Die Leserin - Iliana Leitner - E-Book

Die Leserin E-Book

Iliana Leitner

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Beschreibung

Die Umweltverschmutzung, die Kriege, Atommüll und Klimawandel machten die Welt nahezu unbewohnbar. Wissenschaftlerinnen und Ärztinnen arbeiteten in den letzten Jahrzehnten daran, Menschen unbesiegbar zu machen. Die Experimente schlugen fehl. Denn die Kinder, die zur Welt kamen, hatten besondere Fähigkeiten. Doch die Konsequenzen waren unvorhersehbar. Schließlich wurden die Experimente aufgegeben und Plan B trat in Kraft. Über die Südhalbkugel verteilt wurden Städte gegründet. Diese Städte hatten einen Schutzwall, der sie umschloss. Die Luft, die Temperatur, das Wetter im Inneren der Schutzwälle waren kontrollierbar.
 
Leserinnen sind seltsame Geschöpfe, die nicht in den Städten wohnen. Sie ziehen es vor, als Einsiedlerinnen durch die verwilderten Gebiete zu streifen. Denn jeder weiß: Leserinnen saugen Gefühle und Gedanken aus, bis nur noch eine leere Hülle zurückbleibt.
 
Diese Episode einer Serie enthält explizite Sexszenen und wird nur für erwachsene oder erfahrene Lesende empfohlen.
 
Version 1

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Iliana Leitner

Die Leserin

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Erklärung der Königinnen

Die Umweltverschmutzung, die Kriege, Atommüll und Klimawandel verwandelten die Welt in einen nahezu unbewohnbaren Planeten. Wissenschaftlerinnen und Ärztinnen arbeiteten in den letzten Jahrzehnten daran, Menschen unbesiegbar zu machen. Sie experimentierten, um Hirne und Körper zu verändern. Sie spielten mit der Evolution. Die Experimente schlugen fehl. Denn die Kinder, die zur Welt kamen, hatten besondere Fähigkeiten. Radioaktivität konnte ihnen nichts antun. Ihre Körper blieben nicht konstant in einer Form. Sie veränderten sich rasend schnell. Doch die Konsequenzen waren unvorhersehbar. Schließlich wurden die Experimente aufgegeben und Plan B trat in Kraft. Über die stabilere Südhalbkugel verteilt wurden Städte gegründet. Diese Städte hatten einen Schutzwall, der sie umschloss. Die Luft, die Temperatur, das Wetter im Inneren der Schutzwälle waren kontrollierbar. Nach Jahrzehnten wurde jedoch feststellbar, dass nur wenige Menschen überlebten. Die Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen der Städte sind „Die Überlebenden“. Es gibt verschiedene wenige Kräfte, die sich herauskristallisiert haben. Hundert Jahre nach dem Bau der Städte trafen sich die Führenden der Welt, um einen Friedensvertrag abzuschließen. Und dieser gilt bis heute:

 

Erklärung der Führerinnen der Welt (Auszug)

 

§1 Alle Städte leben im Frieden zueinander.

§2 Alle Städte nehmen so viele Überlebende auf, wie sie autonom versorgen können. 

§2.1 Große Städte können mindestens 10.000 Überlebende versorgen, kleine Städte mindestens 5.000.

§2.2 Alle Städte verpflichten sich, zum Überleben der Spezies beizutragen, indem sie die Zahl der Einwohnenden niemals unter diese Minimalgrenze sinken lassen.

§2.3 Zur Erhaltung der Einwohnenden und zur Vermeidung des Inzests muss die Fortpflanzung in allen Städten streng überwacht werden. Städte können autonome Pläne ausarbeiten.

§2.4 Fruchtbarkeitsfeste sollen allen Einwohnenden im richtigen Alter zugänglich sein. Gebärfähige haben unlimitierten Zugang zu den Fruchtbarkeitshallen. Zeugungsfähige werden nach Bedarf der Kategorien ausgewählt.

