13,99 €
In der Dunkelheit erwacht deine Phönixmagie. So viel Verlust, so viel Trauer: Noch immer versucht Eden darüber hinwegzukommen, was beim Angriff der Rogues auf das Hauptquartier der Phönixkrieger passiert ist. Der Schmerz über Kanes Verrat sitzt tief – zu sehr hat sie ihm vertraut, zu viel von sich hat sie ihm gegeben. Deshalb stürzt Eden sich in die Suche nach der letzten Phönixfeder, die irgendwo im gewaltigen Death Valley versteckt ist. Sie will endlich den Kampf zwischen Licht und Dunkelheit beenden. Doch ihr Herz hat eigene Pläne ... Band 2 des Urban-Romantasy-Zweiteilers SPIEGEL-Bestseller
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 566
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2024 Ravensburger Verlag Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de Covergestaltung: KattPhatt, verwendetes Bildmaterial von © ondrejprosicky/AdobeStock Illustrationen im Innenteil: Greta Milán, verwendetes Bildmaterial von © nikiteev_konstantin, © YummyBuum, © Porcupen, © Oleksandra Klestova, © Kit8.net, © navegantez und © In Art, alle von Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH,Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51208-9
ravensburger.com
Für Sanni. Mit all meiner Liebe. Danke für alles.
Aus dem Kompendium der Phönixallianz
Einst wurde ein Phönix im Licht der Sonne geboren. Sein Leben währte ewig, und er war erfüllt von unermesslicher Macht. Alle fünfhundert Jahre verbrannte er, bevor er aus seiner eigenen Asche wiederauferstand.
In Zeiten des Goldrauschs versammelte sich im Death Valley, unweit von Glorypeak, eine Armee bösartiger, grausamer Soldaten. Sie kannten keine Gnade, ihre Seele bestand aus purer Dunkelheit. Angeführt von ihrem General machten sie mehr und mehr Unschuldige zu ihresgleichen.
Der Phönix opferte schließlich seine Unsterblichkeit und erwählte die tapfersten Menschen, um sie zu seinen Kriegern zu machen.
Gemeinsam schlugen sie den Feind zurück.
Doch ihre Aufgabe ist noch nicht beendet. Die Jagd dauert an, bis jede Gefahr gebannt und alles Böse besiegt ist.
Denn nur mit Licht
in der Seele
vermag ein Mensch,
wahrhaft gut zu sein.
EDEN
»Sie haben mir mein Licht genommen – und jetzt nehme ich ihnen das ihre.«
Ein Dolch blitzt in Elijahs Hand auf.
Ich schreie. Aber es ist zu spät. Mit unvorstellbarer Kraft stößt Elijah zu. Er trifft den Phönix mitten ins Herz.
Und mein ganzes Sein verwandelt sich in Schmerz …
Ich zuckte zusammen. Reflexartig legte ich die Hand auf mein donnerndes Herz, das so heftig wehtat, als wäre es ebenfalls durchbohrt worden. Inzwischen träumte ich fast jede Nacht, wie der Phönix starb – und wachte jedes Mal an dieser Stelle schweißgebadet auf. Nur um festzustellen, dass die Realität keine Erleichterung brachte, sondern ebenso viele Schrecken.
Das Hauptquartier der Phönixallianz war abgeriegelt. So gut wie niemand durfte rein oder raus. Bauarbeiter hatten das zerstörte Eingangstor erneuert, das beim Angriff einer Rogue-Horde aus den Angeln gesprengt worden war. Nun schirmte ein gewaltiges Metallmonstrum die Einfahrt ab, und in regelmäßigen Abständen waren Phönixkrieger entlang der hohen Steinmauer postiert, um die Umgebung zu sichern. Es gab auch Hightech-Kameras und Bewegungsmelder in den Bäumen des umliegenden Sequoia-Waldes. Sogar hoch oben in den Mammutbäumen, die vereinzelt auf dem Grundstück aufragten, hatte man technische Spielereien installiert, damit so ein entsetzlicher Überfall nie wieder passierte.
Der Angriff lag heute genau eine Woche zurück. Die Rogues waren mitten am Tag gekommen und so zahlreich gewesen, dass die Phönixkrieger, die sich zu diesem Zeitpunkt im Anwesen aufhielten, beinahe überrannt worden wären. Nur dank ihrer Phönixkräfte hatten sie sich lange genug zur Wehr setzen können, bis die Angreifer plötzlich aufgaben.
Meinetwegen.
Sie waren meinetwegen geflohen.
Weil auch ich inzwischen meine Phönixkraft entdeckt hatte, die meine Hände gewissermaßen selbst zu einer Waffe machte. Denn ich konnte nicht nur die Lichtwaffen anderer Phönixkrieger führen, sondern auch selbst ein Licht erschaffen, das sogar die finstersten Rogues in die Flucht schlug. Ich nahm an, dass meine Gabe ähnlich funktionierte, wie die übrigen Phönixwaffen, die als einziges in der Lage waren, einen Rogue zu töten. Eine gewöhnliche Waffe reichte da nicht aus. Rogues konnten sich regenerieren.
Umgekehrt galt das leider nicht, denn alle, deren Seelen von Licht erfüllt waren, egal ob Phönixkrieger oder nicht, waren durchaus sterblich.
Schuld fraß sich durch meine Eingeweide. Ich hatte viel zu spät begriffen, dass ich sie alle hätte retten können, hätte ich den Phönixkriegerteil in mir nur viel eher akzeptiert. So aber hatten wir neun Mitglieder der Allianz an die Rogues verloren, mehr als zwei Dutzend waren schwer verletzt und einer … einer war tot.
Mein Vater.
Kraftlos setzte ich mich auf die Stufen vor dem Haupteingang und blickte auf die Stelle, an der Dad sein Leben verloren hatte, brutal niedergestochen mit einem gewöhnlichen Dolch. Nichts deutete mehr darauf hin, dass die hellen Kieselsteine mit seinem Blut getränkt waren.
Seit sich mein Schock über Dads Tod gelegt hatte und ich wieder klaren Verstandes war, fragte ich mich unentwegt, warum die Rogues ihm bei dem Überfall nicht auch das Licht geraubt hatten. So wie meinem Freund Lennox. Und Ryanne. Und noch vier weiteren Phönixkriegern und drei Eingeweihten, die auf dem Anwesen lebten.
Eigentlich waren Rogues grausam und instinktgesteuert, und ihr einziges Ziel bestand darin, ihr nächstes Opfer ausfindig zu machen, ihnen ihr Licht zu stehlen und sie an ihrem eigenen Schicksal teilhaben zu lassen. Aber Dad hatten sie einfach ein Messer in die Brust gerammt.
Mein Magen zog sich abrupt zusammen, und eine Welle der Übelkeit überrollte mich bei dem Gedanken an die entsetzlichen Schmerzen, die er erlitten haben musste. Genau wie der Phönix in meinen Träumen …
»Eden?«
Nur mühsam löste ich den Blick vom Boden und drehte mich zu meiner Freundin um. Tori hatte ihre schulterlangen braunen Haare, die in den Spitzen in ein sattes Blau übergingen, zu einem hohen Zopf zusammengebunden. Aber im Gegensatz zu sonst trug sie keine robuste Phönixkriegerkluft, sondern ein luftiges Kleid mit buttergelben Blümchen. Es passte perfekt zu den sommerlichen Temperaturen, die nun schon seit Wochen in Little Meadows vorherrschten.
»Bist du bereit?«, fragte sie. Sorge spiegelte sich in ihrem Blick, als sie den Kopf schief legte. Die Art, wie sie mich ansah, erinnerte mich an ihren Bruder Kane.
Erneut krampfte sich mein Magen zusammen. Aber das war eine andere Art von Schmerz. Die Art, die man spürte, wenn einem das Herz gebrochen wurde.
Und genau das hatte Kane getan.
Anscheinend hatte das Schicksal befunden, dass der Tod meines Vaters und der Verlust von Lennox noch nicht genug waren. So war es einem dummen Missverständnis mit Lawrence, einem ranghohen Offizier der Phönixallianz, zu verdanken, dass ich erfuhr, auf welch zerstörerische Weise Kane mich hintergangen hatte.
Er hatte gewusst, dass mein Vater verschwunden war, bevor er plötzlich in Little Meadows auftauchte. Aber er hatte während unserer zahlreichen Trainingseinheiten kein einziges Wort darüber verloren. Stattdessen hatte er mir vorgegaukelt, dass er mir helfen wollte und sich ehrlich für mich interessierte. Dabei stimmte das gar nicht. Er hatte mich die ganze Zeit über nur manipuliert, um zu verhindern, dass ich meine Kräfte fand.
Weil er mich beschützen wollte.
Ich schnaubte leise, woraufhin Tori irritiert die Stirn runzelte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und musterte meine Hände, die plötzlich in gleißend hellem Licht erstrahlten.
Zugegeben, ich hatte zwar meine Kraft gefunden, war allerdings längst noch kein Profi darin, mit ihr umzugehen. Aber ich lernte schnell dazu. Ich ballte die Hände zu Fäusten und drängte den Schmerz in meiner Brust weit weg, bis ich rein gar nichts mehr spürte, abgesehen von wilder Entschlossenheit. Das Licht in meinen Händen flackerte und erlosch schließlich ganz, bevor ich aufstand und meiner Freundin entgegenging.
