoch. »Das wäre jetzt ein guter Moment, um dich ebenfalls zu entschuldigen.«

Seine Stirn zerfurchte sich, und ein fragender Ausdruck trat in seine Miene. Mir fiel ein, dass er auf Französisch geflucht hatte. Wahrscheinlich verstand er kein Wort.

Um mich deutlicher auszudrücken, zupfte ich an meinen Schal, dessen Vorderseite getränkt war mit dieser dubios riechenden Flüssigkeit, die sich vermutlich in der Glasphiole befunden hatte. Der Duft war jetzt noch intensiver, und ich verzog leicht angewidert das Gesicht.

»O Gott! Was ist das?«, stieß ich hervor, bevor er etwas sagen konnte, und wischte hektisch über meinen Schal. Leider machte ich es damit nur noch schlimmer, weil ich diesen süßen Mist jetzt auch noch auf meinem Mantel verteilte. »Das riecht wie … wie verbrannte Kornblumen, die mit Zitronensaft gelöscht wurden.«

Ein alter Mann, der gerade an uns vorbeilief, schien derselben Meinung zu sein, denn er bekam einen Hustenanfall und beschleunigte sein Tempo. Auch andere Passanten schauten sich irritiert um, als suchten sie nach der Quelle dieses befremdlichen Geruchs. Sobald sie uns bemerkten, machten sie einen großen Bogen um uns und setzten ihren Weg eilig fort.

Plötzlich fing der Typ an zu lachen. Es war ein raues, warmes Lachen, dessen Klang tief in meiner Brust vibrierte.

Na schön. Offenbar verstand er mich doch.

»Du hast recht«, sagte er und seufzte frustriert. »Das sollte eigentlich ein grandioses Parfüm sein. Aber es riecht grauenvoll, n’est-ce pas?«

»Nein«, widersprach ich sofort, weil ich ihn bestimmt nicht hatte beleidigen wollen.

Der Typ legte den Kopf schief. Jede Härte war nun aus seinem Blick verschwunden. Stattdessen hob er nun seinerseits eine Augenbraue. Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte.

»Ich meine, grauenvoll riechen Dinge, die absolut widerlich sind«, wiegelte ich ab. »Wie zum Beispiel die Gäste-WCs im Starbucks auf der 87. oder faule Eier oder fermentierter Fisch. Der riecht wirklich abartig. Es gibt sogar Clips im Internet, in denen man zusehen kann, wie Leute versucht haben, etwas davon zu essen, ohne zu kotzen, und …«

O Gott! Was redete ich denn da?

Entsetzt klappte ich den Mund zu, während meine Wangen vor Verlegenheit aufloderten. Ehrlich, ich hatte keinen Schimmer, was plötzlich in mich gefahren war.

Aber der Typ schien sich köstlich zu amüsieren. Belustigung tanzte in seinen Augen, und sein linker Mundwinkel zuckte verräterisch. »Eigentlich gilt Surströmming als Delikatesse.«

»In Europa vielleicht.«

Wieder lachte er leise, während er nickte. Seine Aufmerksamkeit kehrte zu der zerbrochenen Glasphiole in seiner Hand zurück. Er hielt sie etwas höher. »Es ist also nicht so schlimm wie fermentierter Fisch?«

Meine Nase kribbelte, und ich musste all meine Konzentration aufbringen, ihm nicht direkt ins Gesicht zu niesen. Ich reckte das Kinn ein bisschen, um die kalte New Yorker Luft einzuatmen. Sofort legte sich der intensive, süßlich-saure Duft, und ich blinzelte überrascht, weil ich ihn in konzentrierten Dosen gar nicht so unangenehm fand. »Definitiv nicht.«

Neugierig lehnte er sich vor. »Und auf einer Skala von eins, Surströmming, bis zehn, absolute Perfektion?«

»Sechs«, antwortete ich ehrlich und war selbst erstaunt, dass meine Bewertung doch so positiv ausfiel. »Wenn man nicht damit ertränkt wird.«

Er nickte wieder, während er mich eingehend betrachtete. Seine braunen Augen hatten irgendetwas an sich, das es mir fast unmöglich machte, wegzusehen. Da war dieses ehrliche Interesse – nicht an der Upperclass-Prinzessin, die ich einst gewesen war, sondern nur an mir. An Ally.

