Der große Weber von Kaschmir - Halldór Laxness - E-Book

Der große Weber von Kaschmir E-Book

Halldór Laxness

4,9

Beschreibung

Er ist egozentrisch, rücksichtslos und auf der Suche nach sich selbst. Island ist ihm zu eng und provinziell, in der großen weiten Welt leben junge Männer wie er inmitten von Ausschweifungen und leidenschaftlichen Debatten. Dorthin zieht es Stein Ellidi, auch er will zügellos leben und mitreden. Bevor er geht, verabschiedet er sich von seiner Kindheitsfreundin Dilja. Eine Nacht lang sitzen sie auf den Thingfeldern am Meer, und Stein entwirft ihr das Panorama seiner strahlenden Zukunft. Ähnlich jung war der Autor, als er Der große Weber von Kaschmir, seinen ersten bedeutenden Roman, schrieb: 23 Jahre. Auch Laxness hatte sich in das wilde Leben gestürzt, war der Enge seiner Heimat entflohen, bevor er diese bunte, lebenssatte Geschichte eines Aufbegehrenden in Sizilien niederschrieb.

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Halldór Laxness Der große Weber von Kaschmir

Roman

Ma nondimen, rimossa ogni menzogna, tutta tua vision fa’ manifesta: e lascia pur grattar dov’ é la rogna! Chè se la voce tua sarà molesta nel primo gusto, vital nutrimento lascerà poi, quando sarà digesta.
Inhaltsverzeichnis
Der große Weber von Kaschmir
Erstes Buch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Zweites Buch
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
Drittes Buch
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
Viertes Buch
47
48
49
50
51
52
Fünftes Buch
53
54
55
56
57
58
59
60
61
Sechstes Buch
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
Siebentes Buch
75
76
77
78
79
80
81
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83
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88
89
Achtes Buch
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
Anmerkung des Übersetzers
Impressum

1

Eben flogen zwei Schwäne nach Osten.

Die Welt ist wie eine Bühne, auf der alles für eine große Oper hergerichtet ist: Birkenduft in der Thingvalla-Lava, ein kühler Hauch von den Sulur, purpurfarbener Himmel über der Esja, tiefe, kalte Bläue über dem Skjaldbreidur; es wird nicht mehr dunkel, überall taghelle Nacht und Schlaflosigkeit.

Haus Ylfing steht auf einem grasbewachsenen Streifen Land zwischen den Felsspalten, aus grauem Basalt gebaut, mitten in der Lava. Die wilden Birken bewegen sich im kühlen Wind und kritzeln unsichtbare Zeichen an den Abendhimmel, und aus dem Innern des Hauses kommt ein blutjunges Mädchen auf die Veranda an der Südseite heraus, blickt nach Westen den Waldweg entlang und lehnt sich auf das Geländer. Sie reckt ihren Hals wie ein Schneehuhn und lauscht nach Westen, unschuldig und hell wie eine mythische Gestalt, die ihr Leben unter weißen Lämmchen im Wald zugebracht hatte. Die Uhr im Haus schlägt zehn.

Eine alte Frau kommt auf die Veranda heraus, in schwarzem, langem Kleid, eine eindrucksvolle und vornehme Gestalt, mit grauem Haar.

Dilja, sagt sie. Ich kann einfach nicht verstehen, daß sie noch nicht da sind. Dabei war es kurz vor acht Uhr, als Örnolf telefonierte, um zu sagen, daß sie jetzt abfahren wollten. Und die arme Jofrid muß sich morgen einschiffen. Hörst du vielleicht ein Rattern?

Nein, Großmutter, es rattert überhaupt nichts, antwortete das junge Mädchen müde.

Wer weiß, womöglich haben sie eine Panne? Habe ich nicht immer gesagt, daß auf diese Automobile kein Verlaß ist? Es fehlte nur noch, daß sie mitten auf der Mosfellsheidi liegenbleiben! Geh doch rasch hinein, Dilja, und hole mein Strickzeug und bring mir mein Pelzcape mit; ich möchte eine Weile hier auf der Veranda warten, das Wetter ist so mild.

Kurz darauf kam das Mädchen kauend wieder auf die Veranda; sie hatte einen weißen Flanellmantel übergezogen und hielt einen halbgegessenen Keks in der Hand.

Obwohl ihre Augen jung und leuchtend waren, hatten sie doch das schwere, graue Flimmern, das man so häufig bei nervösen Menschen findet, die Lippen waren feucht von Jugend und Unberührtheit, weich und rot, die Züge um den Mund herum wenig ausgeprägt, wie ein Kopf, von dem der Bildhauer mit seinem Modellierholz erst die groben Umrisse geformt hat. So war der ganze Körper: jung, frisch und geschmeidig, wie eine Ähre im Frühling, wenn ein neuer Mond über dem Rand des Ackers wacht, blankgeputzt und schmal. Das Haar war das einzige an diesem Körper, das üppig war und dicht, glänzend und hell, zu einem Zopf geflochten, mit Ringellocken an den Schläfen.

Stell dir vor, Großmutter, sagte das Mädchen, als sie der alten Dame ihre Sachen gegeben und den Keks aufgegessen hatte, ich habe erst gestern, als ich es im Morgenblatt las, erfahren, daß die Grimulfsfamilie verreisen will! Und Stein Ellidi, der mir alles sagt, hat es mit keinem einzigen Wort erwähnt, als wir vor einer Woche in Reykjavik zusammen waren. Wir gingen nach Laugarnes hinaus. Warum fahren sie so plötzlich?

Das war seit langem geplant, antwortete die alte Dame und fing dabei an zu stricken. Aber man weiß nie etwas über die Pläne der Brüder, bevor sie sie ausführen. Das letzte Mal, als Örnolf im Ausland war, hat er neue Absatzmärkte erschlossen, wie sie das nennen; er war in Portugal und Süditalien. Es ist notwendig, daß sich einer von ihnen dort im Süden aufhält, um den Markt zu beobachten. Man kann die Geschäfte nicht dem ausländischen Büropersonal anvertrauen, wenn so viel auf dem Spiel steht.