»Mir geht’s gut«, sagte ich nur. Ihr Bruder mochte mich für schwach und wehrlos halten, aber das war ich nicht. Ich war eine Frau mit einer Mission. »Dann mal los.«
Aufregung und Hoffnung glommen in Toris Augen auf, als wir ins Gebäude traten. Inzwischen waren auch im Foyer alle Spuren des Kampfes beseitigt worden. Das imposante Gemälde, das den Flug des Phönix über einer herrlichen Landschaft zeigte, hatte zum Glück keinen Schaden genommen. Die Kommandozentrale befand sich ganz am Ende des rechten Ganges, doch wir bogen links zu einem der Konferenzräume ab. Meghan und Aaron warteten bereits vor der Tür und schauten uns erwartungsvoll entgegen.
»Da seid ihr ja endlich«, sagte Meghan und machte sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Kanes bildschöne Ex-Freundin hatte ihr tiefschwarzes Haar zu einem strengen Knoten auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Dunkle Ringe hingen unter ihren Augen und hoben sich deutlich von ihrem braunen Teint ab. Sie trug enge Jeans und ein graues Top, das ihren schlanken, kampferprobten Körper perfekt betonte. Offen gestanden waren wir nie sonderlich warm miteinander geworden. Aber jetzt waren wir Verbündete. Sie nickte in Richtung Tür. »Kann es losgehen?«
Ich atmete tief durch und warf Aaron einen Blick zu, der zweifellos meine Nervosität verriet. Doch er schenkte mir sofort ein beruhigendes Lächeln, das seine blauen Augen zum Leuchten brachte, obwohl auch er mit seinem Kummer rang. Es war offensichtlich, dass er seinen besten Freund vermisste, auch wenn er noch nicht mit mir über die genauen Umstände von Lennox’ Verlust geredet hatte. Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte einmal sanft zu. »Du schaffst das.«
»Natürlich tut sie das«, stimmte Tori ihm zu, straffte die Schultern und öffnete die Tür, ehe wir in den kleinen Konferenzraum traten. Er enthielt nur einen runden Tisch mit acht Stühlen, vier davon waren besetzt.
In der Mitte saß die derzeitige Anführerin der Phönixallianz, Una Doyle, die mir mit ihrem durchdringenden Blick ebenso ungeduldig entgegensah wie Meghan gerade. Auch unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, und sie war so weiß im Gesicht, dass sie einem Rogue Konkurrenz machte. Wahrscheinlich hatte sie seit dem Angriff keine Nacht mehr durchgeschlafen, sondern war ständig auf den Beinen und bellte Anweisungen, um den Schutz der Anlage sicherzustellen.
Una und ich waren nicht oft einer Meinung gewesen, und ihre Methoden, meine Kräfte aus mir rauszukitzeln, waren mehr als fragwürdig gewesen. Aber seit ich meine Lichtgabe gefunden und sogar zur Flucht der Rogues beigetragen hatte, betrachtete sie mich mit einer neuen Art von Respekt. Was nicht hieß, dass unser Verhältnis besonders herzlich war.
»Ihr habt uns warten lassen«, sagte sie anstelle einer Begrüßung und deutete mit einer ruppigen Geste auf die freien Plätze ihr gegenüber.
»Tut uns leid«, erwiderte Tori schnell, wohingegen ich mir eine Bemerkung verkneifen musste, dass sie uns ebenfalls auf dieses Treffen hatte warten lassen. Das wäre ohnehin kein guter Einstieg gewesen, um unser Anliegen vorzutragen.
Rechts neben Una saß Lawrence. Wie üblich lächelte er freundlich, und in seinen haselnussbraunen Augen lag aufrichtige Zuneigung, während ich den Stuhl zurückzog.
Lawrence war als Mentor von Kane und Tori so etwas wie ein Vater für die beiden, ein angesehener Phönixkrieger – und mein Onkel, wie ich ebenfalls erst vor Kurzem erfahren hatte. Ich bemühte mich, die Ähnlichkeit mit meinem Vater, die sich vor allem in seinen Gesichtszügen zeigte, zu ignorieren, weil ich mich nicht erneut in meinem Kummer verlieren wollte. Im Gegensatz zu Una war Lawrence mir immer schon sympathisch gewesen, und ich hatte eingewilligt, unserer familiären Verbindung eine Chance zu geben. Allerdings musste ich zugeben, dass ich damit noch gewisse Schwierigkeiten hatte. So etwas brauchte wohl einfach Zeit.
Links neben Una saß Fergusson, der technische Leiter der Phönixallianz. Er war ein stämmig gebauter, gutherziger Mann in den Fünfzigern mit buschigem Vollbart und einer Vorliebe für Cowboyhüte. Er gehörte zu einer der Gründerfamilien der Allianz und war ein anerkanntes Mitglied der Organisation, obwohl er als einziger in diesem Raum über keine Phönixkräfte verfügte.
Die letzte in unserer Runde war Alva. Sie war ebenfalls eine der Ältesten und Ausbilderin der Nachwuchskrieger. Als ich sie zum ersten Mal beim Unterricht beobachtet hatte, war mir ihr Mangel an Empathie für ihre Schützlinge sofort ein Dorn im Auge gewesen. Für sie zählten nur Leistung und Disziplin, und sie machte kein Hehl aus ihrem Missfallen, wenn jemand ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht wurde.
Ich war überrascht, dass sie bei unserem Meeting dabei war. Aber das ließ ich mir nicht anmerken, sondern setzte eine betont neutrale Miene auf.
»Also gut, Eden«, ergriff Una das Wort, sobald wir alle am Tisch saßen. Ihre Stimme klang hart wie Stahl. »Du hast um dieses Treffen gebeten. Worum geht es?«
Meine Kehle wurde staubtrocken, als ich den Blick aller Anwesenden auf mir spürte. Aber ich sah Una unerschrocken entgegen. »Wir wollen nach der letzten Phönixfeder suchen.«
Una runzelte die Stirn. »Ich habe euch meine Entscheidung diesbezüglich bereits mitgeteilt.«
»Wir hatten gehofft, du überlegst es dir vielleicht noch einmal«, wandte Tori ein. »Immerhin ist es eine Chance.«
Alva schnaubte. »Da irrst du dich, Victoria. Diese Suche ist hoffnungslos.«
»Ebenso hoffnungslos wie Diego, nehme ich an«, erwiderte ich kühl und schaffte es nur mit Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. Diego war ein sehr sensibler und vor allem unsicherer Junge, der aufgrund ihrer Verachtung immer kleiner geworden war. Wir hatten zusammen trainiert, aber erst nachdem Alva die Leitung an Kane abgegeben hatte, war Diego aufgeblüht – und schließlich hatte er seine mächtige Gabe während des Kampfes gefunden und mir das Leben gerettet.
Alva machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe gehört, dass er ein Lichtschwert heraufbeschworen hat. Aber ich habe es nie gesehen. Er scheint noch immer keinen konstanten Zugang zu seiner Gabe zu haben.«
Mein Puls begann zu rasen. »Diego hat Dinge auf dem Schlachtfeld erlebt, die kein Kind je erleben sollte. Egal, ob Phönixkrieger oder nicht. Was er braucht, sind Verständnis und Geduld und nicht noch mehr Druck.«
Alva öffnete den Mund, um mir zu widersprechen. Doch Una ging dazwischen. »Die Lehrmethoden unserer Ausbilderin stehen hier nicht zu Debatte, Eden.«
»Das sicher nicht«, schoss ich zurück. »Aber ich habe lange genug mit Jugendlichen gearbeitet, um zu wissen, dass man so nicht weiterkommt. Ich hoffe, dir ist klar, wie vergeudet Diegos Talent in dieser Trainingsgruppe ist.«
Meghan stöhnte leise auf, aber ich konnte einfach nicht an mich halten. Mein ganzes Leben lang hatte ich davon geträumt, eines Tages als Streetworkerin mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten und ihnen dabei zu helfen, ihren Weg zu finden. Aber dieser Traum war inzwischen zerplatzt.
