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Die Liebe fliegt manchmal auch ins Unerwartete Die Stylistin Cleo führt ein schillerndes Leben in Berlin. Ihre Kindheit auf dem Land hat sie weit hinter sich gelassen, von Kuhmist und selbstgestrickten Pullis will sie nichts mehr wissen. Doch als sie in die Bretagne reisen muss, um auf dem Biohof des wortkargen Farmers Finn auszuhelfen, holt ihre Vergangenheit sie wieder ein. Erst als sie dem schwächelnden Marktstand der Farm neues Leben einhaucht, bröckelt ihr Widerwille. Cleo verliebt sich in das wilde Meer, die raue Küstenlandschaft und deren eigenwillige Bewohner. Und auch Finn hat durchaus seinen Charme. Aber ein Leben auf dem Land, das sie doch immer so verteufelt hat? Cleo muss sich entscheiden, wo ihre Herzensheimat liegt.
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Die Stylistin Cleo führt ein schillerndes Leben in Berlin. Ihre Kindheit auf dem Land hat sie weit hinter sich gelassen, von Kuhmist und selbstgestrickten Pullis will sie nichts mehr wissen. Doch als sie in die Bretagne reisen muss, um auf dem Biohof des wortkargen Farmers Finn auszuhelfen, holt ihre Vergangenheit sie wieder ein. Erst als sie dem schwächelnden Marktstand der Farm neues Leben einhaucht, bröckelt ihr Widerwille. Cleo verliebt sich in das wilde Meer, die raue Küstenlandschaft und deren eigenwillige Bewohner. Und auch Finn hat durchaus seinen Charme. Aber ein Leben auf dem Land, das sie doch immer so verteufelt hat?Cleo muss sich entscheiden, wo ihre Herzensheimat liegt.
Für Anna
Auf einer Welle balancierend, die Sonne im Rücken und du da vorne am Strand.
Fran Forrester
Hinterm Stromverteilerkasten. Ein paar hundert Meter vor dem Schulgelände. Da, wo sonst die Mittelstufenschüler stehen und rauchen. Aber für die ist es noch zu früh.
Sitzend.
Rücken gegen die Wand gelehnt.
Beine angezogen.
Zwischen den Knien das Nutellaglas.
Freddie sagt: »Du willst das doch jetzt nicht ernsthaft komplett aufessen, oder? Das ist widerlich und hundertpro musst du dann gleich beim Rohlof in der Stunde kotzen. Hast du dir das gut überlegt?«
Ich schwinge den Esslöffel und nicke.
In meinem Mund schokoladenes Gold. Nie habe ich etwas Besseres gegessen. Nie wieder will ich etwas anderes essen.
»Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich halt dir dann aber nicht die Haare!« Sie schüttelt den Kopf. »Ich hätte das nie für dich aus unserer Speisekammer klauen dürfen.«
»Doch!«, mampfe ich. »Das ist deine heilige Pflicht als meine beste Freundin. Du hast schließlich keine Eltern, die dich schon zum Frühstück mit Sauerkrautsaft und Buchweizenbrei quälen. Du musst dir nicht deine eigenen Pullover stricken und Jutehosen tragen. Du kannst in deiner Freizeit Ballett tanzen oder Pony reiten und musst dir nicht auf Anti-Atomkraft-Demos die Beine in den Bauch stehen. Und du musst nicht am Wochenende auf dem Bauernhof von Onkel Lutz Kartoffeln ernten und Hühnerscheiße schaufeln.«
Meine Zähne kleben aneinander. Noch ein Löffel. Noch ein Löffel.
»Schwör mir ewige Nutella-Treue!«, schmatze ich.
Sie seufzt. »Ich schwör!«
Wie vor jedem Sprung schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich stehe an der offenen Luke und spüre den Winddruck gegen meinen Körper und das Adrenalin, das durch meine Adern pulst. Gleich werde ich mit zweihundert Sachen Richtung Erde sausen. Sechzig Sekunden freier Fall, in denen mein Gehirn nur damit beschäftigt ist, Endorphine auszuschütten, bevor der Fallschirm aufgeht. Kein Gedanke hat da Platz. Nur der Moment zählt. Ich kann es nicht erwarten.
Die Wolken sind heute klein, bauschig und zum Greifen nah. Sie sehen aus wie kleine Schafe. Weich, zum Drauf-Ausruhen, zum Ankuscheln. Einladend irgendwie. Der Himmel leuchtet abendrosa. Die Sonne steht schon tief. Kurz spüre ich ein Ziehen in meinem Bauch. Aber nicht das übliche, das ich vor jedem Sprung empfinde. Das hier ist anders. Es ist vielmehr ein Sehnen nach …
»Wir sind jetzt auf viertausend Metern! Bist du ready, Cleo?«, schreit Eric gegen den ohrenbetäubenden Motorenlärm an und bringt mich zurück ins Jetzt.
Volle Konzentration ist nun angesagt. Ich atme einmal tief durch, schreie »Ja!« und zeige ihm den Daumen hoch.
»Dann los!«
Drei, zwei, eins. Ich stoße mich ab, lasse das kleine Flugzeug hinter mir, drehe mich in die Bauchlage. Der kalte Flugwind nimmt mir fast den Atem. Die Luft rauscht in meinen Ohren, während ich auf die Erde zurase. Ich breite Arme und Beine aus, falle, schwebe, schwerelos. Sechzig Sekunden, no strings attached. Ein Wahnsinnsgefühl!
Dann ziehe ich die Reißleine. Meine Entscheidung. Meine Verantwortung. Ich mache, was ich will.
Mit diesem monumentalen Geräusch, das ich immer schon im Ohr habe, bevor es passiert, geht der Fallschirm auf, zieht mich nach oben, gegen die Schwerkraft. Nun nur noch ein sanftes Segeln in Richtung Erdboden mit dem Wind als meinem Verbündeten. Der Gleitflug ist nach dem freien Fall mit all seinen physikalischen Kräften wie ein angenehmer Spaziergang. Glückshormone fluten mich, während ich mich, große und kleine Schlaufen lenkend, gemütlich durch die Lüfte bewege.
Ultimative Freiheit. Kein Gestern. Kein Morgen. Nur die Gegenwart, die zählt. Und in dieser Gegenwart scheint nach so einem Sprung vieles, wenn nicht sogar alles möglich. Dieses Hochgefühl ist unbezahlbar.
Ich bewundere meine Stadt und das Umland von oben. Das Abendlicht zeichnet Berlins Konturen weich und lässt das Grün dazwischen geheimnisvoll leuchten.