»Warum keine zehn?«, hakte er nach.

Ich blinzelte. »Was?«

»Was stört dich an dem Duft?«, präzisierte er seine Frage und kam mir noch näher. Als wollte er keine meiner Reaktionen verpassen. »Ist die florale Komponente zu dominant oder ist eher die Zitrusnote das Problem?«

Ich war so verdattert, dass es mir glatt die Sprache verschlug. Schweigend starrte ich ihn an, während ich zu begreifen versuchte, warum ihm ausgerechnet meine Meinung so wichtig war.

Er schien meine Überforderung zu bemerken, denn mit einem Mal hoben sich seine Lippen zu einem charmanten Lächeln. »Vielleicht sollten wir noch einmal von vorn anfangen.« Er zeigte mit der freien Hand auf mich. »Nicht weglaufen, ja?«

Verdutzt sah ich zu, wie er zu einem Mülleimer in der Nähe eilte, die Glasphiole hineinwarf und sich auf dem Rückweg geistesabwesend die Handschuhe an seinem Mantel abwischte. Als er bemerkte, dass er dadurch die feuchten Tropfen großzügig auf dem Stoff verteilte, riss er erschrocken die Augen auf.

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Das war nicht besonders clever.«

Schmunzelnd zuckte er mit den Schultern. »So bist du wenigstens nicht die Einzige, die nach verkohlten Kornblumen stinkt.«

»Das ist wirklich sehr solidarisch von dir.«

»Ja, so bin ich.« Erneut ließ er ein charmantes Lächeln aufblitzen, während er sich den rechten Handschuh von den Fingern zupfte. Dann streckte er mir die Hand entgegen. »Ich heiße Lucien.«

Zögernd musterte ich die dargebotene Hand, ehe ich mir einen Ruck gab und sie ergriff. Seine Finger wärmten meine eiskalte Haut. Es fühlte sich schön an. »Ally.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Ally«, sagte er langsam, während er mit sanftem Druck meine Hand schüttelte. »Darf ich dich als Wiedergutmachung für mein Missgeschick auf einen Kaffee einladen?«

Sofort verflog das angenehme Gefühl und machte Beklommenheit Platz. Ich zog meine Hand zurück und steckte sie in meine Manteltasche, bevor ich den Kopf schüttelte. »Nein, vielen Dank.«

Er wirkte aufrichtig enttäuscht, und obwohl es keinen rechten Sinn ergab, empfand ich ebenfalls Bedauern. Unwillkürlich fragte ich mich, warum ich so heftig auf ihn reagierte.

»Ein anderes Mal vielleicht?«

Ich rang mich zu einem entschuldigenden Lächeln durch und trat einen Schritt zurück. »Das geht nicht.«

»Weil dein Freund zu den übertrieben eifersüchtigen Typen zählt?«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich bin Single.«

Als würde ihn meine Antwort zufriedenstellen, grinste er schief und präsentierte mir dabei zum ersten Mal ein hübsches Grübchen, das sich tief in seine rechte Wange bohrte.

Meine Güte! Dieser Kerl war wirklich unglaublich charmant. Wahrscheinlich wickelte er die Frauen in Scharen um den Finger.

Seine Augen funkelten, während er mich abwartend musterte. Offensichtlich hoffte er, dass ich meine Meinung doch noch änderte. »Wir könnten auch einen Happen essen gehen«, schlug er nun vor und zeigte auf den frei geräumten Platz hinter sich. Nächste Woche würde dort der berühmte Ice Rink für das Schlittschuhlaufen am Rockefeller Center öffnen. Aber im Moment war das Areal noch leer, weshalb man das dahinter liegende Restaurant gut erkennen konnte. »Die Burger im Rock Center Café sind der Wahnsinn.«

Da hatte er leider recht. Wie aufs Stichwort grummelte mein Magen, um seine Zustimmung zu signalisieren, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich verbrachte öfter meine Pausen mit Chloe im Rock Center Café. Zumindest am Anfang des Monats. Gegen Ende reichte es meistens nur für den Bagel-Store um die Ecke.

