Die Legende von Sigurd und Gudrún - J.R.R. Tolkien - E-Book

Die Legende von Sigurd und Gudrún E-Book

J.R.R. Tolkien

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Beschreibung

Gibt es ein Werk, das für uns so wichtig und prägend ist wie Ilias und Odyssee für die Antike? »Ja!«, sagt der Erfinder der modernen Fantasy: Die nordische Sage von Sigurd und Gudrún! Und J.R.R.Tolkien dichtete selbst den ehernen Stoff der Edda und des Wölsungenlieds für unsere Zeit neu. Lesen Sie, wie Sigurd den fürchterlichen Drachen Fáfnir tötet. Wie er die schlafende Brynhild erweckt aus einem Feuerwall. Und wie am Hof der Nibelungen große Liebe entbrannte und auch großer Hass. Tolkien schöpft hier ein Werk von unvergleichlicher Sprachkraft und einem Rhythmus, der alle Sinne erfasst. Der reich kommentierte Band gibt Tolkiens Originalverse neben der deutschen Übersetzung wieder.

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Seitenzahl: 414

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de/hobbitpresse Die Arbeit des Übersetzers an diesem Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert. Hobbit Presse Die Originalausgabe in englischer Sprache erschien bei HarperCollins Publisher Ltd. unter dem Titel »The Legend of Sigurd & Gudrún« by J.R.R. Tolkien All text and materials by J.R.R. Tolkien © The Tolkien Trust 2009, except of those derived from The Letters of J.R.R. Tolkien © The J.R.R. Tolkien Trust 1981, from Morgoth’s Ring © The J.R.R. Tolkien Trust 1993 and The People’s of Middle-Earth © The J.R.R. Tolkien Trust 1996 Foreword, Introduction, Commentaries, Appendices and all other materials © C.R. Tolkien Illustrations © Bill Anderson® und Tolkien® sind eingetragene Markenzeichen der The J.R.R. Tolkien Estate Limited Für die deutsche Ausgabe © 2010 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Schutzumschlag: HildenDesign, München, www.hildendesign.de Illustration: © Birgit Gitschier /HildenDesign Printausgabe: ISBN 978-3-608- 93795-4 E-Book: ISBN 978-3-608-10145-4

Die Seitenverweise innerhalb dieses E-Books beziehen sich auf die Printausgabe.

Innerhalb der beiden Lieder können Sie über die blau markieren Verszeilen zum Kommentar springen, durch antippen der Strophenziffern können Sie zwischen der deutschen und englischen Version wechseln.

VORWORT

VORWORT

In seinem Essay »Über Märchen« (1947) erzählte mein Vater von Büchern, die er als Kind gelesen hatte, und in dem Zusammenhang bemerkte er:

Nach vergrabenen Schätzen zu suchen oder mit Piraten zu kämpfen, interessierte mich überhaupt nicht, und Die Schatzinsel ließ mich kalt. Besser waren die Indianer: Bei ihnen gab es Pfeil und Bogen (ich hatte und habe noch heute den hoffnungslosen Wunsch, ein guter Bogenschütze zu sein), fremdartige Sprachen, Eindrücke von einer archaischen Lebensweise, und vor allem gab es die Wälder in diesen Geschichten. Aber das Land Merlins und Artus’ war noch besser, und am besten von allen war der namenlose Norden Sigurds des Wölsungen und des Königs aller Drachen. Solche Länder waren über alle Maßen begehrenswert. (Zitiert nach J.R.R. Tolkien: Gute Drachen sind rar, Üb. Wolfgang Krege, Klett-Cotta, Stuttgart 1983, S. 94f.)

