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Als Saga und Sam ihre Heimat, die kleine Insel Konedugu, verlassen sind sie auf der Suche nach einem Abenteuer. Die Inselwelt, in der sie leben, ist voller unbekannter Flecken die noch von keinem Menschen erforscht wurden. Doch das Abenteuer scheint schon nach wenigen Tagen zu Ende zu sein. Ihr Kutter, die Sommerwind, gerät in einen Sturm und wird schwer beschädigt. Zwar rettet sie der Walfänger Anna Lynn, doch als Saga und Sam an Bord des Schifffes einen Jungen kennenlernen, der nie schläft, geraten sie in die Fänge von Calma, dem mächtigsten Dämonen der Inselwelt. Bald schon sehen sich Saga und Sam in einem Kampf auf Leben und Tod auf verschiedenen Seiten ...
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jan David Clavijus
Die Legende von Anderland
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Motto:
Das Schiff im Watt
Krieger aus Antarka
Das Meer
‘Sommerwind’
Toivo
Kaufleute aus Batjah
Ein Blick nach Antarka
Verraten und verkauft
Der Diamantensee
Ein Schiff aus Licht
Der Turm von Lysan
Sams Schwur
Epilog vor dem letzten Kapitel
Eine kleine Insel westlich von Batjah
Erläuterungen
Impressum neobooks
Was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben, als die Wahrheit?
Friedrich Schiller
Gibt es einen besseren Platz für die Toten, als eine Geschichte?
Alter Spruch unter Klabautermännern
Was glitzerte dort?
Das Ding hatte Ähnlichkeit mit einem Baumstumpf. Allerdings bewegte es sich dann und wann. Es konnte also weder ein großes Stück Holz noch anderes Strandgut sein. Ungewöhnlich war auch, dass die Erscheinung an seinem oberen Ende in der Sonne glitzerte, so als wären dort dutzende von Sternwerfer angebracht.
Wieder blitzte es auf.
Daniel drehte sich nach seinen Eltern um. Sie saßen auf einer Bank, in der Nähe einer Ansammlung von Strandkörben, die mit Holzgattern verschlossen waren. Es war Herbst. Um diese Jahreszeit gab es kaum Besucher hier im Norden. Das Meer gehörte um diese Zeit den Möwen, den Wellen, dem Wind. Nicht den Gästen, die die Küste den Sommer über bevölkerten. Nur ein Pärchen lag ein Stück entfernt von seinen Eltern zwischen den verwaisten Strandkörben, eingepackt in lange Hosen und dicke Jacken. Die Frau hatte ein Bein aufgestellt und wippte mit dem Knie. Der junge Mann schien zu schlafen. Daniels Mutter starrte auf ihr Smartphone. Sein Vater hielt das Gesicht in die Sonne.
Daniel hatte sich gelangweilt, also war er hinüber zum Strand gegangen. Einen Steinwurf – eigentlich zwei Steinwürfe – von der Stelle entfernt, an der seine Eltern mit sich selbst beschäftigt waren. Die Möwen kreischten und das Watt lag im Licht der Sonne, die durch die Wolkendecke brach. Zu dieser Tageszeit herrschte Ebbe und der Schlick erstreckte sich bis an den Horizont. Dort schimmerte ein Streifen des Meeres.
Dann plötzlich waren diese Lichtblitze aufgetaucht. Ein Glitzern, das immer wieder verschwand und dann erneut aufflammte. Dazu diese Gestalt. Sie saß auf einer der Molen, die von schweren Steinen gehalten wurden und weit in die trocken gefallene Landschaft hinausreichte. Als das Glitzern eine Weile ausblieb wandte Daniel sich wieder der Landschaft zu. Unterhalb der Wolken sah er ein merkwürdiges Gebilde. War das eine Windhose? Ein Tornado? Sein Herz schlug schneller. War er gerade Zeuge, wie ein Tornado entstand? Er wollte zurücklaufen zu seinen Eltern, als sich das bedrohliche Phänomen auflöste. Es verschwand, als würde es jemand mit einem Tuch nach und nach wegwischen.
Wieder das Glitzern auf der Mole
Daniels Augen verengten sich. Was dort drüben vor sich ging hatte seine Neugierde geweckt. Er beschloss, sich die ungewöhnliche Erscheinung aus der Nähe anzusehen. Kurz darauf schlenderte er die Mole entlang. Der Schlick zu beiden Seiten wurde von schmalen Rinnsalen durchzogen. Sie waren mit Meerwasser gefüllt, das die Flut zurückgelassen hatte. Als Daniel sich dem glitzernden Ding näherte, erkannte er, dass es sich um einen Schlapphut handelte. Die Ursache für das Glitzern waren Glasscherben, die an dem Hut befestigt waren und die das Sonnenlicht reflektierten. Es handelte sich um Scherben aus weißem, braunem und grünem Glas. So als hätte man Flaschen zertrümmert und die Bruchstücke aufgesammelt und an den Hut geklebt.
Noch merkwürdiger allerdings als der Hut war der Träger des Hutes. Er saß auf den Befestigungssteinen der Mole.
„Komm näher.“
Die Stimme war rau wie stürmische See.
Daniel spürte ein Kribbeln im Magen.
„Wer sind Sie?“
Der Fremde schien ihn nicht zu hören. Er drehte sich um, sah aber an Daniel vorbei, hinüber zum Festland, wo ein grüner Damm sanft zum Landesinnere hin anstieg. An seinem Hang weideten Schafe.
„Sind Sie hier Strandwächter?“, versuchte es Daniel erneut.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
„Wattwächter?“
„Nein, Wattwächter bin ich auch nicht.“
Das Wesen trug eine schwarze Jacke, die etwas zu weit war, sowie dunkle Stiefel, deren Schaft bis zu seinen Knien reichte. Sein schmales Gesicht war alt und zerknittert. Zwischen den Falten lugten zwei hellblaue Augen hervor, wie der Himmel zwischen sich auftürmenden Gewitterwolken.
„Mein Schiff sitzt im Watt fest“, fuhr der eigenartige Kerl fort. „Ich wollte eine Weile vor eurer Küste ankern, da hatte ich plötzlich Grund unter dem Kiel. Ich war schon lange nicht mehr in dieser Gegend. Es ist ein ganz besonderes Meer, euer Wattenmeer. Für Schiffe nicht ungefährlich.“
Weit und breit war kein Schiff zu sehen. Keine Spur von einem Schiff, das vom Meer im Schlick zurückgelassen worden wäre. So wie die kleinen Motor- und Segelboote, die Daniel in Husum im Hafen gesehen hatte, bei Ebbe.