Empörung glitzerte in Alvas Augen. »Wie kannst du es wagen? Du bist doch selbst noch ein Kind.«
Ich war vieles, aber kein Kind. Deshalb wusste ich auch, dass diese Diskussion rein gar nichts bringen würde. Ich hatte gesagt, was ich zu sagen hatte, und kehrte daher zum eigentlichen Thema zurück. »Der Phönix stand nach seinem Tod stets aus seiner Asche wieder auf. Wir glauben, dass die Existenz der Feder der Grund dafür ist, warum er nach seinem Tod nie zurückkehren konnte, denn da sie noch existiert, ist er nie vollständig verbrannt. Wenn wir also die Höhle finden, in der die Feder versteckt ist, erwecken wir den Phönix vielleicht erneut zum Leben.«
»Das ist reine Spekulation«, wandte Una ein. »Ihr wisst nicht, was die Phönixfeder bewirkt.«
Alva verzog spöttisch die Lippen. »Ihr wisst ja nicht mal, ob sie überhaupt echt ist.«
Ich ermahnte mich selbst, ruhig zu bleiben. »Mein Vater war ein Phönixkrieger, genau wie sein Vater und wie mein Onkel.« Eigentlich widerstrebte es mir, alte Skandale aufzuwärmen. Aber ich war mir sicher, dass Una und die anderen ohnehin längst Bescheid wussten. »Fergusson hat meine Großmutter zweifelsfrei als die Frau identifiziert, mit der Lawrence’ Vater vor vielen Jahren eine Affäre hatte, und auch Lawrence hat das unabhängig davon bestätigt. Dad konnte das Licht sehen, und er hatte Visionen. Er hat uns von Anfang an vor diesem Überfall gewarnt.« Unvermittelt schossen mir Tränen in die Augen, und meine Stimme begann zu zittern. »Er hat gesagt: Sie kommen! Immer wieder. Aber wir haben ihm nicht zugehört, und als er im Sterben lag, da …« Meine Kehle schnürte sich zu, und ich musste kurz schlucken, ehe ich in der Lage war, weiterzusprechen. »Da sagte er mir, dass es das wert war. Er wusste, dass er sterben würde, wenn er hierherkommt. Aber er tat es trotzdem.«
Aaron, der links neben mir saß, streckte die Hand unter dem Tisch aus und legte sie um meine zittrigen Finger. Ich drückte sie leicht, dankbar für die Unterstützung. »Dieses Opfer darf nicht umsonst gewesen sein, Una.«
»Ich will nicht herzlos klingen, Eden«, erwiderte sie mit ausdrucksloser Miene. »Aber mir ist immer noch nicht klar, warum er überhaupt die Eingangstür geöffnet und die Rogues eingelassen hat.«
Darüber hatte ich in den letzten Tagen sehr lange und intensiv nachgedacht. »Das Foyer wird doch videoüberwacht, oder?«
»Eigentlich schon«, antwortete Fergusson und rieb sich über seinen struppigen Vollbart. »Aber als die Rogues das Eingangstor weggesprengt haben, haben sie auch das IT-Netzwerk inklusive der Kameras erwischt. Wir haben ab diesem Zeitpunkt keine Bilder mehr.«
Das überraschte mich nicht. Herausfordernd wandte ich mich wieder Una zu. »Alle sind sofort davon ausgegangen, dass mein Vater die Tür geöffnet hat. Aber was, wenn ihr euch irrt? Was, wenn unser Feind schon vorher im Gebäude war?«
»Das ist nicht möglich«, sagte Lawrence sofort. »Wir hatten jedes Stockwerk überprüft, bevor wir die Leute über die Aula in Sicherheit gebracht haben.«
»Ja«, pflichtete Meghan ihm bei, wie wir es besprochen hatten. »Aber möglicherweise hat jemand das Chaos im Hinterhof genutzt, um mit den Flüchtenden ins Gebäude zu gelangen.«
»Ausgeschlossen.« Alva schüttelte energisch den Kopf, doch ich konnte ihre Zweifel deutlich erkennen. »Wir hätten jeden Rogues erkannt.«
Vielsagend hob ich eine Braue. »Ich spreche nicht von einem Rogue.«
Alva klappte die Kinnlade runter. Ich hätte den Anblick genossen, wäre die Lage nicht so verdammt ernst gewesen.
Tori nutzte ihre Verblüffung, um das Wort zu ergreifen. »Wir sind uns einig, dass sich das Verhalten der Rogues in den letzten Wochen grundlegend verändert hat. Sie sind keine instinktgesteuerten Einzelgänger mehr, sondern greifen in Horden an. Das haben wir inzwischen alle mehrfach erlebt. Aber dass sie Bomben bauen, ist doch recht unwahrscheinlich. Dazu sind sie geistig überhaupt nicht in der Lage.«
Aaron nickte nachdrücklich. »Kein Rogue, sondern jemand, der klaren Verstandes ist, muss sie irgendwie kontrollieren. Nur das ergibt Sinn.«
»Ich denke, das hat Dad gemeint, als er uns warnte, dass er zurückkehren wird«, ergänzte ich. »Vielleicht besitzt der Alpha – oder wie auch immer ihr ihn nennen wollt – noch nicht die Stärke, die Elijah Wheeler besaß. Aber zumindest hat er bereits einen Weg gefunden, die Rogues zu beherrschen. Er könnte das Tor gesprengt und später die Eingangstür geöffnet haben, um uns von der Vorderseite aus anzugreifen.«
Fergusson riss die Augen auf. »Willst du damit andeuten, dieser Alpha ist direkt vor unserer Nase ins Hauptquartier spaziert?«
»Hast du eine bessere Erklärung?« Mit Grauen beschwor ich die Erinnerung an den Angriff herauf. »Seien wir ehrlich. Als die Rogues das Anwesen stürmten, haben wir alle den Überblick verloren. Niemandem wäre ein fremdes Gesicht inmitten des Kampfes aufgefallen. Dazu waren wir alle viel zu sehr mit unserer Verteidigung beschäftigt.«
Nachdenklich trommelte Lawrence mit den Fingern auf der Tischplatte herum, ehe er sich an Una wandte. »Kane glaubt inzwischen ebenfalls an die Alpha-Theorie. Er sucht ihn in Phoenix.«
Tori schnappte nach Luft, während ich gegen den Drang ankämpfte, laut loszulachen. Ausgerechnet diese Stadt als Ziel anzugeben, entsprach genau Kanes Humor. Dabei war er gar nicht in Phoenix, sondern in Las Vegas, zumindest laut der Nachricht, die er seiner Schwester erst heute Morgen geschickt hatte. Tori hatte es mir selbst erzählt, obwohl ich mich seit seinem Verschwinden nicht nach ihm erkundigt hatte.
Ich fragte mich allerdings, warum er Lawrence nicht einfach die Wahrheit sagte. Andererseits hatte dieser seine Loyalität gegenüber seiner Anführerin gerade erneut unter Beweis gestellt, und ihrer verkniffenen Miene nach zu urteilen, arbeitete sie bereits daran, Kane zurückzuholen. Was hoffentlich eher später als früher geschah. Denn nach allem, was zwischen uns passiert war, wollte ich ihn wirklich nicht wiedersehen. Zumindest nicht im Moment. Trotzdem fühlte es sich plötzlich seltsam falsch an, Aarons Hand zu halten. Deshalb ließ ich sie los und stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab.
Fergusson brummte nachdenklich. »Wenn das stimmt, war der Angriff auf das Hauptquartier womöglich erst der Anfang.«
Zu meiner Überraschung stimmte Alva ihm zu. »Es könnte weitere Überfälle geben.«
Ich hatte gehofft, dass die Führungsriege zu diesem Schluss kommen würde, und nickte ernst. »Es werden mehr Rogues kommen. Genau deshalb brauchen wir einen neuen Lösungsansatz.«
Angespannt rieb Lawrence sich über das Gesicht. »Hier seid ihr sicherer.«
Meghan warf die Hände in die Luft. »Wir können uns nicht den Rest unseres Lebens hinter diesen Mauern verkriechen und tatenlos zusehen, wie die Rogues da draußen immer zahlreicher werden.«
»Wenn wir die Feder finden, hätten wir wenigstens eine Chance«, fügte Aaron hinzu. Er schluckte schwer. »Vielleicht schaffen wir es ja wirklich, den Phönix zurückzuholen und unsere Freunde zu retten.«
»Das wird ja immer besser«, murmelte Alva.
Unas Miene blieb starr. »Lennox und die anderen haben ihr Licht verloren.«
»Wer sagt, dass das Schicksal unserer Freunde unabwendbar ist?«, schoss ich zurück. »Was genommen werden kann, kann vielleicht auch zurückgegeben werden.«
Alva stieß ein kratziges Lachen aus, das keineswegs amüsiert klang. »Wenn der Phönix diese Macht gehabt hätte, wären die Rogues bereits im ersten Krieg vernichtet worden.«
»Oh, ich denke, er hatte sie«, entgegnete ich. »Allerdings schenkte er diese Gabe dem ersten Phönixkrieger, den er erschuf.« Ich lächelte kühl. »Sein Name war übrigens Elijah Wheeler.«
Entgeistert starrte mich die Führungsriege der Phönixallianz an.
Una war die Erste, die sich von ihrem Schock erholte. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich. Elijah war kein Phönixkrieger, sondern der erste Rogue. Seine Seele war finster wie die Nacht, ohne jeden Funken Licht.«
»Ja, so steht es in den Büchern, nicht wahr?«, fragte ich und lehnte mich ein Stück vor. »Aber wie kam es dazu? Jeder Mensch wird mit heller Seele geboren. Ist Elijah einfach eines Morgens aufgewacht und hat sich selbst das Licht ausgepustet?«
Una warf mir einen verärgerten Blick zu. »Niemand weiß genau, was damals passiert ist. Fest steht nur, dass er wie alle anderen Rogues eine Dunkelaura besaß.«
»Tja, ich fürchte, eure Überlieferungen sind diesbezüglich ein wenig löchrig.« Ich nickte Tori zu, die vorsichtig einige lose Blätter aus einer Mappe in ihrer Umhängetasche zog. Während sie die Seiten ausbreitete, fuhr ich fort: »Was ihr hier seht, sind Elijahs Tagebucheinträge vor dem Krieg. Daraus geht klar hervor, dass er grundsätzlich kein schlechter Mensch war. Er war sogar fähig, zu lieben.«
»Wo habt ihr die her?«, herrschte Alva uns an.
»Ich … äh … aus dem Archiv«, antwortete Tori mit hochroten Wangen. »Kane ist zufällig darauf gestoßen, als er nach Edens Vorfahren gesucht hat.«
Eigentlich hatte ich die Dokumente gefunden, als ich heimlich im Archiv herumgestöbert hatte. Aber wir hielten es für klüger, diesen Regelbruch für uns zu behalten. Davon abgesehen war Kane sowieso nicht da, um alles abzustreiten.