Es hat sich zweifellos herumgesprochen, dass die in der altnordischen Sprache unter dem Namen Ältere Edda oder Lieder-Edda überlieferten alten Dichtungen in der Arbeit seiner späteren Jahre ein untergründig, aber tief wirkender Faktor blieben. So ist allgemein bekannt, dass er die Namen der Zwerge im Hobbit der Völuspá (»Weissagung der Seherin«) entlehnte, dem ersten Lied der Edda. In einem leicht sarkastischen, aber für ihn nicht untypischen Ton schrieb er einem Freund im Dezember 1937:

Vom Hobbit halte ich selbst nicht viel. Meine eigene Mythologie (die nur gestreift wird) mit ihrer einheitlichen Nomenklatur ist mir lieber … als dieses Kuddelmuddel von Zwergen mit eddischen Namen aus der Völuspá, frei erfundenen Hobbits und Gollums (das Produkt einer Mußestunde) und angelsächsischen Runen.

Nicht allgemein, ja so gut wie gar nicht bekannt (wenn auch aus veröffentlichten Schriften zu ersehen) ist aber, dass er in zwei zusammengehörigen Gedichten von insgesamt mehr als fünfhundert Strophen die Wölsungen- und Niflungen-/Nibelungensage nacherzählt hat, und zwar in heutigem Englisch, angepasst dem altnordischen Metrum. Diese Gedichte sind vorher noch nie veröffentlicht, ja mit keiner einzigen Zeile zitiert worden. Sie heißen Völsungakviða en nýja, »Das neue Wölsungenlied«, und Guðrúnarkviða en nýja, »Das neue Gudrúnlied«.

Die fachliche Kompetenz meines Vaters war keineswegs auf »Angelsächsisch« beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Lieder der Älteren Edda und das Altnordische (im allgemeinen Gebrauch weitgehend gleichbedeutend mit Altisländisch, da der weitaus größte Teil der erhaltenen nordischen Literatur in Isländisch abgefasst ist). Als Professor für Angelsächsisch in Oxford seit 1925 war er über viele Jahre hinweg auch der Altnordisch-Professor, obwohl ein solcher Titel gar nicht existierte; von 1926 bis mindestens 1939 hielt er jedes Jahr Vorlesungen und Seminare über nordische Sprache und Literatur. Aber trotz seiner Beschlagenheit auf diesem Gebiet, die in Island durchaus anerkannt wurde, hat er speziell über ein nordisches Thema nie etwas geschrieben, das zur Veröffentlichung gedacht war – mit Ausnahme vielleicht der beiden »Neuen Lieder«, und auch dafür gibt es, soweit ich weiß, keinen Beleg, sofern man nicht die Existenz eines Typoskripts von Sekretärinnenhand, undatiert und ohne Angabe eines Zwecks, als solchen werten will. Es gibt allerdings umfangreiche Notizen und Vorlesungsskizzen, auch wenn diese zum größten Teil sehr hastig geschrieben wurden und sich hart an der Grenze zur Unleserlichkeit bewegen oder diese überschreiten.

Die »Neuen Lieder« sind aus diesen Studien erwachsen und gehören in diese Zeit. Ich bin geneigt, sie eher auf die späteren als die früheren Jahre in Oxford vor dem Zweiten Weltkrieg zu datieren, vielleicht auf die frühen Dreißiger, kann aber zur Begründung nur mein Gefühl anführen. Die beiden Gedichte, die meines Erachtens zeitlich dicht beieinander entstanden sein müssen, stellen zusammen ein sehr substantielles Werk dar, und es wäre möglich, ist aber nur eine Vermutung, dass mein Vater sich die nordischen Gedichte als neues poetisches Projekt vornahm, nachdem er gegen Ende 1931 das Leithianlied (die Sage von Beren und Lúthien) bis auf weiteres beiseitegelegt hatte (The Lays of Beleriand, S. 304).

Die Beziehung dieser Gedichte zu ihren mittelalterlichen Quellen ist komplex; sie sind keinesfalls als Übersetzungen anzusehen. Diese sehr verschiedenartigen Quellen enthalten allerlei Unklarheiten, Widersprüche und Rätsel, und diese Probleme anzugehen war die erklärte Absicht, die mein Vater mit der Abfassung der »Neuen Lieder« verband.