Ganz langsam steuere ich auf die Landewiese zu.
Ich komme sanft auf dem Boden auf, laufe ein kurzes Stück mit, spüre wie der Schirm mein Tempo bremst.
Dann Stillstand. Nur ein Vogel fliegt plötzlich neben meinem Kopf vorbei und tschilpt laut. So als wäre ich seinesgleichen und er würde mich auf der Erde willkommen heißen.
Ich setze mich, genieße das auf dem Boden Angekommensein, genieße das Nachlassen des Vibrierens in meinem Körper, atme einfach nur.
Dann stehe ich auf und lege ganz langsam den Schirm zusammen.
Das hat gutgetan. Mein Kopf ist frei.
Eric kommt mir entgegen und hält mit quietschenden Reifen neben mir an. Dass er immer so eine Show machen muss, finde ich lustig.
Er lehnt sich rüber und öffnet die Beifahrertür. »Hüpf rein! Vielleicht noch ein Bierchen gleich?«
»Danke, aber ich muss morgen früh raus. Ich habe ein Shooting.«
»Ach Cleo, das schaffst du doch mit links. Auch wenn du mal ’ne Stunde später ins Bett kommst.« Er lächelt mich an und zeigt seine weißen Zähne.
Ich lächele zurück. »Nee, heut nicht. Das ist morgen ’ne neue Auftraggeberin. Außerdem muss ich gleich fünfzehn Models auf einmal anziehen. Dafür brauch ich einen klaren Kopf.«
»Das bringt mich zwar um, aber okay.«
Ich steige ins Auto ein. »Ach Eric, dass du immer so übertreibst.«
Das war’s. Mehr reden wir nicht, während er uns zum Hangar fährt. Denn er weiß genau, dass ich den Nachhall eines Sprunges am liebsten in Stille genieße, um diesen Alles-ist-möglich-Größenwahn noch möglichst lange spüren zu können.
Im Hangar hänge ich meinen Fallschirm auf. Erst unmittelbar vor dem nächsten Sprung werde ich ihn wieder sorgsam falten und verpacken. Ich mache das immer selbst. Niemals würde ich dabei einem anderen vertrauen. Ich ziehe mich um und verstaue meine übrige Ausrüstung in einem Spind. Ein geübter Handgriff folgt dem anderen. Im Gegensatz zu meinem chaotischen Job und Leben ist dieses Hobby so akkurat und ordentlich. Und doch gleichzeitig auch so unberechenbar und frei.
»Ciao Eric. Wir sehen uns.«
Er hält zwei Bierflaschen hoch. »Willst du’s dir nicht doch nochmal überlegen, Cleo?«
»Du gibst wohl nie auf, was?«
Anstatt zu antworten, lässt er mit einem auffordernden Lächeln die Bierflaschen aneinanderklirren.
Ich steuere auf mein Fahrrad zu und steige auf. Dann drehe ich mich nochmal um und rufe: »Bis bald, Eric. Hab einen schönen Abend mit den beiden.«
»Auf bald, Cleo.«
Gemächlich trete ich in die Pedale und fahre in den Abend hinein. Erst über das offene Rollfeld, dann entlang eines Wäldchens und vorbei an Einfamilienhäusern mit ihren sommerlich bewachsenen Vorgärten, bis ich schließlich an der S-Bahn-Station ankomme. Ganz mit dem Fahrrad bis nach Hause, dafür bin ich heute Abend zu erschöpft.
Die S-Bahn-Fahrt nach Hause ist entspannt und friedlich. Während die Bahn in Richtung Friedrichshain ruckelt, ordere ich mir mein Lieblingsessen bei Dyen Phan und kann es kaum erwarten, es gemütlich auf dem Sofa sitzend in mich hineinzustopfen. Das wird herrlich. Dann noch das Skypen mit Ruth, danach ein bisschen Russel Crowe, und ich werde schlafen wie ein Murmeltier. Ganz bestimmt!
Mein Handy biept und zeigt mir eine Nachricht von Freddie.
Du hast versprochen, nach jedem SprungBescheid zu sagen. Sonst hätte ich dir dasmit dem Fallschirmspringen nie erlaubt!
Schnell schreibe ich zurück.
Sorry. Wurde von Eric abgelenkt. Gut gelandet. Gleich gibt’s leckeres Bun undFeedback von Ruth.
Nicht mal Freddie weiß von meiner schon Jahre andauernden Liaison mit Russel. Und das wird auch so bleiben.
Na gut. Aber diese Ausrede kannst du nichtjedes Mal benutzen. Hab einen schönenAbend – ich freu mich auf morgen!
Die letzten Monate hatte ich viel zu tun, und wir haben uns wenig gesehen. Zuletzt bei der sehr traurigen Beisetzung ihrer wundervollen Oma Helene im Alten Land bei Hamburg. Ich bin froh, dass ich dabei sein konnte. Helene war auch irgendwie ein bisschen meine Oma. So oft, wie Freddie und ich als Kinder bei ihr gewesen sind. Meine Großeltern habe ich leider nie kennenlernen dürfen. Sie sind vor meiner Geburt verstorben. Aber Oma Helene war der beste Ersatz, und ich fand es verrückt, dass sie nur ein paar Jahre älter war als meine Eltern, aber dennoch viel jugendlicher wirkte als sie. Ihre ansteckende Leichtigkeit und gute Laune, ihre auffallende Erscheinung mit der blonden Mähne und den extravaganten Outfits wirkten magisch auf mich.
Sie spielte mit uns Verkleiden, und wir durften dabei sogar ihr Make-up ausprobieren. Sie schaute alte Tanzfilme mit uns an und begeisterte uns für die Kostüme und die Anmut der Hauptdarstellerinnen. Sie brachte uns Canasta, Skat und Rommee bei. Und wenn eine von uns traurig war, deckte sie den Tisch mit ihrem besten Teegeschirr aus Limoges inklusive einer Etagere voll mit knallbunten Macarons, die ihr regelmäßig von einer Freundin aus Paris geschickt wurden. Sie tat dann immer so, als hätte sie mit uns die Royal Family zu Gast.
Seit ihrer Beerdigung begleitet mich ein sehr schlechtes Gewissen. In den letzten Jahren habe ich mich voll und ganz auf meine Karriere fokussiert. Ich habe so viele Styling-Aufträge angenommen, dass ich zwischendurch gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Und ich habe genetworked, was das Zeug hielt. Kein Branchen-Event, keine Modenschau, bei der ich nicht anwesend war. Und das alles hat tatsächlich funktioniert. Mittlerweile muss ich sogar Aufträge ablehnen. Davon hätte ich früher nur träumen können.