Inzwischen war mir auch ziemlich kalt, weil wir schon eine ganze Weile hier standen. Trotzdem war es vermutlich keine gute Idee, meine Pläne für den Abend spontan zu ändern. »Es geht wirklich nicht«, murmelte ich, weil ich der Versuchung kaum mehr widerstehen konnte. »Tut mir leid.«

»Natürlich.« Lucien runzelte die Stirn. »Aber darf ich fragen, warum?«

»Was warum?«

»Du hast meine Einladung abgelehnt, was dein gutes Recht ist. Insofern verstehe ich nicht, wieso dir das leidtut.« Er schmunzelte. »Ich meine, wenn du mich für einen Trottel hältst, dann war es doch absolut richtig von dir, mir einen Korb zu geben.«

»So ein Quatsch!«, stieß ich hervor, bevor ich mich zurückhalten konnte. »Ich halte dich nicht für einen Trottel. Ich kenne dich doch gar nicht.«

Ergeben hob er die Hände. »Und du willst mich auch nicht kennenlernen.«

So, wie er das sagte, klang er absolut vorurteilsfrei. Und plötzlich kam ich mir unsagbar blöd und oberflächlich vor. Ich verabscheute Leute, die andere in Schubladen stopften, ohne sich überhaupt die Mühe gemacht zu haben, sich näher mit ihnen zu befassen. Früher war ich genau so gewesen, aber so wollte ich einfach nicht mehr sein.

»Okay«, platzte ich heraus. »Gehen wir etwas essen.«

»Echt?« Er musterte mich aufmerksam. »Ich will dich zu nichts zwingen oder so. Bist du dir wirklich absolut sicher, dass du das hundertprozentig willst?«

Trotzig reckte ich das Kinn. »Ja.«

»Wenn das so ist …« Ein triumphierendes Funkeln trat in seine Augen, ehe er einen Schritt beiseitetrat und eine Verbeugung andeutete. »Nach dir, Ally.«

Kapitel 2

Wir legten den kurzen Fußweg zum Rock Center Café schweigend zurück, während ich zu begreifen versuchte, wie ich überhaupt in diese Situation hineingeraten war. Mein letztes Date lag deutlich mehr als ein halbes Jahr zurück, und zu behaupten, ich wäre aus der Übung, war weit untertrieben. Inzwischen war ich eine vollkommen andere Frau und längst nicht mehr so kontaktfreudig wie früher, auch wenn ich nicht ohne eine gewisse Verwirrung feststellte, dass meine selbst auferlegte Zurückhaltung für Lucien nicht zu gelten schien.

Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er wirkte absolut entspannt, wie er neben mir durch die Menschenmenge spazierte. Aber wenn man ganz genau hinsah, konnte man das schnelle Pochen seiner Halsschlagader deutlich erkennen. Machte ich ihn etwa nervös?

»Du sagst ja gar nichts mehr«, stellte ich fest, während wir den Platz überquerten.

Mit einem verlegenen Grinsen strich er sich eine dunkle Locke aus der Stirn. »Offen gestanden habe ich Angst, dass du es dir doch noch mal anders überlegst, wenn ich jetzt was Falsches sage.«

»Oh.« Dieses Geständnis war so unerwartet süß, dass sich mein Bauch flatternd meldete. Ich ignorierte das Gefühl und schob es auf den Hunger. Wurde Zeit, dass ich etwas in den Magen kriegte.

