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Manchmal muss man nur das Meer sehen, um seine Träume zu finden Sophies Leben ist überhaupt nicht so, wie sie es sich mal ausgemalt hat. Ihr Job als Assistentin bei einem Hamburger Filmverleih nervt extrem, mit ihrem Freund läuft es auch nicht mehr rund, und ihr Traum von einer Karriere als Köchin scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Als sie aus Versehen die Marketingleitung für den neuesten Blockbuster-Film an der Nordsee übernehmen soll, ist sie komplett überrumpelt und sagt zu. Für Sophie ist ihr Aufenthalt am Meer damit eigentlich schon turbulent genug, aber das Schicksal legt noch eine Schippe drauf. Während der Dreharbeiten der romantischen Komödie in den Dünen Dänemarks lernt sie einen attraktiven Unbekannten und dessen Hund kennen – und vergisst dabei ganz, dass sie zu Hause ja eigentlich schon liiert ist ...
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Die Liebe fällt nicht weit vom Strand
FRANZISKA JEBENS wuchs an der Nordsee auf, studierte Journalismus in München und lebte in Tokio und New York. In Hamburg arbeitete sie im Marketing eines Filmverleihs, bissie in die Personalberatung wechselte. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem alten Forsthaus mitten im Wald, arbeitet als Autorin und Coach und hält Vorträge zu verschiedenen Themen. Neben ihrer Liebe zu Büchern, die sie auf ihrem Buchblog www.dasmusstdulesen.de dokumentiert, hat sie eine große Schwäche für maßlose Romantik, verfallene Ruinen an schönen Orten und aufregende Abenteuer jenseits all ihrer Komfortzonen. Die Liebe fällt nicht weit vom Strand ist ihr Debütroman.www.franziskajebens.de
»Magst du auch ein Glas?«, fragt Nick, und bevor ich mir erklären kann, woher und warum er eine Flasche eisgekühlten Champagner am Strand parat hat, halte ich mein Glas schon in der Hand. Inmeinem Kopf formiert sich eine aufgeregte Zwergenarmee. Per Megaphon skandiert sie munter: »ACHTUNG! ACHTUNG! ROMANTIK!« und schwenkt dabei ein paar Plakate mit der Aufschrift»DU HAST EINEN FREUND! DU MUSST MORGEN UM HALB FÜNF AUFSTEHEN!« Ich beschließe, sie mit Nichtachtung zu strafen, während Nick das Feuer schürt. Ich will auch mal wissen, wie es ist, fünfe gerade sein zu lassen, und gerade als ich das denke, sagt Nick: »Für Champagner ist es nie zu früh«, lässt sich wieder neben mir nieder und prostet mir zu.
Franziska Jebens
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2238-4© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: shutterstock / © world of vector (Anker); shutterstock / © Jung Suk Hyan (Blumen);© Bildkomposition shutterstock (Seesterne, Fische)Autorenfoto: © Nico Klein-Allermann / Eden BooksE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Erster Teil
I
II
III
IV
Zweiter Teil
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
Dritter Teil
XII
XIII
XIV
Epilog
Danke …
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Erster Teil
Ich starre mein Spiegelbild an. Was hat die Yogalehrerin gestern Abend noch gesagt? Ich soll mit meiner Niere lächeln? Beim besten Willen. Das ist ein bisschen viel verlangt.
Heute Morgen finde ich es schon anstrengend genug, überhaupt die Augen aufzuhalten. Von einem Lächeln, in welcher Gegend meines Körpers auch immer, kann vor zehn Uhr auf keinen Fall die Rede sein. Wie spät ist es überhaupt? HALB NEUN??? SHIT! Ich bin hundert Jahre zu spät.
Ich reiße meinen Trenchcoat von der Garderobe, schnappe mir meine Handtasche und knalle die Tür zu. Abschließen. Und nun schnell die fünf Stockwerke runterlaufen, ohne mich dabei mit meinen Plateausandalen in der überlangen Schlaghose zu verheddern.
Ohne Verletzungen unten angekommen. Yay! Habe ich eigentlich abgeschlossen? Wieder oben angekommen, schließe ich eine Wette mit mir selbst ab. Wenn du wirklich nicht abgeschlossen hast, darfst du am Wochenende hundert Euro beim Shoppen ausgeben. Zwei Umdrehungen, bevor die Tür aufspringt. War ja klar. Jetzt noch einmal mit voller Konzentration abschließen und wieder nach unten, während ich »Ich habe abgeschlossen. Ich habe abgeschlossen. Ich habe abgeschlossen.« vor mich hin summe.
Der Bäcker nebenan hat keine Franzbrötchen mehr, stattdessen nehme ich eine Brezel. Nachdem ich bezahlt habe, fällt mir wieder ein, warum man bei diesem Bäcker keine Brezeln kaufen sollte: Sie sind trocken und viel zu salzig.
Unten in der U-Bahn-Station hechte ich in den Coffee Shop. Der Karamellsirup ist aus, aber einen ganz normalen Caffé Latte bekomme ich. Während ich versuche, den Deckel auf dem To-go-Becher zu befestigen und dabei Richtung Ausgang gehe, läuft ein Mann geradewegs in mich hinein. Der Kaffee schwappt mir entgegen, direkt auf mein puderfarbenes Shirt.
Ich beuge meinen Oberkörper nach vorne, damit der heißheißheiße Kaffee nicht meine Haut verbrennt, die Flüssigkeit tropft am Saum des Shirts langsam auf den Fußboden.
»Passen Sie doch auf, Sie dumme Person!«, lässt mich eine Frau im Vorbeilaufen wissen.
Ich stelle meinen Becher, in dem noch ein letzter Rest Kaffee darauf wartet, getrunken zu werden, auf den Boden und wringe mit spitzen Fingern mein Shirt aus. Was sind meine Optionen? Mein Traum von letzter Nacht fällt mir wieder ein. Ich musste zu einem Vorstellungsgespräch und befand mich in einem Zimmer voller Kleider, an der Wand eine riesige Uhr. Ich hatte noch zwölf Stunden Zeit, um mir ein passendes Outfit für den Termin herauszusuchen. Eine Leichtigkeit bei dieser großen Auswahl. Aber Pustekuchen. Um fünf vor zwölf hatte ich mich immer noch nicht entschieden. Und um zwölf war das Gespräch! Nass geschwitzt und atemlos war ich aufgewacht.
Das war also Vorhersehung. Ich wusste bereits heute Nacht, dass ich zu spät zur Arbeit kommen würde.
Ein Klamottenwechsel kommt nicht mehr infrage, dafür bin ich zu spät dran. Ich könnte einfach das Shirt umdrehen, sobald es getrocknet ist, und bis dahin den Trenchcoat über meiner Unterwäsche tragen. Das müsste gehen.
Mit dem Becher in der Hand gehe ich zum Gleis. Gerade ist ein Zug abgefahren, und es sind nicht mehr allzu viele Leute auf dem Bahnsteig. Wenn ich mich zur Wand drehe und schnell das Shirt aus- und genauso schnell den Trench anziehe, wird es fast keiner sehen.
Die Durchführung dieser Idee stellt sich als schwieriger heraus als gedacht. Zumindest der zweite Teil. Anscheinend hatte sich beim letzten Ausziehen des Mantels vor ein paar Tagen ein Knopf des Ärmels irgendwo verfangen. Der Ärmelteil steckt in sich fest und lässt sich nicht so einfach befreien. Ich kann nicht sehen, woran der Knopf festhängt, und meine Brille ist irgendwo in meiner Handtasche vergraben. Ich begebe mich, obenrum nur mit meinem BH bekleidet, in die Hocke und krame in den Untiefen meines unübersichtlichen Beutels herum. Ich muss meine Brille finden, sonst stehe ich noch eine halbe Stunde halb nackt hier rum.
