Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die junge Salka bekommt vom Leben nichts geschenkt - aber sie erkämpft sich alles: Wohlstand, Respekt und Liebe. Was davon wird Bestand haben? Ein kleines isländisches Fischerdorf ist der Schauplatz dieses breit angelegten Gesellschaftsromans voll starker Charaktere, hitziger Auseinandersetzungen und widerstreitender Gefühle.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 819
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Roman
Der Küstendampfer hält bei jedem Wetter seinen Kurs, gleitet in der Mitte des Fjordes zwischen den Bergen hindurch, richtet sich nach Sternen und Gipfeln und versäumt es nicht, am festgesetzten Tag Oseyri am Axlarfjord anzulaufen, sondern läßt seine Sirene durch das Schneetreiben heulen. Im Rauchsalon in der ersten Klasse unterhalten sich zwei gutgekleidete Reisende aus Reykjavik über die trüben Lichter in dem kleinen Ort, ungefähr in dieser Weise:
Wenn man in der winterlichen Dunkelheit an dieser Küste entlangfährt, dann hat man den Eindruck, nichts auf der Welt könne unwichtiger und bedeutungsloser sein als so ein kleines Dorf unter so hohen Bergen. Wie die Leute in so einem Ort wohl leben? Und wie sie wohl sterben? Was die Leute wohl zueinander sagen, wenn sie morgens aufwachen? Wie sie wohl sonntags einander ansehen? Und was wohl im Pfarrer vorgeht, wenn er zu Weihnachten und zu Ostern auf die Kanzel steigt? Ich meine nicht, was er sagt, sondern was er aufrichtig denkt. Ob er wohl nicht erkennt, wie trivial das alles ist? Und woran denken wohl die Töchter des Kaufmanns, bevor sie schlafen gehen? Ja, welche Freuden und welches Leid es wohl um diese kleinen, trüben Petroleumlampen herum gibt? Es kommt sicher oft vor an solchen Orten, daß die Leute einander an den Augen ablesen können, wie sinnlos ihnen das Leben scheint. Denn jeder Mensch muß doch zugeben, daß es völlig unnütz ist, an einem solchen Ort zu leben, denn hier gibt es kein Flachland außer diesem kleinen Tal, das seine Sohle der Anschwemmung des Flusses zu verdanken scheint. Kultur und Zufriedenheit entwickeln sich nur im Flachland. Von einem Ort, den man nie verlassen kann und wo man nie damit rechnen muß, Fremden zu begegnen, kann man auch sonst nichts erwarten. Was würde zum Beispiel geschehen, wenn der Pfarrerssohn keine Lust mehr hätte, in die Tochter des Kaufmanns verliebt zu sein? Ja, was würde dann geschehen? Ich frage nur.
Doch jetzt stößt ein Boot vom Land ab, und ein paar heisere, barsche Männer mit Bärten, die ihnen über den Mund herunterwachsen, versuchen, an der Längsseite des Dampfers anzulegen. Runter mit Post und Passagieren! brüllen sie in einem Ton, als würden sie die fürchterlichsten Verwünschungen aussprechen. Ein Handlungsreisender aus Reykjavik zieht sich die Otterpelzmütze über die Ohren, knöpft seinen Mantel zu und klettert vorsichtig die Strickleiter hinunter ins Boot. Ein halber Sack Post wird zu den Bootsleuten herabgereicht. Sonst nichts?
Doch, ruft jemand vom Deck herunter. Hier in der dritten Klasse ist eine Frau mit einem kleinen Mädchen. Sie sagt, sie will an Land. Fahrt nicht ohne sie. Die beiden sind gleich fertig.
Wir haben aber keine Anweisung vom Kaufmann Johann Bogesen, daß wir hier die ganze Nacht auf ein Frauenzimmer warten sollen. Die Passagiere müssen sich bereit halten, sagte der Anführer der Bootsleute.
Da wurde vom Deck herunter geantwortet:
Es war nicht möglich, die Frau früher aus der Koje zu kriegen. Sie war so seekrank, daß sie Krämpfe hatte.
Uns geht das nichts an, ob sie Krämpfe hatte oder nicht. Wir haben keine Anweisungen von Johann Bogesen, was das betrifft.
Aber obwohl sich keiner auf eine Anweisung von Johann Bogesen berufen konnte, erschien nach einer kleinen Weile doch die Frau mit ihrem Kind. Das Kind war leidlich gut in wollene Umschlagtücher gehüllt, die Frau selbst aber auffallend schlecht ausgerüstet für winterliche Reisen in diesen nördlichen Breitengraden, mit einem alten, verschossenen Konfektionsmantel, der ihr viel zu eng war, schmutzigen Baumwollstrümpfen und ausgetretenen, bis zur Mitte der Waden herauf geschnürten Stiefeln, wobei einer der Schnürsenkel gerissen war, so daß der eine Schaft lose am Bein hing. Um den Kopf hatte sie ein dünnes Tuch gebunden. An der einen Hand hielt sie ihr Kind, mit der anderen einen kleinen Sack, in dem sich ihre irdischen Güter befanden. Sie schaute angstvoll ins Boot hinunter, das sich in der Dünung hob und senkte.
Herunter mit dir, Frau, sagten die Männer.
Gott steh uns bei, liebe Salka, wenn wir da hinuntermüssen.
Es hilft gar nichts, dort herumzutrödeln wie ein Haifischköder im Schatten, sagten die Männer.
Einer der Matrosen auf dem Dampfer half dem Kind hinunter auf die Strickleiter, und einer von den Bootsleuten stieg bis zur Mitte der Leiter hinauf und holte es vollends ins Boot herunter.
Mama, ich bin schon da, sagte das Kind. Es hat fürcherlich Spaß gemacht.
Dann reichten sie die Frau auf dieselbe Weise ins Boot hinunter. Sie war recht schwer, breit um die Mitte, mit stämmigen Beinen und üppigen Hüften, kurz gesagt, eine ziemliche Maschine. Ihr Gesicht war grau und schlaff nach dem Erbrechen und der Übelkeit, alle Röte war in den Händen, die waren geschwollen wie frischgekochtes Pökelfleisch.
Mutter und Tochter wurden einem der Ruderer gegenüber auf eine Ducht gesetzt. Die Frau hielt ihr Gepäck auf dem Schoß, um es vor Nässe zu schützen. Es war nur ein gewöhnlicher leinener Fünfzigpfundsack, in dem ein kleines Kästchen und vielleicht ein paar Kleidungsstücke zu stecken schienen. Die Wellen hoben und senkten sich, das fast völlig leere Boot schaukelte heftig, und die Frau blickte starr vor Angst hinaus in die Dunkelheit, während das kleine Mädchen an ihrer Seite sich völlig sicher fühlte. Und es fragte seine Mutter, als das Boot eben von einer Woge emporgehoben wurde:
Mama, warum gehen wir hier an Land? Warum fahren wir nicht weiter in den Süden, nach Reykjavik?
Die Frau klammerte sich verzweifelt an die Ruderbank, während das Boot in das nächste Wellental hinuntersank, wandte ihr angsterfülltes Gesicht von Gischt und Schneegestöber ab und antwortete schließlich:
Wir versuchen, eine Zeitlang hier zu bleiben, und fahren dann erst im Frühjahr nach Reykjavik.
Warum fahren wir nicht gleich nach Reykjavik, wie du gesagt hast? Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, in den Süden, nach Reykjavik zu fahren.
Das erste, was einem an diesem kleinen Mädchen auffiel, war, daß es mit einer tiefen Stimme sprach, die sich fast wie eine Männerstimme anhörte. Die Kleine hatte die Angewohnheit, Augen und Mund zusammenzukneifen, ob sie sprach oder schwieg; manchmal zuckte sie mit dem Kopf, und sie konnte nie die Füße ruhig halten; der ganze Körper sprudelte vor unbändiger Lebenskraft.
Seitdem wir abgereist sind, habe ich mich die ganze Zeit darauf gefreut, nach Reykjavik zu kommen und die großen angemalten Häuser zu sehen und die feinen Zimmer und die Bilder an den Wänden, von denen du erzählt hast, Mama. Ich möchte in so einem Zimmer wohnen. Und alle haben immer Sonntagskleider an, Mama. Stimmt das denn nicht?
Doch, aber wir können fürs erste trotzdem nicht weiterfahren, liebe Salka. Mir ist so schlecht. Wir wollen den Winter über hierbleiben und versuchen, Arbeit zu finden. Und im Frühjahr fahren wir dann nach Reykjavik, wo all das gute Wetter ist.
Ist denn immer gutes Wetter in Reykjavik? Nein, Mama, wir sollten jetzt weiterfahren. Nur noch fünf Tage…
Mir ist so schlecht. Und für uns macht es doch keinen Unterschied, bis zum Frühjahr hier zu warten. Ich weiß, wir werden uns gemeinsam durchschlagen wie bisher. Du wirst deiner Mutter nicht böse, auch wenn sie nicht gleich mit ihrer kleinen Salka in den Süden nach Reykjavik fahren kann. Wir wollen immer gute Freundinnen bleiben.