Behutsam zog Fergusson ein Blatt zu sich heran, beugte sich dicht darüber und schnüffelte. »Sieht mir nicht nach einer Fälschung aus.« Er kniff die Lider zusammen und überflog Elijahs Worte, die mich damals zu Tränen gerührt hatten. »Er hatte eine Frau?«
Ich nickte. »Und sie haben ein Kind erwartet. Beide starben bei einem Überfall. Elijah konnte sie nicht retten.« Ich sah den Traum vor mir: wie der junge Mann schluchzend neben dem reglosen Körper seiner schwangeren Paulina in der blutbefleckten Erde kauerte. Selbst nach allem, was dieser Mann getan hatte, schmerzte mich seine Verzweiflung noch immer. »Ich nehme an, der Phönix hatte Mitleid und wollte Elijah etwas Gutes tun, indem er ihm einen Teil seiner Macht verlieh. Aber Elijah war zu verbittert, um das Geschenk des Phönix zu würdigen. Vielleicht stimmen eure Überlieferungen, und er hat sich daraufhin in den ersten Rogue verwandelt. Aber was, wenn ihr euch irrt? Er könnte auch Phönixkrieger und Rogue gewesen sein oder seine Gabe lediglich genutzt haben, um anderen das Licht zu rauben.«
Vollkommen fassungslos schüttelte Lawrence den Kopf. »Das ist unmöglich.«
Mir war durchaus klar, wie abstrus diese Geschichte klang, und mir entging auch nicht die Ironie daran, dass eine Anfängerin wie ich, die außerhalb der Phönixallianz aufgewachsen war und bis vor Kurzem nicht einmal etwas von deren Existenz geahnt hatte, jetzt die Vergangenheit überschrieb. Aber ich wusste einfach, dass das die Wahrheit war.
»Ich habe es gesehen«, erklärte ich ruhig.
Unas Lider wurden schmal. »Was soll das heißen?«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten. Doch Tori kam mir zuvor.
»Wisst ihr noch«, sagte sie aufgeregt, »dass wir anfangs geglaubt haben, Eden kann die Waffen anderer Phönixkrieger führen, weil sie sie kopiert? Im Grunde stimmt das nur zum Teil. Sie spiegelt nicht die Waffe, sondern die Gabe an sich. Edens Dad konnte Visionen empfangen.« Tori grinste breit, während sie mit dem Daumen in meine Richtung zeigte. »Und Eden kann das auch.«
Una blieb skeptisch. »Eden muss die Waffe berühren, um sie zu spiegeln.«
»Nicht immer, wie es scheint«, mischte Meghan sich ein. »Bei ihrem Dad hat es von Anfang an ohne funktioniert. Wir sind uns zwar nicht hundertprozentig sicher, warum das so ist, aber vermutlich liegt es am gleichen Genpool.«
Die Führungsriege der Allianz wirkte nicht überzeugt, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ich selbst hegte schließlich auch gewisse Zweifel an dieser Theorie. Aber eine andere Erklärung hatten wir leider nicht.
Tori lehnte sich vor. »Eden hat gesehen, wie Elijah zum Phönixkrieger wurde, und auch, wie die Feder in derselben Höhle gelandet ist, die ihr Dad gezeichnet hat. Und zwar in ihren Träumen.«
»In ihren Träumen?«, wiederholte Alva ungläubig. »Wir sollen euch also erlauben, das Anwesen zu verlassen, um Träumen nachzujagen? Das ist doch wohl nicht euer Ernst!«
Langsam ließ ich den Blick über die Ältesten gleiten, bis ich schließlich bei Una verweilte. Ihre Miene verriet nicht die kleinste Tendenz.
»Es kann kein Zufall sein, dass Dad und ich dieselbe Höhle gesehen haben«, sagte ich und lehnte mich nun ebenfalls ein Stück vor. »Er meinte, wir würden das Leben im Tod finden. Also muss die Feder irgendwo im Death Valley sein. Vielleicht enthält die Zeichnung noch mehr Hinweise und …«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich sie nicht habe«, stieß Una unvermittelt hervor, und zum ersten Mal, seit dieses Treffen begonnen hatte, konnte ich etwas wie Verärgerung in ihrer Miene aufflackern sehen.
Verdammt!
Ich hatte angenommen, dass Una zuvor gelogen und die Zeichnung irgendwo weggeschlossen hatte, damit wir dieser Suche nicht weiter nachgingen. Aber so finster, wie sie jetzt dreinschaute, hatte sie die Wahrheit gesagt.
»Die Zeichnung wurde seit dem Angriff nicht mehr gesehen«, fügte Lawrence betrübt hinzu. »Ich fürchte, sie ist den Aufräumarbeiten zum Opfer gefallen.«
Fergusson zog die buschigen Brauen zusammen. »Das kann nicht sein. Sie war schon weg, als ich am Abend des Angriffs meinen Laptop aus dem Konferenzraum geholt habe.«
Mit einem frustrierten Laut warf Meghan die Hände in die Luft. »Aber irgendjemand muss sie doch mitgenommen haben.«
Ihre Worte kitzelten eine Erinnerung in mir wach, und schlagartig brach mir der Schweiß aus. »O Gott!« Mein Pulsschlag beschleunigte sich, während ich mich an meine Freunde wandte. »Bevor Dad starb, sagte er: Sie haben sie einfach mitgenommen.«
Die drei schauten mich verständnislos an.
Deshalb wurde ich deutlicher. »Ich dachte, er meint Ryanne, weil die Rogues sie kurz zuvor überfallen hatten. Aber was, wenn er die Zeichnung meinte?«
Tori keuchte auf. »Das würde bedeuten, dass der Alpha sie in diesem Augenblick in den Händen halten könnte.«
Meghan schoss von ihrem Stuhl hoch. »Uns rennt die Zeit davon.«
»Immer mit der Ruhe.« Beschwichtigend hob Lawrence die Hände. »Der Alpha – falls es ihn denn wirklich gibt – weiß doch gar nicht, welche Bedeutung die Skizze hat.«
»Na ja, sie zeigt eine strahlende Feder in einer Höhle, deren Eingang auf eine karge Landschaft hinweist«, wandte ich ein. »Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Phönixkrieger im Death Valley erschaffen wurden, muss man nun wirklich kein Genie sein, um darauf zu kommen, dass es sich um eine Phönixfeder handelt, die unser aller Schicksal beeinflussen könnte.«
»Eden hat recht.« Aaron raufte sich die Haare. »Der Alpha wird die Feder ebenfalls suchen. Hätte ich bereits die Fähigkeit erlangt, Rogues zu kontrollieren, würde ich jedenfalls alles daransetzen, sie zu finden, um mich selbst upzugraden.«
Plötzlich wurde mir heiß und kalt zugleich. »Und wenn ihm das gelingt, könnte sich die Prophezeiung meines Vaters tatsächlich erfüllen.«
»Ich fasse das mal zusammen«, sagte Una tonlos. »Ihr glaubt, da draußen spaziert jemand herum, dem es bereits gelungen ist, die Rogues unter Kontrolle zu bringen und der nach dem Angriff auf unser Hauptquartier nun ebenfalls nach der letzten Feder sucht, um weitere Kräfte anzusammeln. Und dieser Jemand selbst ist kein Rogue, sondern ein Phönixkrieger wie Elijah.«
Alva schnaubte. »Das ist doch lächerlich. Jeder Phönixkrieger ist der Allianz gegenüber absolut loyal. Es hat seit der Gründung noch nie einen Verräter gegeben.«
»Und du kennst jeden einzelnen von ihnen persönlich, um das zu beurteilen«, fragte ich scharf. »Auch in den anderen Zweigstellen?«
Alva presste die Lippen zusammen, denn sie konnte es eben nicht mit Sicherheit sagen.
»Wie auch immer. Wir wissen nicht, ob der Alpha tatsächlich ein Phönixkrieger ist«, sagte Aaron. »Er könnte auch ein ganz normaler Mensch sein. Vielleicht ein Eingeweihter oder jemand, der in Verbindung mit der Allianz steht. Schließlich gibt es da draußen genug Leute, die trotz aller Diskretion über uns Bescheid wissen.«
Tori nickte. »Vielleicht ist es sogar einer unserer Kooperationspartner.«
Interessanterweise schmetterte Una diesen Einwand nicht ab. Wahrscheinlich, weil ihr ebenfalls klar wurde, dass es durchaus im Bereich des Möglichen war. Zwar hatte Tori mir mal erklärt, dass die Phönixallianz und internationale Geheimdienste die allerdicksten Freunde waren. Aber da saßen Menschen auf den Stühlen, die keine Superkräfte hatten.
»Das könnte sein«, sagte ich. »Sicher gibt es genug Menschen, die den Gedanken ziemlich Furcht einflößend finden, dass hier Leute rumspazieren, die Lichtwaffen erschaffen oder sich unsichtbar machen können. Da wäre es doch ungemein praktisch, eine Rogue-Armee zu befehligen, die auf einen Schlag die Allianz außer Gefecht setzen kann.« Der Angriff auf das Hauptquartier hatte es sogar bewiesen.
»Versteht ihr es jetzt?«, fragte Meghan leise. »Diese Feder enthält die ursprüngliche Macht des Phönix. Wer immer sie findet, wird auf die eine oder andere Weise diesen Krieg beenden.«
Stille senkte sich über den Raum. Selbst Alva biss die Zähne zusammen, während sich sämtliche Blicke auf die Anführerin der Phönixallianz hefteten.
»Also gut«, sagte sie schließlich angespannt. »Sucht nach der Feder, aber ihr werdet jeden Abend vor Sonnenuntergang zum Hauptquartier zurückkehren und Bericht erstatten. Und solltet ihr auf eine weitere Rogue-Horde treffen, werdet ihr euch umgehend zurückziehen und Verstärkung rufen. Ihr haltet euch von Ärger fern. Ich will keinen weiteren Phönixkrieger verlieren, ist das klar?«
Meine Freunde sackten vor Erleichterung zusammen. Mir persönlich war es egal, ob Una unsere Suche unterstützte oder nicht. Ich wäre so oder so gegangen, und die anderen hätten mich begleitet. Aber es schien ihnen viel zu bedeuten, dass sie Unas Segen hatten.