Oh-oh! Mein Bauch fängt an, sich hörbar zu beschweren. Mein überempfindlicher interner Kommentator meldet sich immer gerade dann, wenn ich es so gar nicht gebrauchen kann. Ob es hier wohl eine Toilette gibt? Ich krame schneller, finde zwanzig verloren geglaubte Haarbänder, eine Tupperdose mit fragwürdigem Inhalt, ein paar englische Pfundstücke …
»Bist du’s, Sophie?«
Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich kneife meine Augen fest zusammen.
»Du bist doch Sophie, oder? Sophie Petersen, richtig?«
Pause.
»Hallo? Geht es dir gut?«
Was für eine Frage. Ich hocke in einem U-Bahn-Schacht mitten in Hamburg an einem Freitagmorgen vor meiner Handtasche und krame nach meiner Brille. Nicht ungewöhnlich. Stimmt. Allerdings trage ich dabei obenherum nur einen schwarzen, wenn auch sehr schönen BH, und wenn ich nicht gleich eine Toilette finde, wird es für mich noch sehr viel peinlicher, als es ohnehin schon ist. Ich sehe ein, dass ich mich durch das Schließen meiner Augen nicht unsichtbar machen kann. Es gibt dich wirklich, Sophie, und du musst jetzt antworten, sonst ruft diese Person noch einen Krankenwagen oder die Polizei.
Ich öffne meine Augen, presse den Trenchcoat an meine Brust und schaue nach oben.
»Ja, ich bin Sophie. Und wer bist du?« Beim besten Willen kann ich mich nicht an diese Person erinnern, die da vor mir steht. Sie sieht unglaublich ordentlich aus. Ist das vielleicht meine Bankberaterin?
»Ich bin's, Felicitas. Weißt du nicht mehr? Wir haben zusammen Abitur gemacht.«
Keine Erinnerung. Will ich auch nicht. Es gibt gute Gründe, warum ich mit niemandem von früher befreundet bin.
In der Schule gehörte ich von Anfang an nicht so richtig dazu. Im Nachhinein würde ich mich wohl als lupenreinen Nerd bezeichnen. Wer liebt denn schon mit vierzehn die Naturwissenschaften, findet in der Koch-AG seine Erfüllung und verbringt sämtliche Freizeit damit, sich die Grundlagen der Molekularküche anzueignen?
Während meine Klassenkameraden sich nach der Schule cool und lässig rauchend in den dunklen Ecken unserer Kleinstadtparks herumdrückten, verbrachte ich jede freie Minute im Haushaltswarenladen von Frau Düsen und ließ mir jedes Messer, jede Rührmaschine, jede Backform und jedes Sieb erklären. Während meine Mitschülerinnen sich für Schminke, die neuesten Chart-Hits und Asti Spumante mit Strohhalm begeisterten, stand ich mit einem glückseligen Lächeln an meinen dampfenden Töpfen und habe in flüssigem Stickstoff geeiste Bohnenperlen auf Krustentiergeleewürfeln zubereitet. Gegensätze ziehen sich an? In dem Alter wohl kaum. Zwei Jahre später wurde mein Außenseiterinnen-Schicksal endgültig besiegelt: Meine ambitionierten kulinarischen Kreationen wurden während des Schülerwettbewerbs einer Projektwoche von Eltern und Lehrern gleichermaßen enthusiastisch gelobt, und die Auszeichnung und der erste Preis über zweihundert Euro gingen an mich.
So war das aber nicht geplant gewesen. Die bei der gesamten Schülerschaft sehr beliebte Schulband »Die Letzten« war sich ihres Sieges gewiss gewesen, hatte sich schon sehr auf den Gewinn gefreut und sämtlichen Fans versprochen, die zweihundert Tacken gemeinsam stilvoll zu versaufen. Nun gingen sie leer aus, das allgemeine Umsonst-Besäufnis fiel flach, und stattdessen hätte Sophie Petersen nun endlich ihre lang ersehnte Küchenmaschine kaufen können.
Aber ich war ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Vielleicht hatte sich ja jetzt doch noch eine Möglichkeit ergeben, sich endlich beliebt zu machen.
»Ich finde, ›Die Letzten‹ haben den Preis mehr verdient als ich. Ich würde ihn gerne weiterreichen«, verkündete ich selbstlos und mit zitternder Stimme auf der kleinen Bühne in der Aula und sah mich schon mit einer Flasche eisgekühltem Bommerlunder in der Hand in die tosende Menge meiner neu gewonnenen Freunde stagediven, während »Die Letzten« sich auf ebendieser Bühne bei ihrem Sieger-Konzert die Seele aus dem Leib spielten.
Aber anstatt mich dafür zu feiern, schrie Kris, der Sänger der Band: »Buuuh! Wir brauchen deine Almosen nicht, du Kochtopf-Jockey. Buuh!« Und die anderen stimmten mit ein, trampelten mit den Füßen auf den Boden und buhten mich aus, während die Lehrer aufgebracht versuchten, Ruhe in den überhitzten Laden zu bringen. Mein spontaner Plan, mit dem ich mich endlich in die für mich so schwer zu durchschauenden Sozialstrukturen meines Kleinstadtgymnasiums integrieren wollte, war auf fatalste Weise gescheitert. Nun war ich nicht mehr nur der unsichtbare Koch-Freak, sondern hatte mich stufenübergreifend als arrogante Bratnudel präsentiert, die herablassend ihre milden Gaben unter der Schülerschaft verteilt. So wurde mein Auftritt zumindest interpretiert. Mein Schicksal als offizielles Hänsel-Maskottchen der Schule war damit unumstößlich und bis zum Abitur besiegelt worden.
Die Erinnerungen an mein unbeliebtes Ich von damals drücken noch ein bisschen mehr auf meinen Bauch, und ich will einfach nur noch raus aus dieser Situation, weg von dieser längst verdrängten Erinnerung.
»Nein.«
»Was nein? Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern, oder nein, wir haben nicht zusammen Abitur gemacht?« Felicitas sieht verwirrt aus.
»Einfach zu allem nein. Du musst mich verwechseln. Und jetzt entschuldige mich bitte. Wie du ja siehst, bin ich sehr beschäftigt.«
Felicitas sieht jetzt noch verwirrter aus. »Okay. Vielleicht mal auf einen Kaffee?«
»Wie schon gesagt, nein. Immer weiter nein. Danke und tschüss.« Ich blicke wieder nach unten in meine Handtasche und krame weiter. Da. Da ist sie. Die Brille. Brille auf. Aha. So. Der Knopf am Handgelenk hat sich in einem Loch vom Innenfutter verfangen. Jaja, Nähen müsste man können. Ich stehe hastig auf, und mir wird kurz schwarz vor Augen. Manchmal mag ich das ja, weil ich dann total im Moment bin. Jede Sorge, jeder Gedanke löst sich auf in diesem kleinen Schwindel, und es geht nur darum, wieder zu sich zu kommen und nicht umzukippen. Heute würde ich es allerdings vorziehen, nicht auch noch eine Top-lose Ohnmacht auf dem U-Bahn-Steig befürchten zu müssen, sondern mich einfach anzuziehen und von hier zu verschwinden. Ich ziehe den Trenchcoat über und setze meine Brille ab. Felicitas steht immer noch mit offenem Mund vor mir.