§2.5 Künstliche Befruchtung ist verboten. Siehe auch §5.

§2.6 Jede Gebärfähige, die sich weigert, Nachkommen auszutragen, hat kein Recht auf Versorgung oder Schutz.

§2.7 Jeder Zeugungsfähige, der sich weigert, Nachkommen zu zeugen, hat kein Recht auf Versorgung oder Schutz.§3 Alle Städte verzichten auf regulären Handel. Reisen ist gefährlich. Reisende haben keinen Anspruch auf Schutz. Wissenschaftlicher Austausch zwischen allen Städten findet regelmäßig über Kommunikatoren statt.

§3.1 Bei dem Hilferuf einer Stadt kann eine Königin Überlebende jeder benötigten Kategorie entsenden. Nach der Bannung der Gefahr kehren alle in die Stadt zurück, in der sie geboren wurden. Der Schutz der Reisenden wird von der Stadt übernommen, die um Hilfe gebeten hat.

§3.2 Sondergenehmigungen und Tausch von benötigten Kategorien kann von den Königinnen der betroffenen Städte autonom verhandelt werden.§4 Alle Städte sorgen für die Weiterbildung und das Training der Einwohnenden der Stadt gemäß ihrer Talente und Kategorien.

§4.1 Training von Kindern

§4.2 Weiterbildung von Erwachsenen§5 Alle Städte verpflichten sich, keine weiteren Experimente an Menschen oder Überlebenden durchzuführen. Es werden keine neuen Labore eröffnet und alle alten Labore werden vernichtet.

§5.1 Experimente zur Verbesserung der medizinischen Versorgung sind mit Genehmigung erlaubt.

§5.2 Experimente zur besseren Erforschung bereits bestehender Kategorien von Überlebenden sind mit Genehmigung erlaubt.§6 Alle Städte werden von Zukunftsseherinnen geleitet, denn sie kennen die Versionen der Zukunft, die für die Städte am erfolgversprechendsten sind. Die Zukunftssehenden tragen den Titel Königin.

§6.1 Alle Zukunftssehenden stellen sich und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Stadt.

§6.2 Gibt es mehr als eine Zukunftssehende in einer Stadt, regieren sie die Stadt gemeinsam.

§6.3 Jede Frau, die eine Zukunftssehende zur Welt bringt, meldet sich sofort bei der derzeitigen Königin.

§6.4 Alle Königinnen tauschen sich regelmäßig über die Zukunft ihrer Städte via Kommunikatoren aus, um ein jahrelanges gemeinsames Planen zu ermöglichen.§7 Alle Verwandelnden stellen sich und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Stadt.

§7.1 Verwandelnde, die das Talent der Erschaffung besitzen, müssen dem Amt der Nahrungsmittelherstellung gemeldet werden.

§7.2 Verwandelnde, die das Talent der Umgestaltung besitzen, müssen dem Amt für Bauwerke, dem Amt für Sicherstellung und dem Amt für Entwicklung gemeldet werden.§8 Alle Heilenden stellen sich und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Stadt.

§8.1 Alle Heilenden mit dem Talent der Wiederherstellung werden zur Heilung von Verwundungen eingeteilt.

§8.2 Alle Heilenden mit dem Talent der Analyse werden bei den Fruchtbarkeitsfesten gebraucht.§9 Alle Beschützenden stellen sich und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Stadt.

§9.1 Reisen – Angriff von Tieren

§9.2 Beschützen der Königin

§9.3 Beschützen der Kinder

§9.4 Beschützen der Stadt vor anderen Städten sollte laut diesem Vertrag nicht nötig sein. Bricht eine Stadt den Vertrag, greifen alle Städte diese Stadt gemeinsam an.§10 Alle Leserinnen stellen ihre Dienste den Städten nach Bedarf zur Verfügung.

§10.1 Königinnen haben jederzeit das Recht, Leserinnen von ihrem Territorium und dessen Umfeld fernzuhalten und zu vertreiben.§11 Alle Menschen können von den Königinnen zum Wohle der Stadt benutzt werden.

