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Fernweh, Freiheit und die Liebe im Gepäck Josi träumt seit ihrer Kindheit davon, mit einem alten Bulli Europas Küsten zu erkunden. Paul hingegen entscheidet sich spontan für einen Road Trip, um seinem festgefahrenen Alltag zu entfliehen. Beide sehnen sich nach grenzenloser Freiheit und unvergesslichen Erlebnissen. Ihre Wege kreuzen sich. Erst zufällig, dann absichtlich und immer öfter. Auf ihren Routen hinterlassen sie sich gegenseitig kleine Botschaften und lernen dabei nicht nur einander, sondern auch sich selbst besser kennen. Ein ganzes Jahr lang Sommer mit einsamen Stränden, versteckten Buchten und malerischen Orten. Und eine unerwartete Freundschaft, die vielleicht noch so viel mehr sein kann?
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»Wann hast du zuletzt das Salz des Meeres auf deinen Lippen geschmeckt, den lauen Sommerwind auf deiner Haut gespürt und bist deiner Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit gefolgt?«
Josi träumt seit ihrer Kindheit davon, mit einem alten Bulli Europas Küsten zu erkunden. Paul hingegen entscheidet sich spontan für einen Road Trip, um seinem festgefahrenen Alltag zu entfliehen. Beide sehnen sich nach grenzenloser Freiheit und unvergesslichen Erlebnissen. Ihre Wege kreuzen sich. Erst zufällig, dann absichtlich und immer öfter. Auf ihren Routen hinterlassen sie sich gegenseitig kleine Botschaften und lernen dabei nicht nur einander, sondern auch sich selbst besser kennen.
Ein ganzes Jahr lang Sommer mit einsamen Stränden, versteckten Buchten und malerischen Orten. Und eine unerwartete Freundschaft, die vielleicht noch so viel mehr sein kann?
FRANZISKA JEBENS
IMMER AM MEER ENTLANG
Roman
»Manchmal muss man verloren gehen, um sich wiederzufinden.«
Fran Forrester
Für die Meersüchtigen
Erinnerst du dich noch an den ersten Tag der besten Sommerferien deines Lebens?
Vielleicht hattest du damals ja auch dieses Gefühl von Alles ist möglich, von Das wird mein Sommer, von grenzenloser Freiheit. Und zweiundvierzig Tage kamen dir vor wie die längste Zeit der Welt.
Vielleicht hast du an diesem ersten Ferientag ja auch schon den warmen Sand unter deinen Füßen gespürt und das Knistern des Lagerfeuers gehört, an dem du mit deinen Freunden den Abend verbringst. Hast auf deinen Lippen das Salz des Meeres geschmeckt, in dem du badest, hast den Regen auf den Blättern der Buche gehört, unter der du den Schauer abwartest, hast gefühlt, wie dir ein lauer Sommerwind über die Haut fährt, während du mit deinem Fahrrad einen Berg hinuntersaust …
Und dann waren diese allerbesten Sommerferien noch viel mehr, als du dir in deinen kühnsten Träumen hättest ausmalen können. Am Ende warst du voll von Erinnerungen, die ein Leben lang bleiben. Erinnerungen, die in schlechten Zeiten für dich da sind. Eine Quelle der Kraft in Momenten, in denen du glaubst, nicht mehr weiter zu wissen.
Der zärtliche Kuss, der nach Schokoladeneis schmeckt und ein betörendes Kribbeln durch deinen Körper jagt. Die aufregende Übernachtung in den Dünen unter dem glutroten, so vollen Mond. Das goldene Glück, nach überwundener Angst vom Fünfer zu springen und dabei von deinem Schwarm beobachtet zu werden. Die noch warmen, herrlich duftenden Brötchen vom Bäcker nach einer durchfeierten Nacht. Das zutrauliche Rotkehlchen, das bei der Wanderung eine Zeitlang neben dir hergeflogen ist. Der atemberaubende Ausblick auf dem Gipfel über den Wolken. Der verrückte Spontantrip mit deinen Freunden nach Paris. Der eine Mensch, den du nicht erwartet hast und der dich wirklich sieht, so wie du bist.
Und jetzt stell dir vor, du hättest nochmal Sommerferien, aber dieses Mal sind sie ein ganzes Jahr lang.
»Herzlich Willkommen! Ich freue mich, dass ihr zu unserem Kurs Selbstverteidigung für Anfängerinnen gekommen seid. Mein Name ist Josi, ich bin seit zehn Jahren bei der Polizei und ich werde euch in den nächsten zwei Stunden zeigen, wie ihr euch effektiv zur Wehr setzen könnt, wenn euch jemand angreift.«
Ich blicke in die Gesichter der zwanzig Teilnehmerinnen, die sich heute in der Sporthalle eingefunden haben. Die meisten scheinen sich darauf zu freuen, diesen Kurs zu besuchen und endlich etwas für sich zu tun. Andere wiederum wirken eher skeptisch. Eine Frau in der letzten Reihe fällt mir aber besonders auf. Sie vermeidet jeden Augenkontakt, kaut nervös auf ihrer Unterlippe und hat Mühe, auch nur einen Moment lang stillzustehen. So als wäre sie in Gedanken schon auf der Flucht. Ich habe eine düstere Ahnung, warum das so ist, und hoffe, dass ich nach dem Kurs noch mit ihr sprechen kann.
»Ich weiß, was ihr denkt: Wie soll ich mich gegen einen Mann wehren, der größer und stärker ist als ich? Aber ich sag euch: Das geht! Und dafür muss man keine Karatekämpferin und auch nicht besonders kräftig sein. Auf die Entschlossenheit kommt es an! Und ich werde euch heute einige simple, aber sehr effektive Techniken zeigen, die wir anschließend ganz praktisch an unserem Wattebäuschchen hier ausprobieren.«
Ich zeige lächelnd auf meinen Kollegen Stefan, der neben mir steht und in seinem gepolsterten Schutzanzug aussieht wie ein riesengroßer Marshmallow.
»Ihr lernt heute, wo Gefahren im Alltag lauern können, wie ihr Konflikte durch Verhalten und Körpersprache vermeidet und wie ihr klare Grenzen setzt. Und ich zeige euch, wie ihr euren Körper, euren Geist und eure Stimme einsetzt, um einen Angreifer in die Flucht zu schlagen.«
Ein paar Frauen runzeln die Stirn. Das ist jetzt ein entscheidender Moment – ich muss sie mitnehmen, muss ihnen vermitteln, dass es wirklich möglich ist, sich selbst zu schützen. Zeit für eine kleine Showeinlage.
»Bist du so nett?«
Stefan nickt, stellt sich hinter mich, greift mir unvermittelt in die Haare und zieht mich nach hinten. Sofort fange ich an, laut zu schreien: »Lass mich los, du Arschloch!« Ich fasse mit meiner Linken nach seiner Hand an meinem Kopf, gehe mit seiner Rückwärtsbewegung mit und drehe mich gleichzeitig in seine Richtung. Dabei lasse ich meinen ausgestreckten rechten Arm nach oben schwingen und schlage ihm mit der flachen Hand aufs Ohr. Jetzt ziehe ich mein rechtes Knie nach oben und ramme es ihm in den Unterleib. Immer wieder schreie ich »Lass mich los!« und »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«, während ich mit dem Ellenbogen auf ihn einschlage, bis er von mir ablässt. Dann schubse ich ihn weg und renne davon.
Die kleine Demonstration wirkt wie immer Wunder. Die Frauen sehen, wie ich den fast zwei Meter großen Stefan abwehre, und halten es plötzlich für möglich, das auch selbst zu können. Ein Schlüsselmoment in allen Kursen, die ich in den letzten fünf Jahren gegeben habe. Ein regelrechter Mind-Shift, der da passiert. Die meisten wollen am liebsten gleich loslegen und ausprobieren, ob sie auch selbst dazu in der Lage sind.