Als wir das Café erreichten, hielt Lucien mir die Tür auf, und ich schlüpfte an ihm vorbei ins Innere. Der krachsüße Duft, mit dem mein Schal getränkt war, vermischte sich mit den Gerüchen von gebratenem Fleisch, fruchtigen Torten und Kaffee. Im Gegensatz zur vielfältigen Speisekarte war die Einrichtung des Cafés geradezu schlicht. Die Wände waren in einem zarten Gelbton gehalten und harmonierten perfekt mit den cremeweißen, gepolsterten Stühlen. Nahezu alle Tische waren besetzt, und die Leute unterhielten sich lachend oder aßen einen Snack. Gläser klirrten, ein Kleinkind weinte und aus einem versteckten Lautsprecher drang ein Popsong aus den Neunzigern. Ganz am Ende des Raums entdeckte ich Stacy, eine der Stammkellnerinnen, mit der ich mich schon öfter nett unterhalten hatte. Sie war Ende dreißig und trug wie der Rest des Servicepersonals die klassische Restaurantuniform bestehend aus einer weißen Bluse und einer schwarzen Jeans.

Weil es für mich inzwischen zur Routine geworden war, checkte ich alle Gäste, ob sich vielleicht jemand Bekanntes unter ihnen befand. Natürlich war das nicht der Fall, denn dieses Restaurant war eine Touristenattraktion und damit in der High Society der Upper East Side verpönt. Die alte Allison hätte niemals einen Fuß über die Türschwelle gesetzt. Die neue Ally liebte den Laden.

Lucien trat hinter mich, und obwohl mein Trenchcoat gut gefüttert war, konnte ich die Wärme, die von ihm ausging, in meinem Rücken spüren. Mir wurde gleich noch ein bisschen wärmer.

»Wie wäre es dort?«, fragte er und zeigte auf einen Tisch für zwei Personen direkt vor dem riesigen Fenster, das einen schönen Blick auf den beleuchteten Platz bot.

Ich nickte zustimmend. Lucien ließ mir erneut den Vortritt, schaffte es beim Tisch aber irgendwie, sich an mir vorbeizuschieben, um mir den Stuhl zurechtzurücken. Als ich meinen Trenchcoat öffnete, fiel mir auf, dass uns einige Gäste naserümpfend beobachteten.

Auch Lucien entging das nicht. Doch im Gegensatz zu mir schien ihn das Getuschel, das nun einsetzte, nicht aus der Fassung zu bringen. Stattdessen platzte ein amüsiertes Glucksen aus ihm heraus. »Ich wette, die Leute wundern sich, warum wir beide riechen wie abgefackelte Kornblumen.«

Verlegen rutschte ich auf den Stuhl, zog mir den Trenchcoat von den Schultern und beobachtete, wie er sich im Stehen den Mantel abstreifte. Sein Anblick brachte mich kurz aus dem Konzept. Zwar war mir zuvor schon aufgefallen, dass er recht kräftig gebaut war, aber seine Kleidung überließ nichts der Fantasie. Wie eine zweite Haut umschmeichelte der dünne Pullover seine breiten Schultern und die muskulöse Brust. Seine Beine steckten in lässigen Jeans, die seinen hübschen Hintern vorzüglich zur Geltung brachten. Nachdem er den Mantel über die Stuhllehne geworfen hatte, suchte er meinen Blick und ertappte mich prompt beim Starren.

Hitze kroch mir in die Wangen, während ich angestrengt überlegte, worüber wir gerade noch gesprochen hatten. Da erinnerte mich der Geruch meines Schals an meinen unfreundlichen Kommentar, nachdem wir zusammengestoßen waren. »Tut mir leid. Das war gemein von mir.«

Lucien nahm mir gegenüber Platz, ehe er den Kopf schüttelte. »Du hast nur laut ausgesprochen, was du gedacht hast.«

Schon komisch. Die meisten Menschen, die ich kannte, reagierten eher angepisst auf Kritik. Aber Lucien schien mir meine Worte nicht im Mindesten nachzutragen. Irgendwie fand ich diesen Charakterzug erfrischend. »Trotzdem hätte ich mich taktvoller ausdrücken können.«

Lucien schmunzelte. »Aber so weiß ich wenigstens, dass die rauchige Basisnote für eine Frau gar nicht geht.«

Jetzt erst ging mir ein Licht auf, warum er so genau wissen wollte, wie ich über dieses seltsame Parfüm dachte. »Du hast diesen Duft kreiert, stimmt’s?«