Ich warf Una ein ehrliches Lächeln zu, während ich nickte. »Glasklar.«
EDEN
Einst war Glorypeak ein blühendes Städtchen gewesen, in das die Menschen scharenweise strömten, um in dem umliegenden Rainbow Canyon nach Gold zu suchen. Entlang der Hauptstraße hatte es Saloons, Hotels und alle möglichen Geschäfte mit Lebensmitteln, Kleidung und Bergwerkzeugen gegeben. Doch von dem einstigen Reichtum waren nur zerklüftete Gebäude geblieben, an deren vergilbten Fassaden bereits der Putz abgeplatzt war und deren Dächer teilweise eingestürzt waren. Glorypeak war zu einer Geisterstadt verkommen, in der die schwarze, glänzende Karosserie des SUV wie ein Stilbruch wirkte.
»Hübsch«, bemerkte Tori ironisch.
Da musste ich ihr recht geben. Dad hatte zwar gesagt, wir sollten mit unserer Suche nach der Feder beim Ursprung beginnen. Aber wenn ich mir diese Stadt so ansah, bezweifelte ich, dass wir irgendeinen Hinweis auf eine versteckte Höhle fanden. Leider war das unser einziger Anhaltspunkt. Gleich nachdem Una uns gestern Nachmittag grünes Licht gegeben hatte, hatten wir das Archiv nach Karten von Glorypeak und den umliegenden Claims durchsucht und – Überraschung! – nichts gefunden. Ganz ehrlich! Das war das mieseste, chaotischste Archiv, das ich jemals gesehen hatte. Im Grunde verdiente es diesen Namen überhaupt nicht. Alles, was wir herausgefunden hatten, war, dass Elijahs Heim und viele andere Gebäude während der Schlacht von Glorypeak heruntergebrannt waren. Deshalb konnten wir nur hoffen, dass es in den verbliebenen Bauten etwas gab, das unsere Suche wenigstens ein bisschen eingrenzte.
Lässig ließ Meghan einen ihrer Lichtstäbe aufleuchten, während sie die Umgebung sondierte. »Sollen wir ein bisschen Krach machen und abwarten, ob sich jemand raustraut?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Una mit von Ärger fernhalten etwas anderes als das gemeint hat«, erwiderte Aaron schmunzelnd.
Es war erst acht Uhr morgens. Obwohl die Sonne noch tief am Himmel stand, war es bereits unerträglich heiß. Die halbe Stunde Fahrtzeit, die wir in dem klimatisierten SUV vom Hauptquartier bis hierher gebraucht hatten, war bei Weitem nicht genug gewesen, um mich abzukühlen. Ich schwitzte schon wieder in meiner Shorts und dem luftigen Top. Meine Freunde trugen ähnlich locker sitzende Kleidung, schienen allerdings deutlich weniger Schwierigkeiten mit der Hitze zu haben. Ich hoffte inständig, dass sich mein Körper bald an dieses feurige Klima gewöhnen würde.
»Mir wäre es auch lieber, wir locken unsere Feinde heraus, anstatt von ihnen überrascht zu werden«, meinte Tori und rümpfte die Nase. »Nicht dass es am Ende so läuft wie in diesen ganzen Zombiefilmen.«
»Das wäre in der Tat blöd«, erwiderte ich und nickte Meghan zu, die daraufhin ihr Handy hervorzog und auf dem Display herumtippte. Sekunden später erklang ein vertrautes Bassintro, bevor The Cranberries mit ihrem Hit »Zombie« losgelegten. Mit einer hochgezogenen Braue sah ich Meghan an. »Echt jetzt?«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Was denn? Der Song ist ein Klassiker.«
Tori kicherte. »Da hat sie recht.«
Meine Mundwinkel zuckten ebenfalls, und ich tauschte einen belustigten Blick mit Aaron, während Meghan die Lautstärke höher drehte. Wir stellten uns Rücken an Rücken, sodass wir jede Himmelsrichtung überwachen konnten. Doch abgesehen von ein paar Krähen, die sich etwas weiter südlich empört krächzend in die Lüfte erhoben, war niemand zu entdecken.
Wir warteten, bis der Song verklang. Dann stellte Meghan ihr Handy aus, steckte es zurück in ihre Umhängetasche und deutete auf das Ende der Straße. »Ich würde vorschlagen, wir arbeiten uns Gebäude für Gebäude durch.«
Da das ganz vernünftig klang, setzten wir uns in Bewegung und betraten kurz darauf ein verlassenes Kleidungsgeschäft. Hier drin sah es aus wie nach der Apokalypse. Die Sonnenstrahlen drangen nur gedämpft durch die schmutzigen Scheiben und einige Risse in den Wänden. Staubkörner tanzten durch die stickige, abgestandene Luft. Sämtliche Kleiderständer und Holzregale waren geplündert worden, einige Bretter hingen schief in den Halterungen. Auf dem Boden in der Ecke lagen nur noch ein paar mottenzerfressene Stofffetzen, die entfernt an Kleidung erinnerten. Außerdem gab es einen großen Spiegel an der linken Wand, der jedoch zersplittert war.
Meghan, die ihren Stab nun nutzte, um den hinteren Teil des Geschäfts zu beleuchten, ging um einen hüfthohen Tresen herum. Dahinter befand sich eine Tür, die jedoch schief in den Angeln hing. Es knarzte, als Meghan das spröde Holz wegdrückte und vorsichtig dahinter spähte.
»Hier ist eine Werkstatt«, berichtete sie und beugte sich weiter vor. »Und es gibt eine Treppe ins obere Stockwerk. Wahrscheinlich führt sie zur Wohnung des ehemaligen Besitzers.«
Aaron trat vor. »Ich schlage vor, Eden und ich checken die Werkstatt, und ihr überprüft das obere Stockwerk. So geht es schneller.«
»Okay«, sagte Tori, und zusammen mit Meghan verschwand sie durch den Türspalt.
Aaron erschuf einen Lichtspeer und hielt ihn mir entgegen. »Nur zur Sicherheit.«
Ich glaubte nicht, dass in der Werkstatt irgendeine Gefahr drohte. Aber ich wollte kein unnötiges Risiko eingehen, weshalb ich den Speer an mich nahm. Die Lichtenergie pulsierte in meiner Handfläche. Es war angenehm, auch wenn es sich ein wenig anders als meine eigene Gabe anfühlte. Vermutlich, weil ich Aarons Phönixkraft spiegelte.
Ich schlüpfte hinter ihm in die kleine Werkstatt. In der Ecke stand eine verstaubte Modellpuppe, und auf dem Tisch in der Mitte verteilten sich zahlreiche Stecknadeln und lose Fäden. In einer Ledermappe fand ich einige Schnittmuster und ein altes Notizbuch.
»Ist das was?«, fragte Aaron und schaute mir über die Schulter.
»Nur ein paar handschriftliche Bestellungen. Textilfarbe, Leinen und Baumwolle. Sonst steht da nichts.« Ich klappte das Buch wieder zu, legte es auf den Tisch und drehte mich zu Aaron um.
»Schade.« Sein linker Mundwinkel bog sich zaghaft in die Höhe. »Das wäre ja auch zu einfach gewesen.«
»Aber wo bliebe denn da der Spaß?«
Da Aaron ziemlich dicht vor mir stand, lehnte ich mich gegen den Tisch in meinem Rücken. Mir fiel auf, dass wir zum ersten Mal allein waren, seit das alles passiert war. Deshalb wollte ich die Gelegenheit nicht einfach so verstreichen lassen.
»Aaron«, begann ich vorsichtig, »wenn du je darüber reden willst …«
Sein Lächeln verpuffte, und er verzog verbittert das Gesicht. »Was gibt es da zu reden, Eden? Mein bester Freund hat sein Licht verloren, weil er mir zu Hilfe kam.«
Entsetzt sah ich ihn an. Ich hatte mir Trauer und Wut gerechnet. Aber nicht damit. »Das war doch nicht deine Schuld.«
Er stieß ein abfälliges Schnaufen aus. »Es ist genau das passiert, wovor Kane mich gewarnt hat. Ich habe mich selbst überschätzt und versucht, es mit drei Rogues gleichzeitig aufzunehmen. Wenn Lennox sich nicht eingemischt hätte, wäre ich jetzt an seiner Stelle.«
Das hatte ich nicht gewusst. Trotzdem stand für mich außer Frage, dass Aaron keine Schuld an Lennox’ Verlust trug. Behutsam legte ich ihm eine Hand auf den Oberarm. »Die Rogues haben uns überrannt, Aaron. Du warst nicht der Einzige, der es mit mehreren Angreifern gleichzeitig aufnehmen musste.«
»Aber ich hätte wissen müssen, dass Lennox nicht tatenlos dabei zusehen würde.« Ein verräterischer Glanz trat in seine Augen. »Nicht bei mir.«
Mir wurde schwer ums Herz. »Du hast gewusst, wie er für dich empfunden hat?«
Diese Frage hatte mich beschäftigt, seit ich die beiden kennengelernt hatte. Lennox hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er auf Männer stand. Aber bestimmte Blicke hatten nur seinem besten Freund gegolten, der diese jedoch nicht zu bemerken schien. Was offenbar ein Trugschluss war, denn Aaron nickte unglücklich.