»Genau das könnt ihr auch!«, sage ich bestimmt. »Aber bevor ihr unser Wattebäuschchen in die Flucht schlagt, lasst uns noch einen Moment über Gefahrensituationen im Alltag sprechen. Was denkt ihr, wo und wann gibt es die?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die nervöse, junge Frau sich aus der Gruppe löst, mit eingezogenem Kopf zum Ende der Sporthalle läuft, ihre Tasche von der Bank nimmt und zum Ausgang eilt.
»Übernimmst du mal?«
»Klar«, sagt Stefan und nickt einer der Teilnehmerinnen zu, die sich zu meiner Frage gemeldet hat.
Im Flur rufe ich der Frau »Warte!« hinterher und sie bleibt stehen. Ihre Körperhaltung zeigt, dass sie es nur widerwillig tut. »Willst du nicht noch ein bisschen bleiben?«
Langsam dreht sie sich um. Aus der Nähe sehe ich, dass sie ein schon fast verblasstes grün-gelbliches Hämatom an der Schläfe hat. Kurz blickt sie mir in die Augen und ich weiß genau, was Sache ist.
»Bleib doch noch. Es wird dir guttun, ganz bestimmt. Und nach dem Kurs können wir vielleicht noch ein bisschen reden?« Mit sanfter Stimme versuche ich, sie zum Bleiben zu überreden.
»Es war idiotisch von mir, hierherzukommen. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe …«
Sie sieht verloren aus in ihrem viel zu großen Sweatshirt.
»Bitte bleib. Wenigstens heute. Lerne dich zu verteidigen. Du hast doch nichts zu verlieren.«
Sie seufzt tief, nickt aber zögerlich. Am liebsten würde ich alles daransetzen, herauszufinden, wer ihr den blauen Fleck verpasst hat, und denjenigen sofort verhaften. Aber so läuft das nun mal nicht. Ich kann nur hoffen, dass sie heute bleibt und vielleicht nächstes Mal wiederkommt. Dass der Kurs sie dazu ermächtigt, an sich selbst und ihren Wert in der Welt zu glauben und sich mir gegenüber vielleicht sogar zu öffnen; und dann Anzeige zu erstatten.
Zwei Stunden später hat auch die kleinste der Teilnehmerinnen Stefan erfolgreich abgewehrt und sogar zu Fall gebracht. Und auch Sina, die nervöse junge Frau, hat, nachdem sie ihre erste Scheu ablegen konnte, geschrien und getreten, was das Zeug hielt. Ein erster Schritt; ein kleiner Erfolg. Immerhin.
Jetzt bitte ich alle Frauen, sich in einem Kreis aufzustellen.
»Das habt ihr super gemacht! Ich freue mich, wenn ihr nächste Woche wieder dabei seid. Da gehen wir noch ein bisschen mehr in die Details zu den verschiedenen Abwehrtaktiken und lernen Hilfsmittel wie zum Beispiel Schlüsselbund, Regenschirm oder die Handtasche zu nutzen. Ich bin irre stolz auf euch! Seid auch stolz auf euch! Ihr habt heute etwas gelernt, das euch stärker, selbstbewusster und wehrhafter macht!«
Ich klatsche den Teilnehmerinnen Beifall und die Frauen klatschen mit. Ein Gefühl von Zusammenhalt und Solidarität durchströmt mich. Ich hoffe, sie spüren es auch.
Während die Frauen ihre Jacken anziehen, helfe ich Stefan aus seinem Marshmallow-Anzug. Ich habe den unbedingten Drang, zu Sina zu gehen und ihr meine Hilfe anzubieten, aber ich weiß, dass ich sie damit wahrscheinlich nur vergraulen würde. Umso größer ist meine Freude, als sie plötzlich neben mir steht.
»Danke, das war gut für mich«, sagt sie leise. »Ich bin froh, dass ich geblieben bin. Und ich werde wiederkommen.«
Ich zücke meine Karte. »Hier. Falls du mich brauchst, ruf mich an. Jederzeit.«
Ich hoffe, dass sie es tut, fürchte aber, dass es nicht passieren wird. Zu häufig habe ich das schon erlebt. Und diese Erkenntnis macht mich plötzlich unglaublich müde. Müde von meinem Ehrgeiz, etwas ändern zu wollen. Müde davon, permanent das Gefühl zu haben, zu spät zu kommen. Es ist, als könnte ich immer nur die Scherben zusammenkehren. Wie so oft in letzter Zeit merke ich, wie sehr ich mich nach einer Pause von meinem Polizeialltag sehne.
Wäre es doch nur jetzt schon drei Jahre später. Dann hätte ich genug Geld gespart und könnte einfach los. Nur mein geliebter Bulli und ich. Ohne Uniform, ohne Tatorte, Einbrüche, Schlägereien, Unfälle und was mir sonst noch alles im Dienst begegnet.
Sina winkt mir zum Abschied und ich muss hart schlucken, weil ich ihr nicht besser helfen kann.
»Hey, mach dich deswegen nicht fertig«, sagt Stefan, während er seinen Polsteranzug in eine Tasche stopft. »So ist nun mal die Gesetzeslage. Solange sie keine Anzeige erstattet, sind wir da außen vor.«
»Ja, ja, ist schon klar«, sage ich missmutig.
»Vielleicht kommt sie ja wirklich nächste Woche wieder.« Stefan versucht, mich zu trösten, aber wir wissen beide, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering ist.
»Sag mal Josi, hast du eigentlich schon über das Angebot nachgedacht, zu studieren und dann zur Kripo zu wechseln?« Er wendet mir den Rücken zu und kramt weiter in seiner Tasche herum.
»Ich denke, ich werd’s machen.«
»Ein Tapetenwechsel wird dir bestimmt guttun. Auch wenn es mir natürlich das Herz bricht, dich bei der Streife nicht mehr dabeizuhaben. Wahrscheinlich bekomme ich dann einen von den Jungspunden zugeteilt.«
»War ich doch auch.«
»Stimmt, aber du bist ein Naturtalent. Hast dich verdammt schnell zu ’ner gestandenen Polizistin gemausert. Und jetzt geht es für dich sogar ab in den gehobenen Dienst. Das müsste eigentlich gefeiert werden.« Er dreht sich zu mir um. »Da fällt mir ein, du hast mich immer noch nicht zu einer amtlichen Sause an deinem Geburtstag eingeladen. Willst du die Dreißig echt nicht feiern?«
»Nö«, sage ich nur, lächele und winke ihm zum Abschied kurz zu, bevor ich mich zum Ausgang der Turnhalle begebe.
Seit Wochen machen mich meine Kollegen, Freunde und die Familie damit verrückt, dass ich bald dreißig werde. Immer wieder fragen sie: Uuund? Wie fühlst du dich so kurz vor der großen Dreißig? Uuund? Schon ’ne fette Party geplant?
Ich weiß überhaupt nicht, was ich damit anfangen soll, und bin nur froh, wenn der Spuk in zwei Tagen vorbei ist. Mein Dreiunddreißigster, der wäre die Fragerei und Feierei wert. Denn dann wird endlich meine lang geplante Reise starten. Mein Bulli und ich. Ein ganzes Jahr. Immer am Meer entlang.
Erledigt von dem langen Tag bin ich schon früh ins Bett gegangen, kann aber trotz meiner Erschöpfung nicht einschlafen. Seit Stunden wälze ich mich herum. Mein Blick wandert zum Wecker. Elf Uhr elf. Laut Dita und Eleni ein gutes Zeichen aus der Numerologie, wenn man Schnapszahlen sieht. Und ich sehe sie gerade überall.