Als ob Jofrid sich dort im Süden nicht genauso zu Tode langweilen würde wie überall! sagte das Mädchen. Wo sie es nirgends aushält vor Schwindsucht und Langeweile; ich sehe schon kommen, daß sie es auch dort nicht lange aushält! Und was hat Stein Ellidi dort im Süden verloren, er, der sich nur für Kunst und Literatur interessiert! Dabei kann dort im Süden kaum einer lesen! Als ob Stein sich nicht nach Hause sehnen würde, als ob er nicht schnell nach Hause kommen würde, um Island zu sehen! Er, der an die Berge glaubt! Mir würde nicht im Traum einfallen, nach Italien zu fahren, selbst wenn ich dazu eingeladen würde. Was soll schon an Italien dran sein!

Der Ylfing A.G. ist es ziemlich gleich, was du von Italien hältst, Dilja, sagte ihre Pflegemutter. Die Firma Ylfing fragt nur nach dem Markt. Außerdem glaube ich, daß der Papst lesen kann. Aber um noch einmal auf Jofi zu kommen, sie fühlt sich nie wohler als auf Reisen, und dem kleinen Stein kann ich nichts Besseres wünschen, als aus Reykjavik wegzukommen, damit er eine Zeitlang diese Horde von Burschen loswird, die sich an ihn hängen wegen des Geldes seines Vaters, ganz zu schweigen von diesen verwünschten Dichterallüren, die den Jungen vollkommen verrückt machen.

Der leichte Wind war nicht kalt, obwohl es Abend geworden war, sondern mild und sanft; das Mädchen betrachtete seine Pflegemutter, Valgerd die Ylfingenmutter, diese Übermacht, die weder Jugend noch Begabung zu schätzen wußte, Stein Ellidi nicht verstand und nichts für Dichter übrig hatte. Sie stammte von alten, wohlhabenden Familien ab und dachte wie die reichen Beamten zur Zeit der königlichen Gouverneure. Doch heute abend war das Mädchen nicht gewillt zurückzustecken und erhob voller Übermut den Zeigefinger gegen ihre Pflegemutter, während sie sprach.

Nein, Großmutter, laß dir von mir gesagt sein, daß Stein Ellidi seine Freunde nicht dem Geld Grimulfs verdankt. Stein hat seine Freunde aus einem ganz anderen Grund als dem, daß die Ylfingen mit Klippfisch schachern. Denn Stein Ellidi ist viel reicher als sein Vater Grimulf, sage ich dir, sogar reicher als die ganze Ylfing A.G. Du wirst es schon noch sehen, wenn Stein weltberühmt geworden ist. Ja, warte nur ein paar Jahre, auch wenn du jetzt darüber lächelst. Was sagten die Lehrer im Gymnasium? Haben sie vielleicht nicht gesagt, Stein sei seit vielen Jahren der begabteste Schüler, der das Abitur gemacht habe? Hat er vielleicht im Frühjahr nicht mit achtzehn Jahren das Philosophikum mit Auszeichnung bestanden? Und was sagte der deutsche Professor, den Stein letztes Jahr im Nordland begleitet hat? Sagte er nicht wörtlich, daß er in ganz Deutschland noch keine so großartigen Anlagen gefunden habe? Eine feurige Begabung, sagte er zu Örnolf. Und was sagen seine Freunde, von denen viele berühmt und sehr gebildet sind? Sie bewundern ihn und glauben an ihn; denn er ist ein so großer Dichter, so voller Inspiration, so einfallsreich und genial…

Das Mädchen war so eifrig, daß ihr Wörter entschlüpften, die man sonst nur in literarischen Zeitschriften liest; es war deutlich, daß sie die Absicht hatte, ihre Großmutter zu überzeugen.

Doch Valgerd die Ylfingenmutter antwortete nur mit Jaja und warf einen raschen Blick auf ihre Pflegetochter. Sie schmunzelte über deren einfältige Begeisterung für »Einfallsreichtum« und »Genialität« und hielt es nicht der Mühe wert, noch mehr darauf zu antworten.

2

Das eine der beiden Privatautos der Ylfingen, ein schwerer, ockerfarbener Wagen, fuhr zwei Minuten später unterhalb der Veranda vor, und der Waldduft vermischte sich mit dem Geruch von Schmieröl und Benzindämpfen.

Der Reeder, Örnolf, saß am Steuer. Er lüftete höflich seinen leichten Filzhut vor Dilja und seiner Mutter, die die Verandatreppe hinuntergegangen waren, um den Ankommenden entgegenzulächeln. Stein Ellidi saß neben Örnolf und wartete nicht, bis der Wagen anhielt, sondern riß die Wagentür auf und sprang heraus, um als erster grüßen zu können; er reichte seiner Großmutter und Dilja je eine Hand. Grimulf drückte mit mageren, bläulichen Fingern den Griff an der hinteren Tür auf und half seiner Frau beim Aussteigen. Sie begrüßten einander alle mit Kuß, bis auf Örnolf, der um das Haus herumfuhr, um zu wenden und nach seinem Wagen zu sehen, wie es Chauffeure zu tun pflegen, ehe er ins Haus ging.

Stein Ellidi führte das Wort für die Ankömmlinge.

Tja, meine tapfere Alte, sagt er zu seiner Großmutter. Es ist ein alter Brauch, daß man den Segen der Stammesmutter einholt, bevor man sich auf eine Seereise begibt, ich hoffe, du hast daran gedacht, Pfannkuchen für uns backen zu lassen. In vierundzwanzig Stunden sehen wir das Land nicht mehr, sind unterwegs nach Süden, Großmutter, in den Süden, zu wärmeren Gestaden. Stell dir Leith vor, die große Stadt auf der anderen Seite des Meeres, wo die Lastkräne kreischen wie Fabeltiere und belgische Riesengäule die Zunge aus dem Maul hängen lassen und im Kohlenstaub schnauben.

Und ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob die Großmutter überhaupt zuhörte, wandte er sich Dilja zu und fuhr mit gleicher Nonchalance fort:

Ja, Dilja! Ich weiß wie gesagt erst seit drei, vier Tagen, was das Schicksal für mich in petto hatte.