In den bunten Glassplittern des Hutes spiegelten sich nun nicht nur Sonnenstrahlen, sondern auch dunkle Wolken, die von Norden herüberkamen.
„Mein Name ist Flo“, stellte sich der Fremde vor.
„Flo?“
„Flo.“
„Ist das ein Spitzname?“
Der Fremde spuckte in den Schlick des Watts.
„Klabautermänner haben keine Spitznamen.“
„Klabautermänner?“
„Ja, Klabautermänner“, meinte Flo. Es klang, als wären Klabautermänner eine Selbstverständlichkeit an der Nordseeküste. So wie Möwen oder Quallen oder Wattwürmer.
„Es gibt keine Klabautermänner“, entgegnete Daniel.
„Dann gibt es mich nicht“, meinte Flo. Er lachte rau. „Du hörst wohl nur den Wind säuseln und die Möwen krächzen.“
Daniel sah den eigenartigen Kauz mit zusammengekniffenen Augen an.
„Wo sollen die denn herkommen? Klabautermänner.“
Flo entblöße eine Reihe gelblicher Zähne.
„Wo wir Klabautermänner herkommen? Dazu gibt es viele Gerüchte. Eines davon besagt, dass der erste Klabautermann aus den Wellen, dem Wind und dem vermoderten Holz eines Schiffes entstanden ist. In einer stürmischen Nacht, in der der Himmel übersät war mit Blitzen und die Wellen sich zu Gebirgen auftürmten. Höher als man es jemals zuvor und jemals danach gesehen hat. Die Geschichte gefällt mir am besten. Nur in so einer Nacht kann der erste Klabautermann entstanden sein.“
„Wenn du ein Klabautermann bist, dann musst du zaubern können.“
Flo trat mit einem Stiefelabsatz gegen einen der Befestigungssteine der Mole, so als müsste er prüfen, ob der Stein fest saß.
„Was würdest du dir denn von mir wünschen, wenn ich zaubern könnte?“
Daniel zögerte.
„Du könntest meine Eltern auf eine der Inseln zaubern“, sagte er. „Borkum oder Langeoog. Nur für ein paar Stunden lang.“
Flo lachte.
„Deine Eltern?“
Daniel sah sich um. Seine Mutter winkte ihm zu. Sie schien den angeblichen Klabautermann nicht zu sehen.
„Sie nerven mit ihrem ’Auf-alles-aufpassen‘ und ihrem ’Alles-so-nervig-gut-meinen‘. “
Flo nickte, als hätte er verstanden.
„Wir Klabautermänner sind keine Zauberer“, sagte er. „Aber wir können Geschichten erzählen. Das können wir sogar sehr gut. Keine Geschichte wird je aus der Welt verschwinden, solange es uns Klabautermänner gibt.“
„Meine Bücherregale zu Hause sind voll mit Geschichten“, meinte Daniel, dabei zeigte er Flo ein Buch, das er bei sich hatte. Er holte es aus der Innentasche seiner Jacke heraus und wedelte damit, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der ein Buch besaß. „Dieses hier heißt 'Die Schatzinsel'. Ich lese gerne Bücher, in denen das Meer vorkommt. Zuhause haben wir kein Meer. Nur Fischweiher und Bäche.“
Flo kratze sich am Kinn.
„Ein Schiff kannst du überall bauen“, sagte der Klabautermann. „Ein Stück Holz, ein Nagel und ein Stofffetzen.“
„Und dein Schiff“, fuhr Daniel fort. Er setzte sich neben Flo auf die kantigen Steine. „Ich sehe keins.“
„Mein Schiff ist unsichtbar.“
Ein unsichtbares Schiff? Es gab weder Klabautermänner noch unsichtbare Schiffe.
„Darf ich mir den Hut mal ansehen?“, fragte Daniel.
Flo nahm seinen Hut ab.
„Sei vorsichtig mit den Scherben.“
Die Kanten der gläsernen Bruchstücke waren scharf und spitz. Daniel roch an dem alten Leder. Es roch nach Salz und Wind und nach etwas, das weit, sehr weit entfernt war.
„Wo steht es denn, dein Schiff?“, erkundigte sich Daniel, wobei er den Lederhut in seinen Händen drehte.
Der Klabautermann hatte graues, dünnes Haar, das wie Filz auf seinem Kopf lag.
„Dort drüben. Zwei Mastlängen entfernt. Immer, wenn die Sonne durchkommt, sitzen wir im Schatten seiner Takelage.“
Daniel sah nichts als das Watt. Er betrachtete den Hut.
„Wozu sind diese Glassplitter?“
„Sieh sie dir an.“
Daniel hielt den Hut ein Stück weiter weg und sah sein Gesicht verzerrt in einem der Bruchstücke. Seine Haut war grün. Kein Wunder. Es war ein grünes Stück Glas, in das er blickte. Daniel schloss ein Auge und führte den Hut näher heran. Das geöffnete Auge wurde größer. Eisgrau starrte es ihn an. Buschige Augenbrauen rankten darüber.
Erschrocken zuckte Daniel zurück.
„Wer ist das?“
„Ahab“, sagte Flo, als wäre der Name eine finstere Botschaft.
„Ahab“, wiederholte Daniel. Er ließ das Wort langsam über seine Zunge rollen.
„Ein weißer Wal namens Moby Dick hat ihn zum Krüppel gemacht. Der Wal hat ihm ein Bein abgebissen. Jetzt verfolgt Ahab das Tier. Für ihn zählt nur eins: Rache. Ja, verflixt nochmal. Dieser krankhafte Gedanke an Rache bringt ihn um. Und nicht nur ihn. Ahab überträgt seinen Hass auf seine Mannschaft. Fast alle gehen sie mit ihm zugrunde.“
Ahab schien ein ziemlich grusieliger Kerl zu sein. Auch mit Walen war nicht zu spaßen, aber das wusste er bereits. Daniel drehte den Hut in seiner Hand und sah zu, wie der Himmel und die Wolken in den Glasscherben vorüberflogen. Plötzlich verwandelte sich der Himmel in einem der Bruchstücke in eine Höhle. Fackeln warfen lange Schatten. Eine Flamme erleuchtete das Gesicht eines Mädchens. Es hatte dunkelblondes Haar, das ihr wirr in die Stirn hing, und nussbraune Augen. Diese Augen waren ängstlich auf etwas gerichtet, das Daniel nicht sehen konnte. Das Mädchen hatte eine Wunde auf der Stirn, aus der Blut über sein Gesicht lief.
„Wer ist das?“
Der Klabautermann kniff die Augen zusammen. Die Erinnerung an etwas, das offensichtlich lange zurücklag, schien seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.