Ich knipse meine Nachttischlampe an. Das Licht erhellt den Raum gerade eben genug, dass ich die Umrisse der riesigen Europakarte erkennen kann, die gegenüber an der Wand hängt. Die kleinen Pins mit den pinken Köpfen und den Zettelchen daran leuchten einladend. Meine Route ist perfekt. Wie könnte es auch anders sein? Seit meinem zehnten Lebensjahr habe ich diesen Traum und die Route perfektioniert.
Ich weiß schon genau, wann ich wo sein werde, welche Städte ich besichtigen, in welchen Buchten ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, welche Restaurants und Bars ich besuchen, an welchen Spots ich übernachten werde.
Ich habe sogar mehrere Sprachen gelernt. Ich kann ein bisschen Spanisch und ein paar Brocken Griechisch. Außerdem un peu de français. Am besten funktioniert natürlich mein Englisch und überraschenderweise kann ich mittlerweile richtig gut Italienisch. Ich weiß auch nicht, diese Sprache und ich, wir gehören irgendwie zusammen. Seit vier Jahren besuche ich einen Kurs an der Volkshochschule und die Worte und deren Melodie haben immer wieder Licht in meinen manchmal ziemlich heftigen Alltag gebracht. Sie haben mich nach Bella Italia entführt, ohne dass ich hingefahren bin. Ans Meer, zu saftigen Tomaten und cremigem Mozzarella, zu dunkelrotem Rotwein und zu Espresso mit Cantuccini in einer lebhaften Bar in Rom.
Ich seufze sehnsüchtig. So schön. All das werde ich bald in echt erleben.
Mein Blick wandert zu den Fotos auf meinem Nachttisch. Liebevoll streiche ich über den Rahmen, in dem der Oldtimer seinen Platz gefunden hat. Ein Foto vom Bulli und mir, an dem Tag, als ich ihn gekauft habe. Kommt mir vor, als wäre das Jahrzehnte her. Tausende von Arbeitsstunden habe ich seitdem investiert, um ihn wieder richtig fit zu machen. Ohne Onkel Otto hätte ich das nie geschafft. In seiner Werkstatt habe ich quasi eine komplette Ausbildung zur Automechanikerin bekommen. Jetzt fehlt nur noch die Lackierung, und dann ist er wie neu.
Ich kann es nicht erwarten, mich endlich hinters Steuer zu setzen, das gemütliche Tuckern des Boxermotors zu hören und Ludwigsburg für 365 Tage den Rücken zuzukehren.
Ich knipse die Nachttischlampe wieder aus, schließe die Augen und stelle mir vor, ich würde nicht in meiner Wohnung im Bett liegen, sondern in meinem geliebten Bulli an einem der mit einem pinkfarbenen Pin markierten Orte auf der Landkarte.
»Jetzt zuck doch nicht so rum!«, schimpft Dita und drückt mich bestimmt in den Kosmektikstuhl. Ihr Gesicht sieht durch die Lupenlampe seltsam deformiert aus. Ihre linkes Auge ist riesig. »Diesen Urwald von Augenbrauen muss ich erstmal durchdringen.«
»Au!«, schnaufe ich, als sie erbarmungslos draufloszupft.
»Jetzt stell dich nicht so an! Du hast doch schließlich den schwarzen Gürtel in allen möglichen Verklopp-Disziplinen, oder? Ich weiß, dass du einiges einstecken kannst.«
»Das ist ganz was anderes«, grummele ich. »Ich dachte, wir machen es uns heute schön. Ist ja schließlich mein Geburtstag.«
»Erstmal machen wir dich schön und dann geht’s weiter im Programm.«
Meine beste Freundin hat mich für meine Geburtstagsüberraschung in ihren Schönheitssalon bestellt. Ich bin ein bisschen enttäuscht, als ich feststelle, dass ihre Überraschung eine Kosmetikbehandlung ist. Damit kann ich nicht besonders viel anfangen und das weiß sie eigentlich auch.
»Cool, dass du jetzt endlich das Studium durchziehst und dann zur Kripo gehst.« Sie pfeift anerkennend durch die Zähne und zupft weiter. Nach einer kleinen Pause sagt sie: »Das passt optimal zu meinem Zeitplan. In drei Jahren können wir dann wunderbar parallel schwanger werden. Mit Basti läuft es durchaus vielversprechend.«
»Ich freu mich wirklich sehr für dich, dass du schon nach drei Wochen Beziehung die Kirchenglocken läuten hörst. Aber erstens habe ich erstmal nicht vor schwanger zu werden und zweitens weißt du doch ganz genau, was meine Pläne sind, wenn ich dreiunddreißig werde«, entgegne ich und verkneife mir einen Schmerzensschrei.
»Was denn?« Dita unterbricht das Gezupfe und schaut mich irritiert an. Eine ihrer schwarzen glänzenden Locken fällt ihr ins Gesicht.
»Meine Reise natürlich!«
Gleich wird sie mit den Augen rollen und schimpfen Du bist echt besessen!, und dann wird sie wieder davon anfangen, dass ich lieber mal wieder Sex haben, heiraten und ein Haus kaufen soll.
»Du bist echt besessen! Du solltest lieber planen, mal wieder ein bisschen Liebe zu machen. Am besten gleich mit dem Richtigen. Ich kann das nur empfehlen.« Sie schnalzt mit der Zunge und grinst ein bisschen schelmisch. »Dann gibt es eine wunderbare Doppelhochzeit, wir kaufen in der besten Gegend von Ludwigsburg nebeneinander ein Haus und bekommen haufenweise süße Babys. Ich hab dir gestern mal die Karten gelegt und bei diesem Thema war das Ergebnis mehr als eindeutig. Und jetzt, wo du befördert wirst, kannst du nochmal richtig schön Geld scheffeln. Da gibt’s doch sicher ’ne Gehaltserhöhung, oder?«
»In drei Jahren startet mein Sabbatical«, sage ich entschieden und ohne auf ihre Vorschläge einzugehen.
Warum ich schon länger keine Lust mehr darauf habe, mich in Sachen Liebe auf jemanden einzulassen, werde ich ihr wahrscheinlich nie erzählen. Ich möchte sie schützen, ihre heile und naive Welt nicht ins Wanken bringen. Wenn sie nur von einem Bruchteil meiner berufsbedingten Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit wüsste, würde sie das völlig verstören und ich hätte ihre Unbeschwertheit in Sachen Liebe auf dem Gewissen.
»Ich weiß. Ich weiß.« Die sonst so resolute Dita lächelt mich liebevoll an. »Was du dir in den Kopf setzt, das ziehst du auch durch. Aber ich finde die Vorstellung, dich ein Jahr lang nicht um mich zu haben, einfach GRAU-EN-HAFT!« Ihr großes Auge wird noch ein bisschen größer. »Und ein solider Plan für eine schöne Zukunft ist doch nicht das Schlechteste. Das ganze Geld, das du für die Reise gespart hast, könntest du auch in eine Immobilie investieren. Da hast du was fürs Leben. Etwas, das bleibt.« Sie seufzt und lacht. »Jetzt hör ich mich schon an wie eine spießige Version deiner Mutter. Egal! Das ist eh kein guter Geburtstags-Talk! Letztendlich will ich nur, dass du glücklich bist.« Sie schwingt die Lupe zur Seite und reicht mir einen Spiegel. »So! Gut? Ich habe auch nicht zu viel weggenommen. Ich weiß ja, dass du das nicht magst, und zu deinem Glück sind Megabrows momentan total angesagt.«
Ich nehme den Spiegel und schaue hinein. Ich bin blass, habe Augenringe, meine Haut ist von Ditas Ausreinigung der Poren rot gefleckt. Schön ist anders. Ich sehe genauso fertig aus, wie ich mich fühle. Das muss an den vielen Überstunden, den Nachtschichten, und auch an Begegnungen wie der mit Sina liegen. Irgendwie schaffe ich es momentan nicht, mich ausreichend von der Arbeit abzugrenzen. Nach jeder Schicht habe ich Zweifel, ob das, was ich da tagtäglich mache, überhaupt etwas bringt.