»Ich habe ihn auch geliebt«, gestand er leise. »Aber eben nicht, wie er es sich erträumt hat. Ich glaube, wir hatten beide Angst um unsere Freundschaft. Deshalb haben wir nie darüber geredet.« Aaron ließ den Kopf hängen. »Ich wünschte, ich hätte ihm gesagt, wie viel er mir bedeutet hat.«
Plötzlich musste ich selbst gegen die Tränen ankämpfen. »Das wusste er.«
»Ich vermisse ihn so sehr, Eden. Sein fröhliches Lachen, seine blöden Sprüche …« Aaron gab einen erstickten Laut von sich. »Sogar seinen schrägen Sinn für Humor.«
»Mir fehlt er auch.« Lennox’ positive Ausstrahlung war nur einer der Gründe gewesen, warum ich ihn so schnell ins Herz geschlossen hatte. Deshalb schmerzte mich sein Verlust ebenfalls. Aber sicher nicht so sehr wie Aaron.
Meine Brust zog sich vor Mitgefühl zusammen, und bevor ich länger darüber nachdenken konnte, ließ ich den Stab verglühen und zog Aaron in eine freundschaftliche Umarmung. Erst regte er sich nicht, doch dann legte er die Arme um mich und hielt mich fest, um meinen Trost anzunehmen. Er war ein ganzes Stückchen größer und breiter als ich, und obwohl mir sein kräftiger Körperbau bisher nicht entgangen war, war ich doch überrascht, wie winzig ich mich in seinen Armen fühlte.
»Danke«, sagte er leise und lehnte seine Wange auf meinen Kopf.
Die Berührung war seltsam intim – was ich definitiv nicht beabsichtigt hatte. Ich tätschelte ihm unbeholfen auf den Rücken, bevor ich wieder etwas Abstand zwischen uns brachte. Etwas verlegen schaute ich zu ihm auf. »Keine Ursache.«
Aaron ließ mich nicht los. Stattdessen musterte er mich. »Wie kommst du mit allem zurecht?«
Um die Wahrheit zu sagen: überhaupt nicht.
So richtig schien die Tatsache, dass mein Vater gestorben war, noch nicht in meinem Hirn angelangt zu sein. Faktisch wusste ich es. Aber ich verdrängte das Thema, wann immer ich mich selbst damit konfrontiert sah.
Mir war natürlich klar, dass das keine besonders gesunde Herangehensweise war und dass es bürokratische und organisatorische Aufgaben gab, die ich nicht mehr lange aufschieben konnte. Allerdings schaffte ich es nicht, mich damit auch noch auseinandersetzen. Schon die E-Mail, die ich letzte Woche an unsere Nachbarin Miss Singh geschrieben hatte, um sie zu bitten, in unserer Wohnung in San Francisco regelmäßig nach dem Rechten zu sehen, hatte mich in tiefe Verzweiflung gestürzt. Ich mochte mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, dorthin zurückzukehren und mein leeres Zuhause zu betreten. Ich hatte nicht mal den Mut aufgebracht, Dads Van zu öffnen, der nach wie vor auf dem Parkplatz der Phönixallianz stand. Stattdessen hatte ich Tori die Autoschlüssel in die Hand gedrückt und es ihr überlassen, nach weiteren Zeichnungen oder Hinweisen zu schauen, die unserer Suche helfen sein könnten.
Natürlich hatten wir nicht so viel Glück. Der Van war komplett leer geräumt. Es gab keine Malutensilien, keine persönlichen Sachen. Dad hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, eine Tasche zu packen. Wozu auch? Er hatte schließlich gewusst, wie diese Reise für ihn ausgehen würde …
Ein Stich durchzuckte mich, und ich verdrängte sofort jeden Gedanken an meinen Vater, bevor ich mich aus Aarons Umarmung löste und ihm ein beruhigendes Lächeln schenkte. »Ich komme klar.«
Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte, aber er bohrte auch nicht weiter nach, sondern akzeptierte meine Ausrede. Das war typisch für ihn. Er war nie fordernd oder selbstgerecht. Nicht so wie Kane, der mich mit seiner provokanten Art regelmäßig in den Wahnsinn getrieben hatte …
Klasse! An ihn wollte ich erst recht nicht denken.
Ich biss die Zähne zusammen und sah mich wieder in der Werkstatt um, obwohl wir bereits jeden Winkel überprüft hatten.
Es dauerte nicht lange, bis Tori und Meghan aus dem oberen Stockwerk zurückkehrten. So finster, wie die beiden dreinschauten, war klar, dass sie auch nichts gefunden hatten.
Also wandten wir uns dem nächsten Gebäude zu, das früher vermutlich eine Schule gewesen war. Zumindest deuteten die länglichen, umgestürzten Bänke und Tische sowie die mit Kreide verschmierte Schiefertafel an der Wand darauf hin. In der Ecke stand ein Wandschrank. Die Glasscheibe der linken Tür war herausgebrochen, die rechte so staubig, dass man die alten Bücher dahinter nur erahnen konnte.
Obwohl Meghan sicher nicht viel Hoffnung hatte, etwas Hilfreiches zu finden, öffnete sie vorsichtig die Tür und durchstöberte den Schrank, während ich die Tische genauer untersuchte. Vielleicht gab es ja Schubkästen oder andere Verstecke.
»Seht mal hier!«, rief Tori, die zu Meg an den Schrank getreten war. Sie bückte sich und holte einen Stapel Papiere heraus, die so fragil waren, dass sie beinahe in ihren Händen zerfielen.
Aaron, der gerade eine Bank beiseitegeschoben hatte, um dahinter zu gucken, hob den Kopf. »Was ist das?«
»Bloß ein paar Kinderzeichnungen«, antwortete Meghan und schloss seufzend die Schranktür. »Sonst nichts. Nicht mal ein Lehrbuch.«
Behutsam legte Tori den Papierstapel auf einen Tisch, der noch aufrecht stand, und blätterte die Bilder durch. »Die müssen erst nach der letzten Schlacht entstanden sein.«
»Meinst du?«, fragte ich und betrachtete ebenfalls die Zeichnungen.
»Ja.« Tori tippte auf eine Bleistiftzeichnung von einem brennenden Haus, vor dem einige Tote lagen. Links in der Ecke hockte ein unförmiges Tier. »Ist das ein Kaninchen?«
»Eher ein Wüstenfuchs«, sagte Aaron. »Aber warum grinst der so seltsam?«
Meghan schnaubte. »Weil Kinder total makaber sind.«
Tori warf mir einen belustigten Blick zu und blätterte weiter. Als Nächstes kam ein großes Gesicht mit einem breiten Grinsen, dann ein paar Strichmännchen, und so ging es weiter. Ein Kind hatte Häuser gemalt, ein anderes die Wüste, und wieder ein anderes die Schlacht. Es war unmöglich zu sagen, wie alt die kleinen Künstler gewesen waren. Manche Zeichnungen sahen aus wie die von einem Kindergartenkind, andere hingegen waren deutlich ausgereifter.
Meghan lachte auf, als wir eine Prinzessin mit einem riesigen Kopf und einer noch größeren Krone entdeckten. »Prinzessin geht anscheinend immer.«
»Definitiv«, stimmte Tori ihr zu, während sie das Blatt beiseitelegte.
Es folgten zwei Vögel mit ausgebreiteten Flügeln. Wobei, eigentlich stimmte das nicht ganz …
Ich beugte mich näher über das Blatt. »Sieht das nicht aus wie ein Phönix?«
Aaron legte den Kopf schräg. »Ja, könnte schon sein.«
»Die langen Federn hier sind zumindest typisch«, meinte auch Meghan und fuhr die Federkrone nach, die das Haupt des linken Vogels schmückte.
»Aber wieso sind es zwei?«, fragte ich irritiert.
»Äh, weil Kinder eine blühende Fantasie haben?«, erwiderte Meghan.
Tori kicherte. »Alles andere wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein.«
»Für mich sieht das eher wie ein Durchdruck aus.« Aaron tippte auf die Falzkante in der Mitte des Bildes. »Wahrscheinlich hat das Schwarz einfach abgefärbt.«
Das ergab am meisten Sinn. Trotzdem nahm ich das Blatt und faltete es, um diese Theorie zu überprüfen. Ich hielt es in das fahle Licht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben drang. »Sie sind nicht identisch. Die Linien weichen ein wenig voneinander ab.«
Tori winkte ab. »Das ist wahrscheinlich durch die Reibung passiert.«
»Ja, vermutlich«, erwiderte ich nachdenklich, während mir ein paar krakelige Buchstaben auf der Rückseite auffielen. »Hier steht Carly.«
»Süßer Name«, sagte Tori und blätterte weiter. »Uh! Guckt mal! Hier war jemand aber heftig verknallt.«
Abgelenkt ließ ich das Blatt sinken und musste ebenfalls schmunzeln, als ich ein Pärchen mit lauter Blümchen und Herzchen sah. Gleich danach folgte wieder eine recht düstere Darstellung der Schlacht, und obwohl diese Bilder eine gewisse Beklemmung bei uns auslösten, hatten wir Spaß dabei, die Kinderzeichnungen durchzusehen.
Als wir fertig waren, brachte ich die Bilder zum SUV, um sie später im Archiv zu verstauen, weil ich es einfach viel zu schade fand, diese uralten Werke hier verkommen zu lassen. In der Zwischenzeit suchten die anderen noch den Rest des Gebäudes ab. Sie stießen zwar auf einen kleinen Vorratsraum. Doch leider entdeckten sie darin nur ein paar verbeulte Konservendosen, deren Beschilderung zu ausgeblichen war, um sie lesen zu können.
Also zogen wir weiter. Wir brachten Stunden damit zu, weitere Gebäude zu durchforsten. Allerdings blieb unsere Suche erfolglos. Nicht einmal das Büro des Sheriffs oder der Saloon gaben etwas Brauchbares her.