Ja, Mama, aber es ist trotzdem fürchterlich schade.
Da ergriff der Ruderer, der ihnen gegenübersaß, das Wort und sah das kleine Mädchen an:
Wir müssen uns nach Gott richten.
Das Mädchen blickte ihn im matten Schein der Hecklaterne an, verzog das Gesicht und schwieg. Und mit dieser himmlischen Antwort fand das Gespräch über das Ziel der beiden Reisenden sein Ende.
Als aber die Antwort des Ruderers keinen anderen Widerhall zu finden schien, hielt er es offensichtlich für angebracht, sich dafür zu entschuldigen, daß er sich in die Privatangelegenheiten seiner Passagiere gemischt hatte:
Das ist aber nicht so zu verstehen, daß ich diesen kleinen und armseligen Handelsplatz Fremden empfehlen möchte. Ich sage das ja auch nicht aus mir selbst heraus, sondern wegen der Weisheit des Wortes, daß es unser milder Herr ist, der jedem von uns eine Schlafstätte zuweist. Es stimmt, dieser Marktflecken ist ziemlich armselig. Jetzt bin ich schon seit siebenundvierzig Jahren hier, entweder im Tal oder im Dorf, und hier ist nie etwas geschehen. Aber Gott hat uns trotzdem nicht vergessen. Er hat uns die gesegnete Heilsarmee unseres Herrn Jesu Christi hergeschickt, um uns die Möglichkeit zu geben, uns in unserem Erlöser zu freuen. Früher hatten wir nur den Propst, doch der ist schon alt und gebrechlich. Und wie armselig und unnütz das Leben in einer ländlichen Gemeinde auch sein mag, so läßt sich nicht abstreiten, daß dort, wo Seelen vor dem Kreuz Jesu das Knie beugen, ein wahres Kanaan der Herrlichkeit Gottes ist. Bist du vielleicht schon errettet?
Die Frau überlegte, während das Boot von dem starken Wellengang im Fjord weiter unsanft hin- und hergeworfen wurde, und antwortete schließlich:
Nein, aber ich hoffe, daß Gott mir hilft und sich meiner erbarmt und mir eine Arbeit verschafft, so daß ich das Essen für mich und die Kleine selber verdienen kann. Es gibt wohl keine Möglichkeit, hier im Ort vorübergehend Arbeit zu finden?
Wie heißt du? fragte der Mann.
Ich heiße Sigurlina.
Der Mann schwieg eine Weile, als dächte er darüber nach, ob ein Frauenzimmer mit einem solchen Namen Arbeit finden könnte.
Es ist ziemlich stürmisch, sagte der Mann.
Hör mal, Mama, sagte das kleine Mädchen. Ich hätte bestimmt mehr Erbsen gegessen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten; und mehr Pökelfleisch.
Sie ist überhaupt nicht schüchtern, die Kleine, sagte der Mann. Mit Verlaub zu fragen, sind Sie Witwe?
Nein.
Mit Verlaub zu fragen, weshalb sind Sie dann nicht nach Reykjavik weitergefahren?
Ich hoffe, daß Gott hier in Oseyri am Axlarfjord genauso ist wie in Reykjavik, sagte die Frau und schlug so den Mann mit seinen eigenen Waffen.
Hast du Verwandte hier?
Nein, aber ich hoffe, daß ich für heute nacht einen Platz zum Schlafen finde, denn ich kann dafür bezahlen.
Du solltest dich erretten lassen, sagte der Mann. Im übrigen weiß ich nicht, ob die Heilsarmee Frauen übernachten läßt.
Nun waren es nur noch wenige Ruderschläge bis zum Land.
Ob Sie wohl so freundlich wären, mir zu helfen und mir den Weg zur Heilsarmee zu zeigen?
Ich kann vielleicht rasch mit dir hingehen, sagte der Mann, auch wenn ich eigentlich anfangen muß, beim Entladen des Dampfers zu helfen.
Der Handlungsreisende aus der ersten Klasse stieg mit ein paar Scherzworten auf die Landungsbrücke, ging mit großen Schritten davon und verschwand. Die Frau aber wartete am Ende der Brücke, in der einen Hand ihren Sack, an der anderen das Kind, bis der Ruderer bereit war, sie zur Heilsarmee zu begleiten. Noch nie ist eine so unbedeutende Frau in einem so unbedeutenden Ort an Land gestiegen. Endlich gab er ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen.
Es lag tiefer Schnee, der noch nicht festgetreten war, und man kam nur mühsam vorwärts. Der Gegenwind trieb ihnen den Schnee genau ins Gesicht, wie das bei solchen Leuten immer geschieht. Sie gingen an ein paar Fischspeichern vorbei und bogen dann fjordauswärts nach links ab. Aus den kleinen Fenstern der Fischer- und Taglöhnerhütten schimmerte schwaches Licht. Der Begleiter dachte nicht daran, ihr anzubieten, den Sack zu tragen. Schließlich kamen sie zu einer niedrigen Holzbaracke mit allerlei Erkern und Anbauten und Licht in einigen Fenstern.
Dort geht es hinein, sagte der Mann. Und wenn du später hier im Ort etwas brauchen solltest, dann frag nach Kadett Gudmundur Jonsson. Ich bin auch beim Kaufmann Johann Bogesen gut angeschrieben, und ich an deiner Stelle würde mich zuerst an seine Frau wenden. Das ist eine großartige Frau. Grüß Kapitän Anderson von mir. Gute Nacht. Und falls du zu Frau Bogesen gehst, dann kannst du auch einen Gruß vom alten Kadett Jonsson bestellen, sie kennt ihn, die gute Frau.
Mutter und Tochter gingen einige Stufen hinauf, kamen in einen Vorraum und klopften sich den Schnee ab. Die Frau nahm ihr Kopftuch ab, schüttelte es aus und ordnete ihr bräunliches, glanzloses Haar. Aus dem Zimmer auf der einen Seite hörte man laute menschliche Stimmen, die nicht sehr freundlich klangen. Dennoch faßte sich die Frau ein Herz und klopfte dort an die Tür, und nach einer Weile wurde von drinnen gebrüllt:
Komm herein, zum Teufel.
Sie öffnete zögernd, wie hilflose Menschen dies zu tun pflegen, die Tür und spähte hinein. Auch das kleine Mädchen spähte hinein. Da saß eine ganze Anzahl von Männern in Tabaksqualm und Alkoholdunst an kleinen Tischen ohne Tischtuch, vor sich auf den Tischen Flaschen mit Etiketten, die in jeder Gastwirtschaft legal sind, aber obwohl keiner der Anwesenden wirklich betrunken zu sein schien, so deutete doch der allgemeine Gemütszustand darauf hin, daß sie schärfere Sachen in ihren Gesäßtaschen dabei hatten. Einige von ihnen schauten mißvergnügt zur Tür herüber, und keiner schien eine besondere Neigung zu verspüren, der fremden Frau behilflich zu sein.
Ist es vielleicht möglich, mit dem Vorsteher zu sprechen? fragte sie.
Tür zu. Es ist, weiß der Teufel, nicht zu warm hier.
Mutter und Tochter traten über die Schwelle und schlossen die Tür. An der Wand hing ein Bild des Generals Booth und ein anderes mit der Frau eines Trinkers, die ihre Kinder umarmt, um sie vor ihrem Mann zu schützen, der gerade völlig zerrissen und zerlumpt und sinnlos betrunken nach Hause kommt und alles kurz und klein schlagen will. Außerdem hingen dort Tafeln mit kunstvoll verzierten dänischen Bibelsprüchen. Die Frau griff sich wieder mit der Hand ins Haar und strich es etwas zurecht, damit niemand an ihrer weiblichen Würde zweifeln sollte: Dies war keine unhübsche Person, auch wenn sie von der anstrengenden Seereise mitgenommen war; und obwohl ihre Lippen im Augenblick blutleer waren, waren sie jedenfalls noch so blühend, daß nicht auszuschließen war, daß sie betrunkene Fischer, die wegen des schlechten Wetters an Land bleiben mußten, in Versuchung führen konnten; sie tat, als ob nichts wäre.
Was sucht sie? fragte einer aus der Gruppe.
Den Vorsteher, antwortete ein anderer.
Laßt mich mal, sagte der dritte. Er war ein hochgewachsener Mensch mit dunklem Haar, Pockennarben und kupferrotem Gesicht, etwa um die dreißig. Seine Züge waren regelmäßig und stark, und in den braunen Augen leuchtete eine barbarische, unbändige und wilde Glut, seine Stimme war kräftig und dunkel, hatte aber dennoch Klangfarben, die bisweilen an das Lyrische grenzten, so daß sie einen vollkommenen Gegensatz zu seinem groben, rücksichtslosen Benehmen zu bilden schien. Er trug blaue Hosen und einen grauen Pullover und hatte ein rotes Schnupftuch um den Hals.
Seien Sie mir gegrüßt, meine Liebe, sagte er und kitzelte die Frau gönnerhaft unter dem Kinn; das kleine Mädchen beachtete er nicht. Sind Sie mit dem Postdampfer gekommen? Nehmen Sie Platz, ich werde alles für Sie tun, was Sie wollen, und noch mehr, wenn Sie wollen, sowohl Böses wie Gutes.