»Ist das eine Fangfrage?« Amüsiert sah er mich an. »Du stehst doch nicht auf und gehst, wenn ich zugebe, dass ich diesen brutalen Angriff auf deinen Geruchssinn zu verantworten habe, oder?«

Ich lachte. »Nein, versprochen.«

Nachdenklich wuschelte er sich durch die Haare, was ein beeindruckendes Muskelspiel in seinem Oberarm hervorrief. »In dem Fall bekenne ich mich schuldig.«

»Du bist also Parfümeur?«

»Noch nicht«, antwortete er und nahm die Speisekarte zur Hand. »Im Moment studiere ich Biochemie an der Columbia und mache ein Praktikum bei Noélle, um schon mal – Achtung Wortspiel – in den Beruf reinzuschnuppern.«

Er freute sich so sehr über seinen Gag, das ich schon wieder grinsen musste. »Noélle scheint mir ein ziemlich guter Anfang für so eine Karriere zu sein.«

Überrascht ließ er die Karte sinken. »Du kennst das Label?«

O ja, und wie ich es kannte. Ich war gelinde ausgedrückt beeindruckt, dass er dort einen Praktikumsplatz hatte ergattern können. Noélle war kein riesiger Konzern, zählte dafür aber zu den teuersten Luxusmarken, die in der Parfümindustrie zu finden waren. Und wir redeten hier von richtig teuer. Allein die Flakons waren ein Vermögen wert. Dazu die Kombination aus äußerst seltenen Duftstoffen, und schon wirkten Dior und Co. wie Discountschnäppchen. Ich hatte mir vor zwei Jahren selbst mal so ein Fläschchen zugelegt – aus Prestigegründen und weil der Flakon so hübsch war. Aber wie viele andere Dinge verstaubte das Parfüm inzwischen im Penthouse meines Vaters.

Ich überlegte, Lucien davon zu erzählen, entschied mich aber dagegen, weil das unweigerlich Fragen aufgeworfen hätte. Also hielt ich meine Antwort vage. »Ich habe schon von Noélle gehört, ja. Macht dir die Arbeit dort Spaß?«

Lucien wackelte mit dem Kopf. »Noch nicht so sehr, wie ich es mir wünschen würde.«

»Warum?«, hakte ich neugierig nach.

»Das Praktikum dient dazu, jeden Bereich des Unternehmens kennenzulernen. Bisher war ich in der Verwaltung, im Vertrieb und aktuell bin ich im Marketing, was bedeutet, dass ich den lieben, langen Tag das PR-Team dabei unterstütze, die angesagteste Party des Jahres vorzubereiten.«

Jetzt, wo er es erwähnte, fiel mir wieder ein, dass Noélle nur einmal im Jahr ein neues Parfüm auf den Markt brachte und zu diesem Anlass eine exklusive Gala veranstaltete. Im letzten Herbst hatte ich sogar eine Einladung erhalten. Allerdings hatte ich es damals vorgezogen, mit meiner Clique ein verlängertes Wochenende auf Mauritius zu verbringen und mich ein wenig vom Unistress zu erholen. Das waren noch Zeiten gewesen.

Ich rang mich zu einem Lächeln durch. »Partyplanung klingt doch gar nicht so schlecht.«

»Trotzdem interessiert mich die Produktentwicklung mehr«, erwiderte Lucien und wirkte mit einem Mal ganz euphorisch. »Ich war schon einmal kurz in der Abteilung. Die Labore sind erstklassig ausgestattet, und es gibt da diesen Tresor, in dem unglaublich seltene Duftstoffe aufbewahrt werden. Außerdem arbeitet das Unternehmen an neuen Destillationsverfahren zur Reinstoffgewinnung und zur Konservierung.«

Gespielt entsetzt riss ich die Augen auf. »Okay, Grenouille, jetzt machst du mir schon ein bisschen Angst.«

Es überraschte mich nicht, dass er meine Anspielung auf den Protagonisten von Süskinds Roman DasParfüm verstand. »Keine Sorge. Ich bin vielleicht ehrgeizig, aber nicht besessen, und ich würde definitiv nicht über Leichen gehen, um den perfekten Duft zu kreieren.«

Vielsagend hob ich eine Braue. »Genau das würde ein Psychopath auch behaupten.«

Lucien lachte. »Ehrlich, ich bin harmlos. Ich schwöre es.«

Das bezweifelte ich. Zwar hielt ich ihn nicht für einen geistesgestörten Frauenmörder, aber das Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er sich seines Charmes durchaus bewusst war. Er war auf jeden Fall gefährlich.