Ich blinzele in den Spiegel, traue mich aber nicht, Dita zu sagen, was in mir vorgeht. Meine eigene Schwäche macht mir Angst. Wenn ich sie teile, wird sie vielleicht noch größer.
»Die Augenbrauen hast du toll hingekriegt«, sage ich stattdessen und unterdrücke ein Gähnen.
Gut, dass wir heute Abend nur mit ihrer Schwester Eleni ins Kino gehen. Sie hat sich frei genommen. Ihr Mann managed das gemeinsame Restaurant mal ohne sie. Im Kino sieht mich niemand, ich muss nicht viel mit den beiden quatschen, gut denkbar, dass ich sogar ein bisschen schlafen kann.
Dita nimmt mir den Spiegel ab und hat schon den nächsten Tiegel in der Hand.
»Jetzt kommt der beste Teil. Die Maske.«
Sie pinselt mein Gesicht mit einer kühlen Masse ein.
»Jetzt lass ich dich ein bisschen alleine, zum Entspannen und danach gibt’s die nächste Überraschung. Bis glei-heich«, flötet sie, während sie hinter sich die Tür schließt.
»ÜBERRAAAASCHUNG!!!«, tönt es mir entgegen, als wir ins Athene kommen, um Eleni abzuholen. Das Restaurant ist voll mit Leuten, die ich kenne und mal kannte. Sie tragen alle einen lustigen Partyhut und halten eine funkelnde Wunderkerze in der Hand. Hinter ihnen ein großes HAPPYBIRTHDAY!-Banner.
Ich bin sprachlos und schaue in die freudigen und erwartungsfrohen Gesichter. Leute aus der Schule und von der Ausbildung, die ich ewig nicht gesehen habe, Kolleginnen und Kollegen, Stefan, meine Chefin. Meine Eltern, Geschwister, Onkel Otto und sogar meine Großeltern sind da.
Dita hat mir nach der Behandlung ein Make-up aufgenötigt und mich überredet, die Haare heute mal offen zu tragen. Ich fand das alles blöd und habe sie ein bisschen beschimpft. »Ich bin doch nicht deine Barbie«, habe ich mich beschwert und mir kurz überlegt, ihr mal ganz sanft den Arm umzudrehen, um zu demonstrieren, dass auch ich übergriffig sein kann.
Jetzt bin ich ihr dankbar, dass ich nicht unfrisiert und rotgequetscht auf meiner eigenen Geburtstagsfeier erscheine.
»Danke, mein Dittchen, dass du mich so schön zurechtgemacht hast«, sage ich zu ihr, als sie mich umarmt und mir ein Glas Sekt in die Hand drückt.
»Und? Biste überrascht?«
»Und wie!«
»Und freust du dich? Eleni und ich wissen ja, du bist kein Fan der großen Show, aber in diesem Fall haben wir gedacht, man wird nur einmal dreißig. Und da du dich so vehement dagegen gewehrt hast, selber etwas Grandioses zu deinem Geburtstag zu organisieren, haben wir das mal für dich in die Hand genommen. Du machst ja eh schon so viel für Gott und die Welt.« Sie drückt mir eine der köstlichen, hausgemachten Spanakopitas in die Hand.
»Ich freu mich wirklich. Es ist total schön, all die Leute mal wiederzusehen«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Dann mal los! Mach die Runde! Lass dich feiern! Vielleicht reißt du dir heute Abend sogar einen auf! Die Karten waren ziemlich deutlich mit ihrer Voraussage, dass in naher Zukunft ein Mann in dein Leben treten wird, der dich gehörig durcheinanderbringt.« Sie lässt ihre Augenbrauen auf und ab tanzen.
Aber ich winke nur ab. »Nee, nee. Lass mal stecken.« Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich hab doch alles, was ich brauche.«
Onkel Otto gesellt sich zu uns und stößt mit uns an.
»Na, Fienchen? Is schön, gute Freundinnen zu haben, ne?« Er grinst.
»Ja! Und den besten Onkel der Welt«, lache ich zurück.
»Und hast du vielleicht mal kurz ’ne Minute, um mit dem besten Onkel der Welt vor die Tür zu gehen? Ich würde dir da gerne etwas zeigen.«
»Na klar, Onkelchen. Was ist es denn?«
»Wirst du dann schon sehen, mein Fienchen.« Er lacht sein kehliges Lachen, das sich immer wie ein unterdrückter Schluckauf anhört.
Vor dem Ausgang besteht Onkel Otto darauf, dass ich mir die Augen zuhalte und mich am Arm von ihm nach draußen führen lasse.
Ich spüre die spätsommerliche kühle Abendluft auf meiner Haut, als wir aus dem Stimmengewirr des vollen Lokals auf die plötzlich ganz ruhige Straße treten.
»Augen auf«, ruft Onkel Otto in die Stille hinein.
Und da steht er. Mein Bulli. Im Licht einer Straßenlaterne. Aber nicht in seinem originalen, orangefarbenen Siebzigergewand mit Rostflecken an allen Ecken, sondern in dem von mir so lange herbeigesehnten Himmelblau. Mein fast fünfzig Jahre alter VW-Bus sieht aus wie frisch vom Band. Der strahlende Lack, der verchromte Dachträger und die blank polierten Zierleisten blenden mich mit ihrem Glanz, und mein Herz macht vor Freude einen Hüpfer.
»WAAAAAAAH! Du hast ihn schon lackieren lassen?«, kreische ich und bin mit einem Satz bei meinem Wagen.
»Jupp.« Er grinst. »Happy Birthday, meine Kleine.«
Ich nehme meinen Onkel in die Arme und drücke ihn ganz fest. »Dankedankedanke!«
»Du brichst mir ja die Knochen, Kind«, beschwert er sich, lässt sich die Umarmung aber gern gefallen.
Ich wende mich wieder staunend meinem Wagen zu. Millionenmal habe ich den Farbfächer danebengehalten und mir vorgestellt, wie der Bulli in meinem Lieblingsblau aussehen würde.
Ich strecke die Hand aus, will über die glatt polierte Oberfläche streichen, halte inne. »Darf ich schon anfassen?«
»Jupp. Wurde schon letzte Woche gemacht. Is alles gut durchgetrocknet. Jetzt isser fix und fertig«, sagt Onkel Otto zufrieden und verschränkt die Arme vor der Brust.
Mit den Fingerkuppen streife ich über die Seite des Wagens, laufe ums Auto herum und bestaune die perfekte Lackierung. Ich öffne die Schiebetür, klettere hinein, setze mich auf das Bett und schaue mich in meinem kleinen Zukunftszuhause um. Ich denke daran, wie lange ich an dem Innenausbau herumgetüftelt habe und wie er nach und nach Formen angenommen hat, erinnere mich daran, wie wir die Hängeschränke, das Bett, den Tisch zugeschnitten, weiß lackiert und eingebaut haben. Ich klettere wieder hinaus, steige vorne ein, setze mich hinters Steuer, kurbele das Fenster runter und schaue auf das leuchtende Blau der Tür. Dann wandert mein Blick durch die Frontscheibe und ich stelle mir mal wieder vor, wie schön es wäre, wenn ich jetzt sofort einfach losfahren könnte.
»Steht dir gut«, stellt Onkel Otto freudig fest. »Nach dem Honigkuchenpferdestrahlen zu urteilen, nehme ich an, der Dame gefällt’s?«
Meine Wangen schmerzen vom glückseligen Dauergrinsen.