Papa eröffnete es uns vorvorgestern am Frühstückstisch, so ganz beiläufig, als ob es nichts von Bedeutung wäre. Er sagte, ich könnte selbst entscheiden, ob ich dableiben oder mitfahren wollte, und ich überlegte mir die Sache zwei Tage lang. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß ich mitfahren muß. Denn wer sollte sonst Mama aus überspannten theosophischen Schriften vorlesen, oder aus englischen Half-a-crown-Romanen, die für den »geneigten Leser« in Stiefeln mit schiefen Absätzen, mit wirrem Haar, verwahrlosten Zähnen und Künstlerschleife geschrieben sind; und wer soll die gnädige Frau durch die Museen in Florenz führen und ihr die Meisterwerke von Kleckser und Michaelsen in der Galleria Pitti zeigen, wenn nicht ich? Wurde der Sohn vielleicht nicht in die Welt gesetzt, damit er seine Mutter verwöhnen kann? Dilja, du hättest wirklich mitfahren sollen! Aber was machst du denn für ein Gesicht? Bist du beleidigt?

Und er nahm sie rasch bei den Schultern und wirbelte sie herum wie einen Kreisel; danach schauten sie sich an. Gewöhnlich lachten sie über alles, wenn sie sich trafen, doch diesmal leuchtete keine Freude in den Augen des Mädchens. Und er gab auf. Beiden war nicht nach Lachen zumute. Er nahm sein Zigarettenetui aus der Hosentasche und spielte einen Augenblick geschickt damit, dann steckte er es wieder zurück.

3

Er war etwas über achtzehn Jahre alt, doch schon ganz erwachsen, groß und stattlich, der Körper geschmeidig und gelenkig, und bisweilen zeigten seine Bewegungen eine plötzliche Heftigkeit, die von ungebändigten Seelenkräften zeugte. Er war eine durchaus elegante Erscheinung, und weder Schüchternheit noch Zurückhaltung verdeckten die Vorzüge seines Charakters. Sein freies und energisches Auftreten hatte eine ähnliche Wirkung wie ein frischer Wind bei Sonnenschein; dieser sympathische junge Mann faszinierte wie etwas Übernatürliches in der Eintönigkeit des Alltags. Seine Stirn war ungewöhnlich hoch, verhältnismäßig schmal und oben eigentümlich gewölbt, das Haar rotblond, dicht und kräftig, es war aus dem Gesicht gekämmt und lag in langen Wellen über den Kopf nach hinten; diese prächtige Mähne trug das ihre dazu bei, seinem Aussehen etwas Großartiges und Eindrucksvolles zu verleihen. Nichts an seiner Person war jedoch so einnehmend wie sein Blick; die Augen waren außergewöhnlich strahlend; sie waren wie Juwelen; es war verlockend, in dieses funkelnde Blau zu starren; sie lagen recht tief, ihre Schönheit kam am besten zur Geltung, wenn er aufsah; und sie wurden von langen Wimpern beschützt; die Brauen kräftig und dicht: Bisweilen runzelte er sie, schaute rasch auf und glich einem Feldherrn. Bald leuchteten diese Augen mit der wilden Freude einer vielseitig begabten Seele, bald hatten sie einen milden Glanz, wie wenn das Bewußtsein sich mit einem Male über alles Sichtbare erhöbe und in verborgene Welten schaute; er besaß ein zweites Ich, das jenseits des Alltagslebens beheimatet war. Sah man jedoch von den Augen zum Mund, so bemerkte man ein gewisses Mißverhältnis in den Gesichtszügen. Die unregelmäßige Form des Mundes war auffallend: Der Oberkiefer stand ein wenig vor, und man sah stets zwei Schneidezähne, wenn er nicht die Lippen schloß; ein ironisches Lächeln spielte um den Mund; bei flüchtigem Hinsehen schien dieses Lächeln dem Gesicht nur einen männlich nonchalanten Zug zu verleihen, von der leicht entschuldbaren Selbstgefälligkeit eines jungen Mannes zu zeugen, dem die Welt offensteht. Doch bei genauerer Betrachtung konnte man aus diesem Zug kalte Unnachgiebigkeit, Unverfrorenheit und sogar Unverschämtheit herauslesen. Und schließlich konnte dieses Lächeln als beredtes Zeugnis dafür gelten, daß dieser Mann stets bereit war, Trotz zu bieten, schonungslos grausam zu sein. Es war genauso unangenehm, zu lange auf sein Lächeln zu schauen, wie es angenehm war, die beseelte Schönheit seiner Augen zu betrachten.

4

Die alte Dame hielt mit beiden Händen die eine Hand ihrer Schwiegertochter und hörte nachsichtig ihre Klagen über die Hektik der letzten Tage und andere Mühsal an. Sie hatte damit gekämpft, all die Sachen, die sie nicht in ihrem Gepäck haben wollte, unterzubringen, in Truhen und Schränken zu verstauen, und schließlich das Gepäck fertigzumachen, zu packen und packen. Keiner außer dem lieben Gott konnte sich eine Vorstellung machen von solcher Mühe. Drei Mädchen hatten vier Tage lang kopfgestanden. Schließlich hatte die Sache aber doch ein Ende genommen, Gott sei Dank. Aber wer konnte jetzt wissen, ob die Mädchen tatsächlich die Holzwolle verwendet hatten und ob nicht alles in tausend Stücke ging, wenn die Koffer dann herumgeworfen wurden.

Die junge Frau seufzte. Ihr einziger Trost war nun, daß sie sich diese Nacht hier in der Stille von Thingvellir ausruhen konnte; wenn sie überhaupt ein Auge würde zumachen können nach diesem Wirbel; es war, als sei sie gerade von einem Polarflug zurückgekehrt. Sie hatte sich heute abend hierher geflüchtet, um dem Lärm in Reykjavik zu entkommen; die Menschen benehmen sich immer wie verrückt, bevor man abreist; dann erst entdecken alle, wie sehr sie einen lieben. Oh, Frau Valgerd, mir ist es so schlecht gegangen, seitdem im Frühjahr die Blutspuren im Speichel waren; meine einzige Hoffnung ist der Aufenthalt in der Wärme des Südens.