„Das ist Saga“, antwortete er. „Saga Samarkand. Bei uns in der Inselwelt kennt sie jeder.“
„Inselwelt?“
„Meine Heimat.“
„Wo liegt diese Inselwelt?“
„Wo sie liegt? In diesen Glasscherben. In welcher kann ich dir nicht sagen. Auch eure Welt steckt in diesen Glasscherben. Mein Schiff jedenfalls findet den Weg zurück ganz alleine.“
Daniel berührte vorsichtig die Glasscherbe. Das Bild des Mädchens verblasste. Ein elfenbeinfarbener Turm tauchte auf, der sich nach oben hin verjüngte und in den Wolken verschwand. Der Turm hatte Risse in seiner glatten Mauer, überall brachen Gesteinsbrocken heraus und fielen in die Tiefe.
„Der Turm von Lysan“, sagte der Klabautermann. „Für uns Klabautermänner ist er ein Heiligtum.“ Flo deutete mit dem Zeigefinger auf Daniel. Der Finger erinnerte Daniel an einen krummen Nagel. „Man nennt ihn auch den 'Turm der Wahrheit'.“
Daniels Zweifel, es mit einem Klabautermann zu tun zu haben, waren wie weggeblasen. Flo war kein Wesen aus seiner Welt, soviel stand fest. Genauso wenig wie der Hut ein normaler Lederhut war, und die Bruchstücke darauf einfach nur Glasscherben.
Er gab dem Klabautermann den Hut zurück.
„Erzählst du mir diese Geschichte?“
Flo nickte.
„Deshalb bin ich hier.“
Die Sonne blitzte in einer der Scherben auf.
„Wo beginnt eine Geschichte?“, frage der Klabautermann.
„Am Anfang. Wo sonst?“
„Nicht so einfach“, erwiderte Flo. „Jede Geschichte hat viele Anfänge. Diese Geschichte hier könnte im Königreich Antarka beginnen, oder auf Konedugu, aber auch in der Höhle eines Dämons.“
Daniel schwankte zwischen der Höhle des Dämons und Konedugu, ein Name, der ihm gefiel.
„Konedugu“, sagte er schließlich, weil sich das Wort gut anfühlte und weil er es gerne aussprechen wollte.
„Also Konedugu“, wiederholte Flo.
„Du musst dich beeilen“, unterbrach ihn Daniel und warf einen Blick in Richtung seiner Eltern. „Viel Zeit haben wir nicht.“
„Ein Klabautermann hat immer so viel Zeit wie er für seine Geschichten braucht“, behauptete Flo.
Daniel zog die Sandalen aus und grub seine Zehen in den kühlen Schlick des Watts. Flo setzte seinen Hut wieder auf.
„Die Geschichte beruht übrigens auf einer wahren Begebenheit. Aber das trifft schließlich auf alle Geschichten zu.“
„Nicht auf alle“, stellte Daniel fest, während seine Zehen lustvoll in den sandigen, feuchten Brei eintauchten. „Geschichten, in denen Feen oder Zwerge vorkommen können nicht wahr sein. Es gibt keine Feen und keine Zwerge.“
„Auf die eine oder andere Weise sind alle Geschichten wahr“, widersprach Flo. „Weil jede Geschichte von euch erzählt.“
„Von uns?“
„Von euch“, wiederholte der Klabautermann.
Daniel wollte sich nicht auf einen Streit einlassen.
„Wie heißt die Geschichte?“, fragte er deshalb.
Der Klabautermann blickte auf seine schmutzigen Füße.
„Eine Geschichte hat so viele Namen wie sie Wörter hat.“
Der Klabautermann musste offensichtlich immer alles verkomplizieren.
„Es gibt doch bestimmt einen Namen, unter dem man sie kennt“, protestierte er. „Sonst könnte man die vielen Geschichten, die es gibt, gar nicht voneinander unterscheiden.“
Flo fuhr sich über die grauen Barthaare und sah Daniel an.
„In der Gegend um Konedugu nennt man sie Die Geschichte von Saga und Sam. Oben in Antarka heißt sie Prinz Toivo. Doch wir Klabautermänner, wir nennen sie: „Die Legende von Anderland.“
„Anderland?“
„Das Land der Hoffnung.“
Eine Weile herrschte eine Stille, die selbst die Möwen und der Wind nicht stören wollten.
„Wo liegt Anderland?“
„Du willst wohl alles ganz genau wissen.“
„Leben da viele Menschen“, ließ Daniel nicht locker.
Der Klabautermann richtete seinen Oberkörper auf. Er blickte in die Ferne und in seinem Gesicht tauchten, obwohl kaum Platz dafür war, noch weitere Falten auf.
„Nein“, sagte er. „In Anderland herrscht gewissermaßen Grabesruhe.“
Daniel kratzte sich an der Nase. Flo war etwas sparsam mit Informationen.
„Um die Ereignisse von damals herum sind viele Geschichten entstanden“, fuhr der Klabautermann fort. „Es wird also immer etwas unerwähnt bleiben, wenn ich dir jetzt die Legende von Anderland erzähle.“
„Du hast gesagt, du hättest soviel Zeit, wie du brauchst.“
Flo nickte und ein Grinsen schob seine Falten enger zusammen.
„So ist es auch“, sagte er. „Das ändert aber nichts daran, dass jede Geschichte ein Tropfen aus einem Ozean ist. Fangen wir auf Konedugu an, bei Saga Samarkand, ihren Eltern und ihrem Freund Sam Samuel. Aber zuvor sollten wir einen Blick auf ein Schiff werfen, das sich weit in den Süden der Inselwelt verirrt hat. Die 'Doragoll', ein Kriegsschiff, das auf der Suche nach einem jungen Mann ist, den die Bürger Antarkas für einen Verräter halten. Für einen Lumpen, der den Plan verfolgt, den König – seinen eigenen Vater – zu stürzen. Doch sie irren sich. Sie sitzen der Lüge einer gefährlichen Macht auf.“
Wasser strömte von den hölzernen Klappen, mit denen die Kanonendecks verschlossen waren, während sich der Bug des Kriegsschiffes im Rhythmus des Meeres hob und senkte. Die Segel leuchteten blutrot. An den Rahen und Wanten des Viermasters hingen Seemänner wie Käfer, um die ’Doragoll‘ in Fahrt zu halten. Wendige, kräftige Männer und Frauen, die sich auf Zuruf miteinander verständigten.
Der runde Ausschnitt des Fernrohres zog den Horizont dicht an Kapitän Brahms Auge heran. Unruhig flackerte die verwaschene Trennlinie zwischen Meer und Horizont vor ihm. Nichts. Nicht die Spur eines Schiffes. Rothar Brahm setzte das Fernrohr ab und betrachtete die Seekarte, die auf einem hölzernen Tisch, mit Steinen beschwert, vor ihm lag, sodass der beständige Wind sie nicht vom Tisch fegen konnte.