Meines Wissens hat er sich kaum je zu ihnen geäußert, ich kann mich jedenfalls an kein Gespräch mit ihm über das Thema erinnern. Erst ganz am Ende seines Lebens hat er sie mir gegenüber angesprochen und vergeblich versucht, sie zu finden. Doch er erwähnte das Werk kurz in zwei Briefen an W.H. Auden. In dem vom 29. März 1967 (The Letters of J.R.R. Tolkien, herausgegeben von Humphrey Carpenter, Nr. 295) bedankt er sich bei Auden für die Übersendung seiner Übersetzung der Völuspá und sagt, er würde ihm seinerseits gern etwas schicken, »sofern ich es aufstöbern kann (ich hoffe, es ist nicht verlorengegangen), eine Sache, die ich vor vielen Jahren gemacht habe, als ich die Kunst der Stabreimdichtung erlernen wollte: ein Versuch, die Lieder über die Wölsungen aus der Älteren Edda zu vereinigen, verfasst in der alten achtzeiligen Fornyrðislag-Strophe« (so heißt das Versmaß der nordischen Stabreimstrophe, das in der eddischen Dichtung überwiegend gebraucht wird, das »Metrum der alten Sagen«). Und im Jahr darauf, am 29. Januar 1968, schrieb er: »Ich glaube, ich habe irgendwo noch ein langes unveröffentlichtes Gedicht namens Völsungakviða en nýja herumliegen, auf Englisch in achtzeiligen Fornyrðislag-Strophen geschrieben: ein Versuch, den Eddastoff, der sich mit Sigurd und Gunnar befasst, zu systematisieren.«

Den in den Liedern der Älteren Edda vorliegenden Sagenstoff zu »vereinigen«, zu »systematisieren«: so drückte er es vierzig Jahre später aus. Inhaltlich ist sein Gedicht, um nur von der Völsungakviða en nýja zu sprechen, im wesentlichen ein Ordnen und Klären, das Herausarbeiten eines sinnvollen Plans, einer Struktur. Zu berücksichtigen ist dabei aber immer seine Mahnung: »Die Verfasser dieser einzelnen Lieder [der Edda] – nicht die Sammler, die sie später kopierten und exzerpierten – schrieben sie als klar unterschiedene Einzelstücke, die für sich gehört werden wollten und nur die allgemeine Kenntnis der Geschichte voraussetzten.«

Man darf wohl behaupten, dass seine Deutung der Quellen, so wie er sie präsentierte, unabhängig von den Zweifeln und Zwisten der gelehrten Edda- und Nibelungenforschung gelesen werden kann. Die »Neuen Lieder« selbst, kunstvoll gestaltete Gedichte, die sich in Duktus wie Metrum eng an die Eddalieder anlehnen, sind das Maßgebende, und sie werden hier als in sich geschlossene Texte ohne jegliche editorischen Eingriffe präsentiert; alles andere im Buch ist Beiwerk.

Dass das Buch dennoch so viel anderes enthält, bedarf einer Begründung. Man könnte es für angebracht halten zu erklären, worin eigentlich der besondere Umgang meines Vaters mit der Sage besteht. Eine umfassende Behandlung der vieldiskutierten Probleme, die er zu lösen bestrebt war, könnte jedoch nur allzu leicht dazu führen, die »Neuen Lieder« bei ihrem ersten Erscheinen nach achtzig Jahren mit der Last gelehrter Spezialistendebatten zu befrachten. Das steht nicht zu befürchten. Doch mir scheint, dass die Veröffentlichung seiner Gedichte die Gelegenheit bietet, den Verfasser selbst zu Wort kommen zu lassen, und zwar mittels der Notizen, die er sich für seine Vorlesungen machte und in denen er in seinem typischen Ton genau jene Zweifelsfälle und Schwierigkeiten ansprach, die sich in den alten Geschichten finden.