»Gefallen? Ich bin völlig aus dem Häuschen! Du hast mir wirklich eine Riesenfreude gemacht!«
»Immer wieder gern. Und der Aufwand scheint sich ja gelohnt zu haben. So happy hab ich dich das letzte Mal gesehen, als ich dir in Flensburg einen Drachen gekauft hab. Da warst du noch ganz klitzeklein.« Er hält die flache Hand neben seine Hüfte. »Ungefähr so. Und jetzt bist du ’ne erwachsene, richtig tolle Frau. Und ’ne spitzenmäßige Polizistin noch dazu.« Er schüttelt lächelnd den Kopf. »Ich bin irre stolz auf dich, mein Fienchen!«
Ich springe aus dem Bulli und umarme meinen Onkel gleich noch einmal. »Danke! Für alles! Und danke, dass du immer an meinen Traum geglaubt und mich dabei unterstützt hast!«
Ich schniefe kurz, blinzele die Tränen weg und sehe, dass auch er ganz feuchte Augen hat.
»Na, na, Fienchen. Kein Grund, gleich die Schleusen aufzumachen.«
Ich räuspere die Rührung weg. »Das ist doch ein viel zu großes Geschenk.«
Onkel Otto winkt ab. »Lass mal gut sein. Der Lackierer war mir noch einen Gefallen schuldig und hat mir ’n Sonderpreis gemacht.« Er nickt in Richtung Eingangstür. »Aber jetzt sollten wir mal wieder. Deine Gäste fragen sich bestimmt schon, wo du bleibst.«
Zurück auf der Party bewege ich mich wie in Trance von einem zum anderen, werde beglückwünscht, gefragt, wie es mir geht, was ich so getrieben habe. Ich antworte, lache, proste zu, beschwöre Erinnerungen an früher herauf, lasse mich in den Arm nehmen und feiern. Es ist ein bisschen so, als würde anhand der Menschen mein bisheriges Leben an mir vorbeiziehen. Sogar meine Lieblingsgrundschullehrerin ist da. Keine Ahnung, wie Dita sie aufgestöbert hat.
Die Atmosphäre ist aufgeladen, aufgeregt und das ist ansteckend. Oder vielleicht ist es auch nur der Sekt? Vermutlich habe ich schon mein drittes Glas geleert. Dita sorgt dafür, dass es immer voll ist.
Als plötzlich das Licht und die Musik ausgehen, läuten sofort meine vom Dienst geprägten Alarmglocken. Aber dann sehe ich schon, dass ein paar Leute aus der Küche eine Torte mit Kerzen in den Gastraum tragen, und plötzlich fangen alle an Happy Birthday zu singen.
Mir wird ganz feierlich zumute, als die Torte auf einem Tisch vor mir abgestellt wird. Als das Lied zu Ende ist, wird gejubelt, geklatscht und einander zugeprostet.
»Und jetzt auspusten und was wünschen!«, ruft Eleni aufgedreht, und ich stelle mich vor die Torte und schaffe es tatsächlich, im ersten Anlauf alle dreißig Kerzen auszupusten.
Das Licht wird wieder hochgefahren. Jemand räuspert sich. Es ist meine Mutter.
»Josephine. Heute vor dreißig Jahren hielten dein Vater und ich dich endlich in unseren Armen. Damals wie heute bist du eines von drei größten Glücken, die wir erleben dürfen«, sie zeigt auf meine beiden Geschwister Tom und Viola. »Und auch, wenn wir dich am liebsten immer unter unseren Fittichen behalten und nie aus den Augen lassen würden, so wissen dein Vater und ich doch, dass du aufbrechen musst, um dein Glück zu finden.«
Ich kann sehen, dass sie mit den Tränen kämpft, und auch in meinem Hals ballt sich ein Kloß zusammen.
»Und deshalb möchten dein Vater und ich dir heute ein Geschenk machen, das dir genau das ermöglicht, und zwar nicht erst in drei Jahren.«
Sie zieht einen Umschlag aus ihrer Jackentasche.
»Ich denke, wir alle hier wissen, was du dir beim Auspusten der Kerzen gewünscht hast.«
Sie reicht mir den Umschlag.
»Als du mit neun verkündet hast, dass du ein Jahr lang durch Europa reisen willst, und mit zehn immer noch von nichts anderem gesprochen hast, haben dein Vater und ich ein Sparkonto für dich angelegt. Und wir hatten das Gefühl, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt sein könnte, um es aufzulösen.«
Ich halte den Umschlag in der Hand und bekomme eine Gänsehaut. Es ist mucksmäuschenstill. Alle im Raum scheinen die Luft anzuhalten und auf meine Reaktion zu warten.
Langsam öffne ich den Umschlag. Es ist ein Scheck. Ausgestellt auf meinen Namen. Sechzehntausend Euro! Das ist mehr als der Restbetrag, den ich noch brauche, um meinen lang gehegten Plan in die Tat umzusetzen!
Danke Mann! Ich schulde Dir was!
schreibt Jalla und ich kann ihm nur recht geben.
Das kannst Du wohl laut sagen!!
tippe ich ins Telefon und schicke die Nachricht ab.
Eigentlich wollte ich auch heute wieder auf das schöne Sommerwetter pfeifen, mir fettiges Take-away holen, auf dem Sofa versacken und endlichden neuen Wes Andersongucken. Stattdessen gehe ich für Jalla mit dessen neuer Flamme zu einem Reisevortrag, der mich nullstens interessiert.
Ich stecke das Handy weg und halte vor dem Eingangsbereich Ausschau nach Felicitas. Ich bin echt viel zu gutmütig! Aber Jalla ist nun mal mein ältester Kumpel. Außerdem alleinerziehender Vater von Zwillingen, die ausgerechnet heute Magen-Darm bekommen haben. Mit Herzzerreißen in der Stimme meinte Jalla, dass Felicitas und er sich richtig gut verstünden, dass die Mädchen sie lieben würden, dass sie Stiefmutter-Potenzial hätte und dass sie am Boden zerstört wäre, wenn sie alleine zu dem Vortrag gehen müsste. Keine ihrer Freundinnen hatte so kurzfristig Zeit. Und da kam ich ins Spiel. Sehr ungern natürlich, aber was tut man nicht alles für den besten Freund.
Wahrscheinlich hatte keine ihrer Freundinnen Bock, sich in ’nem Outdoor-Kaufhaus von zwei Vanlife-Hipstern erzählen zu lassen, wie genial es ist, in ’nem ollen Bus durch die Gegend zu juckeln. Kann ich gut verstehen. Einen klischeehafteren Urlaub kann ich mir nicht vorstellen. Ganz bestimmt nix für mich!
Ich kenne Felicitas noch nicht. Laut Jalla ist der heutige Abend die perfekte Gelegenheit, das zu ändern.
Jalla beschrieb sie als blondlockig, rotwangig und enthusiastisch aussehend. Enthusiastisch aussehend? Was soll das überhaupt bedeuten?
Seit Jallas Ex vor drei Jahren mit Ben, dem Trüffel-Influencer, nach Dubai durchgebrannt ist, bin ich für Jalla auf der Hut und äußerst kritisch, wenn sich eine neue Frau den Weg in sein Leben bahnt. Ich will ihn beschützen. Genauso wie er mich früher immer beschützt hat, wenn die aus der Neunten mich vermöbeln wollten.