Die U-Bahn fährt ein. Ich lasse die verblüffte Felicitas stehen, steige zu und fahre fort.
In der Bahn ist es heute noch heißer und voller als sonst. Ich versuche, nicht zu atmen. Wieso müssen sich die Leute immer parfümieren, bevor sie in die U-Bahn einsteigen? Neben mir isst ein Typ, der wohl die Nacht durchgemacht hat, einen Döner, und aus den Kopfhörern eines Mädchens mit schwarz kajalten Augen schallt ohrenbetäubende Heavy-Metal-Musik.
Ich sollte Claudio Bescheid sagen, dass ich zu spät komme. Wenigstens habe ich mein Handy nicht vergessen. Zehn Prozent Akku, lässt es mich wissen. Für eine SMS reicht das noch.
»Hi Claudio, sorry, aber könntest …?«, und schon ist das Display schwarz. Jetzt lässt mich auch noch mein altes Nokia im Stich.
Endlich kommt meine Haltestelle, ich löse mich aus dem Menschenpulk und steige aus. Mein Blick fällt auf die große Uhr am Bahnsteig. So eine Uhr habe ich doch heute schon einmal gesehen … Ach ja, in meinem Vorstellungsgesprächs-Albtraum. Nur, dass es nicht fünf vor zwölf ist, sondern fast halb zehn und damit eine halbe Stunde nach Beginn meiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit. Aber bevor ich den Weg zu meinem Arbeitsplatz fortsetzen kann, muss ich mal. Unbedingt. Im Café an der Ecke darf ich die Toilette benutzen und bin unglaublich dankbar, dass es nur eine einzige Kabine gibt.
Wenig später bin ich endlich an unserem Bürogebäude in der Speicherstadt angekommen und stemme die schwere Tür zum Treppenhaus auf. »Außer Betrieb«. Das Schild am Aufzug raubt mir den allerletzten Nerv. Was für ein Morgen! Der Trenchcoat klebt wie eine zweite Haut an mir, und Schweißrinnsale laufen an meinem Körper herunter. Vier Stockwerke Treppensteigen im Eiltempo machen da auch keinen Unterschied mehr. Schnaufend stehe ich vor der gläsernen Eingangstür. Claudio sitzt auf meinem Platz an der Rezeption und telefoniert. Ich bin erleichtert. Für die heutige dreiviertelstündige Verspätung wäre ich wahrscheinlich gefeuert worden. Ich durchwühle meine Tasche nach dem grünen Plastikchip, der mir die Tür zum Triversal-Kosmos öffnet. Aber er ist nicht da.
In dem Moment geht der Türsummer. Claudio hat mich entdeckt.
»Wo warst du? Oh Gott. Du siehst schrecklich aus. Was ist denn mit dir passiert? Am besten, du gehst erst mal ins Bad.«
»Danke fürs Einspringen. Es kommt nicht wieder vor«, verspreche ich zerknirscht.
»Jaja«, knurrt er. Aber ich kenne meinen Kollegen. Er meint es nicht so.
Claudio hat recht. Ich sehe schlimm aus. Aus dem Spiegel blickt mir eine Frau entgegen, die ich nicht kenne. Zerzaustes Haar, zu Pandaaugen verschmierte Wimperntusche und nicht das kleinste Lächeln auf den Lippen. Ich überprüfe das Shirt, das ich zum Trocknen über meine Handtasche gehängt habe. Wenigstens ist der Kaffeefleck schon halbwegs getrocknet. Bevor ich mich meinem derangierten Gesicht widme, muss ich erst einmal diese vermaledeite Zwangsjacke loswerden. Ich zerre an den Ärmeln und bekomme den nächsten Schweißausbruch. Nach einem kräftigen Schütteln meines linken Arms fällt der Mantel zu Boden. Endlich. Ein angenehmer Luftzug umspielt meinen Oberkörper. Die Tür geht auf, und herein kommt Tina. Die hat mir gerade noch gefehlt.
»Huch. Ich wusste nicht, dass Triversal hier eine Umkleide eingerichtet hat. Sorry, das muss mir entgangen sein«, schnippischt sie in meine Richtung. Sie mustert mich von oben bis unten, und ich bin ihr fast dankbar, weil mich ihre eiskalte Aura etwas abkühlt. Glücklicherweise bin ich trotz meines nicht gerade kleinen Pos und ein bisschen Cellulite hier und da ganz zufrieden mit meinem Körper und danke dem Universum für die heutige Wahl meines BHs.
»Die Toiletten sind frei. Also, falls du deswegen hierhergekommen bist.«
Sie hebt nur kurz ihre linke Augenbraue und rauscht an mir vorbei. Ich hoffe, es ist ihr unangenehm, dass ich ihr jetzt beim Pinkeln zuhören kann.
Tina ist Senior Product Managerin im Marketing bei Triversal und generell nie freundlich zu mir. Normalerweise ignoriert sie meine gesamte Existenz, und ihr Sidekick Nina hält es genauso.
Mein Shirt sieht mit der Rückseite vorne auch sehr gut aus, der weite Ausschnitt ist ein Glück. Nun zu meinem Gesicht. Mithilfe meines Schminktäschchens vollbringe ich ein kleines Wunder. Nach fünf Minuten sehe ich wieder vorzeigbar aus. Tina ist, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen und ohne sich die Hände zu waschen, verschwunden. Ich gehe zum Empfang.
»Claudio, vielen Dank, dass du eingesprungen bist. Es ist ein katastrophaler Tag, und dabei ist es noch nicht einmal zehn Uhr.«
»Nein, aber fast. Was ist denn bloß passiert?«, fragt Claudio besorgt.
Ich erzähle ihm von meinem abenteuerlichen Morgen, und er schaut mich mitleidig an.
»Hier hat dich zum Glück noch niemand vermisst. Ich geh jetzt mal zurück an meinen Arbeitsplatz.«
Claudio ist bei Triversal für das Verteilen von Büromaterialien und Postsendungen zuständig und verwaltet außerdem den Fuhrpark und das Reinigungsteam. Wäre er nicht gewesen, hätte ich den Job gleich wieder hingeschmissen. Aber er war von Anfang an für mich da und hat dafür gesorgt, dass ich nicht aufgebe.
Ich setze das Headset vor den Dutt, in den ich meine Chaoshaare vorhin verstaut habe, und stelle mich auf einen weiteren anstrengenden Tag ein. Vormittage am Empfang einer der größten Filmfirmen Deutschlands sind immer sehr turbulent. Unglaublich viele Kuriersendungen treffen ein, und genauso viele müssen auch wieder verschickt werden. Taxen werden bestellt, Geburtstagssträuße und Geschenkkörbe müssen verteilt werden. Und irgendetwas fehlt immer: Kaffee ist aus, Toilettenpapier alle oder kein einziger Teelöffel im Haus. Oder ein Mitarbeiter tritt in Hundekot und verteilt diesen überall im dritten Stock.