„Südlich von uns liegt Batjah“, sagte Jonna, eine junge Frau im Rang des ersten Offiziers. „Einer der wichtigsten Handelsplätze hier in der Gegend.“
Jonna war das, was man eine derbe Schönheit nennen konnte. Sie war groß und hatte breite Schultern. In ihrem hübschen Gesicht fielen die strengen Augen auf, die jeden aufmerksam musterten.
„Er kann sich überall verkrochen haben“, murmelte der Kapitän.
Brahm wollte über das Schanzkleid spucken, aber das bisschen Speichel, das er in seinem Mund sammeln konnte, behielt er dann doch lieber, um seinen Gaumen feucht zu halten. Hier im Süden war es unerträglich heiß. Solche Temperaturen waren er und seine Besatzung nicht gewohnt. Seine Fellmütze und seinen Fellumhang hatte Kapitän Brahm bereits, wie der Rest der Besatzung, im Lagerraum verstaut. Die eiserne Brustwehr allerdings durfte kein Krieger und keine Kriegerin ablegen, ebenso wenig die mit Baumwolle gefütterten, dicken Schutzwesten, was zu einigem Unmut unter den neu rekrutierten Männern und Frauen führte. Das Volk von Antarka, diese Bergleute, Fischer und Bauern, mussten noch zu echten Kämpfern geschmiedet werden, dachte Brahm. Deshalb wollte er sie eine Weile schwitzen lassen. Die Zeit des großen Krieges rückte schließlich näher.
„Irgendwo auf diesem weiten Meer werden wir eine Spur von ihm finden“, meinte Jonna hart. „Wir sind Tharos einen Erfolg schuldig.“
Rothar Brahm grinste mit einigem Spott auf den Lippen. Ja, Tharos, dachte er. Jonna glaubte noch an Tharos. Wie leicht sie zu täuschen waren. Sie alle. Das ganze Volk. Niemand ahnte, dass König Tharos tot war, und dass Calma in der Gestalt des alten Königs die Macht auf Antarka übernommen hatte. Rothar Brahm war stolz darauf, Calma zu dienen.
„Wenn wir einmal eine Spur von diesem Verräter haben“, fuhr Brahm fort, „werden wir wie die Bluthunde sein.“ Er ließ einige Sekunden verstreichen, um die Anspannung, die in der Luft lag, zu genießen, dann fügte er hinzu: „Tharos hat befohlen, den Verräter zu töten. Und ich werde diesen Befehl ohne zu zögern ausführen.“
Jonna sah ihren Kapitän erstaunt an. Sie kannte Tharos und Prinz Toivo persönlich, da ihre Mutter eng mit dem König befreundet war.
„Prinz Toivo töten?“
„Wir brauchen nur eine Spur“, flüsterte der Kapitän. „Eine winzige Spur.“
Jonna spürte, wie sich eine eigenartige Kälte um Rothar Brahm ausbreitete, trotz der drückenden Hitze, die in diesen Breitengraden herrschte. Es dauerte lange, ehe sie den Gedanken, dass König Tharos befohlen hatte seinen eigenen Sohn zu töten, wirklich fassen konnte.
*
Flo verschränkte die Finger, so dass sie aussahen wie die ineinander verwachsene Äste eines alten Baumes.
„Zu diesem Zeitpunkt wusste Saga noch nicht, dass sie sehr bald schon in diese Auseinandersetzung hineingezogen würde. In Ereignisse, bei denen es nicht nur um ihr eigenes Schicksal ging, sondern um das Schicksal der gesamten Inselwelt. Die ersten Anzeichen waren ja bereits zu sehen, doch niemand wusste sie zu deuten.
„Welche Anzeichen?“, fragte Daniel.
„Wenn ein Dämon seine Macht auszubreiten beginnt, kommt es zu merkwürdigen Ereignissen in der Natur. Pflanzen sterben ab. Bestimmte Räuber im Tierreich nehmen eine ungewöhnliche Größe an.“
„Dann müssten alle gewarnt sein.“
„Da hast du recht. Es müssten alle gewarnt sein.“ Der Klabautermann betrachtete seine Fingernägel, als würde er jetzt erst feststellen, dass sie schon lange nicht mehr gestutzt worden waren. Schließlich fuhr er fort: „Während jenseits des Horizonts die 'Doragoll' den Ozean durchpflügte, auf der Suche nach Prinz Toivo, saß Saga Samarkand am Ufer und sah auf das Meer hinaus.“
Saga liebte das Meer. Sie liebte es für sein salziges Wasser, für seine Weite und für das Rauschen der Wellen. Sie liebte es für die Algen und Muscheln, die sein unruhiger Geist am Strand zurückließ. Und sie liebte das Meer, weil es der einzige Weg war, um von der altbekannten Insel, der altbekannten Stadt und dem altbekannten Gut Samarkand wegzukommen.
Natürlich fand Saga, dass ihre Heimat Konedugu eine sehr schöne Insel war. Grün, mit Wäldern, Hügeln und zwei kleinen Seen. Auch die Stadt Altenburg und der Gutshof ihrer Eltern waren herrliche Plätze, an denen es sich leben ließ. Saga hätte an keinem anderen Ort der Inselwelt aufwachsen wollen. Die Menschen auf Konedugu waren freundlich, wenn man von einigen Ausnahmen absah, die Sonne schien häufig, und auf dem Gutshof Samarkand gab es Platz genug, um mit allen Einwohnern der Insel ein Fest zu feiern. Doch jedes Mal, wenn Saga aufs Meer hinaussah fragte sie sich, was für Inseln es noch gab, jenseits des Horizonts. Große Inseln, gegen die ihre Heimat ein winziger Flecken war, Inseln mit gewaltigen Bergen und Schluchten, auf denen die merkwürdigsten Tiere lebten. Inseln abseits jeder Handelsroute, mit Buchten, die im Schatten uriger Bäume davon träumten, dass einmal ein Schiff in ihnen vor Anker ging. Inseln, die so weit entfernt waren, dass man Monate auf dem Meer verbringen musste, um sie zu erreichen. Vielleicht gab es sogar Inseln, die bislang nie ein Mensch besucht hatte. Sie hatte große Lust, ein solches Stück Land zu finden, ihren Fuß auf den Strand zu setzen und zu wissen, dass sie der erste Mensch war, der dort eine Spur hinterließ.
*
Daniel warf einen Stein in das Watt. Der kantige Brocken blieb im Schlick liegen und rührte sich nicht mehr.