»Du musst Paul sein! Wie schön, dich endlich kennenzulernen!« Vor mir steht eine blondgelockte, rotwangige Frau. Sie ergreift meine Hand und schüttelt sie fest und heftig. »Ich bin die Feli! Dann wollen wir mal!«
Die Feli? Ich hasse diese Unart, jeden Namen abzukürzen, sobald er mehr als zwei Silben hat. Entweder man hat einen richtigen Spitznamen oder man heißt, wie man eben heißt. Und wie ich es hasse, wenn die Leute sich auch noch mit der oder die vorstellen. Hinten den Namen verstümmeln und dafür vorne noch einen Artikel ranklatschen. Hallo, ich bin der Michi, die Biggi, die Tini. Das soll dann wohl zeigen, wie dufte und locker man ist. Das sind dann immer so Leute, die es auch lustig finden, ihrem Sauerteig einen Namen zu geben. Hallo, ich bin der Tobi und das ist mein Sauerteig, der Günni.
»Hi«, sage ich und merke, wie einfallslos und einsilbig das klingt. Aber die Feli scheint das gar nicht zu stören. Sie wendet sich dem Typen am Einlass zu und reicht ihm die Karten.
»Viel Spaß euch beiden. Einmal ganz nach oben. Da gibt’s auch Getränke«, sagt er und deutet zum Treppenhaus.
»Danke! Ich bin schon so gespannt, was Lilly und Max über ihr Vanlife erzählen! Eigentlich muss es ja Landylife heißen, weil sie mit ’nem Land Rover unterwegs sind. Jedenfalls erhoffe ich mir viele spannende Infos und Tipps, die ich dann auch selbst ausprobieren kann, wenn mein Freund und ich mit seinen Zwillingen unterwegs sind!«
Will die Feli dem Typen am Einlass etwa ihre ganze Lebensgeschichte erzählen?
Wenigstens weiß ich jetzt, was Jalla mit enthusiastisch aussehend gemeint hat. Sie wirkt nämlich so, als würde sie die Welt allein mit der Kraft ihres Lächelns erobern wollen. Als würde sie jede Idee, die sie sich in den Kopf setzt, auf jeden Fall und schon sehr bald in die Tat umsetzen. Für Jalla und die Zwillinge muss das wahnsinnig anziehend sein.
Für mich ist das einfach nur wahnsinnig anstrengend.
Während sie emsig die Treppenstufen der vier Stockwerke erklimmt, redet sie ohne Unterlass. Ich bin schon im ersten Stock außer Atem und habe Schwierigkeiten, ihr Tempo zu halten.
Als wir uns endlich in eine der Stuhlreihen setzen, weiß ich bereits, wo sie aufgewachsen, zur Schule, zur Uni gegangen ist, dass sie Psychologie studiert hat, schon mal in Papua-Neuguinea war und was ihre besten Freundinnen so treiben. Ich bin kaum zu Wort gekommen und trotzdem total erschöpft. Mehr als »Hi« habe ich bisher nicht gesagt. Kann gut sein, dass ich gleich einschlafe. Hoffentlich schnarche ich nicht. Ich hatte ein paar echt harte Tage bei der Arbeit.
Obwohl … Hatte ich die wirklich?
»Ich geh uns noch schnell was zu trinken holen«, informiert mich die Feli und springt gleich wieder auf.
Ich schaue ihr hinterher und erinnere mich an die letzten Tage im Büro. Hart war eigentlich nur, wie sehr mein Job mich anödete. So sehr, dass ich vor lauter Langeweile nachts nicht schlafen konnte. Wie man so im Internet liest, ist das wohl ’ne klassische Bore-out-Situation. Chronische Unterforderung. Fast noch schlimmer als ein Burn-out und die beste Voraussetzung für eine handfeste Depression.
Vielleicht sollte ich mir doch mal einen Therapeuten suchen. Heutzutage gilt man ja fast schon als uncool, wenn man noch nicht auf der Couch gelegen hat.
Was ist nur aus mir geworden? Wo sind meine Ideale hin? Das sind die Fragen, die ich mir in ganz schlimmen Momenten theatralisch vor dem Spiegel stelle. Natürlich habe ich darauf auch immer gleich die Antwort parat: Verschüttet unter einem Haufen Geld und der risikolosen, angenehmen Sicherheit eines hippen Berliner Großstadtlebens mit luxussanierter Altbauwohnung und immer genug Craft-Bier im Kühlschrank.
Ich habe sogar einen kleinen Bauchansatz bekommen, wie ich vor ein paar Tagen mit Verwunderung feststellte. Mein Lieblingshemd spannte plötzlich. Erst dachte ich, ich hätte es zu heiß gewaschen.
Die Feli kommt mit zwei Bio-Limos zurück und reicht mir eine der Flaschen, die ich geistesabwesend entgegennehme.
So habe ich mir mein Leben mit Anfang dreißig nicht vorgestellt.
Jalla meint, ich solle schnell ein paar Kinder zeugen, dann hätte ich keine Zeit mehr, meine Quarter-Life-Crisis zu zelebrieren, und wäre froh über den vielen Zaster, den ich als Projektmanager in dem poshen Architekturbüro verdiene.
Aber das wäre bei der Überbevölkerung, der Klimakrise und all den weltweiten Katastrophen für mich so gar keine Lösung.
Jalla meint auch, dass mich das Kinderkriegen davor bewahren würde, ein zynischer, unzufriedener Gnatzkopp zu werden, in den ich mich langsam, aber sicher verwandelte.
Ich bin immer noch beleidigt, dass er mich so sieht. Wenn man den Tatsachen ins Auge blickt, ist man doch kein unzufriedener Zyniker. Ich bin einfach nur Realist.
»Schau mal, das schöne Bild auf der Leinwand! Mit dem Landy am Strand im Sonnenuntergang. Und kein Mensch weit und breit. Hach! Ist das nicht herrlich?«, schwärmt die Feli. »Oh! Jetzt geht es gleich los! Da kommen sie«, flüstert sie dann noch weiter das Offensichtliche in mein Ohr, während das Saallicht gedimmt wird.
Ich hoffe, dass es das mit der Kommentiererei der Geschehnisse jetzt erstmal gewesen ist.
»Eine Freundin von mir war schon mal bei einem Vortrag der beiden. Ich bin ja so gespannt!«
Ich rolle innerlich mit den Augen. Mann Jalla!
Ein Paar um die vierzig kommt auf die Bühne und setzt sich an den kleinen Tisch, schräg vor der Leinwand. Sie in einem bodenlangen Blumenkleid mit langen braunen Haaren. Er mit kurz gestutztem Vollbart in sandfarbenen Army-Shorts und blauem Outdoor-Hemd.
Die Frau richtet das Mikro an ihrem Headset, lächelt in die Menge und räuspert sich.
»Hallo, wir sind Lilly und Max und freuen uns sehr, heute hier sein zu dürfen. Schön, dass ihr Lust habt, mit uns auf Reisen zu gehen. Zur Einstimmung auf unseren gemeinsamen Abend zeigen wir euch jetzt erstmal einen kleinen Clip.«
Das Licht wird noch weiter gedimmt, ein mit launiger Musik unterlegtes Video beginnt …
Und obwohl ich es eigentlich gar nicht will, bin ich schon nach den ersten Sekunden voll drin in den Reiseabenteuern von Lilly, Max und ihrem Hund Schmiddie. Mir wird ein traumhafter Meerblick, ein imposantes Bergpanorama, ein Wahnsinns-Wasserfall und eine unglaubliche Dünenlandschaft nach der anderen um die Ohren gehauen. Man sieht die Drei beim Wandern auf einem Küstenwanderweg, beim Schwimmen in einer atemberaubenden Bucht, beim Kaffeekochen auf einem Berggipfel und wie sie an einem Strandfeuer einen selbst gefangenen Fisch grillen. Die Bilder ziehen mich total in ihren Bann. Bei jedem Szenenwechsel richte ich mich ein bisschen mehr in meinem Stuhl auf, bis ich am Ende des Films kerzengerade auf der Kante sitze. Meine Müdigkeit – verflogen! Die klebrige Lethargie, die sich auch heute Abend drückend auf meine Schultern gehockt hat – weg! Es ist, als hätte dieser nur drei Minuten lange Film von jetzt auf gleich ein sehr helles Licht in meinem Inneren angeknipst. Neudeutsch würde man sagen: »Ich bin on fire!«, was sich auch tatsächlich so anfühlt. Heiß ist mir. Ich fürchte, ich habe vor Begeisterung ganz rote Wangen.