Oma Helene habe ich deshalb viel zu sporadisch und zuletzt schon länger nicht mehr besucht. Es tut mir so leid, dass ich in den letzten Monaten nicht öfter bei ihr war. Ich habe bei all meiner beruflichen Wirbelei anscheinend den Blick fürs Wesentliche verloren, und nun ist es zu spät. Ich bin traurig. Und noch mehr bin ich darüber bestürzt. Und diese Bestürzung sitzt mir auf der Brust wie ein kleiner Elefant, der sich oft extra schwer macht.
Freddie hat mich getröstet. Sie hat mir gesagt, dass Helene stolz auf mich gewesen sei. Dass ich es geschafft habe, mir als Stylistin sogar international einen Namen zu machen, das habe sie bewundert.
Dieser lieb gemeinte Trost machte mein Schuldgefühl nur noch größer.
Wenigstens habe ich mich weiter zuverlässig um meine zu stylenden Großmütterchen in Berlin gekümmert. Oma Helene hat meine Hilfe in Sachen Styling nie gebraucht. Einige ihrer Freundinnen schon. Durch sie kam ich vor ein paar Jahren auf die Idee, in Seniorenheimen modische Beratung für besondere Anlässe anzubieten. Pro bono versteht sich. Und man mag es kaum glauben, aber der Service ist sehr gefragt. Diese Aufgabe macht mir manchmal fast noch mehr Spaß als die bezahlten Aufträge für Magazine, Designerinnen oder gut betuchte Privatpersonen. Denn die Ladies, die meinen Service in Anspruch nehmen, wie zum Beispiel die liebe Ruth, die freuen sich ihr Popöchen ab, wenn wir ein tolles Outfit für eine goldene Hochzeit, einen Theaterbesuch oder die Taufe des Urenkels gefunden haben. Und es ist einfach wunderbar, die Damen so selbstbewusst und glücklich zu sehen.
Zu Hause angekommen, reiße ich erstmal die Fenster auf. Meine Wohnung ist winzig, und im Nullkommanichts hat sich die Stickigkeit des Tages verzogen. Stattdessen frische sommerliche Abendluft und der köstliche Geruch meines Take-aways, das ich unterwegs bei Dyen Phan abgeholt habe.
Jedes Mal, wenn ich nach kurzer oder langer Abwesenheit in meine Wohnung komme, freue ich mich über meine vier Wände. Keiner aus meinem Umfeld versteht, warum ich noch in dieser klitzekleinen Wohnung hause. Bjarki, Freddies isländischer Boyfriend, hat mich letztens sogar gefragt, ob ich nicht langsam mal erwachsen werden wolle. Eine Einzimmerwohnung mit Küchenzeile sei doch nur was für Studentinnen.
Aber für mich ist diese Art des Wohnens ganz famos. Die Miete ist für Berliner Verhältnisse äußerst günstig, so dass ich die Wohnung auch halten kann, wenn ich mal eine Zeit lang woanders sein will, und die Lage ist unschlagbar zentral. Und da ich all meine Styling-Träume in meinem Job ausleben kann, habe ich auch nicht das Bedürfnis, mir die Bude mit Kram vollzustellen. Ich mag’s minimalistisch und einfach. Klar, ich habe viele Klamotten. Aber die verkaufe, tausche, spende ich regelmäßig, und die besonders wertvollen Highlights wandern in mein Archiv, das sich in einem angemieteten Lagerraum in Laufnähe meiner Wohnung befindet.
Aus einem der zwei Schränke in der Küchenzeile schnappe ich mir eine von den hübschen filigranen Schüsseln, die ich mir von einer Reise aus Vietnam mitgebracht habe, und befülle sie mit meinem Take-away. Vegetarischer Reisnudelsalat mit frittierten Frühlingsrollen und eingelegtem Gemüse. Sieht toll aus! Jetzt noch Sauce drauf, und fertig. Ich schnappe mir Stäbchen, Servietten, eine Limo aus dem Kühlschrank und klemme mir noch meinen Laptop unter den Arm. Während ich zum Sofa gehe, wandert schon die erste Ladung Bun in meinen Mund. Hammer!
Ich fläze mich aufs Sofa und klappe den Laptop auf. Normalerweise treffe ich meine Großmütterchen ja immer persönlich, aber wenn spontane Fragen auftauchen, geht’s auch mal online. Und ich bin immer wieder überrascht, wie easy die meisten Seniorinnen mit Computern und dem Internet umgehen.
Gerade als mein Laptop hochgefahren ist, erklingt auch schon die Skype-Melodie.
»Hi Ruth«, ich winke mit den Stäbchen, als ihr liebes, wunderbar faltiges Gesicht auf dem Bildschirm erscheint. »Wow! Krasser Lippenstift!«
»Guten Abend, Schätzchen«, ruft Ruth fröhlich. »Nicht wahr?« Sie spitzt die Lippen. »Den hat mir deine Freundin Lisbeth empfohlen. Passt gut zu meinem Teint, oder?«
Ich nicke eifrig, während ich auf dem eingelegten Gemüse herumkaue.
»Wie geht es dir? Den Sprung hast du ja gut überstanden, wie ich sehe.«
»Ja! Das war heute nach dem heißen Tag genau das Richtige. Wusstest du, dass die Luft in viertausend Meter Höhe bis zu zwanzig Grad kälter ist als hier unten?«
Ruth schüttelt den Kopf, und ich genehmige mir noch eine Ladung Bun.
»Sorry, aber ich muss jetzt einfach weiteressen, ich habe nach dem Fallschirmspringen immer so einen großen Hunger. Ist das okay für dich?«, nuschele ich mit vollem Mund in die Kamera.