„Gibt es wirklich noch unentdeckte Inseln bei euch?“
Flo nickte.
„Ich selbst habe in den zurückliegenden Jahrhunderten einige entdeckt und bin dort merkwürdigen Menschen begegnet.“
Als der Klabautermann nicht weitersprach regte sich Daniels Neugierde.
„Welchen Menschen?“, fragte er.
„Zum Beispiel den Flachköpfen“, brummte Flo.
„Flachköpfe?“
„Die Einwohner haben ihren Kindern nach der Geburt Bretter auf die Stirn gebunden, um Flachköpfe aus ihnen zu machen. Die Stirn passte sich im Laufe der Zeit dem Brett an. Aber. Das ist eine andere Geschichte. Über Konedugu gibt es kaum etwas zu sagen. Das Leben dort ist nicht gerade abwechslungsreich und wenn einmal ein fremdes Schiff im Hafen von Altenburg anlegt, dann laufen auch heute noch die Menschen am Kai zusammen, als gäbe es ein Weltwunder zu bestaunen.“
Daniel versuchte erneut, sich ein Schiff aus der Inselwelt vorzustellen, das nicht weit von ihm entfernt im Watt stand, aber da war nur der graue Schlick.
„Konedugu ist nicht sehr groß“, fuhr Flo fort. „Ich war erst vor kurzem wieder dort. Genau genommen vor etwa hundert Jahren. Geändert hat sich nicht viel seit den Zeiten von Saga und Sam. Die Insel besteht auch heute noch fast nur aus Wäldern, Wiesen und Feldern. Altenburg ist die einzige Ortschaft. Dazu noch das Gut Samarkand mit seinem Gutshaus, den Scheunen und Stallungen und den Wohnungen für die Bediensteten. Ansonsten gibt es nur kleine Gehöfte auf der Insel. Saga hatte eine schöne Kindheit auf Konedugu, daran besteht kein Zweifel, doch je älter sie wurde, desto neugieriger wurde sie auch. Und die Neugierde, das weißt du ja selbst, ist verflixt nochmal eine mächtige Sache. Mächtiger als der Verstand. Saga saß also oft an ihrem Lieblingsplatz, nicht weit vom Pferdestall entfernt, am Ufer und sah auf das Meer hinaus. Die Füße hatte sie auf die steinerne Uferbefestigung gestützt, so wie wir beide hier auf der Mole. Wieder und wieder landete ein Stein im Wasser, den sie gegen die Wellen schleuderte.
*
Vor zwei Tagen hatten die Schulferien begonnen. Saga dachte daran, dass diese Ferien die letzten ihres Leben sein würden. Auf der 'Handelsschule' die sie bald besuchen würde, gab es keine Ferien. Diesen Sommer hatte sie also ein letztes Mal viel Zeit, um über die Insel zu streunen, zusammen mit Sam. Ausreiten, lange schlafen. Und dennoch - Saga wurde das Gefühl nicht los, dass etwas passieren musste. Irgendetwas.
„Saga - “
Die Stimme übertönte das sanfte Rauschen der Wellen.
„SAga - “
Es war eine vertraute Stimme. Und auch der Tonfall war nicht neu.
„SAGA! “
Es war Mary Samarkand, die plötzlich hinter ihrer Tochter stand. Eine dünne, hochgewachsene Frau, die sich immer Sorgen um Saga machte, die allerdings auch sehr energisch sein konnte.
„Das Essen steht seit einer halben Stunde auf dem Tisch.“
Saga warf erneut einen Stein ins Meer, dann raunzte sie:
„Warum hast du es nicht mitgebracht?“
„Das Essen? Ich trag dir doch dein Mittagessen nicht hinterher.“
Saga stand auf und wischte sich die Hände an der alten Reithose ab.
„Was gibt’s denn?“
„Bohnen mit Speck und Weißbrot.“
Speck. Ausgerechnet. Der Tag war endgültig verloren.
Sagas Vater aß wie immer Unmengen. Er konnte essen wie ein Pferd - und so sah er auch aus. Groß und kräftig, mit muskulösen Armen und schwarzen Haaren, die wie eine Pferdemähne herunterhingen. Ein Pferdegesicht hatte er allerdings nicht. Sein Gesicht war eher rund und von einem kräftigen Bart eingerahmt.
„Lang zu“, sagte Wehrfried, als er sah, dass seine Tochter nur zögerlich aß. „Sonst bleibt nichts mehr für dich. Ich war zusammen mit Rolf den ganzen Vormittag auf der Weide. Wir haben Zäune ausgebessert und die Pferde versorgt. Mein Magen ist leer wie ein Heuschober im Frühling.“
„Ich hab keinen Hunger“, sagte Saga.
Das kleine Esszimmer des Gutshauses war schlicht eingerichtet. Ein Tisch, dazu ein Schrank für gutes Geschirr. An den Wänden hingen Ölbilder, die Sagas Mutter gemalt hatte. Sie malte Stillleben. Ausschließlich Stillleben, die etwas mit Essen zu tun hatten. Äpfel und Birnen, die in einer Schale auf einem Tisch stehen; ein Braten, aus dem Messer und Gabel ragen; geschälte Kartoffeln; ungeschälte Kartoffeln; halb geschälte Kartoffeln; ein Teller mit dampfender Suppe; ein gebratenes Huhn; ein Laib Brot, neben dem ein Töpfchen Marmelade steht. Ein Töpfchen Marmelade, neben dem eine Scheibe Brot liegt. Mary Samarkand hatte schon mehr Bilder gemalt, als in den Häusern auf Konedugu Platz hatten. Deshalb hatte Wehrfried einige Kisten davon zur Nachbarinsel Batjah verfrachten lassen, um sie auch dort zu verschenken.
„Du bist heute ziemlich unzufrieden“, meinte Mary vorwurfsvoll und sah ihre Tochter stirnrunzelnd an.
Wehrfried Samarkand musterte Saga nun ebenfalls aufmerksam.
„In den Ferien war ich immer bestens aufgelegt“, sagte er. „Außer, wenn man mich zum Pauken verdonnert hatte.“
„Ich möchte weg“, platzte es aus Saga heraus. „Ich kann auch keine Ölbilder mehr sehen beim Essen.“
Wehrfried hätte sich fast an den Bohnen verschluckt, und Mary sah verwundert erst ihre Bilder und dann ihre Tochter an.
„Ist dir langweilig?“ fragte sie.
„Todlangweilig.“
„Niemand auf der ganzen Insel hat so viele Möglichkeiten wie du, Saga. Du kannst ausreiten, wann immer du dazu Lust hast.“
„Wie jedes Jahr“, erwiderte Saga mit einer Wut in der Stimme, die sie lieber unter Kontrolle gehabt hätte.