»Du bist also auf der Suche nach dem perfekten Duft?«, wechselte ich sicherheitshalber das Thema.

Sofort wurde er wieder ernst, und ein frustrierter Ausdruck erschien in seinem Gesicht. »Jepp. Aber wie du am eigenen Leib erfahren musstest, bisher mit mäßigem Erfolg.«

Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht, weil etwas, das allen gefällt, gar nicht existiert.«

»Sicher hängt vieles vom subjektiven Geschmack eines Menschen ab«, räumte er ein. »Aber theoretisch ergibt sich eine perfekte Formel, wenn sämtliche Parameter zu einem harmonischen Ganzen zusammenfließen. Ich will diese Hypothese nächstes Semester in meiner Masterarbeit beweisen.«

Wie er so begeistert davon sprach, sah er ein bisschen aus wie ein Kind im Bonbonladen. Was ich irgendwie süß fand.

Nerdig, aber süß.

»Hast du die magische Formel schon gefunden?«, fragte ich.

»Es gibt nicht nur eine, sondern Hunderte Möglichkeiten, je nachdem, welche Parameter einkalkuliert werden. Ich habe erst heute eine neue Variante im Uni-Labor ausprobiert. Allerdings reicht die Qualität der Duftstoffe dort nicht mal ansatzweise an die von Noélle heran. Irgendwas muss bei der Konservierung schiefgelaufen sein. Jedenfalls riecht Nummer 453 jetzt ganz anders als heute Nachmittag.«

Meine Brauen schossen in die Höhe. »Das war dein 453. Versuch?«

Er nickte und warf mir einen verlegenen Blick zu. »Ob du es glaubst oder nicht, für mich war es ziemliches Glück, dass wir vorhin zusammengestoßen sind. Ich war nämlich gerade auf dem Weg, um den Chef-Parfümeur von Noélle abzufangen. Der Typ hätte mich niemals in sein Heiligtum gelassen, wenn ich ihm das …« Zerknirscht gestikulierte er zwischen uns hin und her. »… präsentiert hätte, und damit hätte ich meine Masterthesis wahrscheinlich vergessen können.«

Ich klappte den Mund auf, um ihm zu sagen, dass seine Kreation wirklich nicht so schlimm war, wie zuerst gedacht. Aber da tauchte Stacy neben uns auf. »Hallo, was kann ich euch bringen?«, fragte sie und kritzelte konzentriert unsere Tischnummer auf einen winzigen Block.

»Hey, Stacy«, grüßte ich die gestresste Kellnerin, die mich bisher noch gar nicht bemerkt zu haben schien.

Irritiert schaute sie mich an, ehe sich ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Kleine Fältchen gruben sich in ihre Augenwinkel und ließen sie noch sympathischer wirken. »Oh, Ally! Jetzt hätte ich dich fast übersehen. Tut mir leid, Herzchen. Du merkst ja, was hier los ist.«

»Nicht schlimm«, versicherte ich ihr sofort. »Wie geht’s Zac und Brady?«

»Sie treiben mich wie üblich in den Wahnsinn.« Reine Liebe war in ihrem Gesicht zu lesen, ehe sie theatralisch die Augen verdrehte. »Fünfjährige.«

»Die sind am schlimmsten«, stimmte Lucien todernst zu, was Stacys Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

Überraschung flackerte in ihrer Miene auf, wahrscheinlich, weil ich noch nie mit einem Mann hier aufgetaucht war. Als sie bemerkte, dass er nur scherzte, kicherte sie. Allerdings kam sie nicht dazu, etwas zu erwidern, denn in dem Moment beugte sie sich über den Tisch und schnupperte. »Was ist das für ein Geruch?«

