Die Litanei der Gottesgaben - Halldór Laxness - E-Book

Die Litanei der Gottesgaben E-Book

Halldór Laxness

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Beschreibung

Der Hering ist eine Gabe Gottes. und Gottes Wege sind unerforschlich. In manchen Jahren kommt der Hering in riesigen Schwärmen vor die Küsten Islands; dann kann man innerhalb kürzester Zeit reich werden. doch eines Tages bleibt der Hering plötzlich aus. Der Heringsexporteur Bersi Hjalmarsson lässt sich von dieser Unzuverlässigkeit der göttlichen Vorsehung nicht beeindrucken. Er lebt auf großem Fuß und verspekuliert das Geld seiner Landsleute.

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Halldór Laxness Die Litanei von den Gottesgaben

Roman

Aus dem Isländischen von Bruno Kress

Inhaltsverzeichnis
Die Litanei von den Gottesgaben
1. Ein Frühlingsmorgen in Kopenhagen
2. Derselbe Frühlingsmorgen; die Schweden
3. Ein Frühlingstag in Kopenhagen
4. Ein Frühlingsabend in Kopenhagen
5. Ein Spaziergang in den Morgen
6. In fremde Schicksale verstrickt
7. Ein lehrreiches Buch
8. Mehr aus einem lehrreichen Buch
9. Die Klasseneinteilung der Fische
10. Ein Wiedersehen in Reykjavik
11. Ein Ministeressen bei Islandsbersi
12. Dem Erzähler werden Angebote gemacht
13. Ein Legehennentext
14. Die Zeitung Nordexpreß
15. D.
16. Ein starker Mann in Djupvik
17. Die Engel
18. Der Himmelspförtner Petrus
19. Sensationelle Nachrichten aus Reykjavik
20. Vormittage im Hotel Djupvik
21. Zwei Briefe und eine Entenfarm
22. Eine Biergeschichte
23. Eine revolutionäre Situation
24. Ein Abend mit Pelzbauern
25. Ein neuer Staat, Aufstieg und Fall
26. Engelskratzer
27. Das Gute Kino
28. Die Entenfarm
29. Das Ende der Heringsgeschichte. Zwei Verse
30. Ein Haus in England
Nachwort

1. Ein Frühlingsmorgen in Kopenhagen

Im Frühling 1920, etwa Mitte Mai, ungefähr zur gleichen Zeit, als die Dänen vorhatten, ihren König abzusetzen, da hatte ich etwas ganz anderes vor; am Morgen war ich in Kopenhagen angekommen, von Norden aus Jämtland und Tröndelag, wohin ich eine Reise unternommen hatte, um mich im Vogelhandel umzutun; denn obwohl ich wie viele meiner Landsleute Dichter war, so erkannte ich doch früh, daß es gut wäre, mit Vögeln zu handeln. Nun stand ich auf dem Rathausplatz und wartete auf die Straßenbahn, um zu dem alten Ehepaar nach Vanlöse zu fahren; unablässig hatte ich davon geträumt, dort für vier Kronen im Monat eine Bleibe zu kriegen; einen anderen Zufluchtsort hatte ich sonst nicht. Wie ich da so auf dem Bürgersteig stand, kam ein wahrer Riese auf mich zu, in einer Aufmachung, die damals unter besseren Leuten üblich war und aus einem steifen Hut, einem Cutaway und einem Ebenholzstock mit einem Knauf aus Elfenbein bestand. Damals trugen alle guten Isländer einen Cutaway, doch heutzutage dient dieses Kleidungsstück vorwiegend Staatsoberhäuptern bei vormittäglichen Zeremonien, wozu auch Blasmusik gehört. Jedweder Mann, der sich heute auf dem Rathausplatz in Kopenhagen in einem Cutaway sehen ließe, ohne von einer bewaffneten, Trompete schmetternden Kompanie Soldaten begleitet zu sein, würde ohne weiteres für einen linken Sektierer, Rauschgiftsüchtigen oder Hippie gehalten werden.

Dieser Mann trug zu dem Cutaway ein braunes Khakihemd, was sonst nicht üblich war. Er dachte offensichtlich über etwas Besonderes nach, sah vor sich hin und preßte den Ebenholzstock mit dem Ellenbogen an den Körper, die Hand hatte er dabei in der Hosentasche. Mit der anderen Hand rauchte er eine Zigarette. Er kniff die Augen zusammen, wie es Spieler an sich haben, und obwohl er an etwas anderes dachte als das, was ihn umgab, machte er keineswegs einen sorgenvollen Eindruck. Plötzlich erkannte ich den Mann wieder, wartete nicht mehr auf die Straßenbahn nach Vanlöse, trat ihm in den Weg und sagte »guten Tag« auf isländisch.

»Nein so was, guten Tag«, sagte der Mann und hörte auf zu denken. »Wie geht’s, wie steht’s? Zigarette gefällig?«

Für einen Burschen zwischen vierzehn und zwanzig war es wahrhaftig keine geringe Ehre, wenn ihm ein großer Herr in einem Cutaway auf dem Rathausplatz in Kopenhagen eine Zigarette anbot. Als er mir die Zigarette gegeben hatte, fragte er: »Läuft an der Universität alles nach Wunsch? Ist es nicht eine recht gute Stätte?«

Da blieb mir wirklich das Wort im Halse stecken.