Sie sind vermutlich nicht der Hausherr hier, und deshalb habe ich mit Ihnen nichts zu besprechen. Ich möchte Sie nur bitten, so gut zu sein, mich in Ruhe zu lassen. Ich muß mit dem Vorsteher sprechen.
Dem Vorsteher, wiederholte er langsam und grinste seine Kameraden an, als wollte er ihnen zeigen, wie man mit einem Frauenzimmer zu sprechen habe. Also eigentlich finde ich, daß ich ein genauso wichtiger Vorsteher bin wie jeder andere, ich meine, in diesem Dorf überhaupt, ich weiß überhaupt nicht, wie dieses Dorf ohne mich auskommen sollte. Ich bin auf Frachtschiffen nach New York gefahren und war auf Walfang in Afrika, aber wenn du es genau wissen willst, dann hat dieses Dorf mich wieder zu sich gerufen, weil es nicht ohne mich leben konnte, und ich habe es wieder zu mir gerufen, weil ich nicht ohne es leben konnte. Wenn Sie also etwas in diesem Ort zu erledigen haben, dann sollten Sie sich einfach an mich wenden. Wenn irgendein Fremder nach Oseyri am Axlarfjord kommt, dann kommt er in erster Linie zu mir. Dieses Dorf gehört mir, und ich gehöre diesem Dorf. Ausländer gebrauchen Messer, ich gebrauche nie ein Messer. Ausländer schleichen sich von hinten an dich heran, ich schleiche mich nie von hinten an jemanden heran. Das ist nicht so zu verstehen, daß ich aus Angst hierher nach Hause geflüchtet wäre. Nein, niemals. Ich habe mich ohne Messer mit sieben Ausländern um ein Paar Schuhe geschlagen, weißt du, mit hohen Absätzen und schmalen Spitzen und einem Riemen über den Spann. Genug davon. Willst du ein Bier?
Sigurlina hatte Schwierigkeiten, sich klar darüber zu werden, ob der Mann betrunken oder verrückt war, oder ob es tatsächlich so war, wie er behauptete, und er über alles hier im Dorf bestimmte. Er sprach so klar und entschieden über seine Macht, daß es schwer war, sich vorzustellen, er mache nur Spaß. Doch der Inhalt seiner Behauptungen, zusammen mit dem roten Schnupftuch, das er um den Hals trug, war doch zu seltsam, als daß sie es ganz hätte glauben können.
Das müssen ganz besonders wertvolle Schuhe gewesen sein, sagte einer seiner Kameraden. Steckte denn nichts in ihnen drin?
Natürlich steckte ein Frauenzimmer in ihnen, du Affe, und zwar ein richtiges Klasseweib.
Ich möchte mit dem Vorsteher hier sprechen, mit dem Kapitän. Will mir bitte jemand helfen!
Was soll denn diese Ungeduld? Natürlich steckte eine Mulattin in den Schuhen. Und wenn du es genau wissen willst, dann war sie eher schwarz als weiß. Ausländer können sich mit so etwas begnügen. Doch ich sagte mir: Oseyri am Axlarfjord. Und ich bin wieder zurückgekommen in meinen Geburtsort, und er gehört mir, und ich gehöre ihm. Johann Bogesen, sagt ihr – was zum Teufel geht mich Johann Bogesen an? Ich fange meine Fische, er zahlt meinen Lohn. Was weiß er darüber, wer ich bin? Er hat nicht meine Erfahrung, meine Seele, meine Kräfte. Ich mache mir nichts aus seinen Stuben, seinen Frauen, seinen Kindern, seinen Fischen. Ich habe diese Berge und dieses Tal und dieses Meer und dieses Dorf und diese Leute und dieses Haus – ich habe es nämlich hier, im Herzen, in der Lunge, im Blut. Was ist er? Er ist ein Zugereister, der dadurch groß geworden ist, daß er hier ausländische Handelsfirmen, die ihm anvertraut worden waren, in Konkurs gehen ließ. Ihm gehören nur Rechnungen auf Papier und Quittungen von Banken. Was ist er, wenn eine Bank in Reykjavik Konkurs macht? Ein Herumtreiber. Aber ich bin der, der ich bin, wie der Fjord und die Bergspitzen und die Fischgründe und der Strand und das, was am Strand geschieht. Glaubt ihr, ich sei wie diese Trottel, die ihn beneiden, weil sie kein Leben im Blut haben? Glaubt ihr zum Beispiel, daß der Fjord hier Johann Bogesen beneidet, oder der Berg Axlartindur, der fünfzig Stürmen widersteht in jeder Fangsaison? Mir gehört das Meer, mir gehört der Strand und das Dorf und der Himmel über dem Dorf mit allen seinen Unwettern, die kommen und gehen – und mir gehört auch Johann Bogesen, wie er mit seinem Zwicker auf dem Stuhl sitzt und meinen Lohn ausrechnet.
Die Frau hatte nach diesen Behauptungen noch größere Zweifel daran, daß der Mann ganz bei Verstand war, und wußte sich keinen anderen Rat, als sich an seine Kameraden zu wenden mit ihrer Bitte, den Vorsteher sprechen zu dürfen.
Ach, mach kein solches Gedöns, sagte der Mann mit seiner schleppenden Stimme, die, wenn man es genau betrachtete, eine eigenartig hypnotische Wirkung hatte und sich wie eine eigene Welt mit Luft und Meer um seine Gesprächspartner legte, doch mitten in dieser bitteren, salzigen, grauen Kälte leuchteten seine Augen, wild und unbändig, wie der Inbegriff des unbefangenen Lebens, das keine Rücksicht nimmt und kein anderes Ziel kennt, als zu existieren, und weder nach der Vergangenheit noch nach der Zukunft fragt.
Was, glaubst du, kann dir ein bigotter Affe wie er nützen? Meine Mutter las ihr ganzes Leben lang in Postillen und konnte siebzig Vaterunser, und doch wurde sie, als sie bettlägerig geworden war, für zwei Schweine geopfert. Ich weiß nicht, woher du kommst und wohin du willst, aber es ist ein elender Glaube, an das Pferd zu glauben, und jeder, der sich dem frömmelnden Pack und den Evangelienschwätzern in diesem Dorf anschließt, wird enttäuscht, das wirst du früher oder später selbst erfahren, meine Liebe. Komm zu mir mit deinen Sorgen und geh vor mir in die Knie, und nicht vor dänischen Kreuzen oder Kreuznarren. Wenn du mir nicht sagen kannst, was du willst, dann wirst du bei den Irrgläubigen auch nichts ausrichten – ich bin das Meer, das gegen dieses Ufer brandet, ich bin der Wind, der um diese Gipfel braust, ich bin die Ebbe und die Flut, die diesen Strand beherrscht, komm in meine starken, ungläubigen Arme, meine Geliebte, und ich werde alle deine Hoffnungen erfüllen und alle deine Sorgen ertränken.
Und mit diesen Worten nahm er die Frau in seine Arme und küßte sie auf den Mund.
Doch das war mehr, als das Mädchen einfach so mit ansehen konnte, und noch bevor ihre Mutter sich aus der Umarmung des Mannes losgewunden hatte, fing die Kleine an, ihn zu schlagen.
Du bist scheußlich und dumm, laß meine Mama in Ruhe und scher dich fort von uns.
Oh, kleines Vögelchen, sagte er und entblößte seine großen, gelblichen Pferdezähne, die alle tadellos waren. Und er hob das kleine Mädchen hoch und umarmte es ebenfalls und küßte es auf die Wange, während die Kameraden schallend lachten.
Jetzt ist Essenszeit bei meiner Tante in Mararbud, und ich muß gehen, sagte er, als ob er davon überzeugt sei, daß dies allgemeines Bedauern hervorrufen müsse. Aber denkt daran, wenn ihr etwas brauchen solltet, dann bin ich der, der ich bin.
Es hatte sich aber jemand der Frau erbarmt und nach dem Kapitän geschickt, denn kaum war der unverschämte Mann zur Tür hinaus, erschien der Hausvorsteher. Er war einer jener mageren guten Christen, die eine natürliche Begabung für Verwaltungsaufgaben haben – die Stirnfalten des Realisten und die listig zusammengekniffenen Augen bildeten ein Gegengewicht zu dem andächtig frommen Konfirmandenblick und dem öligen Lächeln.
Er erklärte, daß es völlig ausgeschlossen sei, »unter den gegebenen Umständen« weibliche Personen zu beherbergen. Er sagte, diese Einrichtung sei ausschließlich ein Seemannsheim, und deswegen sei hier kein Platz für Damen.
Ich kann für mich bezahlen, sagte Sigurlina.
Der Kapitän zweifelte nicht daran, daß dem so sei, versuchte aber, ihr zu erklären, welche Räumlichkeiten es im Haus gab: Hier sehe sie den Aufenthaltsraum der Seeleute, diese Tür führe zum Versammlungssaal, jene zur Küche und zur Wohnung des Kapitäns und seiner Frau. Auf der anderen Seite des Ganges befinde sich der Schlafraum der Seeleute mit zehn Stockbetten, die im Augenblick alle belegt seien, und mehr als das – die Dienstboten hätten in den letzten Nächten ihre Betten zur Verfügung stellen müssen; jetzt kämen immer mehr Seeleute, die Fangsaison beginne bald.