Obschon Frau Jofrid Mutter eines achtzehnjährigen Sohnes war, sah sie nicht wie eine Frau mittleren Alters aus. Ganz im Gegenteil, ihre Haut war glatt und jung, der Körper wohlgerundet, prall von Weiblichkeit und Fruchtbarkeit, das Gesicht milchweiß, die Lippen tangrot, das Haar kastanienbraun, und in den dunklen Augen brannte eine übermächtige Glut, die von vielem zugleich zeugte: von Leidenschaften, Schwindsucht, krankem Gemüt; die Brauen zwei dunkle, hoch gezogene Bogen. In diesen Zügen lag jedoch etwas, das an eine Maske erinnerte, an das stilisierte Gesicht eines künstlichen Menschen, das sich nur dadurch von einem Bild im Panoptikum unterscheidet, daß es aus Fleisch und Blut gemacht ist. Und trotz der stets wachen Weiblichkeit, die bei jedem Wort, jedem Blick, jeder Bewegung von ihr ausstrahlte, kam in ihrem Wesen doch immer wieder etwas, das an ein müdes Kind erinnerte, zum Vorschein. Sie war nicht nur aus einem wundervoll feinen, flüchtigen Stoff gemacht, sondern schien auch selbst genau zu wissen, welche Kostbarkeit sie war, zerbrechlich und wertvoll. Sie war wie ein Gefäß aus orientalischem Glas. Die unbedeutendsten Begebenheiten in ihrer Nähe machten sie unruhig; sie war immer ängstlich, immer ratlos; glaubte, sie würde sterben, wenn sie einen Finger rührte. Ihre unsicheren Handbewegungen unterstrichen den Charme des Lebensüberdrusses.

Ja, liebe Jofi, und was wollt ihr mit eurem Haus an der Raudarar-Bucht machen? fragte die Schwiegermutter. Wollt ihr es leerstehen lassen?

Ja, und das habe ich durchgesetzt, antwortete sie mit kindlichem Stolz, Grimulf wollte das Haus entweder verkaufen oder vermieten, denn er sagt, es sei dumm, einen Besitz ohne Ertrag dastehen zu lassen. Aber ich finde das nicht dumm, ich weigere mich entschieden, Vernunft anzunehmen, wenn Grimulf von Zinsen und Zinseszinsen spricht. Findest du nicht auch, daß ich recht habe, Mama? Habe ich vielleicht nicht immer gesagt, daß Grimulf ein Kind ist und bleibt in allem, was das Wohl der Familie angeht? Denn wenn das Haus verkauft wird, stehen wir ohne ein Zuhause in der Welt. Wer weiß, vielleicht entdecke ich eines Tages, daß es besser ist, ein verlassenes Haus hoch droben im Norden zu haben als gar keines in der Fremde im Süden? Und Stein, der die schöne Aussicht aus den Westfenstern so sehr liebt, er, der so oft im Frühling dort gesessen und etwas Hübsches über den Sonnenuntergang geschrieben hat.

Grimulf setzte sich vorsichtig in einen der Korbstühle auf der Veranda und hing seinen Gedanken nach. Er schenkte der Schönheit von Thingvellir keine Beachtung, nicht einmal dem Rauch seiner Zigarre. Er war noch immer ein Mann im besten Alter, eher klein, hätte seinem Sohn kaum mehr als bis zur Schulter gereicht, doch kräftig und breitschultrig, die Kopfform regelmäßig, das Gesicht von tiefen, strengen Linien gezeichnet, die Brauen kräftig und buschig, die Augen grau und scharf, hinter einer Goldrandbrille versteckt, sorgfältig rasiert und das dunkle, graumelierte Haar exakt in der Mitte gescheitelt. Das Gesicht war von trockenem Arbeitsethos geprägt. Die Arbeit war offensichtlich die einzige Wirklichkeit, auf die es diesem Mann ankam.

Aus dem Innern des Hauses hörte man Gesang und Klavierspiel, und nun kam Örnolf über die Verandatreppe herauf, nachdem er den Wagen versorgt hatte. Er küßte seine Mutter auf die Stirn und fragte nach Neuigkeiten in Thingvellir, und als er hörte, daß es in Haus Ylfing allen gut ging, sagte er:

Weil morgen Sonntag ist, will ich faulenzen und mich bis morgen abend hier in der Stille von Thingvellir ausruhen. Grimulf und Stein Ellidi wird es hoffentlich keine Mühe bereiten, morgen früh selbst nach Reykjavik zu chauffieren.

Er schaute auf seine Hände, er hatte sich die Finger schmutzig gemacht, als er eine ölige Schraubenmutter am Motor angefaßt hatte. Ich gehe hinein und wasche mich, sagte er, lächelte ihnen zu und verschwand im Haus.

Er konnte noch immer als junger Mann gelten, kaum fünfunddreißig, hochgewachsen und schlank, wohlproportioniert und von vornehmem Äußeren, die Schultern männlich, sein Wesen ruhig und besonnen, beinahe lauernd; sein Gesicht trug die gleichen Spuren logischen und scharfen Denkens wie das des älteren Bruders, mit ähnlichen Linien von der Nase zu den Mundwinkeln, und auf der Stirn, über der Nasenwurzel, waren Anzeichen einer Falte zu sehen, die mit zunehmendem Alter tief werden würde. Die Augen waren leuchtender und lebendiger als die Grimulfs, die Brauen mindestens ebenso buschig, das Haar dunkel. Etwas im Gesicht dieses Mannes hätte an einen Adler oder Falken erinnert, der darauf wartet, seine Krallen in die Beute schlagen zu können, wäre nicht noch etwas anderes hinzugekommen, das die Ähnlichkeit mit dem Raubvogel zunichte machte, das freundliche, kultivierte Lächeln nämlich und der Charme, den dieses seinem Gesicht verlieh. Es spielte um seine Lippen, sooft er etwas sagte. Es spielte dort auch, wenn er anderen Menschen zuhörte. Sogar stets, wenn er jemanden ansah, und selbst wenn er nichts tat, als quer durch ein Zimmer zu gehen, in dem sich andere Leute befanden, so spielte in seinem Gesicht dieses Lächeln und wärmte alles um ihn herum. Niemand war geschickter im Abschließen von Verträgen als dieser lächelnde Großreeder. In seinem Wesen ruhte eine Kraft, die sich als Milde manifestierte.