»Tja, ich weiß nicht einmal, was die Universität ist«, sagte er. »Etwa das Ding mit den zwei Spitztürmen?«

»Nein, das müßte eher der Dom von Roskilde sein.«

»Tja, da hast du recht. Eine verdammt schöne Kirche. Doch ehe ich es vergesse, was treibst du denn so?«

»Ich befasse mich ein wenig mit Vogelhandel«, erwiderte ich.

»Nein so was, sei mir willkommen«, sagte der Mann im Cutaway und reichte mir die Hand. »Da sind wir Kollegen. Ich befasse mich nämlich mit Heringshandel. Ich hoffe, du machst auch gute Geschäfte.«

»Diesen Winter war mit Vögeln nicht viel los, am ehesten noch mit Kanarienvögeln. Wenn keine Vögel auf dem Markt sind, versuche ich ein bißchen für die Zeitungen hier zu schreiben.«

»Tja, du bist tüchtig, muß ich sagen. Kannst Dänisch und alles. Femogtyve Öre. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich heiße Bersi Hjalmarsson. Hier ist meine Visitenkarte. Das Unternehmen heißt Nordsild, die Telegrammadresse ist Icelandbear, der Ort Djupvik. Besuch mich einmal, wenn du Zeit hast.«

Ich antwortete: »Zum Glück sind mir die Dinge noch nicht so weit entrückt, daß ich Islandsbersi nicht kenne. Wenn ich so berühmt wäre wie du, dann wäre es keine Kunst zu leben. Du bist bestimmt der berühmteste aller Isländer, die jetzt mit Hering zu tun haben. Außerdem erinnere ich mich an dich privat. Als ich ein kleiner Junge war, da hattest du einen Garten; du verkauftest meiner Pflegemutter einen Sack Kohlrüben.«

Er umfaßte meine Schultern mit der Hand, mit der er die Zigarette hielt, drückte mich an sich und zog mich mit. »Ja so was, sei mir herzlich willkommen. Ich bin nämlich ein Kohlrübenmann, der mit Hering handelt. Ganz wie du, du handelst mit Vögeln und bist in Wirklichkeit aber ein Dichter. Vielleicht ein großer Dichter. Ein verdammt guter Junge. Hör zu, wenn es mal keine Kanarienvögel gibt, dann solltest du dich daranmachen, meine Biographie zu schreiben. So mußt du anfangen: Islandsbersi stammte väterlicherseits von berühmten Kohlrüben ab. Als ich damals in Dänemark Gärtnergehilfe war und auf Fünen Rüben pflanzte, da bekam man fünfundzwanzig Kronen im Monat, und wenn die Wäsche bezahlt war, blieben einundzwanzig übrig; das reichte für einmal Kopenhagen hin und zurück, für ein Beefsteak mit Spiegelei, eine Flasche Schnaps und eine dreiundsiebzig Jahre alte Hure in der Laksegade. Dann gibst du das Buch in Island und Dänemark heraus, auf jeden Fall aber in Schweden, wo das Geld wächst. Du kassierst selber alles, was hereinkommt, und bekommst bei mir die Lebensgeschichte mit Rabatt und wirst Millionär.«

Wir setzten uns vor ein Café unweit des Tivoli: die Fassade eines einfachen Hauses, wie kleine Kinder sie zeichnen. Je ein Fenster zu beiden Seiten der Tür, zwei Tische auf dem Bürgersteig; nichts Lebendes; Gardinen innen vor den Fenstern, von der Sonne vergilbt. Unmöglich, hineinzusehen. Befand sich überhaupt etwas in dem Haus, oder war die Fassade nur Kulisse? Mitten im Lärm der Großstadt war es hier still wie auf einer Bergeshöhe. Man plazierte sich selbst mitten in diese billige Szenerie, setzte sich auf einen Stuhl an einen Tisch mit Decke und begann Theater zu spielen. Ein gleichgültiger Kellner brachte schließlich zwei Flaschen lauwarmes Bier, wie die Maurer es trinken. »Warte, Freund, wir wollen wetten«, sagte mein Gastgeber zu dem Mann. Doch der Mann hatte an einem solchen Handel kein Interesse, fand ihn auch durchaus nicht spaßig.

»Nimm dir ein Bier auf meine Kosten«, sagte mein Gastgeber zu dem Mann. Doch der Kellner ging wieder zur Tür hinein, hinter der sich vielleicht nichts befand, und machte sie hinter sich zu. Wir saßen da draußen in der Sonne, seltsam allein. Von hier gesehen, hatten die Menschen, die die Straße entlanggingen, etwas Unwirkliches.

»Er denkt, wir sind Esel«, sagte mein Gastgeber. »Das denken die Dänen immer von den Isländern und die Isländer von den Dänen. Also, wer letzter wird, die Flasche in einem Zug leer zu machen, bezahlt eine Krone!«

Wir küßten die Bierflaschen inmitten der Einöde und tranken um die Wette. Ich blieb weit hinter ihm zurück und verschluckte mich obendrein auch noch, und eine Krone besaß ich nicht.

»Du mußt eine Krone bezahlen«, sagte mein Gastgeber. »Wer verliert, muß eine Krone bezahlen.«

Ich suchte in meinen Taschen und fand nur dreiundachtzig Öre. Islandsbersi amüsierte sich königlich. Dann zog er eine Brieftasche mit seinem Monogramm in Gold hervor und reichte sie mir.