Kadett Gudmundur Jonsson bat mich, Sie von ihm zu grüßen, sagte die Frau, und er war sicher, daß Sie mir helfen könnten.
Doch der Kapitän sah ganz und gar keinen Ausweg aus dieser schwierigen Lage und bat sie, Gudmundur Jonsson zurückzugrüßen.
Aber die Frau schien nicht ganz ohne Begabung für das Streiten und Diskutieren zu sein:
Auch wenn die Heilsarmee keinen Platz für mich hat, so weiß ich doch, daß sie nicht so hartherzig ist, einem unschuldigen kleinen Mädelchen wie meiner Salka die Unterkunft zu verweigern und sie mitten im Winter in Schnee und Dunkelheit hinauszujagen, und das nur gut drei Wochen nach dem gesegneten Weihnachtsfest des Erlösers.
Der Kapitän sah trotz des kürzlich begangenen Weihnachtsfestes keine andere Lösung in dieser Frage, als Gott zu bitten, in seiner Güte und seiner barmherzigen Weisheit Mutter und Tochter ein Nachtlager zu verschaffen. Er erwähnte, daß gleich nachher eine segensreiche Versammlung hier im Haus abgehalten werde, und wünschte von Herzen, daß Gott ihnen während der Versammlung einen gnadenreichen Einfall geben möge. Er sagte, nun werde gleich das Essen aufgetragen, und bat die Frau, in Jesu Namen Platz zu nehmen; dann verschwand er.
Die beiden aßen in einer Ecke, die Tochter mit richtigem Heißhunger, denn ihr konnten weder See noch Land den Appetit verderben, die Mutter zumindest so viel, daß wieder Ausdruck und Lebenskraft in das erschöpfte Gesicht zurückkehrten; Lippen und Wangen wurden wieder rot. Überhaupt kam nach und nach ein starker Ausdruck weiblichen Selbstgefühls über ihre ganze Person – sie knöpfte sogar ihren Mantel auf und trug darunter eine geblümte Bluse, die ihre Anziehungskraft nicht unwesentlich erhöhte, obwohl sie ziemlich zerknautscht war. Und je länger sich die Mahlzeit hinzog, desto öfter schaute sie zu den Männern hinüber, die sich ungestüm über ihr Essen hermachten und viel lachten und ihr immer verstohlene Blicke zuwarfen, wenn sie etwas Unanständiges sagten.
Das kleine Mädchen hatte die Tücher abgenommen, die ihr um Kopf und Schultern gewickelt gewesen waren. Sie hatte keine anderen Tischsitten als die, welche die Natur ihr eingab, ihre Hände waren grobknochig und unsauber, und sie beschmierte sie noch mehr mit dem gekochten Fisch. Sie hatte überhaupt viel zu große Knochen, wie ein Kalb oder Fohlen, und ihre langen, schlaksigen Glieder hatten keinen anderen Reiz als den, der von ihrem ruhelosen Wesen und ihren unbefangenen und unbewußten Bewegungen ausging. Ihr aschblondes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, ihre klaren, beinahe wasserfarbenen Augen liefen flink hin und her, und der breite Mund mit dicken, immer feuchten Lippen bewegte sich unnötig viel, wenn sie sprach; ihr Lächeln, das kräftige Kiefer mit starken Zähnen entblößte, glich fast einer Grimasse, und die Augen zogen sich zusammen und wurden zu zwei Spalten. Doch es leuchtete Temperament und auch Eigensinn aus diesem jungen, halbgeformten Gesicht, und wenn ihre Hände nichts zu tun hatten und sie nicht sprach, dann spähte sie umher, forschte, lauschte oder schnitt Grimassen und dachte über das nach, was ihr so in den Sinn kam; ihr ganzes junges Wesen war voller Lebenskraft.
Bald nach dem Essen ging man hinein in den Versammlungssaal: zehn Bänke ohne Lehne und am einen Ende ein Podium, am Giebel darüber das Wappen der Heilsarmee, an der einen Wand das Bild des langbärtigen Generals mit Ehefrau und an der anderen das Bild des kurzbärtigen Jesus Christus, des Königs der Herrlichkeit, der nicht verheiratet war. Auf Stühlen, die auf dem Podium oder direkt davor standen, saßen einige Offiziere mit ihren engsten Getreuen und unterhielten sich mit gläubiger Fröhlichkeit und gottgefälligem Lachen. Sigurlina und ihre Tochter nahmen auf einer der hintersten Bänke Platz. Immer mehr Leute kamen hinzu, manche aus dem Innern des Hauses, manche von draußen, Männer, die entweder feierlich und andächtig oder ungläubig und gleichgültig waren, und junge und nicht mehr ganz so junge Mädchen, die Werktagskleider trugen und mit raschen Blicken herumschauten, einander unterhakten und höflich tuschelten und vor sich hin kicherten. Sie setzten sich, und die Männer hinter ihnen schnitten Grimassen und konnten es sich nicht versagen, sie ein wenig in die gutgepolsterten Seiten zu kneifen, doch die Gottesfurcht, die in der Luft lag, erfaßte die Mädchen gerade in dem Augenblick, in dem ihre Stimmorgane in Hochspannung kamen, so daß das Kreischen im Keim erstickt wurde oder sich in eine Grimasse verwandelte, welche die heftige Abscheu und Verachtung ausdrücken sollte, die die keusche weibliche Natur bei dem schweinebiestischen Benehmen der Männer empfand. Man ging mit der neuesten Ausgabe des Kriegsrufes herum, die aus der Zentrale eingetroffen war, und einige kauften ein Exemplar und ließen es bei Johann Bogesen anschreiben, rissen es dann auseinander und formten Kugeln daraus, und im weiteren Verlauf der Versammlung bewarfen sie dann damit die anderen.
Lobt Gott, lobt Gott. Das Ohr zu Gott hinwendet.
Lobt Gott, lobt Gott. Die Freude niemals endet.
Oh, kommt zum Vater durch den Sohn,
preist singend Gottes Gnadenlohn…
Oh, was für ein wunderschöner Gesang. War es nach all dem nicht göttlich, so von draußen aus der Kälte, der Dunkelheit, dem Seegang und der Ungewißheit hereinzukommen und seine Sorgen und Ängste in den sanften Wogen der Tonkunst ertränken zu dürfen? Oh, es war ein wahrhaftiger Widerschein von Gott, diese seligen, erlösten Menschen mit ihren Musikinstrumenten droben auf dem Podium zu sehen. Sie kannte noch keinen von ihnen außer dem Kapitän, aber als sie einige genauer betrachtete, konnte sie nicht sehen, daß diese Leute bedeutendere Menschen waren als sie und ihresgleichen, vermutlich standen sie nur deshalb in so viel größerem Ansehen bei Gott, weil sie zu Jesus gefunden hatten. Welche Schönheit, Wonne und Kunst es mit sich bringen mußte, zu Jesus zu finden und die Fähigkeit zu erlangen, Mandoline zu spielen oder auch nur die Trommel. Welches Wunder, daß diese große rote Alte mit den vorstehenden Zähnen, die genau hinter dem Kapitän stand, auch zu Jesus gefunden hatte und dort auf dem Podium sein und singen durfte. Weniger schön dagegen war, zu sehen, wie die Mädchen und die Jungen sich aufzuführen wagten, die Jungen versuchten ständig, die Mädchen zu ärgern, und machten alle möglichen Dummheiten, und die Mädchen taten, als ob sie mitsängen und nichts bemerkten, dabei stachelten sie die Jungen nur auf; es war kein Ernst im Gesang der Mädchen, und manchmal sangen sie aus vollen Leibeskräften, um dann mit einem Kichern zu enden. Die Kleine beobachtete jede einzelne Bewegung im Saal mit gespannter Aufmerksamkeit und konnte kaum still sitzenbleiben, insbesondere hätte sie gerne einen häßlichen schwarzhaarigen Mann geschlagen, der immer versuchte, mit seinem Fuß eine Bank umzuwerfen, auf der vier Mädchen saßen. Sie war sich sicher, daß er dies aus reiner Boshaftigkeit tat, und konnte nicht verstehen, weshalb die Mädchen ihn nicht laut schimpften oder sich nicht beim Kapitän beklagten. Als das erste Lied zu Ende war und der Kapitän anfing, mit geschlossenen Augen ein herzergreifendes Gebet zu sprechen, in einer Sprache, die das kleine Mädchen nicht verstand, begannen die Männer auch noch, allerhand unanständige Geräusche von sich zu geben, worauf einige der Mädchen loskreischten und andere pfui riefen.
Wenn wild die Wellen brausen,
die Stürme wütend sausen,
meinen letzten Freund ich verlier’,
dann flüchte ich, Jesus, zu dir.
Wenn laut vor Qual ich ächze,
da ich nach Freude lechze,
einsam auf eisiger Heide frier’,
dann flüchte ich, Jesus, zu dir.