§11.1 Königinnen haben jederzeit das Recht, Menschen von ihrem Territorium und dessen Umfeld fernzuhalten und zu vertreiben.

Die Legende der Leserin

Archiv. Eintrag 634. „In den langen Jahren des Krieges beschäftigten sich alle Forschenden mit einem Ziel: Lebewesen zu erschaffen, die dem neuen Klima, den neuen Naturgewalten und Umwelteinflüssen, strotzen konnten. Aus dem Labor eines Wissenschaftlers entwuchs schließlich eine Kreatur, die nützlich hätte sein sollen, sich jedoch als tödlich und gefährlich erwies: Gedankenleserinnen. Die Idee war keine schlechte – Spioninnen, die in die Lager des Feindes eingeschleust werden können. Doch sie hatten mehrere Fehler, die den Nutzen zunichtemachten. Sie waren unfähig, sich unauffällig zu verhalten. Wenn eine Leserin irgendwo auftaucht, werden es bald alle wissen. Die Fähigkeiten zu kontrollieren ist beinahe unmöglich. Denn Leserinnen werden ohne Schutzbarrieren geboren. Und Schutzschilde zu entwickeln bedarf höchstem Talent und größter Geduld. Anstatt beliebig auf Gedanken zugreifen zu können, nehmen Leserinnen alles auf, was sie umgibt. Gedanken - und Gefühle. Untrainierte Leserinnen saugen alles aus den sie umgebenden Leuten auf, sie lesen nicht nur, sie stehlen. Zurück bleibt eine leere Hülle, die nicht lange überleben kann.

Erst im hohen Alter könnten Leserinnen also nützlich und kontrollierbar sein. Die wenigsten Leserinnen erreichen ein so hohes Alter und diese Meisterschaft. Geplagt durch die Nebenwirkungen ihrer Fähigkeiten wählen sie oft den Freitod.“

 

Archiv. Eintrag 112349. „Als die letzten Labore der Menschen zerstört waren, und die Städte sich langsam erholten, hörte man immer wieder ähnliche Geschichten. Geschichten über Frauen, die ganz alleine, ohne Beschützende, von Stadt zu Stadt reisten. Wie sie das schafften und überlebten, weiß niemand. Doch was passiert, wenn diese Frauen zu lange an einem Ort bleiben, das weiß jedes Kind. Die Frauen werden zu Monstern. Zunächst kommen sie ganz unschuldig und harmlos in die Nähe der Stadt. Sie sind so nützlich für die Königin, sie sind doch Leserinnen, sie wissen alles und Wissen ist doch das höchste Gut. Und nur Gedanken zu lesen wäre nicht schlimm. Doch Gedanken zu lesen reicht ihnen nicht. Denn Monster sind gierig. Sie saugen die Überlebenden aus. Nicht ihr Blut oder ihr Körper - nein, die bleiben intakt. Die Monster wollen etwas ganz anderes. Sie beginnen die Gedanken zu lesen und können nicht mehr aufhören. Und wenn sie dich berühren, hast du schon verloren, denn dadurch verdoppelt sich ihre Macht. Das Monster hebt ihre Krallen an den Kopf des Opfers und alle seine Gedanken, Gefühle, Erinnerungen werden von seinem Kopf in ihren gesaugt. Das Monster macht weiter bis nichts mehr vom Opfer existiert. Keine Angst, keine Liebe, nichts mehr. Manchmal lässt sie Leute am Leben. Aber was für ein Leben sollte das denn sein?

 

Archiv. Eintrag 996693. „Warum gibt es noch immer Leserinnen, fragst du dich? Woher kommen sie, denn es wird doch wohl niemand freiwillig in ihre Nähe gehen! Warum sind sie also nicht längst schon wieder ausgestorben? Weißt du es noch nicht?