»Nimm, soviel du brauchst.«

Ich, der Gast: »Dürfte ich dich um die siebzehn Öre anpumpen, die mir an der Wette fehlen?«

»Du bist ein feiner Junge«, sagte er und legte die offene Brieftasche vor mich hin; sie war vollgestopft mit jenen gelbbraunen Hundertern, die damals in Dänemark in Umlauf waren. »Nimm, sagen wir, tausend.«

»Erst wenn ich mit der Biographie fertig bin«, sagte der Biograph.

»Du gefällst mir, komm jetzt einfach mit mir mit. Ich erwarte ein paar Schweden.«

2. Derselbe Frühlingsmorgen; die Schweden

Wir verließen jenes sonderbare Café, und er hatte wie zuvor seinen Spazierstock zwischen Ellenbogen und Körper geklemmt; ich bin diesem Mann oft begegnet, doch nie habe ich gesehen, daß er seinen Stock auf das Pflaster stieß; er bildete stets mit seiner Person einen Winkel von dreißig Grad, bezogen auf die Wirbelsäule.

Wir hatten nicht weit zu gehen. Er wohnte im Palads-Hotel. Ich hatte diesen Ort bisher nur von ferne betrachtet, in meiner Jugend trieben dort Isländer kaum ihr Unwesen, es sei denn der eine oder andere Politiker, der nicht selber die Rechnung zu bezahlen brauchte. »Wohnst du hier?« fragte ich, als ich einen Blick in die Hotelhalle geworfen hatte: alles in weißem Marmor, blankem Messing und rotem Plüsch.

»Erlaube mir, dich dem Portier vorzustellen«, sagte er. »Wie heißt du doch gleich? Sag ihm, daß du an meiner Biographie arbeitest.«

Er zog eine Banknote von einigem Wert aus der Hosentasche und gab sie dem Portier. Auch der Treppenaufgang ganz in Marmor. Und es rutschte mir heraus: »Deine Kohlrüben haben sich gelohnt.«

»Das ist das Haus der Witwen und Waisen«, sagte er. »Ich habe alles aus diesen Leuten herausgesogen.«

Er bewohnte eine Suite im ersten Stock. Die Schritte erstarben in den Teppichen. Die Sessel in den Zimmern waren für Leute gedacht, die über ein vierfaches Gesäß zum Sitzen verfügten. Tische und Schränke, Truhen und Kommoden glänzten wie wohlgenährtes Großvieh in dem Sonnenlicht, das sich zwischen faltenreichen roten Vorhängen hereinzwängte. Er zeigte auf einen niedrigen Tisch vor dem Sofa und sagte: »Auf diesen Tisch sollen heute vier Millionen schwedische Kronen kommen.« Hinter dem Salon lag sein Schlafzimmer; eine niedrige Tür neben dem Bad führte in die Kammer des Sekretärs.

»Es macht sich oft genug bezahlt, den Sekretär des Nachts gleich bei der Hand zu haben. Doch im Moment ist er nicht da. Ich habe ihn vor ein paar Tagen nach Holland geschickt, um Pontons aus Beton zu kaufen. Du kannst da übernachten, wenn du willst.«

»Das ist ganz unnötig«, sagte ich.

»Hast du irgendwo eine Bleibe?« fragte er.

»Ja, ja, mein Koffer ist auf dem Bahnhof. Ich kenne auch ein altes Ehepaar in Vanlöse, bei dem ich billig unterkommen kann.«

»Bleib gleich hier«, sagte er. »Wenn du meine Biographie schreiben willst, mußt du sehen, wie ich lebe.«

Er warf einen Blick aus dem Fenster und sagte: »Nun ja, sie kommen, geh du rasch in deine Kammer und laß die Tür halb offen, dann hörst du alles, was gesprochen wird, und kannst es in meine Biographie aufnehmen.«

Mit einem Seitenblick sah ich drei Männer hereinkommen; sie hatten irgendwie keine Gesichter, zwei schienen etliche Wirbel zuviel zu haben, der dritte war ein dicker Mann mit roten Backen und beschlagener Brille, vielleicht ein Jurist; zumindest taugte er dazu, die Aktentasche zu tragen; sie war prall gefüllt. Islandsbersi schlug ihnen auf ihre langen Rücken, puffte mit der Faust auf den Schmerbauch des Kleinen und bediente sich dabei einer Sprache, die ich nicht konnte; doch verstand ich auf Grund volkstümlicher vergleichender Grammatik ein und das andere Wort. Das Ganze machte den Gästen augenscheinlich keinen Spaß, sie krümmten sich ein wenig unter den Schlägen. Er forderte sie auf, sich in die Sessel um den Tisch zu setzen, doch sie wollten lieber stehen, außer dem Dicken.

»Nun, alte Knaben, was wollt ihr trinken?«

Sie sagten, sie müßten sich beeilen, sie wollten in einer halben Stunde noch die Fähre nach Malmö erreichen.

»Einen Islandcocktail?« sagte er.

»Nein, vielen herzlichen Dank, Herr Grossist«, sagten sie, und der kleine Dicke nahm rasch die Papiere aus der Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus.

Bersi Hjalmarsson bestand darauf, daß sie sich bewirten ließen, und holte aus dem Wandschrank einen Arm voller Flaschen sowie hohe Gläser und stellte sie zwischen die Papiere auf den Tisch.

»Ich sehe, ihr seid heute in bester Stimmung, Jungs«, sagte er.