Frau Jofrid schüttelte den Kopf, als Örnolf durch die Tür verschwunden war, und sah wieder müde auf ihre Schwiegermutter.

Ich kann mich wirklich nicht daran gewöhnen, sagte sie, diesen Mann über seine eigene Faulheit klagen zu hören, denn wenn ein Mensch an unchristlicher Überanstrengung stirbt, dann ist es Örnolf. Kristjan, der eine der Geschäftsführer, sprach genau darüber mit mir, als er gestern zum Frühstück bei uns war. Jetzt ist es etwa eine Woche her, seit Örnolf auf so einem gräßlichen Fischdampfer von einer Stippvisite nach Akureyri zurückgekommen ist, und Kristjan ist bereit, einen Eid darauf abzulegen, daß er während dieser Woche sich nie mehr als drei Stunden Ruhe pro Tag gegönnt hat, falls er in einigen Nächten überhaupt versucht hat zu schlafen. So zu arbeiten wie der Reeder, das hält kein Mensch aus, das waren seine Worte. Er ersetzt viele Büros. Er hat mir anvertraut, daß Örnolf nicht nur für die Firma denkt und sie leitet, sondern auch haargenau buchstäblich alles weiß, was in der Firma vor sich geht, ob zu Wasser oder zu Lande, in der Nacht oder am Tag. Er weiß, wo sich welches Schiff zu welcher Zeit befindet; kennt jeden Arbeiter und jede Arbeiterin in der Firma, weiß, was jeder zu jedem Zeitpunkt tut; weiß über jeden Lastwagen, ja, jede Schubkarre Bescheid! Es ist, als würde er jeden Posten, jede Zahl der Buchhaltung auswendig kennen, die kleinen wie die großen, und manchmal glaube ich fast, daß er sich mit Zauberkräften nach Süden in die Büros der Firma in Genua und Barcelona versetzen kann und sieht, was dort geschrieben wird. Er ist ein Mann, dem ich ein Königreich anvertrauen würde.

Nach Beendigung des Zitats fügte die junge Frau hinzu: Ich habe nie so über einen sterblichen Menschen sprechen hören, wie das Personal über Örnolf spricht.

Ja, antwortete Frau Valgerd und ließ die Tür, die sich hinter ihrem Sohn geschlossen hatte, nicht aus den Augen: Wie oft habe ich zu dem Jungen gesagt: Warum hast du dir für ein Vermögen das Sommerhaus hier gebaut, wenn es nur für deine ausländischen Gäste ist, wie im letzten und vorletzten Jahr, für mich altes Weib und die jungen Gänschen, Dilja und ihre Freundinnen; letzte Woche waren manchmal sieben Mädchen um mich herum und haben pausenlos musiziert und gelärmt. Er selbst gönnt sich nie auch nur eine Woche lang Ruhe hier in dieser wundervollen Umgebung…

Nein, es ist nicht eine Woche Ruhe, was Örnolf braucht, fiel ihr Frau Jofrid ins Wort, und ich habe ihm das erst gestern wieder gesagt, als ich ihn in der Eingangshalle der Landesbank mit Gewalt festgehalten und ihm kategorisch befohlen habe, mich zum Nachmittagskaffee ins Hotel Island einzuladen: Es ist etwas anderes, was er dringend braucht. Er braucht dringend eine Frau. Und ich habe zu ihm gesagt: Ich hätte deine Frau werden wollen, wenn dein Bruder mich nicht vor zwanzig Jahren genommen hätte. Du mußt dir eine junge, schöne Frau nehmen und dir ein gemütliches Zuhause schaffen; du, der du im Ausland wie auch hier unter den Frauen auswählen kannst, sagte ich, eine schöne und liebevolle, ja, eine ganz besonders liebevolle Frau, Örnolf, die dich sehnlichst daheim erwartet, wenn du gegen drei Uhr aus dem Büro kommst, und dir den Nachmittagskaffee serviert; dir beide Hände entgegenstreckt, wenn du abends von getaner Arbeit nach Hause kommst, dir die Arme um den Hals legt, dich auf Augen und Mund küßt und dir über das Haar streicht; genau das ist es, sagte ich, was dir fehlt, mein Junge. Es geht nichts über eine Frau. Nichts außer einer Frau kann einen Mann im Zaum halten. Eine Frau ist das beste Lebenselixier, das es gibt, wenn du dir die richtige aussuchst.

Und was hat er geantwortet? fragte Frau Valgerd leise.

Ach, es war völlig umsonst! Er hat gelächelt und jaja gesagt; wir sollten nun zunächst einmal zusehen, wie sich die neuen Märkte in Portugal und Sizilien entwickelten.

O ja, ich kenne seine Antworten zur Genüge; ich habe schon so manche schwere Stunde gehabt wegen Örnolfs Eigenbrötelei! sagte Frau Valgerd.

5

Er hatte sie heiter begrüßt, wie immer. Doch in Wirklichkeit lag keine Fröhlichkeit darin. Es war Nacht, er war gekommen, um Abschied zu nehmen; am Morgen würde er fort sein.

Er hatte gesagt, er wolle mit ihr sprechen, doch dann sagte er nichts. Er bat sie nur darum, auf dem Flügel zu spielen, er selbst wollte singen. Doch das mißlang, ihnen war weder nach Klavierspiel noch nach Gesang zumute. Sie konnten nicht einmal über ihre Ungeschicklichkeit lachen.