Nach der Videosequenz gibt es vom Publikum beschwingten Szenenapplaus und ich stimme mit ein.
Lilly und Max lächeln überrascht, schauen sich liebevoll an und nehmen mich und die anderen dann weiter mit auf ihre Reisen.
Neben spektakulären Bildern und Tipps, wie man den besten Spot zum Übernachten findet, erfahre ich Wissenswertes über die nötigen Voraussetzungen, die man für ihre Art des Unterwegs-Seins, nämlich »ohne viel Gedöns«, mitbringen sollte. Ich hänge an den Lippen der beiden, sauge jede Information begierig auf.
»Anstelle einer Toilette, haben wir nur einen Klappspaten an Bord. Mal waschen wir uns mit eiskaltem Gletscherwasser, mal im Meer oder in einem See. Wir verzichten bewusst auf viele der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die uns von der Gesellschaft anerzogen werden, denn mit leichtem Gepäck zu reisen, macht unglaublich frei.« Während Lilly spricht, zeigt sie Bilder von ihrem spartanischen Equipment. Sie erklärt, wie sie ihr Auto ihren Bedürfnissen entsprechend umgebaut haben, und übergibt das Wort an Max.
»Durch die hohe Geländegängigkeit unseres Landys können wir auch Plätze erreichen, die für andere Fahrzeuge unerreichbar bleiben, und dort schlagen wir dann unser Lager für die Nacht auf. Wir lieben es, auf diese Art und Weise fremde Länder und ihre Natur zu erkunden, und wir lieben es, einsame Orte zu entdecken.«
Auf der Leinwand sieht man dazu Bilder, auf denen der Land Rover mal an einem Bachlauf inmitten einer imposanten Berglandschaft in den Pyrenäen, mal in einer verlassenen Bucht auf Korsika, mal an einer steil ins Meer abfallenden Klippe in Norwegen steht. Immer ganz einsam.
»Dann sitzen wir da, mit einem Kaffee oder einem leckeren Rotwein, schauen in die Natur und sind gleichzeitig aufgeregt, entspannt und total dankbar, dass wir so etwas erleben dürfen.«
Während die beiden erzählen, pocht mein Herz immer heftiger und ich spüre, dass sich in meinem Leben dringend etwas ändern muss. Dass sich etwas ändern wird!
Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr verwandele ich mich in eine Version von mir, die ich früher einmal war. Ein Paul, der enthusiastisch ist. Einer, der die Feli nicht wegen ihrer Begeisterungsfähigkeit verspottet; weil er gerade selbst viel zu sehr damit beschäftigt ist, begeistert zu sein.
Der Abend. Der Vortrag. Die Bilder. All das küsst mich gerade so was von wach, dass ich gar nicht weiß, wie mir geschieht. Es ist, als wäre ich mit einem heftigen Tritt in den Hintern aus meinem öden Alltagstrott herauskatapultiert worden. Als hätte ein gewaltiger Windstoß plötzlich den zentimeterdicken Staub von den Regalen gepustet, in denen ich meine Euphorie, meine Freude und meinen Optimismus eingelagert hatte.
Selbst als Felicitas sagt: »Wie schade, dass der Vortrag schon vorbei ist, ich hätte den beiden noch stundenlang zuhören können«, ist für eine sarkastische Fußnote dazu kein Platz in meinem Kopf. Denn ich kann nur noch eines denken. Und zwar: Das will ich auch! Jetzt! Sofort! Ich will auch entdecken, mich begeistern, dankbar sein. Losgelöst von allem und nur auf mich allein gestellt.
»Komm rein, Alter. Schön, dich zu sehen.« Jalla öffnet mir mit einem breiten Grinsen die Tür zu seinem Einfamilienhaus in Schönau. Hinter ihm die winkende Felicitas, die sich in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, als unglaublich netter und lustiger Mensch entpuppt hat. Und die ganz gut hierher passt. Neben Jalla, Marta und Thea in dieses Haus.
»Onkel Pauli ist da! Onkel Pauli ist da!«
Fröhlich springen Marta und ihre Zwillingsschwester Thea im Hausflur um mich herum. Rein äußerlich sind sie, besonders heute, nicht voneinander zu unterscheiden. Rote Sweatshirts, bunt geringelte Leggings, hellblaue Socken. Alles identisch.
Als sie mit dem Gespringe fertig sind, stellen sie sich vor mir in Pose und singen: »Heute ist Verwechseltag, wer von uns ist wer?« Und dann lachen sie sich kaputt, weil ich natürlich falschliege.
Jedes Mal, wenn ich hier bin, wundert es mich, wie unterschiedlich Jallas und mein Leben seit dem Abi verlaufen sind. Ich würde nicht mit ihm tauschen wollen, aber diese heimelige Gemütlichkeit, die sein Haus und sein Alltag auf mich ausstrahlen, möchte ich auf keinen Fall missen.
»Hast du uns was mitgebracht, Onkel Pauli?«, fragt Marta und hüpft dabei, genau wie ihre Schwester Thea, wieder vor mir auf und ab.
»Lasst den armen Mann doch erstmal reinkommen, ihr zwei kleinen Spinnen.« Jalla greift sich mit jeder Hand eine der beiden und klemmt sie sich in einer schwungvollen Geste horizontal unter die Arme.
»Wir sind keine Spinnen!«, kreischen die beiden voller Empörung.
»Schön, dich zu sehen«, sagt Felicitas und umarmt mich kurz. »Bist du immer noch von der Reiselust besessen?«
»Absolut!« Ich grinse, weil ich es nicht erwarten kann, den Vieren meine neueste Errungenschaft vorzuführen.
»Und? Lust auf Pommes Schranke?«, fragt Jalla in die Runde, als Felicitas und ich in die Küche kommen.
Marta und Thea jubeln »Jaaaa!« und strampeln dabei mit den Beinen.
Jalla setzt die beiden ab.
»Aber nicht, dass du uns wieder alles wegisst«, sagt Thea und guckt mich ernst an.
»Jetzt seid mal nicht zu streng zu eurem Onkel, der traut sich ja sonst gar nicht mehr zum Essen zu kommen«, lacht Felicitas und gibt dem riesigen Jalla auf Zehenspitzen ein Küsschen auf die Wange.
»Was ist überhaupt mit unserem Mitgebringsel? Hast du nun eins für uns oder nicht?«, fragt Marta wieder und zupft an meinem Pullover.
»Na klar, hab ich ein Mitgebringsel für euch. Aber dafür muss ich nochmal zum Auto«, sage ich und warte gespannt auf Jallas und Felicitas’ Reaktion.
»Du hast dir ’n Auto gekauft? Wann das denn, Alter? Du willst das wirklich machen, oder?« Jalla haut mir auf die Schulter und Felicitas zeigt mir freudestrahlend zwei Daumen hoch. »Lass sofort sehen! Die Pommes können noch ’n Moment. Dann werden die schön knusprig.«
»Was willst du machen, Onkel Pauli?«, fragt Thea, während sich alle wieder in Richtung Haustür bewegen.
»Ich will mit dem Auto durch ganz Europa fahren.«
»Wie lange dauert das?« Marta guckt mich traurig aus ihren großen Augen an und hält die Türklinke in der Hand. Sie macht nicht den Anschein, uns rauslassen zu wollen.