Doch sie waren durchaus nicht gutgelaunt, eigentlich gänzlich unempfänglich für Spaß. Er begann, Bier in die Gläser zu gießen, und sagte dann: »Jetzt sagen wir prost, alle zusammen.«

»Man prostet nicht mit Bier«, sagten sie.

»Wer tut das angeblich nicht?« fragte er.

»Es ist eine völlig unbekannte Methode«, sagten die langen Schweden. »Zeugt nicht von gutem Benehmen!«

»Das meine ich nun gerade nicht, vielleicht…«, sagte der Dicke, ein wenig entschuldigend, und fügte zur Erläuterung hinzu: »Es ist im allgemeinen här i Sverige nicht Brauch, mit etwas unter zwölf Prozent zu prosten. Solche Getränke rechnet man zu den Nahrungsmitteln.«

»Das Prosten ist eine ernste Sache, Herr Grossist«, sagten die langen Schweden. »Prosten ist zumindest etwas, das man nicht so ohne weiteres tut.«

»Mit Bier zu prosten ist ungefähr so, als würde sich einer eine Scheibe Roggenbrot in den Mund stopfen und dabei sagen ›Lang lebe der König!‹« sagte der dicke Schwede zum Zweck weiterer Erklärung.

»Ich proste mit Bier«, sagte Islandsbersi. »Prost!«

Die Männer erhoben die Gläser nicht, er aber leerte seines.

Als nächstes ergriff Bersi eine Flasche Kognak und dann eine Flasche Whisky und goß von jedem einen Schuß in das Bier. Die Gläser liefen über. Die Schweden sahen diesem Treiben starr zu.

»Trinkt, Jungs«, sagte Bersi.

Sie antworteten, es wäre überdies auch nicht die Tageszeit für starke Getränke.

»Wir machen das Getränk wieder schwächer«, sagte Islandsbersi, entkorkte eine Flasche Rotwein und schenkte weiter in die vollen Gläser ein, so daß die Papiere fast in der Flut ertranken. Der Cocktail sah aus wie Rinderharn. Die Schweden waren blaß. »Prost«, sagte Islandsbersi.

»Haben die Isländer nie Alkohol kennengelernt?« fragten die Schweden.

»Nein«, sagte Islandsbersi, »wir verstehen uns nicht auf Alkohol, wissen nicht, was es mit Alkohol auf sich hat. Kein ehrlicher Isländer versteht zu trinken. Doch wir trauen uns zu, jeden beliebigen Schweden unter den Tisch zu saufen.«

Dann führte Bersi das große Milchglas mit seinem Cocktail zum Mund und leerte es bis auf den Grund. Die langen Schweden flohen wieder in eine Ecke. Der Dicke blieb sitzen. Als die Langen die Sprache wiedererlangt hatten, baten sie den Kleinen, dem Grossisten den Brief mit ihren Weisungen aus Stockholm vorzulesen. Der dicke Mann angelte ein Papier hervor und begann zu lesen.

Islandsbersi fiel ihm sogleich ins Wort: »Keine Apostelpredigten hier! Sagt einfach, wieviel ihr jetzt bietet.«

»Er versteht den Text nicht«, sagte der Dicke und hörte auf zu lesen.

Bersi: »Tja, wieviel bietet ihr jetzt?«

Sie sagten: »Fünfundneunzig und einen halben. Keinen Bruchteil eines Öre mehr.«

»Das habt ihr neulich auch gesagt, und trotzdem habt ihr euch um einen halben Öre gesteigert«, sagte Bersi Hjalmarsson. »Meine Ordern besagen: keinen halben Öre unter vier Millionen Schwedenkronen für die ganze Partie, vierzigtausend Fässer.«

»Fünfundneunzig und einen halben Öre pro Faß, äußerstes Angebot«, sagten sie.

»Warum einen halben Öre? Nie einen Öre entzweibeißen, sagen wir in Island.«

Der dicke Mann sah auf seine Uhr und gab sich einen Ruck. »Nur noch zehn Minuten, bis die Fähre ablegt.« Er packte die halbnassen Papiere schleunigst ein.

»Wir kommen morgen wieder, um uns zu verabschieden«, sagte der längste, »und wenn die Bank des Grossisten und seine Kompagnons es sich nicht anders überlegt haben, dann wenigstens zu dem Zweck, um eine förmliche Erklärung über den Ausgang der Verhandlung abzugeben.«

»Wir sehen uns nächste Woche wieder«, sagte Islandsbersi, begleitete sie kameradschaftlich zur Tür und klopfte ihnen auf die Schulter: »Stets erfreut, euch zu sehen. Verdammt nette Jungs! Schade, daß wir keine Zeit haben, in Rydbergs Keller oder zum Messerstecher zu gehen oder auch nur ins Tivoli.«

Während Islandsbersi unten zwischen all dem Marmor seine Gäste verabschiedete, trat ich aus der Sekretärskammer heraus. Keine schwedischen Millionen auf dem Tisch, nur drei Milchgläser zum Überlaufen gefüllt mit isländischem Cocktail; das vierte hatte der Hausherr, wie bereits gesagt, selbst bis auf den Grund geleert.