Wenn ich das Licht ersehne,
im dunklen Schatten stöhne,
eisigen Tau im Herzen spür’,
dann flüchte ich, Jesus, zu dir.
Als nächstes trat an den vorderen Rand des Podiums eine dürre Frau mit hungrigen Augen, einer schneidenden Stimme und einem verbitterten Zug um den Mund, als ob auf ihren Lippen geschrieben stünde: »Oh, wie bist du hart, mein Gott.« Doch als sie zu sprechen begann, schloß sie, nach dem Vorbild des Offiziers, ihre hungrigen Augen und wandte ihr Gesicht nach oben, dem König der Herrlichkeit entgegen, damit das Lächeln der Erlösung aus den Höhen herab auf ihre von Sorgen geplagte Kopfhaut tropfen konnte:
Oh, ich bin so innig froh über meinen Heiland, daß er sein Blut in meine Seele hat strömen lassen. Ich bin ihm von Herzen dankbar dafür, daß er so wundersame Mittel verwendet hat, um mich zu seinem Kreuz zu führen. Es ist meine Freude, Zeugnis davon abzulegen, daß ich, als ich im Geist mit Gebet und kindlichem Glauben zu Jesu kam, wahre Gewißheit über die Vergebung meiner Sünden erhielt, Gewißheit über das Recht der Kinder Gottes, und daß er keinen davonjagt, der so zu ihm kommt als Kind, er wird ihnen dieselbe Gewißheit geben wie mir, ja unverdient aus seiner Gnade schenkt er den wahren Frieden, die wahre Freiheit, sucht ihn, solange er zu finden ist.
Gott sei Dank und Lob und Preis in Jesu Namen, halleluja, sagte der Hauptmann. Und die Kadetten, die Leutnants, die Fähnriche und die Oberstabsfeldwebel droben auf dem Podium stimmten ebenso ein wie die gewöhnlichen Soldaten, die neben den Sündern auf den Zuhörerbänken saßen: Halleluja. Zwei Sünder taten ihre Meinung mit der Speiseröhre kund. Anschließend kündigte der Kapitän an, daß ihre liebe Schwester in Christi, Kadett Thordis Sigurkarlsdottir, einige Worte an die Versammlung richten wolle.
Todda Trampel, Todda Trampel wurde im Saal geflüstert, und dann drängte sich die stämmige rote Frau mit den vorstehenden Zähnen vor den Kapitän hin und stieß eine Trommel und zwei Mandolinen um. Sie hatte weit offene Nasenlöcher, und als sie ihr Gesicht zum Herrn erhob, hätte es ihr direkt in die Nase hineinregnen können. Sie trug eine isländische Tracht mit leuchtend roter Schleife und schien bei jeder Arbeit, die sie in Angriff nahm, ihren Mann stehen zu können.
Oh, diese Seligkeit, begann sie in schleppendem Ton und schloß die Augen, wobei sie die Arme vor dem Bauch verschränkte, im siebten Himmel, wie ein betrunkener Erzbischof, der auf einer königlichen Fregatte in See gestochen ist. Oh, diese Seligkeit. Und dann, mit wachsendem Nachdruck: bei Jesus zu sein, zu seinen Füßen sitzen zu dürfen: dieses herrliche, dieses großartige, dieses weltberühmte Opferlamm, das für mich das Blut aus seinem Herzen hat schäumen lassen, wie wenn an einem Herbsttag unschuldige Schafe geschlachtet werden: Oh, diese Seligkeit, in den Genuß dieses Herzens zu kommen, das ihm aus der Brust gerissen wurde, voll von Gnade und Wahrheit, so daß Blut und Wasser herausquoll.
Und nach diesen farbigen, bilderreichen, sprachgewaltigen Eingangsworten fiel sie für eine kurze Weile in Trance und stand mit nach oben gewandtem Gesicht, in Gott ruhend, mit geschlossenen Augen auf dem Podium. Doch dann öffnete sie die Augen, und zwar sehr weit, sah den verstockten, leichtfertigen, ungläubigen Pöbel zu ihren Füßen scharf an, verzog den Mund und drohte mit den Fäusten, wie jemand, der bei der Viehscheide eine Schlägerei beginnen möchte, und erhob wieder ihre Stimme, diesmal zitternd vor heiliger Wut:
Doch ihr, ihr – donnerte sie –, die ihr hier dem Lamm gegenübersteht, mit den Herzen voller Schmutz, was habt ihr vorzuweisen gegenüber diesen gesegneten Innereien, aus denen Blut und Wasser quoll? Blut und Wasser! Ihr steht hier zu dieser Stunde vor dem Thron des Lamms, an dem schönen Blutbach, der allein euch reinwaschen kann von allen euren Seelenbeulendreckpestgeschwüren. Versucht ihr etwa, euch einzureden, der, der euch auf Herz und Nieren und Lunge prüft, kenne euer Herz, eure Nieren und eure Lunge nicht? Glaubt ihr jungen Frauenzimmer, die ihr unter dem Vorwand, ihr müßtet die Ascheimer ins Meer ausleeren, heimlich zur Armeeversammlung kommt und die Ascheimer hier unter den Fenstern unserer göttlichen Heilsarmee abstellt, während ihr zur Armeeversammlung geht, um dummes Zeug zu machen, seid ihr wirklich so einfältig zu glauben, der Herr sei so kurzsichtig, daß er nicht sehe, daß ihr nur deshalb vor sein heiliges Angesicht tretet, weil ihr hier Gelegenheit habt, den Männern schöne Augen zu machen… (Halt’ die Klappe, Todda Trampel, ließ sich da einer der Zuhörer vernehmen und machte außerdem noch eine ziemlich unpassende Bemerkung darüber, daß es noch gar nicht so lange her sei, daß sie selbst bei jedem Mannsbild hier im Ort schwach geworden war, egal ob es ein Ausländer oder ein Einheimischer war.) Und ich sage, das ist gelogen, du dummer Kerl, du hast dein ganzes Leben lang noch nie zu irgend etwas getaugt und wirst nie zu etwas taugen, weder in dieser noch in einer anderen Welt! Die Beschimpfungen und Anschuldigungen der Welt kümmern mich nicht, denn ich bin so froh in meinem Heiland, der mich von den Genüssen der Welt und den Gaukeleien des Teufels erlöst hat.
Dann schwieg sie eine Weile, und als sie wieder zu sprechen anfing, war ihr Ton milder und angenehmer: Wenn ich meine Sünde betrachte, meine schreckliche Sünde vor Gott, dann wünsche ich mir, daß möglichst viele dieser Freiheit und wahren Freude teilhaftig werden mögen, der man teilhaftig wird, wenn man die Knie seines Fleisches und seines Herzens in wahrer Demut vor dem Kreuz beugt. Das Lamm hat mich zu sich genommen, und ich habe nichts mehr zu befürchten an jenem großen Tag, an dem es auf den Wolken schwebend kommt, um mich auf Herz und Nieren und Lunge und Magen zu prüfen. Und das möchte ich euch Männern sagen, das habe ich vorhin vergessen zu sagen, daß ihr nicht besser seid als die Frauen mit ihrem Schöne-Augen-Machen und ihrem Getue, ihr führt unanständige Reden im Angesicht des Herrn, ihr spielt Siebzehnundvier und veranstaltet Schlägereien vor dem Richtstuhl der Ewigkeit und liegt in Branntweinkrämpfen vor der heiligen Dreieinigkeit. Und wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß er der einzig wahre Branntwein ist. Und wer sich betrinken will, der soll sich an ihm betrinken. Seht den Arbeiter im Weinberg, der sich müht und plagt, den großen Jesus Christus, euren Erlöser, er tritt die Mostpresse Gottes, müde und erschöpft, der Schweiß perlt von seinem gesegneten Haupt. Kommt jetzt, ihr Frauen und Männer, herein in einen Weinberg, ehe es zu spät ist, kommt, ihr verirrten Seelen, zur Büßerbank hier am Podium und beugt eure Knie vor dem Herrn, ehe es zu spät ist. Denn es ist zu spät zur Reue nach dem Tod, wenn das Feuer der Hölle schon in euren widerlichen Seelengeschwüren lodert. Amen. Halleluja.
Während dieser glänzenden Rede, die sowohl mit himmlischer wie mit irdischer Kraft vorgetragen wurde und von Anfang bis Ende die Aufmerksamkeit Salka Valkas gefangenhielt, geschah es, daß die Augen Sigurlinas in Trance zu starren begannen und die Spuren, die eine harte Welt im Aussehen der Frau hinterlassen hatte, angesichts des Arguments der Ewigkeit getilgt wurden. Auf dieselbe Weise verschwand die Befangenheit, die in der Gegenwart von Männern eine bestimmte Spannung in ihrem Gesicht hervorrief, und es kam eine wortlose und angsterfüllte Hilflosigkeit über die Frau, ohne Erinnerung an Zeit, Raum und Erfahrung, ähnlich der Hilflosigkeit des Sterbebettes.