Erwähnt werden muss auch, dass es nicht immer leicht ist, seinen Gedichten zu folgen, was besonders dem Charakter der alten Lieder geschuldet ist, die seine Vorbilder waren. In einer seiner Vorlesungen sagt er: »Im Altenglischen wurden Breite, Vollständigkeit, Reflexion, elegische Wirkung angestrebt. Die altnordische Dichtung strebt danach, eine Situation zu erfassen, einen Schlag zu führen, den man sich merkt, einen Moment blitzartig zu beleuchten – und sie neigt zu Verknappung, zu wuchtiger sprachlicher Verdichtung in Sinn und Form …« Dieses Erfassen einer Situation und Beleuchten eines Moments ohne klare Entfaltung eines Handlungsablaufs oder andere Fingerzeige, die den »Moment« verstehen helfen, ist, wie man feststellen wird, auch eine markante Eigenheit der »Neuen Lieder«, und hier könnte eine gewisse Hilfestellung wünschenswert sein, die über seine kurzen Inhaltsangaben vor einigen Teilen der Völsungakviða en nýja hinausgeht.

Nach reiflicher Überlegung habe ich deshalb beide Gedichte mit Kommentaren versehen, um Bezüge und dunkel erscheinende Stellen zu klären sowie sichtbar zu machen, wo mein Vater signifikant von den altnordischen Quellen abweicht oder wo Abweichungen zwischen verschiedenen Fassungen bestehen. Dabei greife ich, wenn möglich, auf Äußerungen in seinen Vorlesungen zurück. In diesen Notizen, das sei betont, deutet nichts darauf hin, dass er selbst Gedichte zum Thema geschrieben hatte oder zu schreiben gedachte. Andererseits lassen sich, wie zu erwarten, häufig Übereinstimmungen zwischen den in seinen Vorlesungsnotizen formulierten Auffassungen und der Behandlung der nordischen Quellen in seinen Gedichten beobachten.

Als allgemeine Einführung in die Ältere Edda gebe ich im Folgenden einen recht weit ausgearbeiteten Vorlesungstext dieses Titels ausführlich wieder, und anschließend steuere ich meinerseits kurze Erläuterungen zu dem Text der Gedichte, der Versform und anderen Punkten bei. Am Ende des Buches schildere ich kurz den Ursprung der Sage und füge noch andere dichterische Zeugnisse meines Vaters bei, die damit zusammenhängen.

Mit der ausführlichen Verwertung der Notizen und Skizzen meines Vaters zum »Altnordischen« wie auch zur Tragödie der Wölsungen und der Niflungen, so eilig hingeworfen und unfertig sie sein mögen, will ich versuchen, dieses Buch im ganzen so weitgehend zu seinem Werk zu machen, wie ich es vermag. Es darf naturgemäß nicht nach Auffassungen beurteilt werden, die heutzutage unter den Fachgelehrten vorherrschen. Es ist vielmehr gedacht als Präsentation und Zeugnis der Sicht, die er zu seiner Zeit von einer Literatur hatte, die er außerordentlich bewunderte.

In den Kommentaren bezeichne ich die beiden Gedichte als »Wölsungenlied« (Völsungakviða) und als »Gudrúnlied« (Gudrúnarkviða). Im Titel des Buches, Die Legende von Sigurd und Gudrún, habe ich jedoch den Untertitel aufgegriffen, den mein Vater der Völsungakviða auf der ersten Manuskriptseite gab, Sigurðarkviða en mesta, »Das längste Sigurdlied« (siehe dazu S. 365).

Den einzelnen Teilen des Buches sind Zeichnungen von Bill Sanderson vorangestellt. Sie sind getreu nach Holzschnitten aus Hylestad in Südnorwegen gefertigt, die von den breiten Türpfosten der dortigen Kirche aus dem zwölften Jahrhundert stammen, heute aufbewahrt in der Oldsaksamlingen der Universität Oslo.