Besonders angespannt sind die Freitage. Die Kino-Kollegen schwirren nervös umher, weil sie noch nicht die endgültigen Besucherzahlen der Neustarts vom Donnerstagabend vorliegen haben. Zahlen gut, Morgen gut. Zahlen schlecht, ein Schuldiger muss gesucht werden – meistens war es das Wetter. An Freitagen ist also auch oft der Chef im Haus. Ein despotischer Choleriker, der stets ein golden bedrucktes Versace-Hemd zu seinem schwarzen Anzug trägt. Dazu sein rotes Mercedes-Coupé, das fast genauso monströs ist wie sein Büro, an das eine noch monströsere Dachterrasse anschließt. Ganz schön viel »monströs« für nur einen Mann. Bisher hatte ich natürlich noch nicht die Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen – wieso sollte er sich auch mit der Empfangsdame abgeben –, aber aus der Ferne wirkt er auf mich wie ein durch und durch unsympathischer, herrschsüchtiger, komplexbeladener Typ, der unter den Kollegen keine große Fanbase zu haben scheint. Seit ich hier bin, habe ich noch niemanden ein nettes Wort über ihn sagen hören. Seine Wutausbrüche hingegen sind legendär. Es heißt, dass er einmal sogar einen Stuhl durch sein Büro geworfen habe, wobei die Scheibe der Terrassentür zu Bruch gegangen sein soll.
Ist er im Büro, gehen alle in Deckung.
Heute aber scheint es keinen zu stören, dass Herr Mock im Haus ist. Der neue Film ist wohl gut angelaufen. Christian, der Sales Director des Kinoteams, läuft mit federndem Schritt an mir vorbei zur Küche. Wenn das vor elf Uhr passiert, war der Filmstart erfolgreich. Und heute ist es sogar erst kurz vor zehn. Nach einem kurzen Begrüßungsnicken in seine Richtung konzentriere ich mich wieder auf das Beantworten und Durchstellen der vielen Anrufe, das Schreiben und Drucken der Versandetiketten, das Verteilen der verschiedensten Goodies und das Ausfüllen der Premiereneinladungen für den Sommerblockbuster, auf den alle hier im Haus große Hoffnungen setzen. Das böse Supermonster, das im Laufe des Films gut wird, sich einer Superheldenclique anschließt und dabei hilft, die Menschheit zu retten, schaut mich aus der aufgeklappten Einladungskarte mit großen Augen fragend an: »Und was hast du bisher in deinem Leben erreicht?«
»Gar nichts«, flüstere ich entkräftet und bedrückt in Richtung Supermonster und schlage lieber schnell die Karte zu, damit das Supermonster nicht noch mehr Fragen stellt, die ich nicht beantworten will.
Gegen halb eins gebe ich die ersten Essensbestellungen bei den Lieferservices auf, wodurch sich meine Laune schlagartig hebt. Geht es ums Essen, schlägt mein Herz immer noch hoch, höher, am höchsten. Meine Molekularküchen-Phase habe ich zwar längst hinter mir gelassen, aber die Faszination, oder sollte ich besser sagen Besessenheit, für neue Rezepte, ausgefallene Zutaten, überraschende Kombinationen ist trotz oder vielleicht gerade wegen meiner Außenseiterinnen-Erfahrung während der Schulzeit geblieben und gewachsen. Ich überlege, wie ich selbst den bestellten Glasnudelsalat, die Bento Box, das Curryhuhn zubereiten würde. In meiner Fantasie stehe ich dann in der kleinen Küche meines mintfarbenen Oldtimer-Foodtrucks, im Hintergrund läuft »We Were Here« von BOY, ich würfele, hacke, rühre, schmecke ab und verkaufe über die Theke meine leckeren Suppen, Sandwiches und Salate an mittagshungrige Schreibtischhengste. Ich wiege mich im Takt der Musik, drehe mich hin und wieder um mich selbst und bin dabei total in meinem Element. Im besten Fall ruft jemand, der an meinem Hingucker-Truck vorbeigeht, freundlich zu mir rauf: »Oh, das duftet aber gut.« oder »Hast Du schon auf?« oder »Bei dem Geruch bekommt man sofort Hunger.« Und ich antworte fröhlich flötend: »Danke! Probier doch mal!« oder »In zehn Minuten,« oder »Ich mache dir gern eine Portion fertig.«
Ohne Probleme steuere ich mein etwas überdimensioniertes Gefährt durch spannende Metropolen und pittoreske Kleinstädte auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer und dem idealen Stellplatz für mein Angebot. Im Mai und im Dezember bekoche ich auch Hochzeiten, Taufen, Verlobungen, Geburtstags-, Weihnachts- und Silvesterpartys. Aber man muss sich früh entscheiden. Denn ich bin schon für die nächsten drei Jahre ausgebucht. In den anderen zehn Monaten arbeite ich, wann ich will, und bleibe, wo es mir gefällt. Ich bin angstfrei, sage immer, was ich denke, tue nur, was ich will und nicht was ich sollte und bin absolut gut gelaunt. Sorgen habe ich keine und Bauchweh noch viel weniger. Hier gehöre ich hin. Hier bin ich richtig. Meine Schürze ist mint-weiß kariert, meine braunen Haare sind in einem Kranz um meinen Kopf herumgeflochten, und ich bin, kurz nachdem ich geöffnet habe, bereits leer gegessen, ausverkauft und hochgelobt. Ich fühle mich Friede, Freude und vor allem Eierkuchen.
»Hi Sophie«, Mike reißt mich aus meinen Tagträumen. Wie lange er wohl schon seine gebräunten, blond behaarten Unterarme direkt vor meiner Nase auf den Tresen aufgestützt hat und mich mit diesem typisch Mike-esken, unverschämten Lächeln anschaut? Ich merke, dass ich rot werde, und hasse mich dafür. Manchmal wundere ich mich fast, wie ich überhaupt jemals zu einem Freund kommen konnte. Meine Schüchternheit ist seit jeher enorm, wird aber durch offensives Selbstbewusstsein eines männlichen Gegenübers noch bis ins Unermessliche gesteigert. Das Schlimmste daran? Es nervt! Mein Gott, ich bin 29 Jahre alt und habe vorhin sogar eine alte, angebliche Schulkameradin eiskalt abblitzen lassen. Dann kann dieser Typ mir ja wohl auch nichts. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und stelle mir vor, in meinem Kopf stünde ein Kübel mit Eiswürfeln. Heute Morgen hatte ich doch noch vorgehabt, mich der Welt zu stellen. Hier ist DIE Gelegenheit.
»Hi Mike, wie geht’s? Hattest du einen schönen Urlaub?«
Situation wieder unter Kontrolle, Gesichtsfarbe wieder im hautfarbenen Bereich.
Eigentlich ist meine Frage völlig bescheuert, denn Mike hat nur supertolle Urlaube. Er verbringt sie mit immer wechselnden megahübschen Begleitungen, die mindestens als professionelles Model arbeiten, und erlebt die ausgefallensten Dinge: Letztes Jahr spontaner Trip zum Fußball-EM-Finale mit dem Privatjet seines berühmten Singer-Songwriter-Freundes, letzten Monat Segeltörn in Griechenland, letzte Woche Naked-Base-Jumping in Johannesburg. Man fragt Mike nicht nach seinen Urlauben, weil man sich nach seiner Antwort garantiert wie ein langweiliger Versager vorkommt. Aber weil mir sonst nichts Gescheites oder auch nur einigermaßen Cooles einfällt, ist das mein einzig mögliches Small-Talk-Thema an diesem Mittag.
»Ich war surfen am Gardasee. Das war super. Nächstes Wochenende machen wir das wieder. Ein Kumpel von mir hat da so ein kleines Haus direkt am See – vielleicht kommst du mit?«
OOOKAY! Was ist hier los? His Hotness fragt mich, ob ich mit ihm an den Gardasee fahren will?
»Wie bitte?«, stottere ich ungläubig. Ich bin definitiv, haha, im falschen Film.