3. Ein Frühlingstag in Kopenhagen

Nachdem er die Gäste verabschiedet hatte, kam Islandsbersi zurück. Er sah mich geistesabwesend an, vielleicht hatte er vergessen, wer dieser schmale Jüngling nun eigentlich war, der da so herumsaß, bis ich sagte: »Ich glaube gehört zu haben, daß du Rüben verkaufen wolltest.«

»Ja, apropos«, sagte er, ohne mir direkt zu antworten. »Rüben. Du bist Dichter. Jetzt will ich dir einen Vers beibringen. Er lautet so:

(Melodie: Mag gefrieren heißer Quell)

Dieser Teil hat keine Eil,

Aufwärts steil geht’s eine Meil,

Bricht der Keil und reißt das Seil,

Macht das Beil es wieder heil.

Findest du nicht, daß dieser Vers gut ist?«

Ich verstand den Vers nicht recht.

»Findest du ihn nicht trotzdem gut?«

»Ich finde tatsächlich keinen Vers gut, wenn er nicht so deutlich ist, daß man ihn kritisieren kann.«

Islandsbersi: »Dann werde ich dir einen anderen Vers beibringen. ›Am schlechten Fenster aus Gnadenbalg‹ — hast du den jemals gehört?«

Auch den Vers hatte ich nie gehört.

Er reichte mir eins von den drei Milchgläsern, die dort immer noch bis zum Rand voll mit Iceland Cocktail standen. »Prost«, sagte er und stieß mit mir an. Ich tat so als ob und steckte die Zunge hinein. Das Getränk will ich lieber nicht näher beschreiben. Er lachte in sich hinein; soweit ich sehen konnte, bebte sein Schmerbauch: »Jetzt hör mal gut zu«, sagte er.

(Mit eigener Melodie)

»Am schlechten Fenster aus Gnadenbalg

die heisere Alte Vorgarn zieht;

Gesangbuchverse laut sie greint,

ißt aus dem Breinapf auf den Knien.

Was sagst du dazu?«

Ich bat ihn, den Vers zu wiederholen, und das tat er. Dann führte er wieder das große übervolle Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug.

»Das ist ein sonderbarer Vers«, sagte ich, »vielleicht nicht direkt Kitsch, doch ich bezweifle, daß er hieb- und stichfest ist. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum das Dachfenster schlecht sein soll, auch wenn es aus einem Gnadenbalg ist. Gnadenbalg — das ist doch die Fruchtblase von Kälbern? Die Frau ist heiser, wie es sich gehört. Doch warum wird sie Alte genannt? Sie zieht Vorgarn. Als ich noch klein war, daheim in Island, sah ich zu, wie meine Pflegemutter Vorgarn zog mit den Fingern. Spinnbare Längen machte sie aus gekämmter Wolle, die sie auf dem Schoß hielt und in Windungen oder Schlingen ablegte. Das Vorgarn konnte beliebig lang sein, während gewöhnliche gekämmte Wolle hinsichtlich der Länge von den Kämmen abhängig ist, so daß die Spinnerin jedesmal ein wenig aufgehalten wird, wenn sie eine neue Kämmung nimmt. Vorgarn hingegen kann man pausenlos spinnen. Außer der Wolle also, welche die Frau auf ihren Knien zu Vorgarn zieht, hält sie das Gesangbuch in den Händen und singt daraus. Weiter ißt sie aus einem mit Brei gefüllten Holznapf, den sie, wie es Brauch ist, auf den Knien hält. Ich begreife nicht, wie die Frau das Gesangbuch auf den Knien haben kann, während sie Brei aus dem Napf ißt, den sie auch auf den Knien hat, und das zur gleichen Zeit, in der sie Wolle auf ihrem Schoß zu Vorgarn zieht. Um all das zugleich zu tun, hätte die Frau wohl sechs Hände und drei Schöße haben müssen. Außerdem ist mir nicht klar, wie die Frau singen oder ›greinen‹ kann, während sie Brei ißt.«

»Prost«, sagte Islandsbersi.

Als ich aufblickte, wurde mir klar, daß er meinen Vortrag nicht vernommen hatte, sondern an etwas anderes gedacht hatte— »hör mal, du kannst den Rest von deinem ins Waschbecken kippen, wenn du willst; du bist anscheinend schon betrunken.«

Dann leerte er, ohne abzusetzen, das Glas, das noch voll dagestanden hatte. Ich war heilfroh, meines wegkippen zu dürfen. Jedenfalls war nicht zu bemerken, daß dieses Getränk eine nennenswerte Wirkung auf Islandsbersi ausübte; nur daß er ein bißchen blasser wurde und sein Gesicht sich glättete; seine Augen bekamen einen weißen Glanz.