»Wir haben ein neues Parfüm ausprobiert«, erwiderte Lucien in unschuldigem Ton. »War aber nicht so der Kracher.«

»Hmm.« Stacy schnüffelte weiter, während sie den Kopf hin und her drehte. Dann sah sie Lucien an. »Ich finde ihn gar nicht so schlecht. Allerdings ist er ein bisschen zu feminin für dich. Wenn ich du wäre, würde ich auf weniger Blümchen setzen, um eine tolle Frau zu beeindrucken.«

Lucien bekam knallrote Ohren, und ich presste die Lippen zusammen, um nicht lauthals loszulachen.

»Danke für den Tipp«, murmelte er, während Stacy mir zuzwinkerte. Sie hatte sichtlich ihren Spaß dabei, meinen Begleiter auf den Arm zu nehmen. Es störte sie plötzlich kein bisschen, dass zwei Tische neben uns ein älterer Mann ungeduldig winkte, um etwas zu bestellen. Stattdessen war sie nun voll auf Lucien konzentriert. Sicher überlegte sie bereits, ob er einen weiteren Spruch vertragen konnte. Wenn sie einmal in Fahrt war, gab es für sie oft kein Halten mehr.

Ich beschloss, Lucien zu erlösen, und bat um das Clubsandwich und ein Wasser, weil das preislich zwar immer noch weit über New Yorks Durchschnitt lag, aber zumindest kein allzu tiefes Loch in meinen Sparstrumpf riss.

»Für mich das Gleiche, bitte«, sagte Lucien erleichtert und reichte ihr die Speisekarte. Schon hetzte Stacy zum nächsten Tisch.

»Doch kein Burger?«, zog ich ihn auf und gab mir nun keine Mühe mehr, meine Belustigung zu verbergen.

»Ich hätte sogar Salat bestellt, wenn wir sie dadurch losgeworden wären«, raunte er mir zu und spähte durch das Lokal zu Stacy, die inzwischen mit dem älteren Mann diskutierte. »Sie ist ein bisschen Furcht einflößend.«

»Sie meint es nicht böse. New Yorker haben einfach einen ganz eigenen Sinn für Humor.«

Sein Blick zuckte zurück zu mir, und Tausende Fragen schienen sich in seinem Kopf zu bilden. Ich war mir sicher, dass ich sie nicht alle beantworten würde. Aber ein erschreckend großer Teil von mir wollte es.

Zum ersten Mal seit langer Zeit.

»Du bist nicht aus New York, oder?«, fragte ich, um ihn von mir und mich selbst von dieser verwirrenden Erkenntnis abzulenken.

Gut möglich, dass Lucien mich durchschaute. Doch er ließ es mir durchgehen und schüttelte den Kopf. »Meine Zwillingsschwester und ich wurden in Marseille geboren. Wir sind erst vor ein paar Jahren hergezogen, nachdem sich unsere Eltern scheiden ließen.«

Ganz schön viele Informationen auf einmal.

Erst war ich ein bisschen überrumpelt von so viel Offenheit. Dann wurde mir klar, dass Lucien mir hier verschiedene Ansätze bot, das Gespräch in eine Richtung zu lenken, in der ich mich wohlfühlte.

»Du hast eine Zwillingsschwester?«

»Donnie.« Diesmal war es an ihm, ähnlich wie Stacy theatralisch die Augen zu verdrehen, während tiefe Zuneigung aus seiner Stimme sprach. »Sie ist eine echte Nervensäge. Nie will sie auf die Ratschläge ihres großen Bruders hören.«

»Wie viele Sekunden bist du denn älter als sie?«, fragte ich belustigt.