»Na ja, du bist doch jetzt schon eine ganze Weile hier bei Triversal, Nina und Tina sind auch dabei, und es wäre doch nett, auch mal außerhalb des Büros ein bisschen abzuhängen. Surfen, grillen, chillen. Du weißt schon.«
Ich bin wie vom Donner gerührt.
»Danke, das ist lieb von dir. Ich denk drüber nach.«
»Ja, mach das. Und bis dahin, kannst du mir bitte einmal Gemüse süß-sauer und für Fred einmal Chopsuey bei Til Tan bestellen?«, sagt Mike, trommelt dabei zum Abschied mit seinen Händen rhythmisch auf den Tresen und wendet sich zum Gehen.
»Na klar. Ich sag dann Bescheid, wenn’s da ist.«
Ist das wirklich gerade passiert? Anscheinend schon. Wieso finde ich das überhaupt so aufregend? Ja, es handelt sich um DEN Prince Charming der Firma, aber erstens wären Toiletten-Tina und ihre Bestie Nina auch dabei, und auch wenn ich mit meinem Körper zufrieden bin, habe ich keine Lust, mich neben zwei Mal Größe 34 am Strand zu zeigen. Mit Mytheresa als ihrem Hoflieferanten sind Tina und Nina immer makellos gestylt und haben auch noch ihre Karriere im Griff. Zweitens habe ich seit gut zwei Jahren einen Freund. Tim. Ganz bestimmt werde ich nicht mit Nina, Tina, ohne Tim, aber mit King Hot und seinen Kumpels zum Surfen, Grillen und Chillen an den Gardasee fahren …
»Na? Bist du McDreamSexy’s Charme erlegen?« Claudio hat die Szene wohl beobachtet.
»Erwischt«, murmele ich und schaue beschämt auf meine pink lackierten Fingernägel.
»Mach dir keinen Kopf. Jede Frau in diesem Büro findet ihn toll. Und wenn ich ehrlich bin, finde sogar ich ihn ganz schön heiß, und das, obwohl ich nicht mal schwul bin. Ich werde dich bestimmt nicht bei Tim verraten. Es sei denn, du verweigerst mir zukünftig dein Essen.«
Claudio weiß, dass Tim ultraeifersüchtig ist und ich ihn schon einmal beim Durchsehen meiner SMS ertappt habe. Aber Claudio würde mich nie verraten, da bin ich mir sicher. Außerdem kann ich mir nicht ernsthaft vorstellen, dass er die Hand beißt, die ihn füttert. Er hat schnell festgestellt, dass meine Leidenschaft nicht dem Durchstellen von Anrufen und dem Begrüßen von Geschäftspartnern, sondern dem Kochen gilt, und stellte sich sofort als Tester all meiner Gerichte zur Verfügung. Und ich muss sagen, es ist die optimale Symbiose. Er ist ein absoluter Feinschmecker. Durch sein Geschmacksfeedback konnte ich meine Zitronen-Ziegenkäse-Carbonara um Längen verbessern. Er freut sich über jede neue Idee von mir und ist, genau wie ich, völlig euphorisch, wenn eine kleine Veränderung des Rezepts zur Verbesserung des gesamten Gerichts führt.
»Ich würde dir NIEMALS mein Essen verweigern. Du bist doch mein bester Kritiker. Heute habe ich Mango-Papayasalat und Gemüsecurry mitgebracht. Ist Isobel denn heute im Vierten?« Claudio nickt.
Die Firmenpraktikantin, die ihren Frondienst jeden Tag in einem anderen unserer fünf Stockwerke leisten muss, ist heute in unserem unterwegs. Sie kann mich also in meiner Mittagspause vertreten.
Als Isobel endlich an meinem Platz sitzt und wie immer alle falschen Knöpfe drückt, verziehen wir uns in den Postraum, und ich dekoriere die mitgebrachten Leckereien auf zwei Tellern. »Guten Appetit.«
Ich freue mich, dass es Claudio so gut schmeckt, und während er sich auf sein Curry stürzt, fällt mir unsere erste Begegnung wieder ein. An meinem ersten Tag bei Triversal stand ich nervös vor der Glastür und klingelte. Die Frau am Empfangstresen blickte nur kurz von ihrem Computer auf, als sie das Klingeln hörte. Aber anstatt mir die Tür zu öffnen, griff sie nach dem Telefonhörer und schaute stur auf ihren PC. Nach zehn Minuten versuchte ich noch einmal, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, indem ich zaghaft an die Tür klopfte, wurde aber weiterhin ignoriert. Nach zwanzig Minuten kam ein Typ aus dem Aufzug spaziert und sprach mich freundlich von der Seite an: »Hi, kann ich dir helfen?«
»Das wäre total nett. Ich habe hier heute meinen ersten Tag. Und die Dame am Empfang hat mich bisher nicht reingelassen.«
»Oh. Das tut mir leid. Selima ist wirklich unmöglich, aber sie geht ja bald. Gott sei Dank! Seitdem sie schwanger ist, ist sie nicht mehr wirklich zurechnungsfähig. Letztens hat sie sogar einen Tacker nach einem Kollegen geworfen. Also, wenn ich dir einen Tipp geben darf, dann mach einfach einen großen Bogen um den Empfang, solange sie noch da ist. Wie heißt du denn überhaupt?«
»Sophie.« Ich war bleich geworden, und mein Bauch gab ein unheilvolles, aber glücklicherweise nicht zu lautes Grummeln von sich. Schon seit gestern Abend erinnerte er mich in regelmäßigen Abständen daran, dass ich einen neuen Job beginnen würde. Angst bekam ihm gar nicht gut.
»Hallo Sophie, ich heiße Matthias. Ich würde vorschlagen, dass ich dich bei Selima in die Besucherliste eintrage und dich dann einfach zu der Person bringe, die wahrscheinlich schon sehnsüchtig auf dich wartet, um dich einzuarbeiten. Wo soll’s denn hingehen?«
»Ähm. Ich bin Selimas Nachfolgerin.«
»Oh! Ach so. Na dann, viel Glück. Wenn du was brauchst, meine Durchwahl ist -2231.« Matthias klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ließ mich vor dem Empfang stehen.
Ich zitterte. War es hier wirklich so kalt, oder gefror mir nur gerade das Blut in den Adern von Selimas frostiger Ausstrahlung?
Die Eiskönigin knallte den Telefonhörer auf die Gabel und erhob sich von ihrem Thron.
»Das ist doch wohl ein Witz, oder? DU sollst MICH ersetzen. Ich lach mich tot.«
Sie watschelte auf mich zu und blieb so dicht vor mir stehen, dass ihr kugelrunder Bauch meinen Bauch berührte. »Ich mag dich nicht.«
Ich hatte große Lust, direkt auf dem Absatz kehrtzumachen, meine Freundin Sasha anzurufen, mich mit ihr auf dem Rummel zu treffen, mit einer großen Portion Zuckerwatte in das Riesenrad zu steigen und so lange damit zu fahren, bis ich das Gefühl habe, dass alles, was unten auf dem Boden der Tatsachen, auf der Welt passiert, uns nichts anhaben kann.
Aber ich blieb. Schließlich brauchte ich einen Job. Und so schlimm würde es schon nicht werden. Hunde, die bellen, beißen ja bekanntlich nicht.
In Selimas Fall lag ich damit falsch.
»Du bist ja noch dümmer, als du aussiehst. Wer hätte das gedacht?!«, lachte sie spöttisch, als ich nicht gleich wusste, welche Durchwahl Simone aus der Buchhaltung hat.