„Du kannst deine Freunde treffen“, fuhr ihre Mutter fort. „Auch auf der ‘Sommerwind’, wenn du willst. Zur Hafenparty. Wie letztes Jahr. “
„Wie jedes Jahr“, verbesserte Saga ihre Mutter.
„Wo willst du denn hin?“, fragte Wehrfried.
Saga zuckte mit den Schultern.
„Aufs Meer“, sagte sie etwas ratlos.
Sagas Vater deutete mit dem Löffel auf seine Frau.
„Saga hat Recht. Man muss auch mal raus aus dem Trott. Bei nächster Gelegenheit machen wir einen Ausflug nach Langeland. Nächste - nein. Vielleicht übernächste Woche.“
Das war klar. Langeland. Langeland war die Insel, die alle Koneduguaner mindestens einmal im Jahr besuchen mussten. Pflichtprogramm für Babys, Kinder, Jugendliche, deren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Auch wenn Besucher von anderen Inseln nach Konedugu kamen, wurden sie gerne nach Langeland verschleppt. Saga war natürlich schon häufiger auf Langeland gewesen. Dort gab es mehr Touristen als Seehunde. Wo man ging oder stand traf man jemanden, den man kannte. Bei ihrem letzten Besuch auf der Ferieninsel hatte sie den ganzen Tag mit ihrer Lehrerin und der halben Schulklasse verbracht. Sie hatten sich alle zufällig auf Langeland getroffen.
Saga holte einmal tief Luft. Ihr fehlten die Worte.
„Es ist schon eine Weile her, dass wir auf Langeland waren“, meinte ihr Vater und stopfte wieder Bohnen in seinen Mund.
„Ich hasse Langeland“, meinte Saga überraschend ruhig, so als wäre diese Erkenntnis gerade erst über sie gekommen. „Ich kann Langeland nicht mehr ertragen.“
Wehrfried wollte etwas sagen, konnte aber mit dem vollen Mund nicht sprechen.
„Was hast du gegen Langeland?“, fragte Sagas Mutter. „Bei etwas Wind ist man in gut zwei Stunden da.“
„Wir haben jetzt keine Zeit länger wegzufahren“, meinte Wehrfried, als er wieder sprechen konnte. „Wenn du Ferien hast, heißt das noch lange nicht, dass wir auch Ferien haben. Das Meer ist im Übrigen nicht ganz ungefährlich. Deine Mutter und ich, wir sind einmal in einen Sturm geraten. Unser Schiff wäre fast untergegangen. Der Mast ist gebrochen und zwei Mann sind über Bord gegangen. Einer davon war Gustav.“
Davon hatten Sagas Eltern noch nie etwas erzählt.
„Gustav?“, fragte sie erstaunt.
Gustav hatte schon für ihre Eltern gearbeitet, als Saga noch gar nicht auf der Welt war.
„Wir haben ihn mit einem Seil wieder herausgefischt“, fuhr Wehrfried fort. „Ein Wunder, dass wir es geschafft haben. Immer wieder kamen neue Brecher über das Schanzkleid.“
„Immanuel ist ertrunken“, fuhr Mary fort und in ihrer Stimme lag etwas sehr Sonderbares, das Saga fremd war. „Ein junger Mann aus Batjah, der damals als Buchhalter für uns gearbeitet hat“, fuhr Sagas Mutter fort. „Der arme Kerl. Er hatte immer Angst vor dem Meer.“ Mary machte eine kleine Pause, die so schwer war, dass Saga das Gefühl hatte, das ganze Esszimmer würde unter einem unsichtbaren Gewicht zerdrückt. „Ich habe ihn sehr gemocht.“
„Ja. Immanuel war ein netter Kerl“, brummte Wehrfried und er schien es zu bereuen, das Thema angesprochen zu haben.
Danach lag plötzlich etwas zwischen Wehrfried und Mary, das Saga noch nie gespürt hatte. Eine Erinnerung, die sie miteinander teilten, die sie aber nicht miteinander verband.
„Das war auf der ‘Sommerwind’“, meinte Wehrfried nach einer Weile und räusperte sich. „Der beste Kutter der Welt.“
Die ‘Sommerwind’ war ein Segelkutter mit einem Mast und einer Schratbesegelung, sowie einem waagrechten Bugspriet. Auf dem alten Kutter, der im Hafen des Gutshofes vor Anker lag, hatte Saga zusammen mit Sam häufig ’Kapitän‘ gespielt – vor langer Zeit, als sie beide noch Kinder waren. Sie hatten die 'Sommerwind' damals kurzerhand in ein Piratenschiff verwandelt, mit einer Piratenflagge und Enterhaken aus Tannenzapfen, die an Seilen hingen, und armdicken Ästen als Kanonen.
„Ich war froh, als dein Vater sich entschlossen hat sich nur noch um den Gutshof zu kümmern und das Handelsgeschäft Gustav zu überlassen“, sagte Mary. Die Erinnerung an 'Immanuel' schien sich verflüchtigt zu haben. „Die vielen Reisen. Ich habe das nie gemocht.“
„Wenn du alt genug bist, um in das Geschäft einzusteigen“, warf Wehrfried ein. „dann kannst du noch oft genug nach Batjah segeln. So oft, dass dir eines Tages die Lust auf Seereisen vergehen wird.“
Auf Batjah hatten Wehrfrieds Großeltern die ersten Waren gekauft, mit denen sie angefangen hatten, ihren Überseehandel aufzubauen. Bis dahin hatten sie nur Möhren und Salat auf Konedugu verkauft. Auf Batjah gab es jede Menge Kaufleute - Geschäftsleute, die seit Generationen Handel trieben. In der Region um Konedugu und Batjah gehörte der alte Spruch: ’Der ist verschlagen wie ein Geschäftsmann aus Batjah‘ zu den üblichen Bezeichnungen für Leute, die einen übers Ohr hauen wollten. Auf Batjah befand sich zudem der älteste Handelsposten des Gutshofes, die ’Samarkand-Handels-Gesellschaft‘, die von Gustav geleitet wurde.
„Das sind ja wohl noch ein paar Jahre bis ich ins Geschäft einsteige“, warf Saga ein. „Eine Ewigkeit.“
„Jetzt meckere nicht herum“, meinte Mary schroff.
Saga konnte solche Sätze ihrer Mutter nur schwer ertragen.
„Und außerdem: Ein echtes Abenteuer wären Handelsreisen nun auch wieder nicht“, erwiderte sie deshalb nicht weniger schroff.