Er reckte stolz das Kinn vor. »Einen Monat.« Als er meinen irritierten Gesichtsausdruck sah, grinste er schief. »Ich wurde am 30. November um 23:58 Uhr geboren. Donnie kam acht Minuten später auf die Welt, also erst am 1. Dezember. Damit bin ich offiziell einen Monat älter als sie.«

»Also, wenn das so ist, sollte sie deine Ratschläge wirklich ernster nehmen.«

»Meine Rede!« Lucien klopfte sich auf die muskulöse Brust, was meine Aufmerksamkeit kurz in völlig falsche Bahnen lenkte.

Ich blinzelte. »Seid ihr euch ähnlich, du und Donnie?«

»Kein bisschen.« Lucien lachte leise in sich hinein. »Sie ist sprunghaft und impulsiv und lebenshungrig. Ich hingegen lebe meine Experimentierfreude lieber im Labor aus.« Er runzelte auf hinreißende Weise die Stirn. »Das klang jetzt schon wieder schräg, oder?«

Unweigerlich dachte ich an die Sterling-Brüder und die Leute aus meinem alten Freundeskreis, die allesamt nie einen Hehl daraus gemacht hatten, in welchem Bereich sie am liebsten experimentierten. Es war immer nur um Sex gegangen. Beklommen zuckte ich mit den Schultern. »Ist mal was anderes.«

Stacy kehrte mit unserer Bestellung an den Tisch zurück, und sogleich machte Lucien sich erfreut über sein Sandwich her. Während er kaute, musterte er mich neugierig.

Meine Magen verkrampfte sich vor Nervosität. Früher waren derartige Blicke einfach an meinem Selbstbewusstsein abgeprallt. Aber die Upperclass-Prinzessin, der mal die Welt zu Füßen lag, gab es nicht mehr. Jetzt war ich irgendjemand anderes. Jemand, der mit zu viel Aufmerksamkeit nicht besonders gut zurechtkam. Obwohl aus Luciens Miene nur ehrliches Interesse sprach, fiel es mir dennoch schwer, mich zu entspannen.

Lucien schien das zu spüren. Zumindest löcherte er mich nicht mit Fragen, sondern knüpfte einfach an unser ursprüngliches Thema an. Er erzählte mir, wie gewaltig New York anfangs auf ihn gewirkt hatte, und ich konnte ihn mir gut als schlaksigen Zwölfjährigen vorstellen, der von der schieren Masse an Menschen beinahe erschlagen wurde, während seine quirlige Schwester in dem Chaos förmlich aufblühte.

Er hatte einen einnehmenden, jungenhaften Charme, und ich mochte es, dass er sich selbst offenbar nicht allzu ernst nahm. Je länger ich ihm zuhörte, umso mehr vergaß ich meine innere Anspannung. Nachdem er mir von seiner Highschoolzeit in Queens erzählt hatte, gelangten wir wieder bei seinem Studium an, und ich erkundigte mich, ob er abseits von seinem Labor einen Lieblingsplatz auf dem Campus hatte. Wir hatten unsere Sandwiches längst gegessen, und ich hatte kaum bemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war.

»Wahrscheinlich findest du das jetzt ziemlich öde, aber ich mag den Morningside Park«, antwortete er, während er mit den Fingerspitzen sachte an einer Falte in der Tischdecke zupfte. »Besonders im Morgengrauen, wenn die Nacht die Luft geklärt hat und alles irgendwie pur und unberührt duftet. Weißt du, was ich meine?«

Ich lächelte, denn das tat ich allerdings. »Ja. Meine Fakultät liegt ganz in der Nähe des Parks.«

In seine Augen trat ein triumphierendes Funkeln, nachdem ich mit dieser Information rausgerückt war. »Du studierst auch an der Columbia?«

Ich nickte. »Betriebswirtschaft.«

Überraschung huschte über sein Gesicht. Die wirtschaftliche Fakultät zählte zu den besten des Landes. Ich sollte glücklich darüber sein, dort studieren zu dürfen. Immerhin stiegen die Absolventen in der Regel in leitenden Positionen in globalen Konzernen ein. Leider konnte ich mich bis heute nicht wirklich für dieses Privileg erwärmen, denn ich hatte dieses Studium nur begonnen, weil die Alternative darin bestanden hätte, gleich in der Firma meines Vaters zu arbeiten.