»Na klar, Schätzchen. Kein Problem!« Sie stützt ihr Kinn auf ihre linke Hand und tippt sich mit ihrem rot lackierten Zeigefinger nachdenklich gegen die Wange. »Du solltest wirklich mal meinen Großneffen Timothy kennenlernen. Der geht auch gern Fallschirmspringen. Oder war das Gleitschirmfliegen? Auf jeden Fall ist er auch so ein Abenteuerlustiger wie du, und er sieht auch noch sehr gut aus.«
»Aber der wohnt doch in Neuseeland und ist bestimmt auch viel zu gut für mich, wenn er mit dir verwandt ist«, spaße ich und stopfe mir ein bisschen Frühlingsrolle in den Mund. »Erzähl mir lieber mal, wie es dir bei dem Klassentreffen ergangen ist. Hast du dich in dem hellblauen Kostüm wohlgefühlt?«
»Wohlgefühlt? Du bist gut! Ich war der Star der Veranstaltung! Und dass die Lisbeth mir dann auch noch Haare und Make-up gemacht hat, war das Sahnehäubchen. Meine früheren Klassenkameradinnen sind vor Neid ganz blass geworden, und die verwitweten und unverheirateten Männer haben mir den Hof gemacht. Das hättest du mal sehen sollen!« Ruth greift sich an die Perlenkette und schmunzelt. »Das war vielleicht was! Da wurde ich nochmal so richtig umgarnt auf meine alten Tage.«
»Das macht mich wirklich glücklich, Ruth! Und was steht als Nächstes an? Hast du dir auf dem Klassentreffen gleich ein Date klargemacht?«
»Worauf du wetten kannst, Schätzchen. Und da brauche ich natürlich gleich wieder deine Hilfe!« Sie schiebt den Stuhl mit einem lauten Quietschen zurück, steht auf und ist schon aus dem Bild verschwunden.
»Ruth?«, rufe ich in den Bildschirm, aber wahrscheinlich ist sie längst aus dem Zimmer und kramt in ihrem Kleiderschrank herum.
Natürlich hat sich Ruth ein Date klargemacht. Ich hätte nichts anderes von ihr erwartet.
»Hier Schätzchen. Was hältst du von diesem Outfit? Das habe ich online bestellt.« Ruth hält mir ein knallrotes, knielanges Sommerkleid mit langen Ärmeln in die Kamera. »Und dazu diese Brosche. Die würde ich hier ansetzen.« Sie positioniert eine funkelnde Brosche in Form eines Pfaus direkt an der richtigen Stelle auf Brusthöhe.
»Dir muss ich wirklich nichts mehr beibringen.« Ich bin begeistert. »Gewagt, aber dennoch stilvoll. Edgy würden wir jungen Leute sagen. Und dann auch noch online bestellt. Wahnsinn!«
»Ja, Schätzchen. Du hast mir diesen ganzen Kram gut beigebracht. Du kannst ruhig eine neue alte Zauselin unter deine Fittiche nehmen. Aber es wäre schön, wenn wir trotzdem weiter voneinander hören würden, ja?«
»Das is ’n Wort, Ruth! Wie heißt denn dein Date, und wann ist es so weit?«
»Gustav und in zwei Wochen.«
»Ui, wie nett! Und was macht ihr?«
»Wir sind zum Abendessen bei ihm in der Seniorenresidenz verabredet. Allerdings nicht im Gemeinschaftsraum«, Ruth lächelt kokett und hebt eine Augenbraue. »Er sagte, er würde ganz vorzügliche Cannelloni machen. Er hätte mal einige Zeit in Italien gelebt.«
»Verstehe. Verstehe«, lache ich und rühre mit den Stäbchen in meinem restlichen Bun. »In zwei Wochen bin ich zwar unterwegs, aber es wäre schön, wenn du mir schreibst, wie es gelaufen ist zwischen Gustav und dir, okay?«
»Okay, Schätzchen. So machen wir’s. Ich simse dir. Dann ade. Mach’s gut. Und wenn du Timothys Nummer haben willst, sag Bescheid.«
»Ade, Ruth. Mach ich.«
Und dann ist Ruth auch schon verschwunden, und ich bin allein mit meinem Bun. Na ja, nicht ganz allein. Ich öffne den Mediaplayer. Wo waren wir gestern stehengeblieben? Ach ja, die Szene, in der er um ein Haar Marion Cotillard überfährt.
»Momentchen noch! Das sitzt noch nicht. Warte! So! Jetzt kannst du uns wieder wegrudern!« Ich lasse den Saum des bronzefarbenen, schmalen Kleides los und hoffe, dass das Model sich nicht bewegt. Alles muss genau so bleiben, wie es gerade ist. So ist es nämlich perfekt.
Randy rudert uns aus dem Bildausschnitt, und die Fotografin knipst gleich wieder wie wild drauflos.
Eigentlich bin ich nicht so der Natur-Fan und bevorzuge für Shootings eher urbane Settings. Aber ich muss zugeben, dass der See der optimale Ort für diese Modestrecke ist.
Kluger Kamal! Da hatte er mal wieder eine Bombenidee.
Zu sehen, wie sich die Models in ihren gewagten durchsichtigen, glitzernden Kleidern auf den knarzigen alten Holzbooten in Pose werfen, ist überwältigend schön. Üppige Trauerweiden, deren beblätterte Zweige hier und da den See berühren, funkelndes Sonnenlicht auf dem sich hin und wieder kräuselnden Wasser und ein paar Schwäne rahmen das Ensemble auf beste Art und Weise ein. Die Models auf den Booten sind wie aus der Zeit gefallen. Das Setting nostalgisch, romantisch, die naked dresses, die in diesem Sommer der heißeste Trend sind, modern und cool. Genauso habe ich es mir vorgestellt. Ich seufze vor Glück und flüstere Randy zu: »Habe ich den besten Job der Welt, oder was?«
Er lächelt mich an und sagt: »Ich würd ihn eher nicht wollen. Die Bilder sind natürlich schön anzusehen, aber das Ganze zu organisieren, die Klamotten zu besorgen und die volle Verantwortung zu tragen? Für mich viel zu crazy und unübersichtlich. Da ist mir die Schreiberei doch um einiges lieber.«
»Wie gut, dass du bald ein gefeierter Autor sein und nur noch mit dem Schreiben dein Geld verdienen wirst. Aber ohne dich als meinen Assistenten bin ich dann natürlich verloren«, jammere ich ein bisschen. Dabei fällt mein Blick schräg hinter Randy auf die unzähligen Sonnenschirme im Biergarten des Bootsverleihs. Zu groß, um von einem Model auf einem Boot gehalten zu werden, sind die nicht …
»Ruder uns doch bitte mal ganz schnell zu Herrn Wozalke, ja?«
Ah, dieses Glücksgefühl, wenn etwas schon echt gut und dann vielleicht gleich noch besser ist. Ich bin aufgeregt. Das wird eine feine Fotostrecke! Da bin ich mir sicher.
