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Als die zwölfjährige Elizabeth zum ersten Mal ihre Sommerferien auf dem Schloss ihrer Tante Mabel in Schottland verbringen darf hat sie nur einen Wunsch: Sie möchte das berühmte Schlossgespenst von Cranberry sehen. Das allerdings ist nicht so einfach, denn das Gespenst ist dafür berüchtigt besonders zurückhaltend zu sein. Zusammen mit ihrem Cousin Gregor gelingt es ihr wider erwartend das Gespenst aufzuspüren. Doch damit beginnt das Abenteuer erst … --- Der Erzählband enthält auch die Geschichte 'Der Schneemann', in der ein Junge Freundschaft mit einem Schneemann schließt ...
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Inhaltsverzeichnis
Das Schlossgespenst von Cranberry
Der Schneemann
Impressum
Endlich!
Elizabeth durfte die Sommerferien in Schottland verbringen. Auf Schloss Cranberry! Schloss Cranberry gehörte ihrer Tante Lady Mabel Majory Lennox und war zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, also im Jahr 1920, ein Schloss von zweifelhafter Berühmtheit. Es wurde vor Jahrhunderten am Südhang des Berges Schiehallion errichtet und thronte seitdem, eingerahmt von hohen Steilwänden, über der kleinen Stadt Cranberry. Berüchtigt war das altehrwürdige Schloss durch sein Schlossgespenst, das sich allerdings von anderen Gespenstern erheblich unterschied. Zum Leidwesen der Familie Lennox wurde ihr Schlossgespenst kaum auffällig. In ganz Schottland war es deshalb als das 'Stille Gespenst' bekannt und brachte dem Schloss und seinen Besitzern nichts als Spott ein.
Elizabeth hatte sich vorgenommen, wenigstens einmal in ihrem Leben einen Blick auf das 'Stille Gespenst' zu werfen, zumal es sich womöglich um einen ihrer Vorfahren handelte. Aufgrund von Familienstreitigkeiten zwischen ihrem Vater, Lord Henry Lennox und Tante Mabel – auf die hier höflichkeitshalber nicht näher eingegangen wird - hatte Elizabeth das Schloss seit ihrer Geburt vor zwölf Jahren bisher noch nie betreten und hatte deshalb auch noch keine Gelegenheit gehabt dem Gespenst über den Weg zu laufen oder sich wie eine Geisterjägerin auf die Lauer zu legen. Die Hausherrin, Elizabeth's Tante Mabel, konnte leider nicht viel über das Gespenst erzählen, obwohl sie schon seit ihrer Geburt vor fünfundvierzig Jahren auf Schloss Cranberry lebte. Sie war sich sicher, dass es ein Gespenst gab. Das schien aber auch schon alles zu sein. Ansonsten wusste sie nur, dass es recht unaufällig war. Doch das war schließlich in ganz Schottland und darüber hinaus bekannt.
Vor Elizabeth lag also eine außergewöhnliche Ferienzeit. Die kommenden Tage hatten jedoch einen Makel, und der hieß Gregor Montgomery von Sachsen-Herfordshire. Gregor war Elizabeth's Cousin. Auch er verbrachte dieses Jahr zum ersten Mal die Sommerferien auf Schloss Cranberry. Seine Eltern hatten, ebenso wie Elizabeth's Eltern, einen Sommerpflichttermin auf Schloss Windsor beim König. Dort verbrachten sie zwei Wochen mit politischen Gesprächen und mit Jagdausflügen, die zusammen mit der königlichen Familie stattfanden.
Tante Mabel war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Das war der Grund, weshalb das Schloss so gut wie unbewohnt war, abgesehen von den Angestellten, die mit ihren Familien dauerhaft im Schloss lebten. Die Mahlzeiten nahmen Elizabeth und Gregor zusammen mit ihrer Tante an der langen Tafel im Speisesaal ein. Den Rest der Zeit hatten sie meistens für sich, da Tante Mabel keine Ahnung hatte, wie Kinder zu beschäftigen waren. Über dem Esstisch hing ein Kronleuchter aus geschliffenem Glas, dessen Kerzen ruhig flackernd ein angenehmes Licht verbreiteten. Elizabeth war sich sicher, dass die Dienerschaft viele Stunden damit verbringen würde, den Kronleuchter zu reinigen und mit Kerzen zu bestücken. Gerne hätte sie diesen Vorgang einmal beobachtet, doch dazu bot sich eigenartigerweise nie eine Gelegenheit. Einmal hatte sie ihre Tante danach gefragt, doch diese hatte nur unsicher gelächelt. Dann war ihr plötzlich eingefallen, dass sie noch etwas mit der Köchin zu besprechen habe. Es war offensichtlich, dass Tante Mabel das Thema mied.