Ich hielt es jetzt für ratsam, aufzubrechen, damit ich nicht Gefahr lief, daß der Kohlrübenkaufmann meiner Kindheit mich etwa in den Heringshandel hineinzog, denn Heringe habe ich wie die meisten meiner Landsleute immer für schlechte Kost gehalten; Näheres darüber später. Am besten war, ich brachte jetzt meinen Koffer vom Bahnhof zu dem alten Ehepaar, das in Vanlöse wohnte. Vor allen Dingen mußte ich mir irgendwie Bargeld verschaffen. Mir kam in den Sinn, meine beiden Redakteure, die mir gelegentlich Artikel abnahmen, um Hilfe anzugehen; ich würde ihnen einen Reisebericht über Jämtland und Tröndelag vom Standpunkt des Vogelhandels aus anbieten und, falls möglich, das Honorar dafür im voraus kassieren. Bei der einen Zeitung war noch keine ansprechbare Person auf den Beinen, und bei der anderen fiel ich dem Redaktionssekretär in die Hände, und bekanntlich sind die Zweithöchsten überall die schlimmsten. Der Mann sagte mir, daß bereits verschiedene Dänen vor mir Schweden und Norwegen bereist und über das Thema geschrieben hätten — »mit Verlaub, wie alt sind Sie?« Ich war achtzehn Jahre und sagte, mir sei nicht bekannt, daß dänische Journalisten über diese Länder vom Standpunkt der Vögel geschrieben hätten, und ich meinte sogar, daß mein Standpunkt eine Wende in den vorherrschenden Ansichten über diese Länder herbeiführen könne. Er hingegen wollte einen Artikel darüber, was die Schweden und Norweger jetzt zur Politik der Dänen in Schleswig meinten und wie diese Völker voraussichtlich reagieren würden, wenn die Dänen ihren König absetzten. Ich sagte, er meine wohl politische Geschichte, wie sie in den Schulen gelehrt würde, und daß mich Geschichten über Könige und Politiker und deren Prügeleien nicht interessierten und daß solche Scheißlitaneien nicht geduldet werden sollten, weder in den Schulen noch in den Zeitungen; die wahre Weltgeschichte sei hingegen die Geschichte des Vogels auf der Erde.

»Ja, man kann gut hören, daß Sie achtzehn sind«, sagte er.

Außerdem interessiere sich ein Isländer wie ich wenig dafür, was Schweden und Norweger über Schleswig und so weiter dächten, sagte ich. Der Mann zahlte mir dennoch dreißig Kronen aus, die ich seit dem letzten Winter für einen kleinen Artikel bei ihnen guthatte.

Jeder, der auch nur ein bißchen Erfahrung im Handel hat, kennt die folgende Gesetzmäßigkeit: Wenn man etwas Bestimmtes dringend braucht, ist es nicht zu haben. An den Tagen, an denen einem Kanarienvögel fehlen, gibt es in der ganzen Stadt keinen einzigen Kanarienvogel. Braucht man hingegen einen Adler, dann ist die Stadt voller Kanarienvögel. An diesem Tag war in ganz Kopenhagen kein Zimmerchen zu haben, weil ich eins brauchte. An einer Stelle war ich allerdings dem Ziel ganz nahe. Eine gutherzige, etwas korpulente Frau hatte ein Zimmer mit Morgenkaffee annonciert, doch als ich dann bei ihr nachfragte, kam es mir ganz so vor, als habe sie geweint. Sie bat um Entschuldigung und klagte, daß alles durcheinandergeraten sei: Im letzten Augenblick hätte der Mieter davon Abstand genommen, auszuziehen, obwohl er mit der Miete für fast ein Jahr im Rückstand war. Ich fragte, ob es nicht möglich sei, solche Leute auf die Straße zu setzen.

»Nein, leider«, sagte die Frau. Statt die Miete zu zahlen, hatte er sich entschlossen, die Frau zu heiraten. »Wir haben uns heute nacht verlobt«, sagte sie.

»Können Sie sich nicht ebensogut mit mir verloben?« fragte ich.

Die Frau betrachtete mich von oben bis unten, und die Tränen rannen; sie kam zu dem Ergebnis, daß ich zu jung und sie zu alt sei. Mir tat das auch ein bißchen leid. »Es ist besser, einen Mann zu heiraten, der so alt ist, daß keine mehr mit ihm anbändeln will«, sagte die Frau.

Ich fragte dann, ob das Zimmer nun nicht von selbst frei würde, wenn sie heirateten.

»Hier gibt es nur meine gute Stube und dieses Schlafzimmer, nichts weiter.«

»Wie ich sehe, ist Ihr Vogelbauer leer. Wo ist Ihr Vogel?«

Die Frau trocknete sich eine Träne und sagte schluchzend: »Er ließ ihn heute morgen heraus. Er hat den Vogel immer gehaßt, und heute morgen hat er ihn herausgelassen. Den ganzen Tag habe ich das Bauer meines Vogels betrachtet und geheult.«

»Sie sollten mir dieses Bauer verkaufen«, sagte ich. »Ich bin nämlich Vogelhändler, und ständig fehlen einem Bauer.«

Diese Frau, die alles zugleich war — korpulent, gutherzig und klug —, schenkte mir das Vogelbauer und verabschiedete mich weinend.

Eine zweite Annonce, in der Logis gegen Aushilfe in einem Buchvertriebsunternehmen geboten wurde, konnte ebenfalls in Betracht kommen. Doch was war Buchvertrieb? Diese Frau nun war zum Glück kein kleines Kind mehr, sonst weiß ich nicht, ob mich ihre Pläne nicht beeinflußt hätten. Sie nahm die brennende Zigarette nicht aus dem Mund, obwohl ich guten Tag sagte, und maß mich über die Türschwelle hinweg mit ihrem Blick; sie kniff die Augen zusammen. Ich sagte, ich sei in Wohnungsschwierigkeiten, und sie ließ mich herein und bot mir in der Stube einen Stuhl an.