Sie stand auf und ging ziellos durch das Zimmer, er ging zum Flügel und schloß ihn; vor den Fenstern hingen schwere Gardinen, und es war halb dunkel. Sie setzte sich auf die Fensterbank und schaute ihm zu, wie er sich am Flügel zu schaffen machte; die Nacht fiel auf ihr Gesicht.

Fahrt ihr morgen früh? fragte sie knapp und tonlos.

Das Schiff fährt eine Stunde vor Mittag ab, sagte er. Wir waren ständig auf irgendwelchen Einladungen, seitdem bekannt wurde, daß wir fahren. Heute abend sollten wir zu noch einer Gesellschaft, doch Mama wollte lieber nach Thingvellir fahren und sich von Großmutter verabschieden, als bis Mitternacht zwischen schmerbäuchigen Geldsäcken zu sitzen. Ich war heute selbst ab fünf Uhr auf einem Fest, junge Dichter und Künstler, Schulkameraden und ein paar junge Mädchen, Trinksprüche und Abschiedsreden, ein paar Tanzschritte. Um halb neun hupte das Auto vor dem Haus: Stille im Saal, ein paar Augenblicke der Wehmut; dann schallten die Abschiedsgrüße: Gute Reise, Stein Ellidi, sagten die Freunde. Alles Gute dir, der du dein goldenes Zauberschiff aus dem Hafen steuerst, um neue Länder zu suchen, neue Welten zu erforschen, neue geistige Welten, neue Götterwelten der lebendigen Kunst! Und kehre glücklich heim, berauscht von südländischem Feuer, beseelt von heiligem Eifer, der Sendbote einer neuen Kunst hier im Norden, der isländische Vertreter des neuen Tages, der in der Kultur des jungen Europas anbricht!

Sie kümmerte sich jedoch nicht um die wohlformulierten Abschiedsworte der Freunde, sondern fragte mit abwesender Stimme:

Warum mußt du fahren, Stein? Du willst doch keinen Fisch verkaufen!

Ich fahre, weil ich fahren will! Selbstverständlich will ich fahren, fahren, fahren! Was habe ich noch unter diesem Volk von Provinzlern verloren, zwischen ungehobelten Grobianen und geldgierigen Fischereibauern, in diesem Land der Volksweisheit, wo Landstreicher, Großmütter, Wahrsagerinnen und ausgediente Dorfschulzen die Bannerträger der Kultur sind. Ich werde nie eine Figur in den Märchen, die bei diesem Volk spielen. Gott segne die Berge Islands!

Ich will hinaus in die Welt, Dilja, dorthin, wo der Krieg raste, in die Länder, wo man zum Scherz Kathedralen beschossen hat und die Herdstelle der Witwe durch ein gewissenloses Versehen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Du wirst davon gehört haben. Ich will den Tag sehen, der aufgeht über zerbrochenen Kreuzen und halb fertig geschnitzten Christusbildern, über zerfetzten Weinstöcken und zertretenen Trauben, Wäldern, die ihre Wurzeln in die Luft strecken; diesen elenden Menschen sehen, der erschöpft im Dreck liegt und entweder den Herrn lobt für den Sieg oder den Teufel verflucht für die Niederlage, während er seine geschwollenen Wunden leckt. Ich möchte den Tag grüßen, der aufgeht über den Säuglingen des Sommers 1914, die dem Kaiser, dem Vaterland und der Lüge, der Freiheit, den Schlagwörtern und dem Teufel ihre Väter opferten. Ich will fahren, Dilja, Dilja, ich will sehen. Ich bin zum Sehen geboren; geboren für eine weite Welt, eine große, weite Welt mit vielen Ländern und Städten, eine Welt voll von Denkmälern, zerstörten oder nicht zerstörten, aus unzähligen Kulturepochen, aus Zeiten der Blüte und Zeiten des Niedergangs, eine Welt, die erwarten kann, daß über zerborstenen Schloßmauern und eingestürzten Türmen sieben Sonnen einer neuen Kultur aufgehen.

Sie schwieg eine Weile, halb betäubt von diesem geistigen Höhenflug, doch als sie wieder zu sich gekommen war, sagte sie:

Ich hatte vielleicht erwartet, daß es dir schwerfallen würde, dich von Island, von den Bergen und deinen anderen Freunden zu trennen, aber jetzt höre ich, daß du im siebten Himmel bist. Weißt du denn nicht, daß es in Italien nur so wimmelt von Räubern, Dieben und Mördern; und es gibt dort entsetzliche Ausschweifungen; eine Menge schrecklicher Menschen; die Leute glauben an Götzen, die sie Heilige nennen.

Er kam bis zum Fenster herüber, wo sie saß, um sich über sie lustig zu machen; er lachte.

Woher in aller Welt hast du denn diese ganzen Weisheiten über Italien? fragte er.

Aber sie schaute nur hinab auf ihre Fußspitzen, wich seinem Blick aus, ohne aufzusehen, und rettete sich wieder zum Klavier hinüber. Sie erinnerte sich, es irgendwo gelesen zu haben; in der Weltgeschichte; oder im Erdkundebuch; doch vielleicht stand es nirgends; sie wußte es eben einfach so, oder vielleicht wußte sie überhaupt nichts; sie hatte übrigens gestern zum ersten Mal an Italien gedacht.

Das Dienstmädchen klopfte, streckte den Kopf zur Tür herein und sagte, im Eßzimmer sei der Kaffee serviert. Aber keiner von ihnen rührte sich. Stein Ellidi spielte mit seinem Zigarettenetui und zündete sich eine Zigarette an; keiner von ihnen sagte etwas. Doch die Luft um sie herum vibrierte vor Ungeschehenem, brannte vor Heimlichkeiten. Man hörte das Klappern von Geschirr aus dem Zimmer auf der anderen Seite des Ganges, wo man angefangen hatte, Kaffee zu trinken. Die Großmutter rief:

Kinder! Kommt, solange der Kaffee heiß ist!

Da kam sie zu sich und sagte:

Ja, was tun wir auch hier wie zwei Esel!