Die Szenen auf beiden Türseiten stellen der Reihe nach die Geschichte von Sigurds berühmtester Tat dar, die im Wölsungenlied im Teil V, »Regin«, erzählt wird: die Tötung des Drachen Fáfnir, durch die er sich den Namen Fáfnisbani erwarb. Die Holzschnitte beginnen damit, dass Regin Schwerter schmiedet (S. 9) und diese geprüft werden (S. 21), und gehen dann wie folgt weiter: Sigurd tötet Fáfnir (S. 73); er leckt sich das Drachenblut vom Finger, wodurch er die Vogelstimmen versteht (S. 319; im Lied V,41); er tötet Regin (S. 519; V,45); Sigurds sagenberühmtes Pferd Grani, ein Fohlen Sleipnirs, des mythischen Reittiers Ódins, trägt den Drachenschatz (S. 495), vom Künstler allerdings nicht als so schwere Last dargestellt wie in der Völsunga Saga und im Lied (V,48). Die Bilderfolge endet mit einem ganz anderen Motiv (S. 381): Gunnar, wie er in Atlis Schlangengrube die Harfe spielt (Gudrúnlied 135), in dieser Version mit den Füßen, da ihm die Hände gefesselt sind (siehe S. 513).

Der Leser wird feststellen, dass sich in diesem Buch keine Erwähnung der Opern Richard Wagners findet, die unter dem übergreifenden Titel Der Ring des Nibelungen bekannt sind.

Für sein Werk schöpfte Wagner in erster Linie aus der altnordischen Literatur. Seine hauptsächlichen Quellen, die er in Übersetzungen las, waren die Lieder-Edda und die Völsunga Saga, wie sie auch die meines Vaters waren. Das große epische Gedicht Das Nibelungenlied, um den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts auf Mittelhochdeutsch verfasst, wurde für Wagners Libretti nicht benutzt, jedenfalls bei weitem nicht in demselben Maß wie die nordischen Werke, wenn dies auch vielleicht durch seine Verwendung deutscher Namensformen (Siegfried, Siegmund, Gunther, Hagen, Brünnhilde) oberflächlich kaschiert wird.

Aber Wagners Verarbeitung der altnordischen Formen der Sage war weniger eine »Interpretation« der alten Literatur als ein neuer, umgestaltender Impuls, der Elemente des nordgermanischen Weltbilds aufgriff und sie in neue Bezüge stellte, eine Adaptions-, Veränderungs- und Neuschöpfungsarbeit im großen Stil nach seinem eigenen Geschmack und seinen künstlerischen Intentionen. Demzufolge müssen die Libretti des Rings der Nibelungen, wenn sie auch auf alten Fundamenten aufbauen, weniger als Fortsetzung oder Weiterentwicklung der durch die Jahrhunderte fortwirkenden Heldensage begriffen werden denn als ein neues und unabhängiges Kunstwerk, mit dem die Völsungakviða en nýja und die Gudrúnarkviða en nýja nach Geist und Bestimmung wenig gemein haben.

EINFÜHRUNG

EINFÜHRUNG

Vor vielen Jahren erinnerte mein Vater an die Worte von William Morris über die, wie er es nannte, »große Geschichte des Nordens«, die nach seiner festen Meinung uns das sein sollte, »was die Sage von Troja den Griechen war«, und die in ferner Zukunft »den nach uns Kommenden nicht weniger sein sollte, als die Sage von Troja uns gewesen ist«. Dazu bemerkte mein Vater: »Wie fern und entrückt die Worte von William Morris heute klingen! Die Sage von Troja ist seit damals erstaunlich schnell in Vergessenheit geraten. Aber die Wölsungen haben ihren Platz nicht eingenommen.«

Wenn ein Thema und ein Zeitstil so abseitig geworden sind, ist es offensichtlich wünschenswert, sie in irgendeiner Form »einzuführen«, und für diese Erstveröffentlichung der »nordischen« Gedichte meines Vaters schien es mir ebenso reizvoll wie angebracht, als Einführenden weniger den Herausgeber als den Autor selbst zu Wort kommen zu lassen.