Seufzend stieg Tori über einen zerbrochenen Barhocker und lehnte sich über den Tresen, um dahinter zu sehen. »Gibt’s hier wenigstens etwas Anständiges zu trinken?«
»Leider nicht«, erwiderte Aaron, der gerade die zerbrochenen Flaschen in dem Regal über der Bar inspizierte. Etliche Rinnsale hatten sich in das Holz gefressen und es dunkel verfärbt. Gläser gab es nicht mehr, dafür aber einen Haufen Scherben, die unter unseren Schuhsohlen knirschten.
»Wie wäre es mit einem guten, alten Wein?«, rief Meghan, die gerade hinter einer unscheinbaren Nische verschwunden war. Ihre Stimme klang gedämpft. »Da unten scheint es eine Art Kühlkeller zu geben.«
Überrascht gingen wir zu ihr. Sie hatte eine Holztür aufgeschoben und spähte nach unten.
»Die anderen Gebäude hatten keinen Keller«, sagte ich und schaute ihr über die Schulter. Ein modriger Gestank vermischt mit Alkohol schlug mir entgegen. Steinstufen führten hinab in die Finsternis.
»Wow.« Tori schauderte. »Das ist echt gruselig.«
Da konnte ich ihr nur beipflichten.
»Hmm«, machte Meghan, ließ einen ihrer Lichtstäbe aufblitzen und leuchtete den Gang hinunter. Doch nicht einmal der helle Schein reichte aus, um das Ende der Treppe zu erreichen. Trotzdem setzte Meghan sich in Bewegung, und ich konnte nicht umhin, ihre Furchtlosigkeit zu bewundern, während sie entschlossenen Schrittes die Stufen hinabging.
Aaron ließ einen Speer erscheinen, ehe er Meghan folgte.
»O Mann«, murmelte Tori und machte eine ausladende Geste. »Willst du zuerst?«
Ich stieß ein nervöses Lachen aus. »Klar. So was ist echt voll mein Ding.«
Tori kicherte leise, während ich meine Hände aufleuchten ließ und sie wie zwei Fackeln vor mich hielt. Ich schob mich an ihr vorbei und stieg vorsichtig die Stufen hinab. Der Gang war schmal und so tief, dass Aaron kaum aufrecht stehen konnte. Die Luft roch widerlich abgestanden. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie überhaupt noch Sauerstoffpartikel enthielt oder ob wir am Ende der Treppe einfach alle umkippten und erstickten.
Es kam eine leichte Biegung, dann trat ich in einen offenen Raum, der nur von unseren Lichtwaffen erleuchtet wurde. Links standen etliche Regale, in denen früher tatsächlich kleinere Fässer gelagert haben mussten. Jetzt waren sie allerdings zerbrochen, und die zersplitterten Holzbretter waren großflächig mit äußerst unappetitlichen Schimmelpilzen bedeckt, die offenbar den Gestank verursachten.
Angewidert verzog ich das Gesicht und schaute mich weiter um. Am hinteren Ende des Raumes standen drei runde Tische, auf denen Spielkarten zwischen trüben Gläsern und umgekippten Öllampen lagen. Einige Stühle lagen teils zerstört auf dem Boden. »Sieht aus, als hätten hier private Pokerpartys stattgefunden.«
»Jepp.« Aaron trat zur rechten Seite des Kellers und hob seinen Speer. »Und wer seine Schulden nicht zahlen konnte, erhielt direkt ein nettes Plätzchen hier drüben.«
Neugierig ging ich zu ihm und staunte nicht schlecht, als ich ein Metallgitter entdeckte, das sich quer durch den Raum zog. Aaron streckte die Hand aus, und schon glitt quietschend die Tür zu der integrierten Zelle auf, die groß genug war, dass sogar vier Pritschen darin Platz fanden.
»Das ist ja praktisch«, bemerkte Tori und rümpfte die Nase. »Sind wir dann hier fertig?«
»Moment noch.« Aaron trat in die Zelle und bückte sich, um unter die provisorischen Betten zu leuchten. Dann zuckte er mit einem Ächzen zurück.
Ich ließ meine Hände aufleuchten. »Was ist?«
»Tote Ratten.« Mit einem verlegenen Grinsen kam Aaron auf die Beine. »Ich hasse diese Viecher.«
»Wer nicht?«, erwiderte ich belustigt und zeigte zum Ausgang. »Nichts wie raus hier.«
Aaron nickte, doch Tori war die Erste, die die Treppen hochsprintete und den Saloon durch die Lücke in der Seitentür verließ, die Aaron zuvor mit ein paar kräftigen Tritten verursacht hatte. Wir blieben direkt hinter ihr, und nachdem ich ebenfalls durch das Loch geschlüpft war, saugte ich erleichtert saubere Luft in meine Lunge.
Na ja, so sauber, wie sie halt im Death Valley sein konnte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Tori, als wir wieder auf die Hauptstraße traten, und ließ im Licht der untergehenden Sonne den Blick über die stillen Gebäude wandern. Die, die wir schon durchsucht hatten – also gut die Hälfte –, und die, die wir noch vor uns hatten. »Hier müssten doch wenigstens ein paar Landkarten oder Pläne sein.«
»Was hast du erwartet?«, fragte Meghan. »Dass wir gleich an Tag eins auf eine Karte stoßen, auf der mit einem Pfeil eine sonderbare Höhle markiert ist?«
Tori verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Bisher wusste ja niemand, dass die Höhle überhaupt existiert. Aber es müsste doch zumindest Unterlagen über die umliegenden Claims geben, in denen die Leute nach Gold gesucht haben.«
»Wahrscheinlich haben Plünderer alles mitgenommen«, überlegte Aaron laut.
Nachdenklich wandte ich mich dem Rainbow Canyon zu, der sich nicht weit entfernt hinter den Gebäuden im Norden erhob. »Ich glaube ohnehin nicht, dass wir hier richtig sind. Man würde die Stadt von den Stollen aus sehen. Aber sowohl auf Dads Zeichnung als auch in meinem Traum war vor der Höhle eine großflächige, unbesiedelte Ebene.«
Meghan zog ihr Tablet aus ihrer Umhängetasche und rief eine digitale Landkarte auf. »Auf der Rückseite des Rainbow Canyons liegt das Darwin Plateau, und weiter im Norden umschließt die Panamint Range eine recht große Sandwüste.«
Ich nickte. »Das würde eher passen.«
»Dann sollten wir dort weitermachen«, meinte Meghan und packte das Tablet wieder weg.
»Also brechen wir hier ab?«, fragte Aaron.
»Vielleicht wäre das sinnvoller.« Tori schürzte die Lippen. »Andererseits kostet es uns maximal einen weiteren Tag, auch die restlichen Gebäude zu durchsuchen. Wenn wir darauf verzichten, könnte uns etwas Wichtiges entgehen.«
Zu meiner Überraschung sahen meine drei Begleiter nun mich an, und mir dämmerte, dass sie eine Entscheidung von mir erwarteten.
Mist! Keine Ahnung.
Unentschlossen wandte ich mich wieder den Gebäuden zu. Ich öffnete gerade den Mund, um meine bescheidene Meinung kundzutun, da sah ich ihn: einen Rogue. Keine fünfzig Fuß von uns entfernt.
EDEN
Der Rogue lungerte im Schatten einer Schmiedewerkstatt und wippte vor und zurück, als wollte er sich nur zu gern auf uns stürzen. In Menschenjahren schätzte ich ihn auf Anfang zwanzig. Er hatte fuchsrotes Haar, das ihm strähnig in die Stirn hing. Sein grünes Hemd war zerlumpt und schmutzig, die braune Leinenhose zerrissen, sein Körper ausgezehrt. Er musste schon vor einer ganzen Weile sein Licht verloren haben. Als sich unsere Blicke begegneten, setzte er sich in Bewegung, und ich wich reflexartig vor ihm zurück.
Meine Freunde drehten sich irritiert um.
Sowie Meghan und Aaron den Rogue entdeckten, ließen sie ihre Lichtwaffen aufleuchten und machten sich kampfbereit.
»Denkt ihr, er ist allein?«, fragte Meghan.
Ich wagte es nicht, den Blick von der unmittelbaren Gefahr vor uns abzuwenden. Denn der Rogue kam jetzt direkt auf uns zu. Furchtlos. Hungrig. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Mir war klar, dass er sich jeden Moment auf uns werfen würde, egal, wie aussichtlos dieser Kampf für ihn war. Seine Instinkte befahlen es ihm.
»Ich kann sonst niemanden sehen«, sagte Tori, die sich offenbar umgeschaut hatte.
Aaron spannte den Oberarm an und hob den Speer. Vermutlich hatte er nicht vor, den Rogue weiter als nötig herankommen zu lassen, sondern beabsichtigte, ihn aus sicherer Entfernung aufzuspießen.
Mir drehte sich der Magen um. Ich betrachtete das bleiche Gesicht des jungen Mannes, die blutleeren Lippen, die leblosen braunen Augen …
Rogues waren unsere Feinde. Bösartig. Gewalttätig. Grausam. Und doch konnte ich den Bruchteil einer Sekunde echte Verzweiflung in seiner Miene aufflackern sehen.
»Mach kurzen Prozess mit ihm«, sagte Meghan, und ihre Stimme war kalt wie Eis.
Aaron holte aus.
Wie es schien, hatten meine Freunde die Gefühlsregung in den Augen des Rogues nicht bemerkt. Andererseits taten sie das nie. Hätte ich nicht schon bei anderen Rogues Schmerz und Hilflosigkeit wahrgenommen, hätte ich vermutlich an meinen Eindrücken gezweifelt. Aber so war ich mir absolut sicher.