Und bevor die Frau die Möglichkeit hatte, wieder zu sich zu kommen aus dieser Trance oder sich darüber klar zu werden, was mit ihr geschah, da begann das nächste Lied, das Lied von dem einzig wahren Weinstock, welches offensichtlich aus Anlaß des Vergleichs gewählt worden war, den Todda Trampel kurz zuvor zwischen Jesus Christus und dem einzig wahren Branntwein gezogen hatte.
Du Weinstock, du reiner, o ewiger einer,
ein Zweiglein nur bin ich, das aus dir entsprießt.
In Freude und Harm dein himmlischer Arm,
mein herzliebster Jesus, mich immer umschließt.
Du Weinstock, du reiner, o ewiger einer,
der Saft und die Kraft deines Stamms mich entzückt.
Aus dir sprudelt hell ein liebender Quell,
mein süßer Herr Jesus, der stets mich erquickt.
Du Weinstock, du reiner, o ewiger einer,
nie wirst du verwelken, ich baue auf dich.
Und schwitze ich Blut, versengt mich die Glut,
mit kühlendem Schatten umhüllest du mich.
Jetzt singen wir alle, sagte der Kapitän rot und eifrig, mit funkelnden Augen, und es war etwas Lustvolles, beinahe Orgiastisches in der Stimme und dem Blick, die diese Aufforderung begleiteten – er hätte ebensogut sagen können: Oh, jetzt wollen wir uns alle betrinken an diesen süßen Weinen, denn morgen gibt es uns nicht mehr. Und alle stimmten ein, selbst die, die schwach im Glauben waren, und die Gottlosen wurden mitgerissen und wiegten sich begeistert im verführerischen Rhythmus von Melodie und Text und in vollkommener Übereinstimmung mit den Stimmen der Vorsänger und der Instrumente:
Kein Weinstock je sich findet,
der so ist, wie du bist für mich.
Die Ewigkeit uns bindet,
ich klammere mich fest an dich.
Diese unbedeutende Frau, die hier an diesem völlig unbedeutenden Küstenstrich an Land gegangen war, wie ein Stück Treibgut von irgendeinem unbestimmten Ort kommend und auch nicht auf dem Weg zu einem festgelegten Ort, natürlich hatte sie gegen Widrigkeiten ankämpfen müssen, wie andere auch in dieser schwierigen Welt, in der Gott dem einzelnen so viel auferlegt, natürlich hatte sie dies und das auf dem Gewissen, eine Frau, die weder ein Zuhause noch ein Kapital besaß, solche Leute sind immer sündenbeladen, schließlich hatte sie das lebende Beweisstück einer schicksalsschweren, gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßenden Liebe, die sie hatte erdulden müssen, bei sich. Und was könnte schöner sein, wenn die Vergangenheit eines Menschen im Regen ist und seine Zukunft in der Traufe, was freudenreicher als der Trost des Glaubens, der die Erlösung durch das Blut Jesu verspricht? Je unbedeutender man sich diesem großen, feindlichen Universum gegenüber fühlt, desto herrlicher wird der Erlöser, und sie fühlte sich nun wirklich nicht bedeutend. Und da dieser und jener durch Jesu Verdienst erlöst worden war, warum dann nicht auch sie? Er war der ewige und eine, reine und wahre Weinstock der Geringen, und heute abend hatte sie die Möglichkeit, das Zweiglein zu werden, das aus ihm entsprießt und all seinen Saft und seine Lebenskraft ihm verdankt. Sie hatte spät am Abend an einer fremden Küste nach einem Nachtquartier gesucht, der Verzweiflung nahe, doch dann kam er mit offenen Armen und wischte alle Sorgen aus ihrem Gesicht weg, wie wenn bei frischem Ostwind die Mückenplage aufhört. Und so kam es dann, daß die Mutter Salka Valkas über der gesegneten, gnadenreichen Umarmung Jesu die ganze Welt vergaß und wie eine Schlafwandlerin auf die Büßerbank zustrebte, um dort zum ersten Mal die Knie ihres Fleisches und ihres Herzens vor ihrem Heiland zu beugen. Und das kleine Mädchen blieb mit offenem Mund zurück, kniff die Augen zusammen und zuckte mit dem Kopf. Unten auf der Betbank neben der Frau fanden sich verschiedene Seelen aus der Armee ein, beugten weinend und betend die Knie, um ihr Gesellschaft zu leisten, während die Musikanten auf ihren Instrumenten spielten und aus voller Brust dieses herrliche Siegeslied schmetterten:
Selig, selig, stimmt ein in den Triumphgesang,
selig, selig, denn Jesu Blut den Sieg errang.
Da er, da er aus Liebe zu uns Armen starb,
für uns, für uns den Weg zum Himmelreich erwarb.
Zieh mich näher zu dir, Herr,
daß an deinem Kreuz ich steh’.
Zieh mich näher zu dir, Herr,
hin zu deinem Wunden-See.
Als man mit dem Lied so weit gekommen war, bemerkte Salka Valka, daß im Saal verschiedene Leute freudig zueinander gefunden hatten, und der häßliche schwarze Kerl, der vorhin immer wieder versucht hatte, die Bank umzuwerfen, saß nun zwischen zwei Mädchen und hielt beide umarmt, und was die Kleine am meisten wunderte, war die Tatsache, daß die Mädchen dies gern zu haben schienen. Auf einer anderen Bank küßte ein Mann ganz deutlich ein Mädchen auf den Hals, sie aber tat, als ob nichts wäre, und sang einfach weiter. Die Kleine hätte nie geglaubt, daß es in einer Kirche so unzüchtig zugehen könnte.
Doch gerade, als die heilige Vereinigung der Seelen mit ihrem Erlöser ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde es der Macht der Dunkelheit zuviel, und die Eifersucht jenes Feindes, der sich in den Abgründen aufhält, machte sich in einem heimtückischen Angriff Luft, und zwar dergestalt, daß es im Saal plötzlich dreckige Ascheimer regnete, die voller Asche, Kehricht, Essensabfälle, Tang oder Schnee waren. Einige kamen durch ein Fenster, das halb offengestanden hatte, hereingesegelt, andere durch die Eingangstür, von wo sich der Türsteher vorübergehend entfernt hatte, um am Singen und Beten teilzunehmen. Diese Störung der Feier hatte zur Folge, daß die meisten jäh aus ihrer Andacht aufgeschreckt wurden, der Gesang kam durcheinander, die Musikinstrumente verstummten eines nach dem andern. Der Kapitän sprang auf und mit ihm mehrere Soldaten, sie rannten zum Eingang und spähten um das Haus herum, doch ohne Erfolg, und nach einer Weile kamen sie wieder herein, ohne etwas über die natürliche Ursache dieses bedauerlichen Zwischenfalls herausgefunden zu haben. Salka Valka bekam einen leichten Anfall von religiösem Herzklopfen und glaubte zuerst, Gott habe die Jungen und die Mädchen für ihr vieles Herumschäkern strafen wollen. Doch der Kapitän hatte keinen Zweifel daran, daß hier kein anderer am Werk gewesen war als Satan selbst, und nach dem, was er sagte, würde es nie Gerechtigkeit geben, solange Christus die Pforten der Hölle nicht gänzlich schloß.
Diese arme, fremde Schwester hatte sich jetzt schnell und unerwartet zu Jesu bekehrt, und da dem so war, konnte verständlicherweise nicht mehr davon die Rede sein, daß man ihr und ihrem Kind das Obdach verweigerte, zumindest nicht für diese Nacht. Also wurde sie samt dem Kind zu einem der Dienstmädchen der Institution ins Bett gesteckt. Am Morgen, als sie für die Übernachtung bezahlte, erkundigte sie sich, ob im Haus nicht vielleicht eine Stelle für ein tüchtiges Dienstmädchen frei sei, aber es war nicht möglich, noch mehr Leute einzustellen, und man riet ihr, es anderswo zu versuchen, zum Beispiel beim Kaufmann, beim Propst oder beim Arzt. Außerdem sagte man ihr, wenn sie nur irgendwo eine Unterkunft finden könnte, dann wäre es sehr wahrscheinlich, daß sie Arbeit als Fischwäscherin bei Johann Bogesen bekommen könne, sobald die Fangsaison begann. Doch heute war die Frau sicher und zuversichtlich, zum einen, weil sie sich immer besser von der Seekrankheit erholte, und zum andern, weil sie davon überzeugt war, daß ihr Jesus helfen würde. Sie war froh in ihrem Heiland und fand, daß es eigentlich gar nicht mehr so viel ausmachte, daß die Welt ein wenig böse war, denn sie war erlöst von deren schlimmen Qualen und Täuschungen und hatte den herrlichen Gesang über den reinen Weinstock vernommen, der ihr wachend und schlafend in den Ohren klang und dessen Duft ihr bei jedem Schritt in die Nase stieg.