Nirgendwo in seinen nordischen Papieren gibt es einen Hinweis auf die »Neuen Lieder«, ausgenommen eine Sammlung vier kleiner Zettel ungewissen Datums, auf die sich mein Vater ein paar Bemerkungen zu ihrer Interpretation notiert hatte (sie folgen auf S. 62–66). So interessant sie an sich sind, stellen sie Form und Inhalt seiner nordischen Lieder doch nicht in einen größeren historischen Zusammenhang, und in Ermangelung einer solchen Arbeit habe ich mir erlaubt, einen großen Teil der Eröffnungsvorlesung (Allgemeine Einführung überschrieben) einer Vorlesungsreihe an der Anglistischen Fakultät in Oxford mit dem Titel Die »Ältere Edda« hier abzudrucken.

Man muss berücksichtigen, dass dies der schriftliche Entwurf einer Vorlesung ist, die mündlich vor einer kleinen Zuhörerschaft gehalten wurde. An eine Veröffentlichung war nicht im entferntesten gedacht. Die Absicht meines Vaters war es, in klaren groben Zügen seine Sicht der Dinge darzulegen. Er stellte die Edda nachdrücklich in einen weiteren zeitlichen Kontext und vermittelte beredt sein eigenes Verständnis dieser Dichtung und ihrer Stellung in der Geschichte des Nordens. In anderen Vorlesungen über einzelne Lieder oder bestimmte Themen drückte er sich natürlich vorsichtig aus, hier aber konnte er sich gewagte, ja überspitzte Formulierungen leisten und musste nicht jede Behauptung mit Einschränkungen absichern, wie es auf diesem Gebiet die Regel ist. So fällt auf, dass diese Darstellung, wie sie uns schriftlich vorliegt, ohne »vielleicht« und »wahrscheinlich«, »es gibt Stimmen, die« und »man könnte meinen, dass« auskommt.

Nach meinem Eindruck handelt es sich um ein relativ frühes Dokument, und später schränkte er seine anfänglichen Thesen durchaus in mehrfacher Hinsicht ein. Es existiert allerdings ein noch früherer und viel roherer Vortragsentwurf mit dem Titel Ältere Edda. Dieser Vortrag wurde vor einem namentlich nicht näher bezeichneten »Club« gehalten, doch er war die Grundlage für die viel weiter ausgearbeitete Vorlesung, von der hier ein Teil vorgelegt wird. Auf seine typische Art arbeitete mein Vater diesen ersten Text zu einem neuen Manuskript aus, indem er einzelne Wendungen beibehielt, gleichzeitig aber manches umschrieb und hinzufügte. Was die Exeter College Essay Society am 17. November 1926 unter dem besagten Titel zu hören bekam, muss der Vortrag in seiner ursprünglichen Form gewesen sein. Aber welcher zeitliche Abstand zwischen Vortrag und Vorlesung liegt, lässt sich unmöglich sagen.

Wenn ich den Text der Vorlesung hier abdrucke, dann hauptsächlich um den Verfasser der nachfolgenden Gedichte mit seiner eigenen lebendigen Stimme zum Thema der Lieder-Edda zu Gehör zu bringen, über das er sich seit seinen Altnordischvorlesungen in Oxford vor über siebzig Jahren nie wieder öffentlich geäußert hat.

Der eilig zu Papier gebrachte Text ist nicht überall eindeutig zu entziffern, weshalb er hier geringfügig bearbeitet und leicht gekürzt erscheint, ergänzt um ein paar Erläuterungen in eckigen Klammern und Fußnoten.