Er räusperte sich und antwortete ärgerlich und ungeduldig:

Nie hat man Ruhe, wenn diese Weiber in der Nähe sind! Sie schnarren und knarren wie ausgeleierte Spinnräder, drei und vier auf einmal. Und was haben die eigentlich davon, wenn ich heißen Kaffee in mich hineinschütte! Hatte ich dir denn nicht gesagt, Dilja, daß ich etwas Wichtiges mit dir zu besprechen habe?

Mit einem Mal hatte er den Ton geändert, breitete die Arme aus wie ein Redner und sprach wie berauscht:

Soll ich dir etwas sagen, Dilja. Heute nacht lag ich wach bis gegen Morgen und dachte über das himmlische Göttliche nach, das aus dem Anblick dieser irdischen Welt leuchtet. Ich dachte darüber nach, was ich dir vor meiner Abreise sagen müßte. Was mir am Herzen liegt, Dilja, sind keine Kleinigkeiten. Bei strahlendem Sonnenschein bin ich den ganzen Frühling hindurch an meinem Fenster gesessen und habe von der Sonne gedichtet, königlich, und dazwischen spießte ich mit tintenfeuchter Feder dicke Schmeißfliegen auf. Niemand auf der Welt hat so großartige Gedanken gedacht wie ich in diesem Frühjahr.

Willst du dann vor morgen nicht zu Bett gehen? sagte sie.

Ich? fragte er unwirsch. Glaubst du vielleicht, ich wäre ein solcher Narr, daß ich heute nacht schlafen will? Nein, heute nacht will ich wachen und die Berge ansehen und sprechen. Und wenn keiner zuhören will, dann spreche ich mit den Bergen.

Dilja, fügte er rasch und befehlend hinzu; ich muß mit dir sprechen heute nacht, wenn alle eingeschlafen sind! Du bleibst wach!

Doch ihr fehlte noch die Schlagfertigkeit der jungen Dame von Welt.

Ich soll wach bleiben, wiederholte sie zögernd. Ich weiß nicht. Ich muß es mir überlegen. – Wir dürfen den Kaffee nicht vergessen!

6

Die Uhr im Haus schlägt eins, nur einen kurzen Schlag.

Man hört jedes Geräusch in der Stille; er fährt beim Klang der weichen Metallstimme auf und blickt in dem Dachzimmer, wo man ihm ein Bett gerichtet hatte, um sich. War er eingenickt? War er ein solcher Narr, daß er geschlafen hatte? Hatte er etwa von einem Mädchen mit hellen Armen und rotem Mund geträumt? Pfui. Oder hatte er letzte Nacht davon geträumt? Oder war es die Erinnerung an einen noch älteren Traum? Pfui.

Der Tag konnte nicht mehr weit sein auf der anderen Seite des Berges, denn es war jetzt viel heller, als es vor Mitternacht gewesen war. Sicher schliefen alle, Gäste wie Bewohner des Hauses, nichts regte sich, nur ein Sturmhaken, der immer wieder leicht gegen einen Fensterrahmen irgendwo an der Rückseite des Hauses schlug, und die Flaggleine, die in langen Abständen den Giebel des Hauses streifte. Sie hatten sich nicht verabredet, aber er schlich hinunter in der festen Überzeugung, daß sie auf ihn wartete, und fand die Verandatür angelehnt. So stehen nachts nur Türen offen, durch die etwas erwartet wird, dachte er und trat hinaus auf die Veranda. Er blickte sich um; das Dienstmädchen hatte vor dem Schlafengehen die Stühle aufeinandergestapelt, um am Morgen schneller aufwischen zu können. Er schaute durch die Fensterscheiben in das Wohnzimmer und das Eßzimmer, doch dort war kein Mensch.

Da ertönte ein gellender Pfiff aus der Lava im Westen: Es wurde auf einem Grashalm geblasen. Er drehte sich rasch um und sah sie. Sie saß an der Wegkante, jenseits der nächsten Kluft, am Rand einer Lavaspalte, die Füße in dem grasbewachsenen Riß. Sie wandte das Gesicht vom Haus weg, als ob sie weder dorthin geblickt noch Stein bemerkt hätte, und hielt den Mund an ihre hohlen Hände, eifrig damit beschäftigt, zu pfeifen. Wäre er nicht ein wenig kurzsichtig, hätte er sie gleich aus der offenen Verandatür sehen müssen; er ging sofort zu ihr.

Sie hatte den Mantel bis zum Hals zugeknöpft, saß aber in recht nachlässiger Haltung da, wie ganz junge Mädchen das oft tun, der Mantelsaum reichte kaum bis zu den Knien hinunter, die kräftigen Unterschenkel standen gespreizt darunter hervor und die eigentümlich starken Kniegelenke zeigten keinerlei Zurückhaltung. Diese freie, unbefangene Haltung war das untrügliche Zeichen einer Jungfräulichkeit, die zu selbstverständlich und unberührt war, um sich in acht zu nehmen. Und dennoch lag ein heißer Glanz in ihren stahlgrauen, aufgerissenen Augen.

Er sprudelte vor Freude und machte einen Luftsprung:

Heute nacht bin ich glücklich wie ein amerikanischer Boxer, sagte er, wie Douglas Fairbanks, der vor Seligkeit über Zäune springt und grinst wie ein Pferd.

Doch sie hatte eine ganze Stunde auf ihn in der Kühle der Nacht gewartet, und als sie hörte, wie fröhlich er war, ärgerte sie sich darüber. Sie sah nicht auf, obwohl er ihr gegenüberstand; sie sah in ihre offene Hand, die grün und feucht von Pflanzensaft war, denn sie hatte Gras zerdrückt zwischen den Fingern.

Warum konnte sie nicht aufsehen und lächeln? War das nicht ihre Natur gewesen, seit sie auf die Welt gekommen war, aufzusehen und zu lächeln? Und hatte er nicht ein Gedicht verfaßt auf das Mädchen, das aufsieht und lächelt? War sie verändert, eine andere geworden?

Er wartete. Von Anfang an hatte er sich daran gewöhnt, daß sie saß und stand, wie er wollte; konnte sie sich nicht anständig aufführen? Schweigend sah er sie scharf an.