Es herrschte Frostwetter, der Wind hatte Schneewehen aufgetürmt, der Ort wirkte abweisend. Die Taglöhnerhütten, von denen viele auf die alten Unterkünfte der Fischer aus den Zeiten des Fangplatzes, des Vorgängers des Dorfes, zurückgingen, diese unförmigen Behausungen mit einer oder zwei Wänden aus Torf, die noch aus den Fangplatzzeiten stammten, einem Fisch, der zum Dörren am Giebel aufgehängt war, und blattlosen und blütenlosen Zimmerpflanzen, halb tot in rostigen Töpfen hinter den Fenstern, oder uralten Frauengesichtern, sie duckten sich dort entlang einer Art von Straße in völliger Teilnahmslosigkeit gegenüber allen Fremden und wurden nur vereinzelt von einer neugierigen Hausfrau geöffnet, die ihre von der Kälte geschwollenen Hände unter die Schürze steckte und verwundert dieses heimatlose weibliche Wesen anstierte, das keiner kannte und dem nichts gehörte, außer Jesus und einem Kind. Hier gab es nur wenig flaches Land, es ging gleich bergaufwärts, und die Siedlung zog sich an manchen Stellen ein Stück den Hang hinauf. Auf der anderen Seite des Fjords waren sehr steile Berge, und an seinem Ende lag eine Gruppe von Häusern, die zur Landgemeinde gehörten. Hinter dem Tal begann das schroffe, schneebedeckte Gebirge. Unten an der Landungsbrücke stand der Kaufmannsladen, das Geschäft Johann Bogesens, mit dem Eingang von der Straße und einer Ansammlung unregelmäßiger Fischspeicher dahinter. Das Ladenlokal selbst war ein zweistöckiges Gebäude, um das herum es nach Petroleum, Kreolin, Fisch, Tabak und Kolonialwaren roch. Hier wohnte der Geschäftsführer im oberen Stock, doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein Stückchen weiter oben am Hang, stand das prächtige Steinhaus des Kaufmanns Johann Bogesen selbst, strahlend weiß wie der Schnee auf den Bergen, ohne Mansarde, mit zahllosen viereckigen Zinnen an den Dachkanten, ähnlich wie bei alten Festungsmauern. Dort sah man nirgends Eisblumen an den Scheiben, und in beiden Stockwerken hingen gelbe Seidenvorhänge, die halb zugezogen waren, vor den Fenstern. In der Mitte der Vorderfront des Hauses lag der prachtvolle Eingang mit einer großen Tür aus Eichenholz und einer breiten Freitreppe davor, fast wie auf den Bibelbildern, doch die Frau war nicht jemand, der einfach auf den Vordereingang solcher Häuser zusteuerte, sondern sie ging an die Rückseite des Hauses und suchte nach dem Hintereingang. Kurz danach standen Mutter und Tochter in einer großen, betriebsamen Küche, wo zwei singende Mädchen ihrer Hausarbeit nachgingen, umhüllt vom Duft schöner brauner Braten. Die eine hörte auf zu singen und fragte die Besucherinnen, was sie wollten, und Sigurlina bat darum, die gnädige Frau sprechen zu dürfen.
Die gnädige Frau? Ja, das sieht man gleich, daß Sie von weither kommen. Als ob die gnädige Frau jemals zu dieser Zeit des Tages zu sprechen wäre, nein, das ist sie ganz bestimmt nicht, glücklicherweise nicht, ich sage nicht mehr. Bist du von droben in den Jökulsar-Tälern?
Nein, ich bin aus dem Nordland. Ich kam gestern abend mit dem Küstendampfer. Ob es wohl möglich ist, eine Arbeit zu finden in den Häusern hier am Axlarfjord?
In den Häusern? Was für Häuser gibt es denn hier? Es gibt hier nur ein Haus, das, in dem Sie im Augenblick stehen. Ich nenne das kein Haus, zum Beispiel beim Geschäftsführer Stephensen, auch wenn sie ein Dienstmädchen haben und ein junges Ding, um auf die Kinder aufzupassen. Ich bin nämlich aus dem Osten, aus dem Silisfjord, und ich muß sagen, daß ich nicht sehen kann, daß es hier im Ort anständige Häuser gibt, und wäre da nicht die Heilsarmee, über die sich alle lustig machen, dann könnte man es nicht aushalten in diesem elenden Nest – nie ein richtiger Ball, und daran ist nur Johann Bogesen schuld, denn er will den Leuten für so etwas nichts ausbezahlen aus der Rechnung, hier stehen nämlich alle in Rechnung, weißt du – einen Ball können sie hier bestenfalls am Ende der Fangsaison abhalten, denn dann sieht man eine Zeitlang Geld – ich sage für mich, und für uns natürlich, wir bekommen natürlich unseren Lohn ausbezahlt, wenn wir es wollen, aber das ist kein Lohn, und selbstverständlich können wir nicht damit anfangen, die Herren einzuladen. Aber um wieder darauf zurückzukommen, so glaube ich nicht, daß die gnädige Frau noch weitere Mädchen einstellt, (flüsternd) der Teufel hol’s, wenn sie jemals vor Mittag aus dem Bett steigt, verstehst du, sie ist nämlich Dänin, mehr sag’ ich nicht. – Ne-ein, ist das dein Kind, wie groß und gesund sie ist! Du lieber Gott, war das nicht gewaltig bei der Armee gestern, als diese verfluchten Burschen die Ascheimer hereinwarfen, ich könnte schwören, daß das unser Angantyr war, der Sohn des Kaufmanns, und die Jungen des Geschäftsführers und, wie heißt er doch, der Ziehsohn des alten Jon im Kof. – Ja, ehe ich’s vergesse, ich gratuliere auch zu deiner Errettung, so etwas ist immer schön, aber ich für meine Person glaube nun einmal, daß Gott uns alle auf einmal erlöst, falls es ihn gibt. –
Ach, sei so nett und halt auch mal den Mund, Stina, sagte das andere Mädchen und hörte auf zu singen. Warum führst du sie nicht in das braune Zimmer, dort ist niemand außer Tyri, der für seine Stunde lernt. Es kann gut sein, daß die gnädige Frau etwas für dieses Mädchen tun kann, es ist nicht deine Sache, sie einfach wegzuschicken. Ich glaube, die Goldringe werden nicht von ihr abfallen, wenn sie einmal um elf Uhr geweckt wird.
Mutter und Tochter wurden also aus der Küche in ein Zimmer mittlerer Größe geführt, das eine braune Tapete hatte und reich wie die Säle des Himmels ausgestattet war, so daß die beiden ganz ehrfürchtig wurden. Es war nicht leicht zu erkennen, für welchen Verwendungszweck ein solches Zimmer gedacht war, am ehesten wohl, um zu lesen und zu rauchen, an den Wänden standen Schränke voller Bücher und mitten im Zimmer ein mächtiger Rauchtisch mit verschiedenen Tabakwaren. An den Wänden hingen altertümliche Bilder von ausländischen Landschaften, die bei Mutter und Tochter Erstaunen und Bewunderung hervorriefen. Unter den übrigen Möbeln fielen vor allem vier riesige, lederbezogene Sessel und ein zu ihnen passendes großes Sofa auf. Außerdem stand dort ein großer, geschlossener Mahagonischrank. Ein Heizkörper verbreitete wohlige Wärme, und an der Decke hing ein mächtiger elektrischer Kronleuchter. Mit einem Wort gesagt, es war fast so, als wäre man schon in Reykjavik. Auf einem kleinen Tisch am Fenster lagen ein paar offene Schulbücher, und in einem der Sessel saß ein Junge von schätzungsweise zehn Jahren, der eifrig damit beschäftigt war, einer grauen Katze, die ihm gegenüber auf einem anderen Sessel hockte und ihn mit grenzenloser Verachtung ansah, Grimassen zu schneiden. Im übrigen schien die Katze fürchterlich müde zu sein, denn sie schloß immer wieder die Augen. Doch jedes Mal, wenn sie sie wieder aufmachte, sah sie nichts anderes als die Grimassen des Jungen, die sie offensichtlich überhaupt nicht komisch fand, so daß sie sich stets dazu genötigt fühlte, das Maul aufzureißen und leise zu miauen über eine solche Geschmacklosigkeit. Der Junge trug einen neuen blauen Pullover und neue blaue Hosen. Er hatte rotbraunes Haar, helle Haut und leuchtend blaue Augen. Er strotzte geradezu vor jener feinen Lebenskraft, wie sie Kinder, die im Luxus leben, haben. Er schien die Besucherinnen überhaupt nicht zu beachten und sah die beiden nicht einmal an, sondern schnitt der Katze weiter Grimassen; es fiel ihm gar nicht ein, den Gruß der Besucherinnen zu erwidern. Das Dienstmädchen schaute im Zimmer nach, ob alles in Ordnung sei, wechselte aus Höflichkeit ein paar Worte mit Mutter und Tochter, war jedoch bei weitem nicht so gesprächig wie die andere, und dann wandte sie sich an den Jungen.
Das ist ja ein schöner Anblick, Tyri, sagte sie. Du hast wohl kein Mitleid mit deinem Vater, der einen teuren Hauslehrer für dich bezahlt, während dir nichts anderes einfällt, als der Miezekatze Grimassen zu schneiden.
Halt den Mund und verzieh dich, sonst hau ich dir eine rein, sagte der Junge ruhig und schnitt der Katze weiter Grimassen, das Mädchen aber sagte pfui und verließ das Zimmer.