»Was soll ich mit Ihnen anfangen«, sagte die Frau ein wenig heiser. »Sind Sie noch Kind oder schon Mann?«

Ich nannte mein Alter, und sie sagte: »Allmächtiger Gott!« Dann fragte sie teilnahmslos nach meiner Nationalität, meiner Bildung und meinem Stand. Sie war ziemlich mager und hatte, wie es Frauen zur Zierde tun, ein paar lose Haarsträhnen auf der Stirn hängen; man hätte sie für eine glücklose Künstlerin halten können. Der Rauch von der Zigarette stieg ihr in die Augen, denn sie nahm sie nicht aus dem Mund; deshalb konnte sie auch bestenfalls immer nur ein Auge aufmachen. Es war, als ob sie einen aus dem Blauen heraus, um nicht zu sagen, aus einer ganz anderen Welt, ansah. Wie es bei Frauen der Fall ist, die früher einmal für raffiniert gegolten haben, dann aber ihre Felle davonschwimmen sahen, spielte sie die würdige Dame, die sich mit dem Unvermeidbaren zufriedengibt und geistesabwesend oder gar schlafwandlerisch daherschreitet, so daß man nicht recht weiß, ob sie hört, was man sagt.

Ich sagte ihr, daß ich bei der Vogelzentrale gut angeschrieben sei und für die Zentrale Vögel verkaufe. Da rief sie wieder den Allmächtigen an, dieses Mal leise. Als ich aber sagte, daß ich mitunter für Zeitungen schreibe, gefiel ihr das weit besser. Es stimmte auch mehr mit ihren Plänen überein; sie fragte, ob ich mich nicht bereit finden könne, auf Österbro eine Buchhandlung zu eröffnen; in Gemeinschaft mit ihr und bei gleicher Gewinnbeteiligung. Ich sagte, ich müsse es mir überlegen.

»Ach, wie angegriffen Sie aussehen«, sagte die Frau und dachte jetzt ein wenig menschlich. »Ich bin sicher, Sie haben Hunger.« (Sie tritt zu mir und betrachtet mein Haar.) »Sie haben blondes Haar. Kommen Sie mit in die Küche. Ich mache Ihnen ein Beefsteak mit Ei, während Sie überlegen.«

Sie tat so viel Zwiebel in die Pfanne, daß mir die Augen tränten und ich vor lauter Dunst kaum Luft holen konnte. Dann öffnete sie das Fenster, legte für mich in der Küchenecke ein Tischtuch auf den Tisch und machte eine Flasche Bier auf. »Was wollen Sie mit diesem leeren Vogelbauer?« fragte die Frau.

»Sie können es behalten«, sagte ich.

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte die Frau.

Schließlich hatte ich gegessen, stand auf und verbeugte mich vor der Frau.

Als wir durch den Korridor gingen, machte sie dort eine Tür halb auf und sagte: »Möchten Sie sich nicht hier ins Bett legen, während Sie überlegen, bitte schön. Ich werde Sie wecken, wenn der Kaffee fertig ist.«

»Leider habe ich es heute eilig«, sagte ich. »Die Arbeit wartet. Doch ich hoffe, Sie sind so gut, dieses Vogelbauer zur Erinnerung an mich anzunehmen.«

»Was soll ich mit einem Vogelbauer?« sagte die Frau und hob die Stimme, als hätte sie plötzlich ihre Rolle nicht mehr im Griff. Sie sah mich entgeistert mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich komme wieder, wenn wir die Buchhandlung gründen«, sagte ich. »Und dann schenke ich Ihnen einen Vogel für den Käfig.«

Doch sie wollte mir unter allen Umständen für das Bauer fünf Kronen bezahlen. Dann verabschiedete ich mich ehrerbietig.

4. Ein Frühlingsabend in Kopenhagen

Der Portier im Palads: »Oben beim Grossisten findet eine isländische Gesellschaft statt. Sind Sie eingeladen, mit Verlaub?«

Als ich an der Tür der Suite klingelte, kam ein dänischsprechender Mann zur Tür; er trug Gamaschen, nannte seinen Namen, schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich: »Baron Poul Gottfredsen von Hofsos, Sekretär, bin heute gerade aus Holland zurück.«

Ich stellte mich vor und sagte, ich sei heute gerade aus Schweden gekommen und hätte bei einem alten Ehepaar in Vanlöse übernachten wollen, doch es sei verreist.

»Der Grossist erwartet Sie«, sagte der Sekretär. »Sie können in meinem Bett schlafen, denn ich bleibe von Punkt null Uhr bis Punkt zwölf Uhr in der Stadt.« (Notabene: Von Mitternacht bis Mittag. — Ich hatte bisher noch nie die Uhrzeit in solcher Weise angeben hören, doch inzwischen ist es in der ganzen Welt Brauch.)

Es war eine Art Pärchenball, auf dem die Herren allerdings nicht mit den Damen tanzten, sondern auf dem weichen Fußboden saßen und sie umfaßt hielten. Die Männer schienen mir alle Landsleute zu sein, einige kannte ich vom Sehen; die Mädchen konnten von überallher sein, zum Teil waren es sogar Isländerinnen. Sie sangen folgendes:

(Melodie: Es war auf Frederiksberg, es war im Mai)

»Es war zur Frühlingszeit,

die See lag blank;

ich traf die schönste Maid,

und sie war schlank.

Die Liebe heiß mich plagt’,

die nie vergeht,

doch ab und zu versagt.