Sie dringt in dein Gehirn ein. Sie nimmt dir deine Gefühle und tauscht sie aus. Und dann wird sich auch der stärkste Mann zu ihr legen, jeden Monat, bis sie schwanger ist. Sie wird deine Herrin. Sie befiehlt, ob du stirbst oder lebst. Und warum sollte sie ausgerechnet dich am Leben lassen? Wenn sie dich nicht mehr braucht, bekommt sie eine Tochter. Sie bekommt immer Töchter. Und diese Tochter wird dann auch eine Leserin sein. Und sie wird wie ihre Mutter durch die Wälder ziehen. Von Ort zu Ort. Und hilflose Menschen aussaugen, oder andere Unvorsichtige. Nimm dich acht vor Leserinnen. Sie sind die wahren Monster in den Wäldern da draußen.“

 

Archiv. Audio 9997768. Text:

„Eines Tages wanderst du heimlich in den Wald,

siehst eine schöne Frau, fühlst dich mit ihr wohlbekannt.

Liebst sie schon, bevor sie dich berührt, liebst sie mit ganzem Herzen schon, bevor sie dich berührt. Und ihre Hand fühlt sich so sanft an und so zart, wenn du sie jetzt nicht kriegst, bleibt dein Herz stehen, denn du liebst sie schon, bevor sie dich berührt [hat, nicht gesungen, Anm. d. Red.]. Liebst sie mit ganzem Herzen schon, bevor sie dich berührt. Und ihre Haare fühlen sich so glatt an und so weich, wenn du sie jetzt nicht kriegst, bleibt dein Herz stehen, denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat. Zu deinem Glück gehts ihr wohl ebenso. Hast du nicht Glück, ihr geht es ebenso.Und ihre Küsse fühlen sich so warm an und so heiß, wenn du sie jetzt nicht nimmst, bleiben eure Herzen stehen,denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat.Zu deinem Glück gehts ihr wohl ebenso. Hast du nicht Glück, ihr geht es ebenso.Und ihre Beine öffnen sich, fühlen sich so feucht an und so heiß,und sie reitet dich den ganzen Tag, bis eure Herzen galoppieren,denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat.und sie reitet dich den ganzen Tag, bis eure Herzen galoppieren,denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat.Zu deinem Glück gehts ihr wohl ebenso. Hast du nicht Glück, ihr geht es ebenso.Und deine Augen schließen sich, du kannst nicht mehr,und im Schlaf hält sie dich, hält sie dich fest im Arm,denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat.Zu deinem Glück gehts ihr wohl ebenso. Hast du nicht Glück, ihr geht es ebenso.

 

Die folgende letzte Strophe entstand etwa hundert Jahre später [Anm. d. Red.]Und sie geht ihres Weges, wenn du dich nicht mehr rührst,denn du hast ihr gegeben, was sie braucht.Gabst dein Leben für einen Tag in ihrem Arm, denn du liebtest sie schon, bevor sie dich berührt hat.Glaubst du denn ihr ging es ebenso?Glaubst du wirklich ihr ging es ebenso?“

Das Attentat

 