Während des Essens, das auf Schloss Cranberry jeden Abend zur selben Zeit pünktlich serviert wurde, stand Finley, Tante Mabels Butler, abseits und las Tante Mabel, Gregor und Elizabeth jeden Wunsch von den Augen ab. Die drei sprachen nie viel während der Mahlzeiten, da ein solches Verhalten laut Tante Mabel ungehörig war. Außerdem hätten sie unangenehm laut sprechen müssen, so weit saßen sie voneinander entfernt. Tante Mabel an einem Kopfende des Tisches und Elizabeth am anderen. Gregor nahm irgendwo dazwischen Platz, einmal an der einen und dann wieder an der anderen Längsseite. Elizabeth beneidete ihren Cousin ein wenig um diese Abwechslung. Die drei waren jedenfalls so weit voneinander entfernt, dass sie sich gegenseitig nicht einmal das Salz oder andere Kleinigkeiten reichen konnten. In einem solchen Fall sprang Finley ein und brachte das Salztöpfchen oder die Gewürzmühle oder was auch immer es war, mit ernster Miene von einem zum anderen.
So saßen die drei auch an diesem stürmischen Abend beisammen, an dem der Wind um den Schiehallion pfiff und Regenschauer gegen die schweren Bleiglasfenster des Schlosses drückte. Immer wieder zuckten Blitze am Himmel und es folgte fernes Donnergrollen. Jeder löffelte schweigend seine Suppe und starrte vor sich hin. Als Hauptgang wurde ein Karpfen serviert. Der Fisch lag als Ganzes auf Elizabeth's Teller und beobachtete sie mit einem Auge. Elizabeth war froh, dass Finley den Kopf schließlich entfernte und den Karpfen fachmännisch öffnete, so dass sie ihn essen konnte, ohne sich in seinen glasigen Fischaugen zu spiegeln.
Alles in allem war der Aufenthalt auf Schloss Cranberry durchaus angenehm. Den ganzen Tag über durfte Elizabeth tun und lassen, was sie wollte. Sie konnte sich sogar mit einem Automobil hinunterbringen lassen nach Cranberry um die mittlalterliche Stadt oder das Schloss, das sich wuchtig in die Felswänden des Schiehallion verkantet hatte, mit dem Zeichenstift festzuhalten. Zeichnen war Elizabeth's großes Hobby. Sie zeichnete Blumen, Tiere und porträtierte Menschen. Bereits als Kind hatte sie damit begonnen und mitlerweile eine enorme Fertigkeit darin entwickelt. Sogar Gregor hatte sich schon von ihr porträtieren lassen, obwohl er ziemlich eitel war.
Von ihrem Vater und von Tante Mabel wusste Elizabeth, dass es gleich unterhalb des Schlosses ein in den Fels gehauenes Labyrinth gab, das sie auf keinen Fall betreten durften. Wer sich dort verlief, war rettungslos verloren. Sogar Gregor, der dazu neigte leichtsinnig zu sein, dachte nicht ernsthaft darüber nach, dieses Labyrinth zu erkunden. Dazu fehlte ihm allerdings meist auch die Zeit, denn er widmete fast jede freie Minute dem Singen. Mehrere Stunden täglich spielte er im Musikzimmer auf einem leicht verstimmten Klavier und gab mit ernster Stimme Kirchenlieder zum Besten. Schließlich sang er als Tenor im Chor der Westminster Abbey und darauf war er mächtig stolz.
Womit sich Elizabeth nicht abfinden konnte, war, dass sie das Schlossgespenst nicht zu Gesicht bekam. Es ließ sich nicht blicken und es ließ nichts von sich hören. Kein einziges Gespenstergeräusch. Nicht vor Mitternacht und nicht nach Mitternacht. Nicht einmal ein Geräusch, von dem man hätte vermuten können, dass es von einem Gespenst stammen könnte. Keine Schritte, kein Knarren, kein Klopfen, kein Rütteln an einer Tür. Nichts. Doch was hatte Elizabeth erwartet? Das Gespenst tat, was es immer tat: Es verhielt sich unauffällig und machte seinem Ruf als stilles Gespenst alle Ehre.
„Tante Mabel“, fragte Elzabeth ihre Tante deshalb, als die erste Woche der Ferien auf Schloss Cranberry vorüber war, „weshalb bist du dir so sicher, dass es ein Schlossgespenst auf Cranberry gibt? “
Sie saßen im Lesezimmer und taten, was man in einem Lesezimmer eben tat: Sie lasen. Gregor starrte aufmerksam in ein Buch von Sir Walter Scott und Tante Mabel blätterte in einer Modezeitschrift, in der alle Frauen große Hüte trugen. Vor Elizabeth lag ein Lehrbuch für Kohlezeichnungen.
Tante Mabel seufzte und schlug ihr Buch zu.
„Wie soll ich euch das erklären?`“
Nun blickte auch Gregor auf.
„Das ist unhöflich, Elizabeth“, sagte er. „Neugierde ist kein schöner Charakterzug. Tante Mabel wird dann über das Gespenst sprechen, wenn sie es für richtig hält.“
„Schon gut, Gregor“, wehrte Tante Mabel ab. „Früher oder später werdet ihr es ja doch erfahren. Es gibt da etwas, das sehr merkwürdig ist, was ihr aber niemandem erzählen dürft. Niemandem außerhalb der Famile.“
„Was denn?“, fragte Gregor ohne den Blick von Tante Mabel zu nehmen. Sir Walter Scott war uninteressant geworden.