ERLÄUTERUNGEN ZU EINZELNEN PUNKTEN

§1Die »Prosa-Edda« des Snorri Sturluson

Der Name »Edda« gehört eigentlich nur einem berühmten Werk des Isländers Snorri Sturluson (1179–1241). Es ist eine Abhandlung über die Eigenart der isländischen Dichtkunst, die zu Snorris Zeit im Niedergang war, weil die alten Versregeln missachtet wurden und das dafür unerlässliche mythologische Wissen unter dem Beschuss einer Geistlichkeit stand, die jedes Überbleibsel des Heidentums bekämpfte. Das Buch ist in seinen drei Teilen eine Prosanacherzählung altertümlicher Mythen und Sagen, eine Darstellung und Erläuterung der eigentümlichen Diktion der alten »Hofdichtung« und eine beispielhafte Übersicht ihrer Versarten.

In seiner Vorlesung (S.40f.) erklärte mein Vater es für historisch nicht gerechtfertigt, dass Bischof Brynjólf von Skálaholt den Namen »Edda« auf die Lieder des großen Codex übertrug, den er 1643 erworben hatte. Zu Brynjólfs Zeit herrschte unter Isländern, die sich für die alte Literatur interessierten, die Auffassung, es müsse »eine ältere Edda« gegeben haben, von der Snorris Werk herstammte. Brynjólf selbst schrieb 1641, bevor er von der Existenz des Codex wusste, in einem Brief: »Wo sind heute die gewaltigen Schätze alles menschlichen Wissens, die Sämund der Weise niedergeschrieben hat, und vor allem die erhabene Edda, von der wir außer dem Namen kaum mehr den tausendsten Teil besitzen, und selbst das, was wir besitzen, wäre gänzlich verloren, wenn Snorri Sturlusons Auszug uns nicht wenigstens Schatten und Spur der alten Edda hinterlassen hätte, wenn schon nicht den lebendigen Körper.«

Sämund der Weise (1056–1133) war ein Priester, dessen ungeheure Gelehrsamkeit zur Legende wurde, der Titel Sæmundar Edda, den Brynjólf dem Codex gab, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Dadurch entstand die Vorstellung von den zwei Eddas, der Älteren oder Lieder-Edda und der Jüngeren oder Prosa-Edda. Warum Snorris Werk »Edda« genannt wurde, weiß man nicht, doch es gibt mehrere Hypothesen: Einige sehen das Wort óðr, »Dichtung«, als verwandt an, so dass die Bedeutung »Poetik, Dichtungslehre« sein könnte, andere leiten es von dem Hof Oddi in Südwestisland ab, einem Zentrum der isländischen Gelehrsamkeit, wo Snorri erzogen wurde.

Nach der »Lieder-Edda« wurde das Adjektiv eddisch gebildet im Gegensatz zu skaldisch (eine moderne Ableitung von dem altnordischen Wort skáld, »Dichter«). Von der skaldischen Dichtung schrieb mein Vater in seiner Vorlesung über die Ältere Edda (S.30): »Erst zu einem relativ späten Zeitpunkt waren ›Könige‹ im Norden reich genug oder mächtig genug, um prunkvoll Hof zu halten, und als das eintrat… [entwickelte] die Dichtkunst… ihre eigene knappe, markige, strophische, häufig dramatische Form nicht zum weiter, sondern zu den erstaunlichen und wohllautenden, aber formverliebten Ausschmückungen der Skaldendichtung.« Diese »Hofdichtung«, wie man sie auch nennen kann, war eine außerordentlich komplexe und eigentümliche Kunst mit extrem raffinierten Versbildungen nach strengsten Regeln, »Versbildungen«, wie mein Vater schrieb, »in denen die verschiedensten vollen und halben Binnen- und Endreime der Vokale und/oder der Konsonanten mit den Prinzipien Sinnstärke, Betonung und Alliteration verknüpft werden, und zwar mit dem erklärten Ziel, Lebendigkeit, Kraft und Rhythmus der nordischen Sprache in vollem Umfang zur Geltung zu bringen.« Dem sind noch der riesige poetische Wortschatz und die (unten beschriebene) ausgeprägte Verwendung des Stilmittels der »Kenninge« hinzuzufügen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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