Es war beinahe dunkel. Er ließ sich davon nicht beeindrucken, obwohl er wusste, dass er jetzt klar im Nachteil war. Die Beschützenden der Königin sahen auch in der Finsternis gut. Er war von Anfang an im Nachteil gewesen. Körperlich unterlegen. Jeder Schritt war wohlüberlegt und dann wieder nicht: Jede Handlung musste spontan genug sein, sonst sah sie ihn kommen. Der Palast war größer, als er gedacht hatte. Das war vielleicht ein Vorteil. Er konnte gar nicht wissen, was alles auf ihn zukam. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass der Palast der Königin groß war! Aber er hatte nicht mit so vielen Überlebenden gerechnet. Dienende, Erschaffende. Es wurde gebaut, geliefert. Kinder spielten im Hof herum. Sie waren einfach überall. Viel zu viele Kinder für seinen Geschmack. Warum waren sie alle hier? Natürlich hatte man ihm gesagt, dass die Königin persönlich alle Kinder aufnahm, die nicht von ihren Eltern aufgezogen wurden. Aber so viele? Und warum waren sie nicht irgendwo weggesperrt? Er lief im Zickzack. Er kannte den Weg und dennoch versuchte er, nicht direkt zu gehen. Er durfte gar nicht daran denken. Immer alles spontan entscheiden! Wenn er sich auf dem Weg zu ihr verirrte, umso besser! Er musste sie verwirren. Die Königin wanderte. Nie verweilte sie lange an einem Ort. Es war ihm so gesagt worden. Er war darauf vorbereitet. Seine Gedanken sprangen hin und her zwischen den hunderten Plänen, die er auswendig gelernt hatte. Es musste Zufall sein. Alles musste er dem Zufall überlassen. Er war auf sie vorbereitet. Er wusste, wie sie aussah, wie sie sich bewegte, wie die Beschützenden aussahen, die sie umgaben. Er war gut vorbereitet worden. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie er sie finden würde, wie er an sie herankommen würde. Alles musste spontan sein. Das war das Schwierigste an seinem Auftrag: Man konnte die Königin niemals überraschen! Keine Zukunftssehende konnte man überraschen. Der Versuch war lächerlich. Doch er würde es probieren. Natürlich war sie auch von Beschützenden umgeben, doch die wirkliche Herausforderung war ihre eigene Kraft. Wie sollte man eine Frau töten, die alles kommen sah? Spontan. Das war der Schlüssel. Vielleicht würde er sie heute nicht töten, sondern jemand anderes. Er musste sich spontan entscheiden. Er musste auf Gelegenheiten warten. Jemand würde sie ablenken und sie würde sich nicht konzentrieren. Sie würde ihre eigene Sicherheit, ihre eigene Zukunft vernachlässigen. Und dann würde alles funktionieren. Die Kinder! Ein Kind. Er sollte eines der Kinder, die ihm entgegenliefen, töten. Das wäre die perfekte Ablenkung. Nichts war so kostbar wie ein Kind. Er wusste nicht, wie viele dieser Kinder tatsächlich von der Königin abstammten, alle trugen ähnliche Kleidung, keines wurde besonders beschützt. Natürlich nicht! Der Palast war der sicherste Ort innerhalb der ganzen Stadt! Da es noch keine Nachfolgerin gab, war das zukunftssehende Kind noch nicht geboren worden. Alle Kräfte der Überlebenden konnte man gut vorausplanen: Wenn Heilende und Beschützende sich vereinten, war das Kind entweder heilend oder beschützend. Doch anders war es bei Zukunftssehenden. Jede Frau konnte ein zukunftssehendes Kind zur Welt bringen. Und nicht einmal die Königin konnte es vorhersehen. Sie konnte ihre Nachfolgerin nicht sehen. Jedenfalls offiziell nicht. Er glaubte nicht jeden Mist, der über die Kräfte der Überlebenden verbreitet wurden. Spontan. Er wusste noch nicht, welches Kind er angreifen würde. Aber am besten wäre ein Kind, Erwachsene waren nicht so wertvoll. Nachkommen waren heilig. Kinder waren die Zukunft und kein Opfer war zu groß, um sie zu beschützen. Jeder wusste das. Gut, dass es ihm nicht früher eingefallen war! Er sah sich um. Die Halle war groß, der Gang leer. Er bog um die Ecke. Zwei Dienerinnen grüßten ihn, indem sie die Köpfe kurz senkten. Er erwiderte die Geste. Unschuldig wirkte er. Niemand schöpfte Verdacht. Er durchquerte einen Innenhof. Die Dunkelheit verunsicherte ihn kurz – die Beschützenden sahen jetzt viel mehr als er selbst. Vielleicht entging ihm hier etwas Entscheidendes. Er schlich sich in den Schatten, änderte die Vorgehensweise wieder. Der Gang, in den er jetzt abbog, war erleuchtet. Er hatte das Messer in seiner Tasche, ein Schwert am Gürtel, die geladenen Pistolen an den Oberschenkeln. Er sah aus wie jeder andere Beschützende, der ihm heute begegnet war. Und es gab so viele und der Palast war so groß, niemand wunderte sich, ein neues Gesicht zu sehen. Natürlich nicht. Die Pläne waren gut. Er musste sich nur konzentrieren. Vermutlich wusste sie längst, dass er kam. Wusste längst, dass sie es versuchen wollten. Da! Plötzlich rannte ein kleiner Junge an ihm vorbei, beinahe hätte er die Chance verpasst. Blitzschnell zog er das Messer und schnitt dem Jungen der Länge nach den Rücken auf. Das Messer glitt nicht sehr tief hinein, aber es reichte, um den Kleinen zum Schreien zu bringen. Als der Junge zu Boden stürzte, war er selbst längst bei der Tür. Er durfte nur nicht blöd dastehen und warten! Sonst würde sie ihn sofort bemerken. Erwachsene und Kinder, Dienende und Beschützende liefen auf den Jungen zu, der da blutend am Boden lag und schmerzhaft keuchte. Niemand verstand, was passiert war. Alle riefen durcheinander – wo waren die Heilenden? Von der Szene wegzugehen, wäre verräterisch, er bewegte sich wieder in die Richtung des Jungen. Und da sah er sie! Die Königin kam direkt auf ihn zu. Er fluchte innerlich. Er war noch zu weit weg von ihr! Er musste an etwas anderes denken, etwas anderes planen. Er kniete sich zu dem Jungen auf den Boden. Er plante, dem Jungen zu helfen. Das war am unauffälligsten. Natürlich! Das würde funktionieren. Ein Beschützender rannte an ihm vorbei.