Mit »Mein Gott. Das kann doch jeder Erstklässler«, kommentierte sie meinen Fehler beim Ausfüllen eines UPS-Versandetiketts. Und jede Frage von mir wurde mit einem genervten Seufzer und einem Augenaufschlag beantwortet. Ich wünschte mich weit, weit weg. Am liebsten auf meine Dachterrasse, wo ich mich betrinken und »Oh Yeah!« von Roxy Music in Dauerschleife hören würde.
Als ich von der Toilette wiederkam, hatte sie meine Notizzettel zerrissen und war verschwunden. Da sie ihre Jacke und ihre Handtasche mitgenommen hatte, nahm ich an, dass sie nicht wiederkommen würde. Ich war völlig erledigt und setzte mich wieder auf den unbequemen Hocker, der mir zugedacht war. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi, und ich war den Tränen mehr als nah. Das hatte ich nicht verdient. Für emotionale Sturmböen war ich noch nie richtig ausgestattet gewesen, und schon gar nicht nach dem, was einige Monate zuvor passiert war. Noch so einen Tag würde ich nicht durchstehen.
Und dann stand plötzlich ein fast zwei Meter großer, schlaksiger Typ mit riesiger 70er-Jahre-Hornbrille, einem kleinen Schnurrbart, brauner Cordhose und schottisch kariertem Hemd vor mir, schaute mich mitfühlend an und stellte mehr fest, als dass er fragte: »Sie hat dich fertiggemacht, oder?«
Mein letztes bisschen Würde brach in sich zusammen. Ich schlug die Hände vor die Augen und schluchzte haltlos: »Was habe ich ihr denn bloß getan?«
»Nichts hast du ihr getan. Sie ist einfach ein Scheusal, und niemand weiß, warum sie nicht schon längst gefeuert wurde. Ich heiße übrigens Claudio.«
Claudio führte mich in sein Büro.
»Ich werde morgen nicht wiederkommen.« Ich war mir da ganz sicher. »Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?« Mein nächster Schluchzer wurde von lautem Naseschnäuzen begleitet. »Ich mag dich nicht!«
»Nun mal langsam … ähm, wie heißt du noch mal?«
»Sophie. Ich heiße Sophie.«
»Also, Sophie. Selima wird bald weg sein, und dann regierst du den Empfang. Und Triversal ist eigentlich gar nicht so schlecht.«
Aus verheulten Augen schaute ich Claudio ungläubig an. Er schaffte es, mich dazu zu überreden, bis zum Feierabend durchzuhalten, und lud mich dann zu seinem Lieblings-Vietnamesen ein. Dort nahm er mir das Versprechen ab, am nächsten Tag wiederzukommen. So ging es vier Tage lang, und endlich blieb Selima einfach weg, und Claudio verkündete mir fröhlich, dass sie bis zum Mutterschutz und dem Ende der Einarbeitungszeit nächste Woche krankgeschrieben war. Puh!
»Sophie. Das Curry ist ein Gedicht!«
Claudio reißt mich aus meinen Gedanken. Ich bin froh, dass mein holpriger Start bei Triversal nun schon eine Weile hinter mir liegt.
»Du solltest wirklich lieber kochen, als hier am Empfang rumzuhängen. Ich würde jeden Weg zu deinem Foodtruck auf mich nehmen. Wäre er auch noch so weit.«
Claudio weiß, dass ich nicht gerne konkret darüber nachdenke, was ich »eigentlich« mit meinem Leben anfangen müsste, um glücklich zu sein. Stattdessen ist er mir meistens dabei behilflich, mir mein Foodtruck-Business in den schönsten Farben auszumalen und die ein oder andere Mittagspause damit zu verträumen. Die mint-weiß karierte Schürze zu den zum Kranz geflochtenen Haaren ist auf seinem Mist gewachsen.
Heute aber hat er anscheinend eine ganz andere Idee für mich:
»Aber solange du noch keinen Foodtruck hast, könntest du dich doch für einen Job im Produktmanagement bewerben – also, hier bei Triversal. Du hast doch schließlich BWL studiert.«
Ich verdrehe die Augen. »Ach, komm schon. Du weißt doch, dass ich das nicht machen will, und außerdem ist ja sowieso keine Stelle frei!«
Darauf hat Claudio anscheinend nur gewartet: »Doch! Samuel wurde vorgestern fristlos gekündigt. Der musste seine Sachen packen und gehen.«
»Meinst du Durchwahl -4536?«
»Ja, genau. Er hat bei den Reisekosten beschissen.«
Ich bin fassungslos. Das hört sich ja fast so an, als hätte er gefeuert werden wollen. »Wie kann man nur so blöd sein?!«
»Ja, das frage ich mich auch. Egal, auf jeden Fall ist die Stelle jetzt frei – und sie wäre optimal für dich!«
»Oh Claudio«, ein ehrlicher Seufzer kommt ganz tief aus meiner Brust. »Ich will doch eigentlich gar nichts mit dieser verrückten Marketing- und Filmwelt zu tun haben. Am Empfang ist es mir manchmal schon zu aufregend, und dabei ist hier doch eigentlich nie so richtig was los.« Ich stelle mir vor, wie mein Bauch den Druck und den Stress in der Marketingabteilung verkraften würde, spüre sogleich einen Stich in der Gallengegend und muss Claudios erschreckende Idee sofort im Keim ersticken: »Bitte, fang du nicht auch noch so an wie mein Vater und Tim. Ich dachte, du wärst auf meiner Seite.«
Aber so leicht lässt sich Claudio nicht abspeisen: »Sophie! Du darfst hier nicht versauern. So gern ich dich in meiner Nähe habe. Für ein Leben als Selima-Abklatsch bist du einfach zu schade. Wenn du schon in dieser Firma arbeitest, kannst du auch einen Job machen, der deinen Fähigkeiten entspricht und sich wenigstens kohletechnisch auszahlt. Meinst du nicht?«
»Ja, eigentlich hast du recht, aber … ach, ich weiß auch nicht.« Ich bin plötzlich total erschöpft und auch ein bisschen traurig. Claudio meint es gut. Das ist mir schon klar. Aber es führt mir nur vor Augen, wie weit ich davon entfernt bin, meinem Traumjob nachzugehen. Wieso bloß habe ich keine Ausbildung zur Köchin gemacht? Gemüse schnippeln, statt Excel-Tabellen auswerten, Sahne schlagen, statt Marketingkonzepte entwickeln oder delikate Zutaten auf einem Teller dekorieren, statt nichtsnutzige Verkaufszahlen analysieren. Genau das hätte ich tun sollen. Ich hätte auf meine Mutter hören sollen, die mir riet, meiner Intuition zu vertrauen und meinem Herzen zu folgen. Aber ich habe mich dafür entschieden, es meinem Vater recht zu machen, habe eingewilligt, den vermeintlich sicheren Weg zu wählen und BWL zu studieren, und jetzt habe ich den Salat. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Mein Vater selbst hat nach der Schule eine Banklehre gemacht und später immer bedauert, nie studiert zu haben. Zwar hat er sich trotzdem bis in die Führungsetage hochgearbeitet, aber es ist mühsam gewesen, und das sollte seiner Tochter nicht passieren. Und na ja, was macht man, wenn man das einzige Kind ist, wenn man den Vater lieb hat, wenn man möchte, dass er glücklich ist, sich keine Sorgen macht, und wenn man nicht den Mut hat, sein eigenes Ding durchzuziehen? Dann studiert man plötzlich BWL. Ein blöder Fehler. Wirklich blöd. Wenigstens lief mir da Tim über den Weg. An der Kochschule hätte ich ihn ganz bestimmt nicht getroffen. Und mit seinen grasgrünen Augen, dem netten Lächeln, seinen den Prof immer leicht verunsichernden Fragen und seinen schlagfertigen, meist ironischen Antworten waren die Vorlesungen plötzlich nicht mehr ganz so langweilig. Er war ehrgeizig, ambitioniert und nur so durch sein Studium gerauscht. Kurz nach unserem Kennenlernen hatte er sein Diplom mit Bestnote in der Tasche und wurde vom Fleck weg als Analyst bei der Deutschen Anlagebank engagiert. Sein Gehalt war überdurchschnittlich für einen Berufsanfänger, und ich musste zugeben, dass ich es schön fand, in gute Restaurants ausgeführt und mit dem ein oder anderen Kurztrip überrascht zu werden. Aber noch viel wichtiger war, dass seine manchmal vielleicht etwas überzogene Selbstsicherheit und seine Unbeirrtheit mir das Gefühl gaben, auch etwas selbstsicherer und unbeirrter zu sein. Ich konnte mich da ranhängen, konnte mitlaufen, musste nicht eigenhändig für Zielstrebigkeit in meinem Leben sorgen. Seine reichte für uns beide, und das gefiel mir gut.