Mutter und Tochter hatten sich auf das Sofa gesetzt. Sigurlina legte ihre roten, geschwollenen Hände in den Schoß und starrte vor sich hin wie eine Photographie, wie es einfache Leute tun, wenn man sie ins Wohnzimmer bittet. Es war, als habe sie sich vorgenommen, ihre Halswirbel nicht mehr zu bewegen. Im Vergleich zu den stabilen, schön verarbeiteten Möbeln wirkten diese beiden weiblichen Wesen wie Gerümpel, das man unten am Strand aufgelesen hatte – weit entfernt davon, irgendwie mit der Umgebung übereinzustimmen, schlechthin lächerlich. Doch das kleine Mädchen, das weniger Erfahrung hatte mit den Herrschenden in der Gesellschaft als ihre Mutter und deshalb nicht wußte, in was für einer Mausefalle sie sich befand, sah sich ungeniert und mit neugierigen Blicken im ganzen Zimmer um und bewunderte insbesondere den Kronleuchter; verständlicherweise richtete sich ihr Interesse aber vor allem auf die grotesken Übungen in der Kunst des Mienenspiels, die der Erbe des Hauses mit der Katze vollführte. Es war wirklich phänomenal, wie sich ein Gesicht mit so leuchtenden Augen und schöner Haut sowohl der Länge nach als auch in die Breite verzerren ließ: er verdrehte seine Augen, so daß man nur noch das Weiße sah, riß den Mund auf, so daß man seine Zähne zählen konnte und das Zäpfchen kerzengerade herabhängen sah, und schließlich steckte er die Fingerspitzen in Mund und Nase, schob die Haut unter den Augen herab, spreizte die Nasenlöcher auseinander und zog die Mundwinkel bis unter die Ohren, wobei er erbärmlich schrie. Das kleine Mädchen blickte immer wieder auf seine Mutter, um zu beobachten, wie sie auf eine solche Verrücktheit reagierte, aber die Frau schaute nur verklärt ins Blaue, denn sie betete gerade zu Jesus. Endlich konnte die Kleine sich nicht mehr zurückhalten und sprach den Jungen einfach an:
Warum schneidest du der Katze solche Grimassen, Bub?
Bis dahin hatte der Junge nicht im Traum daran gedacht, die Anwesenheit solcher Gäste überhaupt zu registrieren; nun fiel er aus allen Wolken. Er vergaß für den Augenblick die Katze, sah das Mädchen mit großen Augen an und wiederholte:
Warum? Ich? Bub? Wer gibt dir das Recht, mit mir zu sprechen? Halt den Mund!
Halt selber den Mund! sagte das kleine Mädchen frech, ohne sich darum zu kümmern, was armen Leuten erlaubt ist in der Gesellschaft.
Still, Salka, mahnte die Mutter. Was bist du so unhöflich in einem fremden Haus? Kümmere dich nicht um das, was dich nichts angeht!
Doch das Mädchen war wütend darüber, daß man ihr grundlos den Mund verboten hatte, und dachte gar nicht daran, klein beizugeben.
Er hat zuerst gesagt, ich soll den Mund halten, dabei habe ich nichts Schlimmes zu ihm gesagt.
Der Junge schnitt wieder eine Weile Grimassen vor der Katze, dann stand er auf, blieb regungslos stehen, während sein Gesicht wieder normale Züge annahm, und sah die Kleine mit kühler Unverschämtheit an:
Ich werde dich verprügeln, sagte er gefaßt und ruhig.
Komm nur, wenn du es wagst, sagte das kleine Mädchen.
Friß einen Hund! sagte der Junge.
Friß ihn selber! sagte das Mädchen.
Dieser Wortwechsel ging so rasch vor sich, daß Sigurlina nicht die Möglichkeit hatte, einzuschreiten, bevor es zu spät war. Und der Junge wußte nicht, was er sagen sollte, so völlig überrascht war er darüber, auf jemanden zu treffen, der es im Gebrauch von Schimpfwörtern mit ihm aufnehmen konnte, bis er halb ratlos murmelte:
Du hast kein Recht dazu, mir das zu sagen.
Doch die Mutter legte die Hand auf den Mund ihrer Tochter und bat sie, um alles in der Welt still zu sein. Die Katze sprang auf den Fußboden hinunter, machte einen Kamelbuckel und gähnte ausgiebig. Schließlich wandte sich der Junge an Sigurlina und fragte:
Was willst du eigentlich hier?
Ich wollte gerne mit der gnädigen Frau sprechen, antwortete sie klanglos.
Der Junge trat dicht an sie heran, setzte Salka Valka die Faust auf die Brust und fragte:
Wo kommst du her?
Diesmal gab die Kleine keine Antwort, doch ihre Mutter antwortete, daß sie aus dem Nordland kämen.
Ich bin Däne, sagte der Junge.
Aha, sagte die Frau, doch das kleine Mädchen sagte nichts.
Sicher bin ich Däne, sagte der Junge mit Nachdruck und sah die Kleine an, als ob das Ganze an sie gerichtet sei. Meine Mama ist Dänin und ich bin selber schon dreimal in Dänemark gewesen. Ich kann Dänisch.
Schweigen.
Ich habe ein Pferd, sagte der Junge.
Da sah das Mädchen endlich wieder auf, richtete ihren Blick auf seine Haut und die glänzenden Locken; alles an ihm leuchtete vor Wohlbefinden.
Als ob mir das nicht egal wäre, sagte die Kleine: Aber es war ihr nicht egal; in Wirklichkeit beneidete sie ihn.
Ganz bestimmt, es ist drei Jahre alt. Frag Gudda.
Dann ist es nur ein Fohlen, sagte das kleine Mädchen.
Ein Fohlen, bist du verrückt? Du bist selber ein Fohlen.
Du auch.
Still, sagte Sigurlina.
Ich habe tausend Kronen, sagte der Junge.
Tausend Kronen? Du?
Ja, ganz bestimmt. Ich habe sie für Hering bekommen.
Du? Für Hering?
Ich betreibe Fischfang. Ganz bestimmt. Frag Papa. Er hat mir im Herbst eine Woche lang ein Netz geliehen. Ich habe tausend Kronen daran verdient.
Hast du denn selber mit dem Netz gefischt?
Ich bin zweimal mit dem Boot weit, weit hinaus auf den Fjord gefahren, die halbe Strecke ins Ausland. Ich war im Maschinenraum mit dem Bootsführer.
Hast du selber mit dem Netz gefischt, sage ich?
Bist du verrückt!
Da siehst du es –
Glaubst du, daß die, denen die Netze gehören, selber fischen? Esel. Natürlich habe ich die Männer mit dem Ringnetz fischen lassen. Ich war nur der Chef. Mein Papa fischt nie selber. Ihm gehört nur der ganze Fisch hier im Fjord und alle Schiffe. Ich hab’ eine Zigarette vom Bootsführer bekommen.
Eine Zigarette? Du, so ein kleiner Junge! Daß du dich nicht schämst!
Ich kann rauchen.
Das kleine Mädchen sah ihn sprachlos an, noch nie hatte sie einen solchen Angeber getroffen.
Ich rauche oft. Ich habe gestern geraucht.
Meinst du, du darfst das, so ein kleiner Junge?!
Klein! Ich bin größer als du. Wie alt bist du?
Ich bin vor kurzem elf geworden.
Ich werde bald zwölf – im Ernst.
Wer soll das glauben?
Ich bin nicht kleiner als du.
Wenn du zwölf bist, dann nenne ich das klein.
Dann stell dich neben mich, damit wir sehen, wer größer ist!
Das Mädchen stellte sich neben ihn hin, und der Junge war um einen Zoll größer als sie, weil er sich auf die Zehenspitzen stellte.
Du stellst dich auf die Zehenspitzen.
Das ist gelogen, antwortete der Junge und reckte sich noch höher auf. Da stellte sich das Mädchen auch auf die Zehenspitzen und war gut einen Zoll größer.
Esel, sagte er. Ich bin doppelt so groß wie du im Verhältnis zum Alter, denn ich bin erst sechs.
Sechs, sagte das Mädchen. Und du willst der Chef auf einem Boot sein und rauchen können! Meinst du etwa, ich glaube nur ein Wort von dem, was du sagst?
Der Junge: Dann rauch doch mit mir, wenn du kein Feigling bist.
Das Mädchen: Meinst du, ich will etwas mit so einem Dreck zu tun haben? Nur böse Kinder rauchen.
Der Junge: Dir muß schlecht werden von einer Zigarette.
Das Mädchen: Muß mir nicht!
Der Junge: Dann probier es doch!
Das Mädchen: Dann bring eben eine Zigarette!
Still, sagte Sigurlina. Er ist ein vornehmes Kind und darf tun, was er will. Du brauchst das nicht nachzumachen.
Ja, sagte der Junge, dankbar dafür, daß die Frau für ihn Partei ergriff. Ich bin vornehm. Du bist nicht vornehm. Ich soll nächsten Sommer wieder nach Kopenhagen fahren. Du bist nur aus dem Nordland.