»Wird gemacht. Und ganz ehrlich, ich glaub, du kommst auch ohne mich ziemlich gut zurecht«, meint er trocken. Er lässt sich von meinen spontanen Schnellschüssen schon lange nicht mehr aus der Ruhe bringen.
»Ich weiß nicht, Randy!«, sage ich theatralisch und greife mir ans Herz: »In deiner Ruhe liegt doch meine Kraft.« Und wie zum Beweis, dass ich alles andere als die Ruhe bin, fuchtele ich gleich mit den Armen, als wir am Bootssteg ankommen, und rufe laut: »Herr Wozalke! Herr Wozalke! Huhu!«
Der Bootsverleiher wedelt zum Gruß mit seiner Schinkenstulle und hievt sich ungelenk aus einem weißen Plastikstuhl.
»Plötzlich so uffjeregt? Watt is denn nu los, Frau Sperling? Ist eins Ihrer Models ins Wasser jefallen?« Er beißt in die Stulle und lacht dabei so sehr über seinen eigenen Witz, dass sein mächtiger Bierbauch auf und ab hüpft.
»Sie sind doch der beste Bootsverleiher in ganz Berlin, nicht wahr?«, frage ich ihn, während ich aus dem Boot auf den Steg klettere.
»Darauf könnse wetten, Frau Sperling!«
»Für Sie auch gerne Cleo!«
»Na denn, Frau Cleo. Ick bin der Willi.«
»Willi, jetzt wo wir per du sind, hast du doch bestimmt Lust, mir den größten Gefallen überhaupt zu tun, richtig?«
»Na, denn schieß ma los, Frau Cleo«, sagt der Willi und stemmt sich die freie Hand in die Hüfte.
»Ich hätt gern drei von deinen weißen Sonnenschirmen aus dem Biergarten.«
Willi schaut mich verständnislos an und beißt lieber nochmal in sein Brot.
»Für die Models. Kann aber sein, dass die Schirme im Wasser landen. Aus Versehen versteht sich.«
»Nee, det jeht nich, Frau Cleo. Die sind doch nigelnagelneu.« Der Willi schüttelt den Kopf und schiebt skeptisch die Unterlippe vor.
»Ach, Herr Willi. Bitte! Ich lass die auch reinigen, wenn’s sein muss. Und ich bin versichert. Komm schon, ja? Das wird den Fotos noch das gewisse Etwas geben. Und außerdem wirst du dann erwähnt in der BU.«
»BU? Watt is denn ditte?«
»Na, Bildunterschrift. Da steht dann: Schirme von dem Herrn Willi. Oder so.«
»Mmh. Wann kommt man schon mal inne BU, wa? Na jut, Frau Cleo. Is jeritzt.« Willi reibt sich die schwitzige Stirn und zeigt in Richtung Biergarten. »Nehmt euch gleich die ersten drei da vorne.«
»Yes!«, rufe ich begeistert und stürme in Richtung Biergarten. Dicht gefolgt von Randy. Wir greifen uns drei Schirme und klettern damit zurück ins Boot.
»Na denn ma los«, sagt Herr Willy und schiebt uns an.
Kurz schlenkert das Boot bedenklich, und ich fürchte, nicht nur die Schirme werden im Wasser landen, sondern wir gleich mit. Aber Randy balanciert uns optimal mit den Rudern aus.
»Wie du das immer machst«, sagt Randy, als wir ein paar Meter in Richtung Modelboot geschippert sind.
»Was meinst du?«
»Na, Leute zu Dingen überreden, die sie eigentlich nicht tun wollen. Aber dann machen sie sie doch. Weil du es bist, die fragt. Das ist irgendwie faszinierend. Kann ich diese Eigenschaft für einen meiner Charaktere klauen?«
Ich lache. »Na klar. Kannste haben. Aber das ist doch nix Besonderes. Das macht doch jeder so. Ist halt ein Gefallen.«
»Nee, nee, Frau Cleo. Wildfremde tun anderen Wildfremden nicht ständig einfach so einen Gefallen. Das liegt an dir.« Er lacht, als er mein skeptisches Gesicht sieht. »Du bist halt ein geborenes Überredungstalent.«
»Vielleicht denke ich gar nicht darüber nach, dass es nicht klappen könnte. Wie beim Fallschirmspringen.«
»Ah ja! Das macht Sinn. Und dann ist es am Ende eine Self-Fulfilling Prophecy, und du landest immer weich«, nickt Randy beeindruckt und zieht die Ruder ein.
»Genau! Du hast es erfasst!«, sage ich, frage mich dann aber doch, ob das wirklich stimmt.
»Und als ich den Bootsverleiher dann auch noch überreden konnte, uns die Sonnenschirme auszuleihen. Da hätte ich schreien können vor Glück! Ein bisschen geschrien habe ich ja auch. Oder eher gejuchzt.« Wasserfallartig schwärme ich Freddie am Telefon von meinem Tag vor. Meine fast ohnmachtsartige Erschöpfung kurz nachdem der Job abgewickelt war, habe ich schon wieder vergessen. Als mich eine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen passiert, merke ich erst, wie laut und überdreht ich da auf meine Freundin am anderen Ende der Leitung einplappere. Ich räuspere mich und sage: »Sorry, Freddie. Jetzt habe ich dich total vollgequatscht, und wir sehen uns ja gleich. Aber ich bin so irre aufgeregt. Ich konnte schon einen ersten Blick auf die Fotos werfen, und ich glaube, dass die Fotostrecke ganz fantastisch aussehen wird.«
»Du musst dich doch nicht dafür entschuldigen, begeistert zu sein. Übrigens, weißt du, was ›begeistert sein‹ auf Isländisch heißt?«
»Nee. Was denn?«
»Vera himinlifandi. Lustig, oder? Also dann bis gleich, mein kleines Himinlifandilein!«
»Bis gleich!«
Wir legen auf, und ich finde es heute extra schön, durch das abendlich trubelige Kreuzberg zu laufen. Es passt zu meiner Stimmung. Berlin hat ja immer was, aber im Sommer mag ich mein Städtchen fast am liebsten. Genau wie meinen Job.