Wenn wir uns stritten, dann meistens wegen meiner mangelnden beruflichen Ambitionen und meiner Küchen-Traumtänzerei. Ansonsten hatten wir eine richtig gute Zeit miteinander. Außerdem half mir Tim dabei, mein Studium zu beenden und irgendwann – zwei Jahre nach der Regelstudienzeit – auch mein Diplom in den Händen zu halten. Sein Angebot, mir ein Praktikum in einer Filiale der Deutschen Anlagebank zu verschaffen, lehnte ich allerdings ab. Ich wäre wahrscheinlich sofort, nachdem ich mich im Kostümchen hinter einen Schalter gestellt hätte, vor Langeweile tot umgefallen. Hätte ich geahnt, wie sehr ihn meine Absage kränkte, hätte ich es mir vielleicht doch noch mal überlegt.
Ich hatte versucht, ihm zu erklären, dass ich Zeit brauchte, um herauszufinden, was ich nun tun wollte. Aber er konnte keinerlei Verständnis für mich aufbringen, konnte nicht nachvollziehen, warum ich mich erst mal nur bei einer Zeitarbeitsfirma meldete. Das trieb ihn regelmäßig zur Weißglut. Und ich kam mir vor wie eine Hochstaplerin. Mit dem Privileg ausgestattet, studieren zu können und einen Abschluss zu haben, aber mit dem unbeugsamen Unwillen, dieses Wissen auch zu gebrauchen. Das Angebot der Zeitarbeitsfirma, als Elternzeitvertretung für ein Jahr bei Triversal den Empfang zu übernehmen, kam da genau richtig. Die Firma war bedeutend genug, um fürs Erste keine weiteren beruflichen Fragen gestellt zu bekommen. Weder von meinem Vater noch von Tim. Denn eine solche Einstiegsposition bei einem Unternehmen wie Triversal bot einem ja diverse Möglichkeiten.
Meine Antwort auf alles.
Ich war erst mal aus dem Schneider. Und mein Vater war sehr zufrieden damit, seinen Freunden am Samstag im Tennis Club erzählen zu können, dass seine Tochter bei Triversal in Hamburg arbeitete. Was genau sie da machte, musste ja keiner wissen. Tim war da zwar nicht ganz so genügsam, aber aktuell hatten wir diesbezüglich Waffenstillstand vereinbart.
Claudio und ich essen schweigend unsere Teller leer. Nicht nur ich scheine total frustriert zu sein, sondern auch Claudio wirkt nun merkwürdig bedrückt. Was wollen bloß alle von mir? Ständig muss ich mich gegen gut gemeinte Rat- und Vorschläge wehren. Es wäre wirklich schön, wenn sich alle ein bisschen mehr um sich selbst statt um mich kümmern würden. Ich habe Lust, zu schmollen.
»Kennst du Lisa – aus dem fünften Stock?« Ein etwas plumper Versuch, das Thema zu wechseln, aber Claudio weiß genau, dass Klatsch und Tratsch mich meistens aufheitern.
»Die Assistentin von Martin?«, frage ich neugierig und lasse mich auf den Pausen-Klatsch ein.
»Ja, genau die. Man munkelt, sie sei nicht nur im Büro seine Assistentin, wenn Sie wissen, was ich meine.« Claudio zieht die Augenbrauen hoch und lässt seine Insider-Information wirken.
»Echt? Das ist ja was.« Er hat mich erfolgreich abgelenkt, und auch ich habe noch etwas Neues in petto, das ich jetzt gerne mit ihm teile. »Stell dir vor – Melanie ist schwanger.« Ich pausiere kurz, um meine Enthüllung wirken zu lassen, und genieße Claudios amüsiertes Gesicht.
»Das sind ja mal News!«
Und ich habe noch mehr: »Sie will nicht sagen, wer der Vater ist. Sie macht total auf January Jones. Hast du eine Ahnung, wer es sein könnte?«
»Nee. Aber bestimmt jemand von hier, sonst würde sie es wohl kaum geheim halten wollen, oder? Krass, meinst du, in anderen Branchen geht es auch so zu?«
Gegen Triversal sieht »Gossip Girl« alt aus. Der Höhepunkt der Tratscherei wurde jedes Jahr am Tag nach der Weihnachtsfeier erreicht. Frei nach dem Motto: What happens at Triversal, stays at Triversal. In den sechs Küchen des Bürogebäudes wurde dann hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht, wer mit wem abgestürzt war, ob die sich stets auf der Weihnachtsfeier wiederholende Amour fou zwischen dem Vice President Logistics Sven Danzig und Dani Denvers vom Customer Service in die vierte Runde gegangen war und ob die Chefin des Trade Marketing Teams wirklich in ihrem Firmenwagen im Parkhaus mit einem der Kellner geschlafen hatte. Isobel schwor, sie gesehen zu haben. Wäre ich nicht bei der letzten Weihnachtsfeier selbst Zeugin einer unterirdischen Anmache geworden, ich hätte diese verrückten Geschichten nicht geglaubt.
Bevor sich Sven Danzig wieder mit Dani Denvers vergnügte, hatte er es damals nämlich bei Birgit, einer neuen Kollegin aus dem Vertrieb, probiert. Als wir gerade am Rand der Tanzfläche standen, gesellte er sich mit zwei Gläsern Champagner zu uns und sagte mit anzüglichem Unterton in ihre Richtung: »Hey, ich denke, wir wurden uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Sven. VP Logistics. Mein Motto: Always on top. Champagner?«
»Nein. Danke! Ich trinke nicht«, antwortete Birgit kühl und total ungerührt, während ich völlig verdattert danebenstand. Hatte der Typ ihr gerade seine sexuellen Vorlieben zum Champagner serviert, oder hatte ich mir das nur eingebildet?
»Das war ein Fehler. Ein großer Fehler.« Leicht angesäuert zog er seinen Arm mit dem Getränk zurück und marschierte schnurstracks auf Dani Denvers zu, die schon an der Bar auf ihn wartete. Ganz ehrlich. Eine Führungskraft? Heutzutage?