„Dein Urgroßvater Max war einmal auf Palawan“, erzählte Wehrfried, wohl um das Thema zu wechseln. „Dort wollten ihm Eingeborene seinen Kopf abkaufen.“
„Seinen Kopf?“, fragte Saga belustigt.
„Die Einwohner von Palawan haben damals Schrumpfköpfe gesammelt“, fuhr Sagas Vater fort. „In ihrer Kultur waren Schrumpfköpfe eine Art Nippes, mit dem man seine Hütte verschönert. Sie boten Max für seinen Kopf mit den langen Haaren Glasperlen an. Dein Urgroßvater hat sich natürlich sofort aus dem Staub gemacht.“
„Er war ein unruhiger Geist“, sagte Mary nachdenklich.
„Max Samarkand“, fuhr Wehrfried fort, „hat sich viel herumgetrieben. Häufig ist er auch zusammen mit einem Freund namens Flo auf Reisen gegangen. Ein merkwürdiger Kauz. - Ein Klabautermann. “
*
Daniel sah Flo verdutzt an. Der Klabautermann kratzte sich mit einem seiner krummen Finger an der Nase.
„Ja, ich war mit Sagas Urgroßvater Max befreundet. Wir haben viel zusammen erlebt, bis der arme Max alt und gebrechlich wurde und sich auf sein Gut zurückgezogen hat.“ Flo nahm seinen Schlapphut herunter und ließ die gläsernen Bruchstücke im Licht der Sonne aufblitzen. „Er ist dann friedlich im Bett gestorben, mit mehr als neunzig Jahren“, fuhr der Klabautermann fort: „'Siehst du', hat Max mir in seiner letzten Stunde gesagt, 'es gibt keinen gefährlicheren Ort auf der Welt, als das Bett'. Dann hat er gelacht und es klang, als hätte er Nägel in seinem Brustkasten.“ Auf Flos rauen Lippen erschien die Andeutung eines Lächelns, das aber sofort wieder verschwand. „Verflixt nochmal, das ist in der Inselwelt nicht anders als bei euch“, fuhr er fort. „Die Menschen kommen und gehen. Nur wir Klabautermänner bleiben.“
Flo setzte seinen Hut wieder auf und reckte das Kinn nach vorne. Eine Weile sah er über das Watt in die Ferne.
*
Saga glaubte nicht an Klabautermänner. Damals wusste sie es auch nicht besser.
„Ein Klabautermann? Erzähl mir keine Märchen“, sagte sie deshalb zu ihrem Vater.
„Das hat der Bursche jedenfalls Max gegenüber behauptet“, fuhr Wehrfried fort. „Wie auch immer. Die beiden hatten Glück und sind bei ihren Abenteuern immer mit einem blauen Auge davongekommen. Einmal hat Max erzählt, dass ihm ein Zauberer auf Sumba Hasenohren angehext hätte. Ein Medizinmann hat ihm geholfen sie wieder wegzubekommen. Er musste sich tagelang eine stinkende Salbe auf die Ohren schmieren. Trotzdem waren seine Ohren immer irgendwie anders. Stimmts Mary?“
„Ja, Max hatte sehr merkwürdige Ohren“, sagte Sagas Mutter. „Aber die Sache mit den Hasenohren ist natürlich Unsinn.“
„Er hat behauptet, dass er von dieser Zeit an einen enormen Appetit auf Möhren gehabt hätte“, erzählte Wehrfried weiter. „Also hat er damit begonnen, riesige Felder voller Möhren anzupflanzen. Er streifte oft stundenlang über die Felder. Manchmal schlief er auch dort. Möhren wurden dadurch für einige Jahre zum Hauptgeschäftsfeld des Gutshofes, bis die Preise auf Konedugu in den Keller fielen. Wegen des Überangebots. Nun ja. Heute gibt es keine Zauberer mehr auf Sumba. Wir liefern manchmal Tabak dorthin. Eine schöne Insel. Ja, wirklich. Eine sehr schöne Insel. Aber von Zauberern keine Spur.“
„Du solltest aufhören zu träumen“, sagte Mary zu ihrer Tochter, „und dich stattdessen auf die 'Handelsschule' vorbereiten“
Die 'Handelsschule'. Saga mochte nicht daran denken. Auch Wehrfried hatte dort einige Jahre verbracht. Sie befand sich in einem wuchtigen Backsteingebäude direkt am Hafen von Altenburg. Die Klassenräume waren niedrig und dunkel und die Lehrer mussten jeden Morgen mit einer Verbeugung begrüßt werden. Alles war irgendwie altbacken.
Die Erwähnung der 'Handelsschule' hatte Sagas Stimmung gänzlich in den Keller rutschen lassen, wie die Möhrenpreise, damals, vor vielen Jahren. Sie schwieg mit trotzig zusammengepressten Lippen. Auch ihre Mutter schwieg. Es war nicht zu übersehen, dass Mary damit zufrieden war, ihre Tochter wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht zu haben. Dorthin, wo sich ihr Leben in den nächsten Jahren abspielen würde: Auf Konedugu - in der 'Handelsschule'.
Wehrfried hatte sich wieder einen Löffel Bohnen in den Mund geschoben. Ein paar Sekunden lang sah es so aus, als wollte er mit vollem Mund noch etwas sagen, dann aber kaute er still vor sich hin.
Sam Samuel wohnte am südlichen Rand von Altenburg, der einzigen Stadt auf Konedugu. Sein Haus stand in der Purpurgasse, einem Viertel in dem sich die ärmeren Bürger der Stadt niedergelassen hatten. Heute ist die Purpurgasse eine der schönsten Gassen von Altenburg. Damals, zur Zeit von Saga und Sam, war es eine Gegend, in der sich die meisten Einwohner der Stadt nicht blicken ließen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Die Häuser waren alt. Der Putz bröckelte, die Fenster waren undicht und die Dächer windschief. Sagas Eltern halfen finanziell, wo sie nur konnten, doch was sie für einen der Anwohner der Purpurgasse taten, mussten sie für die anderen auch tun, und das ging natürlich ganz schön ins Geld. So hatte die Purpurgasse ein Jahr zuvor ein neues Abwassersystem erhalten. Das alte war brüchig gewesen und an manchen Stellen undicht. Der Gestank war eine Zumutung gewesen. Wehrfried und Mary hatten ziemlich tief in die Tasche gegriffen und damit eines der schlimmsten Probleme für die Bewohner der Purpurgasse behoben.