So ist’s mal, seht!«

Islandsbersi saß allein in einer Ecke und genehmigte sich einen. Ein Mann widmete sich nicht seiner Dame, sondern disputierte mit Bersi beziehungsweise hielt Reden, die er ständig mit eigenem Gelächter unterbrach, das nicht von etwas Spaßigem herzurühren schien, am allerwenigsten von seinen Witzen, die allerdings auch kein anderer verstand; es lächelte auch sonst niemand. Vielleicht lachte er über sich selbst, und darüber, daß er in einer bürgerlichen Gesellschaft mit den Wölfen heulte. Er sagte, wir alle hätten Islandsbersi gern, obwohl er ein Kapitalist sei. Hahaha. »Voulez-vous Faß rollen, sagte man zu den Franzmännern daheim in Reykjavik, als ich aufwuchs; und wir reagierten dieses Frühjahr schnell, als Bersi uns eines Tages beim Messerstecher sagte: Voulez-vous Faß rollen, weil die Sonne die Fässer von der falschen Seite bescheint‹ — hahahahaha. Jetzt haben wir für dich seit Ostern in einem fort Faß gerollt, sowohl in Christianshavn wie draußen auf Amager und sonstwo, aus reiner, kleinbürgerlicher Vaterlandsliebe, ohne buchstäblich auch nur den Tarif der Hilfsarbeitergewerkschaft Morgenröte zu erwähnen, geschweige denn mehr. Und jetzt, da du uns hier im Palads eine Party gibst, einzig aus dem Anlaß, daß wir morgen früh um fünf Uhr aufhören sollen, Faß zu rollen, und weil du nicht mehr daran verdient hast als wir selber und der Kapitalismus wiederum seine Unfähigkeit bewiesen hat, haha, da versprechen wir dir, daß wir dich nach der Revolution zum ersten Heringskommissar des Arbeiterstaats in Island machen werden« (hahaha mit Husten und Atemnot), »auf dein Wohl, und es lebe die Revolution und la russiskaja sozialistitscheskaja sowjetskaja federatiwnaja respublika.«

Islandsbersi: »Du bist so gut wie in Rußland gewesen, und ich bin so gut wie in Rußland gewesen; wir sprachen beide mit Litwinow, als er im vergangenen Winter hier war. Ich habe noch nie mit einem so dicken und verrückten Mann geredet; außer mit mir selbst. Ich bot ihm vierzigtausend Fässer an, später erst zahlbar, nach einem Jahr, nach zwei Jahren, zehn Jahren, nie: Hering für vier Millionen schwedische Kronen für ein hungerndes Volk, bitte schön, ohne weitere Verpflichtung. Er wollte die Sache nicht einmal besprechen. Der Mann findet einmal ein schnelles Ende bei sich zu Hause!«

Der Bolschewik lachte, wie Bolschewiken eben über die kindliche Einfalt der Bürger lachen. Ein Mann, der was von der Sache verstand, rief dazwischen: »Bekanntlich besteht auf der Ostsee Blockade gegen Rußland. Vielleicht war vergangenen Winter auch nicht leicht mit Hering um die Halbinsel Kola herumzukommen. Geht vielleicht noch immer schlecht. Wie man hört, ist die See dort gefährlich. Außerdem braucht man im Russischen noch nicht ›la‹, wie es der Redner tat.«

Ein Gast rief: »Wo doch Litwinow vier Millionen schwedische Kronen in den Wind schlug — willst du nicht versuchen, sie mir zu schenken?«

Bersi: »Bitte sehr, mein Guter, sie gehören dir, sobald du es sagst.«

Der Gast: »Du mußt garantieren, daß es gutes Geld ist.«

Bersi: »Wie lange studierst du denn schon, mein Lieber? Weißt du nicht, daß Geld Teufelsdreck ist? Hering dagegen, mein Bester, Hering ist etwas Gutes.«

Der Gast: »So ein Esel wie du, Bersi, sollte daheim in Island bleiben und zum Morgenröte-Tarif arbeiten.«

Bersi: »Danke, Freund. Nicht, weil ich nicht wüßte, daß alle Morgenröte-Arbeiter freien Zugang zum Himmelreich haben. Doch leider, Island wird von einer Bank in London über Wasser gehalten, Island kann morgen untergehen, wenn die in London es wollen. Es ist nicht genug, daß alle Hafenarbeiter Heilige sind. Es muß auch Kapitalisten geben.«

»Staatskapitalisten«, verbesserte der Bolschewik.

Bersi: »Ja, das meinte ich. Irgendwelche Kapitalistenarschlöcher muß es geben. Auf irgend etwas muß man doch sitzen. Gotti hat in einem Buch gelesen — Gotti, was war das noch, was du gelesen hast?«

Der Baron: »In Island haben in tausend Jahren insgesamt zwei Millionen Menschen gelebt. Ein bestimmtes Gebiet im Meer nördlich und östlich von der Küste beherbergt einhundertfünfzig Millionen Tonnen Hering in einem Jahrzehnt, dreihundert Millionen in zwei. Das hat man in Holland ausgerechnet.«

Islandsbersi: »Seht mal Gotti an, er weiß alles.«

Jetzt lachte der Bolschewik nicht mehr allein — wenn auch am lautesten —, sondern die ganze Gesellschaft außer den Mädchen. Sie wußten nicht recht, wovon die Rede war, oder fanden nicht die Pointe in derlei Witzen; dennoch fragte eine dazwischen: »Gehört denn Islandsbersi wirklich der ganze Hering?«

Der Morgenröte-Anhänger: »Aller Gewinn, der größer ist als der Morgenröte-Lohn, stammt aus der Ausplünderung von Witwen und Waisen.«