Ich kann es manchmal gar nicht glauben, dass ich dafür bezahlt werde, tolle Klamotten zusammenzustellen. Ich, die ihre gesamte Kindheit und Jugend damit zugebracht hat, mit ihren Eltern darüber zu diskutieren, dass ich nicht jeden Tag mit dem gleichen ATOMKRAFT NEIN DANKE!-Shirt in die Schule gehen will, dass ich auch mal eine Jeans haben möchte, die nicht schon von den Cousins und Cousinen getragen wurde, und dass ich mir nicht alle meine Winter-Oberteile selber stricken kann. Aber worüber haben wir nicht alles diskutiert, meine Eltern und ich. Nutella, Haarspray, Reisen, Barbies, Ethik, Politik, Richtig, Falsch, und, und, und. Bis ich ausgezogen bin, war es meine zermürbende Pflicht, mich mit meinen Eltern auseinanderzusetzen. Nach dem Motto: Solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, wird diskutiert. Dann hatte ich endlich mein Abi in der Tasche und entschied mich für eine Weltreise per Flugzeug. Es gab einen riesigen Streit, ich habe ein Jahr lang kein einziges Wort mit den beiden gesprochen und es als ultimative Befreiung empfunden, nicht ständig jeden Gedanken hinterfragen zu müssen.
Nach meiner Rückkehr haben wir uns dann auf eine Art Themen- und Bewertungs-Waffenstillstand geeinigt. Klappt nicht immer. Sie machen mich nach wie vor oft wahnsinnig. Aber alle paar Monate können wir für ein paar Stunden einen Tee miteinander trinken, ohne dass ich Stellung zu weltpolitischen Themen beziehen muss.
Ich bin jetzt erwachsen und kann so viel Nutella löffeln und aus Flugzeugen springen, wie ich will! Ich darf meiner Leidenschaft nachgehen und verdiene mein Geld damit, mich mit Mode zu beschäftigen und sie zu atemberaubenden Kombinationen zusammenzustellen. Manchmal sogar an so fantastischen Orten wie letzten Winter im marokkanischen Essaouira oder vorige Woche in New York. Und nein, liebe Eltern, ich habe kein schlechtes Gewissen dabei. Denn natürlich achte ich auf den ökologischen Fußabdruck der Labels, mit denen ich zusammenarbeite. Fast Fashion kommt mir nicht in die Tüte. Und seit grüne Mode so was von gefragt ist, ist natürlich auch die Auswahl größer und schöner geworden. Win-win für alle. Und irgendwas müssen die Leute ja schließlich anziehen. Warum dann nicht was Schönes, das ihnen bestens steht und ihnen ein gutes Gefühl gibt? Also hat mein Job sogar einen Sinn, der die Welt ein bisschen besser macht. Denn wenn man sich gut fühlt, ist man besser drauf und verbreitet gute Laune. Ergo: Weltverbesserung! Ruth und meine anderen Pro-bono-Ladies sind dafür das allerbeste Beispiel.
Zu meinem Berufsethos gehört außerdem, dass ich viele Secondhand-Teile unter meine Kombinationen mixe. Ich habe mittlerweile einen riesigen Fundus an Klamotten und Accessoires angehäuft, mit dem ich jedem meiner Aufträge noch den letzten Schliff und meine ganz persönliche nachhaltige Note verleihe. Die Bildunterschrift »Stylist’s own« ist für mich der Ritterinnenschlag bei einer Fotostrecke. Und was habe ich für Schätzchen in meinem Archiv, mit denen ich schon glänzen konnte. Anglerboots aus den 50ern, skurrile Vintage-Hüte, ausgefallene Kostüme, supercoole Seventies-Kleider, sogar einen Badeanzug von 1910. Ich bin ein Trüffelschwein, wenn es um modische Raritäten geht. Ich habe sogar einen Karteikasten mit Notizen zu den einzelnen Stücken. Denn Mode ist und erzählt Geschichte.
Wenn ich an diese ganzen Fundstücke denke, werde ich manchmal richtig neidisch auf mich selbst.
Mode ist und bleibt meine große Leidenschaft. Ja, meine große Liebe! Wie könnte sie es auch nicht sein? Sie beeinflusst alles und wird von allem beeinflusst. Sie charakterisiert gute Zeiten, schlechte Zeiten, spiegelt den Zustand der Gesellschaft wider und erfindet sich immer wieder neu. Sie ist stets für eine Überraschung gut, und sie ist mir treu. Und auch ich werde ihr immer treu bleiben! Die Männer, die kommen und gehen, aber die Mode, die bleibt! Genau wie meine wunderbare Freddie, die ich gleich im Roaring treffen werde. Und ich freu mich schon, ihr das Gucci-Taschentuch aus den 70ern zu überreichen, das ich in einem Vintage-Laden in New York für sie erstanden habe.
Neben dem Taschentuch habe ich wohl auch noch die brütende Hitze aus New York nach Berlin mitgebracht. Beim Shooting heute lief den ganzen Tag 36grad von 2raumwohnung, und der Song ist Programm. Ich habe ihn immer noch im Ohr. Es ist so richtig Sommer in der Stadt, und Berlin flirrt. Genau wie ich.
Trotz der drückenden Hitze beschleunige ich meine Schritte. Ich kann es kaum erwarten, endlich in die Kühle des Clubs abzutauchen. Die Fransen, die mein rosafarbenes, knielanges Hängerchen dekorieren, schwingen bei jedem Schritt hin und her und kitzeln in meiner Kniekehle. Ich könnte Kamal immer wieder dafür küssen, dass er die Gäste nur in seinen Club lässt, wenn sie sich Zwanziger-Jahre-gemäß kleiden. Und entgegen allen Voraussagen, als Kamal den Club eröffnete, lieben die Leute das. Jede Woche ist der Laden voll. Schnell hat das Roaring sich in der Szene einen Namen gemacht. Donnerstags bis sonntags versammelt sich ein illustres Völkchen aus allen Ecken der Welt erst vor und dann in diesem Club, der für mich der Inbegriff von Coolness und Lebensart ist. Gedämpftes Licht. Glitzernde Kronleuchter. Die lange, leicht geschwungene Bar mit den vielen Spiegeln dahinter. Die runde Bühne, die sich in der Mitte des Raumes langsam dreht. Die Livemusik, mal Jazz, mal Swing, natürlich immer wieder der Charleston, der die Leute auf die kleine Tanzfläche holt. Mal ein paar Schlager, dargeboten von gepflegten Herren in weißen Sakkos über weißen Hemden mit schwarzen Fliegen zu schwarzen Hosen und blank polierten Lackschuhen. So was wie das Roaring hat Berlin noch nicht gesehen!
Wen Kamal wohl heute auftreten lässt?
Eine geniale Idee, das Programm nicht zu verraten und generell im Club ein Handyverbot zu verhängen. So mysteriös. So privat.