„Mein Sohn! Wie kann das sein!“, rief er mit wütender Stimme. „Was ist passiert?“

 

Soldatenkinder. Interessant. Auch Kinder der Beschützenden waren im Palast untergebracht. Er musste Bericht erstatten. Aber zuerst kniete er sich neben den verletzten Jungen und drehte ihn behutsam auf den Bauch, sodass man die Wunde gut sehen konnte.

„Marlon! Beruhige dich!“, befahl die Königin mit ruhiger, fester Stimme. Der Beschützende wollte sich nicht beruhigen, man sah es ihm deutlich an. Er suchte jemanden, dem er die Schuld geben und dann töten konnte. Doch die Königin hatte gesprochen. Der wütende Beschützer trat einen Schritt zurück. Heilende trafen ein. So schnell! Jetzt. Die Königin stand direkt über ihm. Jetzt. Bevor er nachdenken konnte, hob er sein Messer erneut und hieb es in die Königin. Zweimal, bevor die Beschützenden ihn wegzerrten. Das Letzte, was die Königin hörte, war sein Lachen.

Der Anblick ihres eigenen Blutes weckte Ríona aus ihrer Version. Sie würde sterben. Heute noch.

„Milo! Marlon!“, rief sie und versuchte, sich zu sammeln. Alles war gut. Sie hatte es rechtzeitig gesehen. Noch war sie nicht tot. Die beiden Beschützenden traten aus den Schatten hervor.

„Dein Sohn wird verletzt. Jetzt, in diesem Augenblick! Wir müssen uns beeilen!“, sie bemühte sich um eine ruhige Atmung. Erst jetzt. Sie hatte die Vision viel zu spät bekommen! Sie war schon bei der Tür und Marlons Augen leuchteten ängstlich auf. Sofort wurde Wut daraus. Niemand wollte Marlon verstimmen.

„Es ist ein Mann mit einem Messer. Er will eigentlich mich töten. Der Junge ist nur eine Ablenkung!“, fuhr die Königin fort. Die Beschützer der Königin folgten ihr sofort. Sie wunderten sich nicht, sie fragten nicht nach. Eine Königin hatte immer mehr Informationen als ihre Beschützer. Nur selten waren die Leibwächter der Königin von ihrem Können überrascht.