Claudio war genauso fassungslos wie ich, als Birgit und ich ihm berichteten, was da gerade passiert war: »Echt jetzt? Das kann nicht euer Ernst sein! Da ist er wirklich zu weit gegangen! Das musst du melden! Am besten, du gehst zum Betriebsrat, Birgit!«, echauffierte sich Claudio und schüttelte den Kopf. »Manchmal schäm ich mich wirklich, ein Mann zu sein.«
»Ach, mach dir nichts draus, Claudio. Es gibt ja auch ein paar von euch, die echt okay sind.« Birgit klopfte Claudio freundschaftlich auf die Schulter, leerte ihr Glas Erdbeerbowle in einem Zug und ließ uns leichthin wissen: »Wisst ihr, die Kerrin Messelick und ich, wir sind früher zusammen im Olympiateam der deutschen Synchronschwimmerinnen gewesen. Wir kennen uns gut, hatten aber, seit ich hier bin, noch nicht die Gelegenheit, mal ein bisschen intensiver zu sprechen. Das werde ich jetzt mal nachholen.« Mit einem vielsagenden Lächeln ließ sie uns stehen und ging in Richtung Erdbeerbowle, wo Kerrin Messelick, Personalchefin und Vorstandsmitglied von Triversal, sich gerade ein Glas einschenkte.
»Hoffentlich kriegt der Danzig jetzt so richtig sein Fett weg. Vielleicht wird er ja sogar gefeuert!« Claudios ehrliches Entsetzen und Engagement machten ihn mir nur noch sympathischer. Hier war einer, der das Herz am rechten Fleck hatte, und ich war mir nach diesem Erlebnis umso sicherer, dass wir auf dem besten Wege waren, dicke Freunde zu werden.
»Ganz ehrlich. Ich glaube, die Filmbranche ist Techtelmechtel-mäßig schon ziemlich weit vorne.« Claudio legt sein Besteck auf den leer gefegten Teller und wischt sich den Mund mit einer pinken Serviette ab. Schön, dass er so viel Fingerspitzengefühl hat, diese Bewerbungsgeschichte erst mal auf sich beruhen zu lassen.
Zurück an meinem Arbeitsplatz, entdecke ich eine Mail aus der Marketingabteilung in meinem Posteingang. Absender: Tina. Vielleicht will sie sich mit mir noch einmal zur Umkleiden-Problematik von heute Morgen austauschen. Oder sie teilt mir mit, dass sie mich als ihre höchstpersönliche Kammerzofe mit an den Gardasee nehmen wird. Ich bin gespannt und lese:
»Änderungen in PowerPoint einfügen für das Meeting mit Anton Ziegler. Niesa krank.«
Netter kann man eine Mail ja kaum schreiben.
Anton Ziegler, DER Erfolgsproduzent und Regisseur, und ich darf an der Präsentation mitarbeiten. Ohhh. Ich fühle mich ja so was von geehrt. Ähm, sicher nicht! Denn es bedeutet nur, dass ich heute nicht pünktlich nach Hause gehen kann, und nächste Woche auch Überstunden machen muss. Außerdem bedeutet es, dass Tina direkten Zugriff auf – und Befehlsgewalt über mich hat, und auf diese Art von Hoheit stehe ich ganz und gar nicht. Warum muss Niesa ausgerechnet jetzt krank werden, und wieso ist sie die einzige Assistentin für das gesamte Marketing-Team?
Ich scrolle und scrolle durch Tinas Mail, und es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich am Ende der Liste mit den Änderungen angekommen bin. Wäre es nicht viel schneller gegangen, sie hätte diese direkt selbst in die Präsentation eingetragen, anstatt sie mir mühsam aufzulisten und zu erklären? Ich habe wirklich keine Ahnung, was in dieser Frau vorgeht. Wahrscheinlich erlaubt es der Status einer Senior Product Managerin nicht, selbst Änderungen an Präsentationen vorzunehmen. Ihre Ladyschaft hat dafür ihre Bediensteten. Aber es macht ja keinen Sinn, zu murren. Ich füge mich der Anordnung und begebe mich in den Bearbeitungsmodus.
Blink. Blink. Blink. Weitere 25 Mails mit Änderungs- und Diagrammerstellungswünschen, die ich bis Montagvormittag erledigen soll. Das wird heute ein laaaanger Abend, den ich nicht wie geplant mit Tim verbringen werde, sondern im Büro. Wenigstens kann ich ein bisschen angeben und ihm erzählen, dass ich an einer Präsentation für Anton Zieglers neuen Film mitarbeite. Dass es sich dabei nur um angewiesene Änderungen handelt, muss er ja nicht wissen.
So oder so, er wird bestimmt sauer sein. Momentan kann er es nicht so gut haben, wenn etwas nicht nach seinem Plan läuft. Er ist gerade erst zum Leiter des Analystenteams befördert worden, der jüngste in der Geschichte der Bank, und steht damit mächtig unter Druck, den Anforderungen seiner Chefs auch zu genügen. Tim hatte sich extra den heutigen Abend freigeschaufelt, um endlich seine Beförderung mit mir zu feiern, und jetzt muss ich ihm absagen. Ich schreibe ihm später. Doch da bimmelt auch schon mein Handy mit Tims Namen im Display. Oje. Aber dann habe ich es wenigstens gleich hinter mir. »Hi!«
»Hi! Wie geht’s?«
»Gut. Und dir?«
»Auch gut, aber ich muss unser Date verschieben – wir haben Kollegen aus London da, und sie haben uns noch ein Meeting reingeknallt, das bestimmt bis neun dauert!«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Nicht meine Schuld! Nicht meine Schuld!
»Ach, das ist doch nicht so schlimm. Sehen wir uns morgen?«
»Ich würde sagen, dass wir einfach telefonieren, okay? Ich muss jetzt los. Kuss.« Und schon hat er wieder aufgelegt. Kein Streit. Keine Erklärungsnot. Kein Drama. Er hat abgesagt.
Während dieses Zehn-Sekunden-Telefonats sind weitere zehn Mails von Tina aufgetaucht. Das kann ja heiter werden. Wenn das mal keine Schikane ist. Tina ist in Mike verknallt. Das hat Niesa mir zumindest erzählt. Und wahrscheinlich hat sie mich heute Mittag mit ihm reden sehen oder von ihm gehört, dass ich vielleicht mit an den Gardasee kommen würde. Und das hier – das ist jetzt die Strafe dafür.
Gegen sieben Uhr ebbt die Mailflut ab. Aber selbst die vielen Änderungen verbessern die langweilige Präsentation nicht im Geringsten. Und das soll DER Erfolgsproduzent schlechthin serviert bekommen?
Andererseits: Die Kurzbio dieses Films mit dem Titel »Strandherzgold« klingt wie ein Abklatsch seines Wahnsinnserfolges »Alle außer Anna«, den er vor vier Jahren ins Kino gebracht hat. Also hat Anton Ziegler vermutlich nichts dagegen, wenn man Erfolgsrezepte wieder aufwärmt.
Was wohl in einem Menschen vor sich geht, der versucht, an einen Millionenerfolg anzuknüpfen? Ach, was bin ich gesegnet, dass ich nur Anrufe durchstellen muss. Da kann man nicht viel falsch machen. Herr Ziegler tut mir fast ein bisschen leid. Aber auch nur fast. Immerhin ist er jetzt Millionär. Die romantische Komödie »Alle außer Anna« hat sämtliche Besucherzahlen-Rekorde gebrochen und ist in die deutsche Kinogeschichte eingegangen.
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