Bevor Aaron den Speer auf den Rogue schmettern konnte, entriss ich ihn seiner Hand und rannte auf den Rogue zu. Dieser setzte prompt zum Sprung an, um sich auf mich zu werfen. Tori schrie hinter mir auf, aber ich hatte die Attacke des Rogues bereits kommen sehen und wich ihm aus, bevor ich ihm den Speer über den Rücken zog. Ich wollte ihm nicht wehtun, aber es musste sein.
Grunzend fiel er auf die Knie, drehte sich aber sogleich wieder zu mir um und suchte nach einem Weg, mich erneut anzugreifen.
»Nicht!«, zischte ich und richtete das Speerende mit einem Ruck auf seinen Hals, in der Hoffnung, dass er stillhalten würde.
Leider tat er es nicht, sondern ließ sich auf den Hintern fallen und krabbelte rückwärts von mir weg, um den nötigen Platz für einen weiteren Angriff zu schaffen. Dabei gab er kein Geräusch von sich. Das war eines der Dinge, die Rogues so verdammt unheimlich machten. Sie sprachen nicht, sondern gaben maximal Laute von sich. Wie wilde Tiere.
Ich hielt die Speerspitze weiter auf seine Halsschlagader gerichtet, ließ ihm keinen Raum.
»Was machst du denn da?«, fragte Tori verdattert hinter mir.
Ich erklärte mich nicht, sondern drängte den Rogue entschlossen gegen einen Holzschuppen, bis er mit seinem knochigen Rücken gegen die Wand stieß und nicht mehr weiterkam.
Er zuckte vor, suchte nach einer weiteren Möglichkeit, der Speerspitze zu entkommen, um mich anzugreifen. Doch ich hielt ihn weiterhin in Schach.
Schritte erklangen, und schon standen meine Freunde neben mir. Aaron hatte einen weiteren Speer erzeugt, mit dem er nun auf das Herz des Rogues zielte. Es bedurfte nicht mehr als einer schnellen Bewegung, und schon würde er ihn vernichten.
»Warte!«, rief ich.
»Was zur Hölle soll das, Eden?«, beschwerte sich Meghan, die einen Lichtstab aufflammen ließ.
Nun waren drei Waffen auf die Kehle und das Herz des Rogues gerichtet. Er hatte keine Chance, trotzdem spürte ich seine Anspannung. Er lauerte nur auf den richtigen Moment.
Ich holte tief Luft. »Wir können ihn nicht umbringen.«
»Soll das ein Witz sein?«, stieß Meghan hervor. »Er ist ein Rogue!«
»Das weiß ich.« Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. »Aber das sind Ryanne und Lennox auch. Findest du es nicht ein bisschen scheinheilig, nach einer Heilung für unsere Freunde zu suchen und gleichzeitig alle anderen Rogues abzuschlachten? Auch sie waren mal normale Menschen und haben Freunde und Verwandte, die sie vermissen. Wo ist der Unterschied?«
Meghan drückte das Ende ihres Lichtstabs gegen die Brust des Rogues, als könnte sie es kaum erwarten, ihn aufzuspießen. »Der Unterschied ist, dass ich den da nicht kenne.«
Ich schnaubte. »Das ist mir vollkommen egal, Meghan. So läuft das nicht. Entweder retten wir alle Rogues oder keinen.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.« Meghan sah mich an, während sich der Rogue noch weiter gegen die Wand drückte, um dem Licht zu entgehen, das bereits seine Haut verätzte. »Dieser Rogue hat uns gerade angegriffen.«
»Er hatte nicht den Hauch einer Chance, und das weißt du auch.« Ich war wütend, weil Meghan so uneinsichtig war. Aber ich wollte auch nicht, dass die Situation eskalierte. Deshalb schlug ich einen versöhnlicheren Ton an. »Sieh mal, ich sage ja nicht, dass wir unnötige Risiken eingehen und auf jegliche Verteidigung verzichten sollen. Aber es ist gut möglich, dass wir bei unserer Suche immer wieder auf einzelne Rogues stoßen, denen wir haushoch überlegen sind. Wir können sie nicht einfach umbringen. Nicht, wenn die Chance besteht, dass der Phönix sie ebenfalls heilen kann.«
Tori seufzte. »Eden hat recht. Das wäre nicht fair.«
»Aber wir können ihn nicht einfach wieder laufen lassen«, wandte Aaron ein und hob den Speer warnend an, als der Rogue sich unsere Ablenkung zunutze machen und zur Seite wegducken wollte. Sofort erstarrte er wieder. »Er ist trotzdem eine Gefahr für andere.«
»Dann sperren wir ihn eben ins Gefängnis«, schlug ich vor und zeigte zum Büro des Sherriffs. »Die Zellen waren noch intakt.«
»Nein.« Meghan schüttelte entschieden den Kopf. »Dort gibt es Fenster, und die Mauern sind instabil. Wenn überhaupt bringen wir ihn in das Gruselkabinett unter dem Saloon. Da wird ihn sicher niemand bemerken.«
»Du hast recht, das wäre besser«, stimmte ich ihr erleichtert zu. »Allerdings haben wir keinen Schlüssel für die Zellentür.«
Tori seufzte. »Ich könnte in der Schmiede nachsehen, ob ich etwas Brauchbares finde.«
Dankbar wollte ich mich zu ihr umdrehen. Da griff der Rogue an.
Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit riss er den Arm hoch, schlug unsere Waffen brutal beiseite und schaffte sich so den benötigten Freiraum. Anstatt jedoch direkt anzugreifen, duckte er sich in die andere Richtung weg, kam auf die Füße und setzte dann erst zum Sprung an. Da Meghan am nächsten war, riss er sie zu Boden. Sie war so überrumpelt, dass ihr Lichtstab verglühte. Der Speer in meiner Hand löste sich ebenfalls auf.
»Meghan!« Ich stürzte zu ihr und versuchte, den Rogue von ihr runterzuzerren, während sie unter ihm zappelte, um ihre eingeklemmten Hände zu befreien.
Aaron packte sofort mit an. Ich war ihm dankbar, dass er den Rogue nicht einfach aufgespießt hatte, obwohl der sich nun nach Kräften wehrte. Gemeinsam hielten wir seine Oberarme fest, und sobald wir ihn ein Stück angehoben hatten, rammte Meghan ihm verärgert den Handballen gegen das Kinn. Sein Genick gab ein gruseliges Knacken von sich, als sein Kopf nach hinten kippte, doch er zappelte weiter.
»Haltet ihn fest«, befahl Tori, während wir ihn auf die Knie zwangen.
Ich schaute meine Freundin an, die mit einem Holzbrett in der Hand näher kam, und bevor ich begriff, was sie vorhatte, holte sie aus und schlug mit einer harten, präzisen Bewegung zu.
Der Kopf des Rogues flog zur Seite, und er erschlaffte in unserem Griff. Aaron ließ ihn los, woraufhin er wie ein nasser Sack umkippte. Ich versuchte zwar noch, seinen Sturz zu bremsen, doch er war überraschend schwer. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem harten Boden und blieb reglos liegen.
Mein Blick huschte zu Meghan, die inzwischen wieder auf den Beinen war. Stinksauer ging sie auf den Rogue zu und trat ihn unsanft gegen die Schulter, woraufhin er auf den Rücken rollte. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn. Blut, das dunkler war als gewöhnlich, sickerte auf den sandigen Boden.
Meghan legte den Kopf schief, als würde sie überlegen, noch einmal zuzutreten.
Natürlich verstand ich ihre Wut, trotzdem gefiel mir das nicht. »Lass es gut sein, ja? Er ist doch schon bewusstlos.«
Mit einer hochgezogenen Braue klopfte Meghan sich den Staub von den Klamotten. »Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.«
Diesmal war Tori auf ihrer Seite. Schulterzuckend warf sie das Brett weg. »Entspann dich, Eden. Immerhin lebt er noch.«
Manchmal vergaß ich, was für eine kompromisslose Kriegerin meine sonst so sanftmütige Freundin war. Aber ich musste zugeben, dass sie recht hatte. Sie zwinkerte mir zu und rannte davon, vermutlich um nach einem geeigneten Schloss für den Käfig zu suchen.
»Also los«, sagte Aaron. »Bringen wir ihn hier weg.« Er packte den Rogue am Oberkörper, während Meghan und ich je ein Bein nahmen.
»Hoffentlich kommen jetzt keine Touristen vorbei«, murmelte ich, während wir den Typen zum nahe gelegenen Saloon schleppten.
Aaron gluckste. »Die würden wahrscheinlich ziemlich blöd aus der Wäsche gucken.«
»Betet lieber, dass hier nicht noch mehr Rogues rumlungern«, meinte Meghan und sah sich weiterhin aufmerksam um.
Aaron lächelte mich an. »Falls doch, sperren wir sie eben auch ein.«
Ich mochte seine optimistische Herangehensweise.
Da fiel mir auf, dass wir einen wichtigen Aspekt noch gar nicht bedacht hatten.
»Wir sollten ab morgen trotzdem mehr Proviant mitnehmen«, sagte ich und überlegte, wie viel wir wohl abzweigen konnten, ohne dass es auffiel.
»Wieso?« Meghan warf mir einen irritierten Blick zu. »Rogues haben keinen menschlichen Stoffwechsel. Sie brauchen keine Nahrung, und sie gehen auch nicht aufs Klo. Das macht diese Sache hier deutlich einfacher für uns.«
Stirnrunzelnd betrachtete ich die Wunde des Mannes. »Aber sie bluten doch auch.«