»Ich weiß noch nicht. Ein Jahr vielleicht?«
»Dann bist du ja 365 Tage weg!«, sagt Thea entsetzt und gleichzeitig ganz stolz, weil sie weiß, wie viele Tage ein Jahr hat.
»Kann sein.«
Marta lässt die Klinke los und stellt sich mit verschränkten Armen vor die Tür.
»Nein«, sagt sie schlicht und guckt mich mit ihren dunklen Kulleraugen streng an.
Jalla lächelt. »Da hat wohl jemand was dagegen, dass du auf große Tour gehst.«
Aber auf den Kopf gefallen bin ich nicht. Ich weiß, womit ich Marta für meine Reise begeistern kann.
»Und was, wenn ich euch ganz viele Mitgebringsel von der Reise mitbringe?«
»Hmm.« Sie löst ihre Arme aus der Verschränkung und überlegt.
»Und Postkarten schreiben!«, mischt sich Thea ein.
»Na gut.«
»Okay, Onkel Pauli. Dann darfste fahren.« Marta grinst und öffnet die Tür.
Vor Jallas Haus steht der knallrote 84er Toyota Land Cruiser, den ich heute von einem netten alten Herrn gekauft habe. Am liebsten würde ich sofort einsteigen und gleich losfahren. Aber ein paar Dinge muss ich noch regeln, bevor ich aufbrechen kann.
»Sauber! Das Teil gefällt mir!«
Ich freue mich, dass Jalla genauso begeistert ist wie ich.
Und Felicitas sagt: »Der ist ja fast noch schöner als der Landy aus dem Vortrag. Wie cool, dass du den so schnell gefunden hast.«
»Ich habe ja auch Tag und Nacht gesucht.«
Wir gehen um das Auto herum und ich schließe die Tür auf.
»Hinten nehm ich die Sitzbänke raus und bau mir ein Bett, einen Mini-Küchenblock und ’nen kleinen Kühlschrank rein. Unterm Bett bleibt Platz für ein paar Kisten für Lebensmittel und so Zeug. Und oben auf den Dachgepäckträger montier ich zwei Boxen für die Klamotten und ’ne kleine Solaranlage für den Kühlschrank und zum Laden von Handy und Laptop und so.«
Jalla schaut durch alle Türen ins Auto und nickt dabei zu meinen Erläuterungen.
»Und was sagste?«
»Ich freu mich, dich mal wieder so richtig glücklich zu sehen! Und ich sag, das wird spitze!«, strahlt Jalla und haut auf den Kotflügel. »Mädels, was meint ihr?«
»Jaaa, spitze! Und jetzt das Mitgebringsel!«
Nach einer riesigen Portion Pommes und dem Reise-Segen der Mädels fahre ich noch schnell beim Baumarkt vorbei. Schon bei der Schlüsselübergabe des Wagens war mir klar, wie der Ausbau aussehen müsste. Auf dem Parkplatz vermesse ich den Innenraum. Seit dem Vortrag und meiner Entscheidung, mein Leben auf links zu drehen, hat sich schon so viel verändert. Mir geht alles leichter von der Hand, ich stehe morgens wieder gerne auf und gestern habe ich mich sogar dabei ertappt, bei Watermelon Sugar mitzusummen. Eigentlich stehe ich mehr auf Turbostaat und Kraftklub als auf Harry Styles.
Ich schnappe mir meinen Notizzettel, zücke einen Euro und schließe mein Auto ab. Pfeifend laufe ich über den Parkplatz, ziehe mir einen Lasten-Einkaufswagen, grüße beim Betreten des Baumarkts eine andere Kundin, werde von ihr nett angelächelt und verwickele den Typen im Zuschnitt-Center in ein Gespräch über mein baldiges Aussteigertum. Wir sind uns einig: »Geiler Plan!«, und er gibt mir fünfzehn Prozent Rabatt.
Als er die große Säge anschmeißt und das erste Stück für meinen Küchenblock zurechtsägt, versetzt mich der Geruch von frischen Holzspänen zurück in meine Zeit als Tischlerlehrling. Ich sehe mich an der Werkbank stehen und erinnere mich daran, wie happy es mich gemacht hat, ein Möbelstück anzufertigen. Wie befriedigend das Gefühl war, mit der Hand über die seidig-glatt geschliffene Fläche zu streichen und mich über die Maserung zu freuen.
Ich bin in Frankreich!
Frankreich, Frankreich, Frankreich!
Aufregend, aufregend, aufregend! Obwohl ich schon seit Stunden unterwegs bin, habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, dass mein Traum nun endlich meine neue Wirklichkeit ist. Immer wieder ertappe ich mich dabei, zu denken, dass dieser Trip nur eine Testfahrt ist. Zeitlich auf eine, maximal zwei Wochen Urlaub beschränkt, um meinen Wagen und mein Equipment auszuprobieren, wie so oft in den letzten Jahren.
Seit der französischen Grenze habe ich schon drei Croissants gegessen, zwei Kassiererinnen einen Bonne journée gewünscht und natürlich höre ich nur noch Chansons. Für jedes Land habe ich schon vor Ewigkeiten eine eigene Playlist zusammengestellt. Hier jagt nun ein französischer Klassiker den nächsten und als Charles Trenet gerade La mer singt, steuere ich meinen Schlafplatz für heute Nacht in der Nähe von Fécamp in der Normandie an. Seit ich in Ludwigsburg losgefahren bin, habe ich nur kurze Pausen gemacht. Meine erste Übernachtung sollte unbedingt am Meer sein.
Endlich fahre ich über eine letzte Kuppe und endlich sehe ich es. Das Meer. Grün leuchtend, wogend, schäumend, wild und doch auch so beruhigend. Wie bei jedem Wiedersehen zieht es mich sofort in seinen Bann, und ich frage mich, wie ich es nur so lange ohne aushalten konnte. Mein letzter Urlaub ist schon fast ein Jahr her.
Die Sonne ist bereits untergegangen, aber ihr Licht färbt die Wolkenschleier am Himmel noch rosa, als ich den Bulli am Ende des menschenleeren Strandparkplatzes ausrollen lasse. Vor der kniehohen Wegbegrenzung aus weiß getünchten Rundhölzern wächst Dünengras, das sich leicht im Wind hin- und herbiegt. Einige Möwen fliegen ein paar Meter vor meiner Windschutzscheibe vorbei. Als das sonore Tuckern des Motors verstummt, kann ich sie auch hören. Genau wie das gleichmäßige Rauschen der Wellen. Beides klingt wie eine verheißungsvolle Begrüßung.
Dieses erste Ankommen beruhigt mich, lässt ein bisschen Luft aus der über die letzten Wochen immer weiter aufgeblasenen Euphorie. Zum ersten Mal nach ewig langer Zeit gibt es für mich nichts zu tun.
Ich atme ganz tief ein und ganz tief aus, lehne mich in meinem Sitz zurück und schließe die Augen. Fast kommen mir nochmal die Tränen, weil ich sofort wieder meine Familie und Dita und Eleni vor mir sehe. Wie wir uns verabschieden, wie wir uns in den Armen liegen, wie Dita sagt: »Bleib doch lieber hier, ja?«, und ich als Antwort nur den Kopf schüttele und heiser flüstere: »Ich werde euch vermissen.«, und wie sie alle im Rückspiegel immer kleiner werden, während ich aufs Gaspedal drücke und versuche, nicht daran zu zweifeln, dass es wirklich eine gute Idee ist, so schnell aufzubrechen. Mein Umfeld, meine Arbeit, meine liebsten Freundinnen, alles Altbekannte hinter mir lassen? Ich bin doch eigentlich jemand, der seinen Alltag gern geregelt hat.