In einer Zeit, in der alles so durchsichtig ist wie Plexiglas und jeder allen alles auf dem Silbertablett präsentiert, ist Geheimnisvolles ein rares Gut und unglaublich anziehend.
»Hi Cleo!«, schallt es mir aus der schmalen Sackgasse entgegen, in der das Roaring liegt. »Du bist aber früh dran!«
Noch wartet keiner vor der knallroten Tür, um in den Club zu kommen. Außer Albert und Einstein. Der Türsteher im dunklen Anzug und seine riesige schwarz-weiße Dogge sind schon fast eine Kunst-Installation.
Ich laufe freudig auf die beiden zu.
»Hi Albert. Ich hatte heute einen wunderbaren Tag, und ich dachte, ich champagnere noch ein bisschen mit Kamal, bevor der Abend losgeht. Wie geht’s dir denn?«
»Das mach mal! Kamal freut sich bestimmt, dich vor dem Trubel zu sehen. Und gut geht’s. Ich mag’s ja, wenn’s so heiß ist. Nur Einstein tut mir leid. Der leidet ein wenig unter der heißen Suppe. Schau, wie er hechelt.« Der bullige Albert schaut seine geliebte Dogge mitfühlend an.
Einstein guckt angestrengt aus der Wäsche und hechelt sich die Seele aus dem Leib.
»Tut mir leid für dich, alter Junge«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust.
Albert lacht. »Jede andere würde ihm jetzt den Kopf streicheln oder wenigstens ein bisschen die Flanke tätscheln.«
»Ich respektiere halt seine Privatsphäre. Er legt mir ja auch nicht einfach die Pfote aufs Bein.«
Er schüttelt den Kopf. »Du bist schon ein seltsamer Vogel, Cleo Sperling. Man könnte ja fast meinen, du magst keine Hunde.«
Ich werfe ihm einen Handkuss zu. »Ich bin äußerst gern ein seltsamer Vogel! Und von dir so genannt zu werden, verstehe ich als Kompliment!«
Ich darf nicht zugeben, dass Albert eigentlich recht hat. Freddie, die die Wahrheit kennt, hat’s verboten. Sie meinte, damit würde ich mich in jeder Runde ins soziale Abseits katapultieren. Und sie hat natürlich recht. Pro-bono-Großmütterchen hin oder her. Beim Thema Hund entspreche ich leider nicht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Mein dunkelstes und in den Augen normaler Menschen sehr unsympathisches Geheimnis ist also: Ich habe Vorbehalte gegen Hunde und gegen Hundebesitzer noch viel mehr. Albert und Einstein sind die Ausnahme. Weil die Dogge immer Abstand hält. Normalerweise sieht das nämlich ganz anders aus. Anscheinend bin ich ein Hundemagnet. Sie kommen immer sofort zu mir. Sie sabbern und haaren mir die Klamotten voll, springen mich an und machen mir die Strumpfhosen kaputt.
Der will nur spielen.
Ja, is klar.
In den letzten Jahren hat sich die Haustierdichte in der Stadt mindestens verzehnfacht. Jeder in meinem Umfeld hat jetzt ’nen Carlo, Otto oder Bombo, und es ist kaum noch möglich, den Vierbeinern auf der Straße oder sonst wo auszuweichen.
»Wenn du unbedingt willst, dass dein Hund und ich uns näherkommen, dann bist du bestimmt gern bereit, heute ausnahmsweise ein Foto von Einstein und mir vor der Tür zu machen, oder?«, frage ich Albert und lasse meine Augenbrauen auf und ab tanzen.
»Ach Cleo, du weißt doch, wie ich diesen ganzen Fittsy-Shit hasse.«
Fittsy ist Alberts Abkürzung für Facebook-Instagram-Twitter-TikTok-Snapchat-Youtube.
»Ja ja, ich weiß. Du, Einstein und Kamal. Ihr hasst das, und deshalb ist es nicht State of the Art, und deshalb ist es hier nicht erlaubt. Euer Haus, eure Regeln«, spotte ich ein wenig und streiche mir die Strähnen meines kurzen Bobs hinter die Ohren. »Aber ich bin ja noch nicht drin im Laden. Bitte ausnahmsweise, weil das rosa Kleid vor der roten Tür mit dem schwarz-weißen Einstein einfach sososo gut auf einem Foto aussehen würde … Biiiittttte …« Ob mein Dackelblick – haha – wohl wirkt? »Ich frag auch erst Kamal, ob ich es posten darf.«
»Na gut. Na gut. Weil du es bist.« Er schnappt sich mein Telefon.
Ich stelle mich neben die Dogge und werfe mich in Pose. Das wird ein gutes Foto. Auch wenn oder gerade weil ich aus dem Augenwinkel sehe, dass Einstein keine Lust hat, mitzuspielen. Er hält sich eine seiner riesigen Pfoten vors Gesicht. So als wäre ihm der ganze Zirkus peinlich. Also, wenn schon Hund, dann dieser!
»Siehst du, Cleo? Einstein hasst das.« Albert gibt mir das Telefon zurück.
Ich lächele ihn an, drücke die rote Tür auf, sage: »Bis später, ihr beiden«, und verschwinde im Inneren des Clubs.
»Ciao Cleo«, begrüßt mich Kamal. Er steht hinter dem Tresen und poliert ein Glas. »Matthieu ist krank«, fügt er hinzu.
»Soll ich einspringen und helfen?«, frage ich und hoffe, dass er nein sagt. Ich bin schon seit fünf Uhr auf den Beinen und muss zugeben, dass das Shooting und die Hitze mich ein wenig geschafft haben. Ich bin halt auch nicht mehr zwanzig. Aber natürlich würde ich ihm trotzdem hinter der Bar aushelfen. Er tut ja auch alles Mögliche für mich. Im Frühjahr hat er mir sogar erlaubt, hier ein Shooting zu machen.