Sam bewohnte ein schmales Häuschen mit einem Obergeschoss. Es war ein verputzter Ziegelbau, der schon bessere Tage gesehen hatte. Die Räume waren eng und die Deckenbalken wiesen jede Menge Risse auf, die fingerdick auseinanderklafften. An diesem Nachmittag saß Sam auf seinem alten Esstisch und spielte mit seinem Gummiball, den er abwechselnd gegen den Boden, die Wände oder die Decke schleuderte und geschickt wieder auffing. In seiner Reichweite stand ein halbvolles Schälchen Milch, daneben lag eine angebissene Scheibe Brot, die er über dem offenen Feuer im Herd geröstet hatte. Überall auf dem Lehmboden lagen Skizzen verstreut. Es waren Zeichnungen von Stützbalken und Berechnungen über das Gewicht, das sie tragen mussten. Sam Samuel plante seit Monaten, einen Stollen in den Westhügel zu graben - so nannten die Einwohner von Konedugu den größten Hügel ihrer Insel, der, wie der Name schon sagte, im Westen lag. Auf Konedugu, davon war Sam Samuel überzeugt, musste es Gold geben, da alte Chroniken der Insel von Goldfunden in einem ausgetrockneten See berichteten, von dem allerdings niemand mehr wusste, wo er sich seinerzeit befunden hatte. Da es einfacher war, einen Stollen in einen Berg zu treiben, anstatt senkrecht in den Boden, hatte Sam den Westhügel ins Visier genommen.
Als Saga die Tür öffnete, die nur schwer nach innen zu schieben war, da sie über den Boden kratzte, sprang der Gummiball dicht neben ihrem Gesicht gegen den Türpfosten und wieder zurück zu Sam Samuel.
„Hallo Saga“, rief Sam, fing den Gummiball auf und schleuderte ihn sogleich gegen den Boden. Sekunden später hatte er ihn, scheinbar mühelos, gegen die Decke geworfen.
„Hör auf damit“, raunzte Saga. „Ich will mit dir reden.“
Sam ließ den Gummiball in seiner Hosentasche verschwinden.
„Aber nicht hier in der langweiligen Bude“, meinte er.
Er sprang vom Tisch, leerte die Milchschale, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und folgte Saga nach draußen. Sam wohnte am Ende der Purpurgasse, ein Stück entfernt von den anderen dicht aneinander gebauten Häusern. Das Pflaster der unebenen Straße hatte Löcher, einige Pflastersteine waren lose und klapperten, wenn man auf sie trat. Sam begann unterwegs wieder mit seinem Gummiball zu spielen.
„Du machst ein Gesicht, als wären die Ferien gestern zu Ende gegangen“, sagte er zu Saga. „Dabei haben sie gerade erst begonnen.“
„Was hast du vor während der Ferien?“, fragte Saga.
„Was ich vorhabe?“ Sam zuckte mit den Schultern. Er war ein breiter, kräftiger Kerl, dem die Gutmütigkeit ins Gesicht geschrieben stand. „Vielleicht werde ich in der Sägemühle arbeiten. Mein Onkel sagt, dass sie dort in den Ferien jemanden gebrauchen könnten.“
Sam hatte seine Mutter kaum kennengelernt. Sie hatte die Familie zurückgelassen, als Sam drei Jahre alt war. Mit einem Handelsschiff hatte sie Konedugu verlassen und war irgendwo in der Inselwelt verschwunden. Einige Jahre später war sein Vater bei einem Unfall in der Sägemühle verunglückt. Ein schwerer Baumstamm hatte sich von einem Fuhrwagen gelöst und war ins Rollen gekommen. Sams Vater konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Er wurde so schwer verletzt, dass er noch am selben Tag starb. Da Sam keine Geschwister hatte, lebte er alleine in dem alten Haus seiner Eltern. Nur sein Onkel hatte sich einige Jahre um ihn gekümmert. Doch je älter Sam wurde, desto weniger Zeit nahm sich sein Onkel. Sam Samuels Ausbildung und seinen Lebensunterhalt finanzierte eine Stiftung für Waisenkinder mit einem monatlichen Betrag, von dem Sam zwar kaum leben konnte, der aber gerade ausreichte, um einen Hungertod zu verhindern. Saga schämte sich ihrem Freund gegenüber für den Wohlstand, in dem sie aufwuchs. Gerne hätte sie Sam mit etwas Geld ausgeholfen, aber das ließ sein Stolz nicht zu. Sam Samuel hätte nicht die kleinste Münze von ihr angenommen.
Sie schwiegen, bis sie das Ende der Gasse erreicht hatten und die letzten Pflastersteine hinter sich ließen. Hier stieg das Gelände sanft zu einem Hügel an, der mit einigen wenigen Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Saga und Sam setzten sich unter einen abgestorbenen Baum, dessen Äste bleich und tot um sich griffen. An diesem Baum trafen sie sich oft nachmittags oder an den Wochenenden und schmiedeten Pläne, wie man die Zeit auf Konedugu totschlagen konnte.
„Meine Eltern wollen mir eine Freude machen“, sprach Saga den Vorschlag von Wehrfried und Mary an. Ihr Tonfall ließ dabei keinen Zweifel an ihrer schlechten Stimmung. „Bei Gelegenheit wollen sie mit mir wieder nach Langeland.“
„Auf Langeland war ich noch nie“, sagte Sam. „Mein Vater hatte nie Zeit dafür. Gore war vor drei Jahren dort. Er sagt, es ist ein Wunder, dass es überhaupt noch Seehunde auf der Insel gibt.“
Gore war Sams bester Freunden.
„Auf Langeland gab es immer Seehunde“, meinte Saga, „und es wird dort auch immer Seehunde geben.“
„Gore sagt, als Seehund wäre er schon längst schreiend davongeschwommen, bei so vielen Menschen. Oder er würde die meiste Zeit auf dem Meeresgrund verbringen und sich die Ohren zuhalten. Manchmal, das behauptet zumindest Gore, kann man die Seehunde und die Besucher gar nicht auseinanderhalten. Seine Tante Minna hat einen Fisch an den Kopf bekommen, weil sie jemand für einen Seehund gehalten hatte, als sie am Strand lag. Der Kerl wollte sie füttern. Na ja, die Ähnlichkeit ist auch verblüffend.“
Saga kannte Gores Tante Minna. Sie hatte tatsächlich etwas von einem Seehund, sogar die langen, dünnen Barthaare fehlten nicht.
„Ich würde freiwillig auf den Ausflug verzichten, wenn ich an deiner Stelle wäre“, fuhr Sam fort. Er betrachtete eingehend seinen Gummiball, als müsste er ihn auf mögliche Schäden hin überprüfen.
„Es gibt mit Sicherheit interessantere Inseln“, erwiderte Saga.
„Wo denn?“, fragte Sam.
„Was weiß ich.“