„Ich denke, man würde mich als Lügnerin brandmarken, wenn sich das herumspricht. Die Dienerschaft ist eingeweiht, aber es ist ein ungeschriebenes Gesetzt, dass dieses – Phänomen – niemals erwähnt wird.“
„Ein Phänomen?“, wieder hakte Gregor nach ohne sich Gedanken über seine Neugierde zu machen.
„Ihr kennt doch den Kronleuchter über dem Esstisch.“
Elizabeth und Gregor nickten stumm.
„Jeden Morgen ist er blank geputzt, ohne, dass sich jemand darum kümmert. Und nicht nur das. Die abgebrannten Kerzen werden über Nacht durch neue ersetzt. Und das seit genau hundert Jahren.“
Gregor zog die linke Augenbraue nach oben und lächelte schief. Elizabeth sah ihm an, dass er Tante Mabels Ausführungen für einen Scherz hielt.
„Vielleicht sollte sich mal jemand auf die Lauer legen“, sagte Elizabeth frei heraus.
„Das haben schon viele versucht“, erwiderte Tante Mabel. „Auch dein Vater, Elizabeth. Als er noch ein Junge war. Etwa so alt wie du heute. Doch sie sind alle eingeschlafen, jedes Mal. Und am nächsten Morgen war alles wie immer. Die Kerzen waren erneuert und die Glasstücke des Kronleuchters glitzerten, als wäre er nagelneu.“
„Man müsste es mit einer Filmkamera versuchen“, schlug Gregor vor. Seit einiger Zeit interessierte er sich für die neue Filmtechnik, die 1920 gerade weltweit einen Siegeszug feierte.
„Auch auf die Idee ist schon jemand gekommen“, sagte Tante Mabel. „Ein guter Freund von mir, der in einem Landhaus in der Umgebung von Cranberry wohnt, hat eine solche neuartige Kamera mit einer Kurbel daran eines Nachts aufgestellt und hat sich dahinter versteckt. Doch auch er ist eingeschlafen.“
„Wie kann das sein?“, platzte es aus Elizabeth heraus.
„Mehr kann ich euch nicht sagen“, schloss Tante Mabel ihre Erläuterungen, griff wieder zu ihrer Modezeitschrift und las.
Als Tante Mabel schließlich die Lesestunde für beendet erklärte und ihre Nichte und ihren Neffen zu Bett schickte, war es Punkt zehn Uhr abends. Die Standuhr im Speisesaal schlug zehn Mal und die Kette im Uhrkasten rasselte.
Elizabeth legte sich aufs Bett und lauschte in die Nacht hinein. Der Sturm draußen hatte sich beruhigt und nur hin und wieder war noch das Pfeifen des Windes zu hören und das leise Grollen des Donners. Tante Mabel würde niemals flunkern. Dazu hatte sie zu wenig Humor. Das mit dem Kronleuchter nahm Elizabeth ihr deshalb ab. Irgendjemand kümmerte sich darum. War es wirklich das Schlossgespenst oder einer der Bediensteten, der sich einen Spaß daraus machte, Tante Mabel in dem Glauben zu bestärken, dass es ein Gespenst auf Schloss Cranberry gab? Allerdings schien das Phänomen nun schon seit einhundert Jahren anzudauern. Welcher Sterbliche konnte eine solche Täuschung so viele Jahre aufrechterhalten?
Nach einer Stunde, in der Elizabeth's Gedanken zwischen den Seidenvorhängen des Himmelbettes hin und her gesprungen waren wie eine Billardkugel auf dem samtenen Belag eines Billardtisches, beschloss sie, dem Schlossgespenst auf die Pelle zu rücken. Bei dem Gedanken war ihr zwar etwas mulmig, doch ein derart zurückhaltendes Gespenst konnte auf keinen Fall weiter so hingenommen werden. Jemand musste es aufstörbern. Kronleuchter zu putzen war eine ehrenwerte Sache, doch wenn es weitere hundert Jahre dabei blieb, dann war der Ruf von Schloss Cranberry nicht mehr zu retten. Elizabeth verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Wo trieben sich Gespenster herum? In langen Fluren. Manchmal steckten sie in Rüstungen. Meistens aber hielten sie sich in Kellergewölben auf. Dort wollte Elizabeth allerdings nicht suchen. Zumindest nicht nachts und nicht ohne einen Erwachsenen. Elizabeth zog ihren dünnen Sommermantel über das schlichte Kleid, das sie zum Abendessen getragen hatte, und steckte zur Sicherheit einen Zeichenblock ein. Die Vorstellung, der erste Mensch zu sein, der das berüchtigte Gespenst porträtierte, jagte kleine Schauer durch ihre Magengegend.