»Lieb von dir. Danke. Aber nicht nötig. Ich habe schon jemanden gefunden. Maria. Sie kommt nur ein bisschen später, deshalb polier ich heute selbst.« Er wedelt fröhlich mit dem Handtuch. »Du hattest heute das Shooting am Vogtsee, oder?« Kamal grinst. »Und? Hatte ich mal wieder recht?«
»Ja. Hattest du!« Ich grinse zurück. »Der See war wirklich wunderschön. Und am Schluss sind auch noch alle reingehüpft. Das war ein Durcheinander, kann ich dir sagen! Aber beste Fotos!«
»Ich hab’s dir ja schon mal gesagt. Ich bin eine gute Partie mit ’ner guten Bar und guten Ideen. Am besten, du heiratest mich, bevor es eine andere tut. Zusammen könnten wir die ganze Welt auf links drehen.«
Ich lasse mich auf seinen Quatsch ein und seufze: »Ach Kamal, wir haben das doch schon zur Genüge besprochen. Das wäre einfach zu perfekt. Und damit, das weißt du ja, kann ich nun mal nicht umgehen.« Wir müssen beide lachen. »Hast du Lust, mit mir auf unsere Nicht-Ehe und das gloriose Shooting heute anzustoßen?«
»Na aber klar! Champy-Schälchen?«
»Unbedingt!«
Kamal wirft sich das Polierhandtuch über die Schulter, greift nach zwei Champagnerkelchen mit Goldrand, stellt sie vor mir auf dem Tresen ab und holt eine Flasche Schampus aus der Kühlung.
»Ui. Der gute?«
»Unbedingt! Auf Nicht-Ehen und Shootings stößt man ja nicht alle Tage an.«
Ich muss erneut lachen und denke, dass es eigentlich echt schade ist, dass aus uns beiden nie etwas werden wird. Gutaussehend, witzig und kreativ? Und dann auch noch zuverlässig und loyal? Das gibt’s nicht so oft in einem Mann. Aber ihn habe ich lieber für immer als guten Freund als nur für kurz zum Mann.
Denn es wäre sicher nur für kurz. Ich und Beziehungen? Lieber nicht. Feste Bindungen sind für mich wie einbetonierte Heringe, die den schnellen Abbruch meiner Zelte unmöglich machen. In Beziehungen verstricke ich mich in komplizierte Diskussionen und werde mit Kompromissen lahmgelegt. Ich fühle mich eingesperrt, beobachtet und ausgebremst. Kurz gesagt, so wie mit zwölf. Außerdem bin ich ein harmonieliebender Mensch und kann Streitigkeiten nicht ausstehen. Und das erste Thema für einen ausgewachsenen Streit wäre bei Kamal und mir schon vorprogrammiert: mein Hobby. Kamal findet meine Fallschirmspringerei nämlich völlig irre und gefährlich.
Nein, danke! Been there, done that. Mit Hannes zum Beispiel, der nicht verstehen wollte, dass mein liebstes Hobby nun mal wetterabhängig ist und spontane Date-Absagen von mir damit hin und wieder zu erwarten waren. Oder Felix, der jede Sekunde wissen wollte, wo ich war und schließlich ohne mein Einverständnis eine Ortungs-App auf meinem Handy installierte. Mit Mike, der sich nach einigen Monaten überlegte, dass ich doch lieber einen Nine-to-five-Job in Festanstellung machen solle, um ihm regelmäßiger zur Verfügung zu stehen und dann ohne mein Wissen Bewerbungsunterlagen an potentielle Arbeitgeber verschickte. Oder mit Daniel, der, obwohl er wusste, dass ich noch nicht ans Kinderkriegen dachte, nach einem halben Jahr Beziehung nur noch davon sprach und nicht begriff, warum ich mich immer mehr zurückzog.
Muss ich alles nicht wieder haben. Den ganzen Beziehungskram lass ich die anderen machen. Freddie und meine anderen Freundinnen, die können Häuser im Speckgürtel kaufen, hundert Kinder bekommen, Hasen, Hunde, Hühner halten und sich einen Gemüsegarten anlegen. Und ich bin einfach für immer die lustige Tante, die die besten Geschenke schenkt und jederzeit eine unterhaltsame Anekdote parat hat.
Der Korken knallt und zerstreut meine Gedanken an anderer Leute Einfamilienhaus-Träume.
»Auf uns!«, sagt er, lehnt sich vor und schaut mir übertrieben glutäugig in die Augen.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch, lehne mich etwas nach vorn, hauche rauchig und sexy »Auf uns!« und grinse dann bis über beide Ohren.
»Herrlich! Heißer Tag. Kalter Champagner. Besser geht’s nicht!«, sage ich erfreut.
»Und was gibt’s sonst Neues? Wie war der Job in New York?«
»Der Job und New York waren einfach nur grandios. Die Stadt ist mein absolutes Mekka.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich finde New York auch immer wieder inspirierend. Vielleicht sind wir ja irgendwann mal zeitgleich da.« Er trinkt noch einen Schluck Champagner, bevor er sich das Handtuch von der Schulter zieht und ein weiteres Glas poliert.
»Ganz ehrlich, ich spiele schon seit Jahren mit dem Gedanken, mal für eine Weile dort zu leben. Das wäre echt ein Traum!« Ich nippe an meinem Glas und seufze. »Ich im Big Apple für länger. Kann ich doch mal angehen. Vielleicht nächstes Jahr? Der sechsmonatige Aufenthalt in London vor zwei Jahren war ja auch super.«
»Du wirst wohl nie sesshaft werden, was?« Kamal hält sein gerade fertig poliertes Glas prüfend gegen das Licht.
»Warum auch? Ungebunden zu sein, hat eben seine Vorteile. Ich kann machen, was ich will«, sage ich voller Überzeugung und füge hinzu: »Aber wäre es nicht der Hammer, wenn wir mal zusammen nach New York fliegen? Vielleicht sollten wir das einfach planen! Herbst wäre gut!«
»Meinst du das ernst?« Kamal sieht mich erstaunt an.
»Warum denn nicht? Zwei gute Freunde in New York, das ist doch immer eine gute Idee.«
»Ach so. Ja, klar. So gut, die könnte von mir sein.« Er lacht. Aber irgendwie hört sich sein Lachen ein bisschen künstlich an. Komisch. Ich hatte gedacht, er würde sich über den Vorschlag freuen.
»Hallo ihr zwei!«
»Hi Freddie«, rufen Kamal und ich unisono.
»Wie schön, dich zu sehen!« Ich werfe mich in ihre Arme, drücke sie ganz fest und flüstere ihr ins Ohr: »Wie geht’s dir? Bist du noch schlimm traurig?« Der kleine Schuld-Elefant setzt sich dabei gleich wieder auf meine Brust.
»Mir geht es viel besser seit der Beerdigung. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Oma Helene immer bei mir ist und mir bei meinen alltäglichen Dingen über die Schulter schaut. Und das macht das Ganze viel leichter.« Sie zeigt auf die beiden Champagnerkelche auf der Bar. »Jetzt meint Oma Helene zum Beispiel gerade, dass ihre Enkelin auch ein Schlückchen vertragen könnte.«