Aber je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger wurde es für sie, aufzublicken. Warum hatte er sich nicht schlafen gelegt? Sie hatte nichts mit ihm zu besprechen! Wer sich darauf freute abzureisen, sollte in Frieden fahren! Er sollte nicht glauben, daß sie ihn jemals wieder ansehen würde! Sie würde einen Kloß im Hals haben; sie würde anfangen zu weinen, ja, jämmerlich zu heulen, und die ganze Nacht hier sitzen und Halsschmerzen und eine Erkältung bekommen; aber ihn ansehen, nein, das würde sie nie.

Schließlich sprang sie auf und trat schmollend auf den Weg, blieb dort stehen. Sie blickte nach Westen, in Richtung Ebene, und begann nach kurzem Überlegen zu gehen, in Schlangenlinien, wie ein Betrunkener, langsam, mit hängendem Kopf, und versetzte dem Kies Fußtritte. Dieses Verhalten kam für ihn völlig unerwartet. Schließlich packte ihn die Wut. Er ging auf den Weg hinüber und rief ihr kurz und barsch nach:

Dilja!

Es war die alte, herrschsüchtige, rücksichtslose Stimme, die früher beim Spiel den Kindern Furcht eingeflößt hatte, die jetzt die nächtliche Stille zerriß und das Mädchen erschreckte. Er folgte mit raschen Schritten, holte sie bald ein; sie machte noch einen Zickzackschritt; dann wagte sie nicht mehr, weiterzugehen. Er trat dicht an sie heran, faßte sie um den einen Arm, versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch sie senkte den Kopf immer tiefer.

Dilja, was ist los mit dir? Habe ich dich gekränkt? Oder hast du etwas über mich gehört? Was soll dieses Benehmen bedeuten?

Er war nicht mehr der Spielkamerad und Freund aus der Kindheit; das war das einzige, was sie spürte. Er war etwas anderes und mehr; sie spürte so deutlich, daß er ein junger Mann war. Und er war der einzige Mann, den sie kannte, der einzige, den sie kennen wollte, der einzige, den sie jemals kennenlernen wollte. Und er wollte abreisen und kam vielleicht nie wieder. Sie war groß geworden seit gestern, war gewachsen und zur Frau geworden bei dem Gedanken, daß sie ihn vielleicht nie mehr sehen würde; sie war eine Margerite, die über Nacht erblüht war. Es bestürzte sie, seine starke Hand auf ihrem Arm zu spüren; sie zitterte. Und sie schlug die Hand, die frei war, vors Gesicht, senkte den Kopf und weinte; die Tränen fielen durch ihre Finger wie von den Kronblättern einer Blüte, wenn sich ihr Stengel biegt, weil sie zu schwer geworden ist von Tau.

Ich finde es so schlimm, daß ihr abreist, schluchzte sie in ihrer Verzweiflung.

Er ließ ihren Arm los und sah sie zweifelnd an, als glaubte er ihr nicht. Schließlich sagte er halb mitleidig, halb vorwurfsvoll ihren Namen.

Dilja!

Doch sie weinte weiter in ihre Hand, und die Tränen fielen weiter durch ihre Finger. Sie fielen auf den Weg.

Ich finde es so schlimm, schluchzte sie wieder. Ich weiß, es ist abscheulich von mir, so zu weinen, verzeih mir, daß ich angefangen habe zu weinen, aber ich finde es so schlimm, wenn jemand abreist; ich bin erst siebzehn.

Er legte seinen Arm lose um ihre Taille und führte sie mit männlicher Sicherheit vom Weg herunter, denn sonst wäre sie auf dem Weg stehengeblieben und hätte bis Tagesanbruch geweint; sie hatte keinen Willen mehr; sie ließ sich nur weinend irgendwohin führen. Sie landeten in einem Gebüsch neben dem Weg; er schlug das Birkengestrüpp zur Seite, aber es verfing sich doch in ihrem Kleid; er ließ sie vorausgehen. Sie kamen auf moosbewachsenes Land. Er schob sie eher, als daß er sie führte, verweint und vorgebeugt mit einem Taschentuch vor dem Gesicht, bis sie zu einer Senke kamen, wo Hahnenfuß, Storchschnabel, grünes Gras und viele andere Pflanzen wuchsen, und sie setzten sich.

Ihr Weinen hörte allmählich auf; dennoch vermied sie es, ihn anzusehen. Sie war schwach und traurig und erst siebzehn. Er sah ihr zu, wie sie das Gesicht trocknete; sie ordnete ihre Locken mit tränenfeuchten Fingern; ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen und gerötet, und er sah, wie ihre Züge plötzlich die einer erwachsenen Frau wurden, während all dies vor sich ging. Schließlich sagte er:

Dilja. Ich verstehe nicht, warum du so traurig bist. Ich habe dich viele Jahre lang nicht weinen sehen. Denk doch daran, wie schwer es ist, den weinen zu sehen, der einen immer froh gemacht hat. Du, die du alles um dich herum mit leichtem Sonnenschein erfüllt hast! Wenn ich dich weinen sehe, muß ich an den Winter mit der Grippe-Epidemie denken, an den Tag, als ich hinter dir im Leichenzug deines Vaters ging; damals warst du erst vierzehn Jahre alt und hast den ganzen Weg zum Friedhof geweint, und ich dachte daran, daß ich in Zukunft immer gut zu dir sein wollte. Seitdem habe ich dich nie mehr weinen sehen.

Da blickte sie endlich auf, die Augen voller Tränen, denn sie erinnerte sich an den naßkalten Novembertag im Jahr 1918, als es für sie auf der ganzen Welt nichts mehr gegeben hatte, das sie lieben konnte. Ihr Schluchzen hatte aufgehört.

Dilja, als du vorhin davongeschlendert bist, hat mich die Wut gepackt. Entschuldige, daß ich dich so barsch gerufen habe. Aber ich konnte nicht dafür, daß ich denken mußte: Ist Dilja jetzt genauso geworden wie alle anderen! Wem kann ich dann in Zukunft göttliche Offenbarungen anvertrauen? Wenn du mich im Stich läßt, weiß ich keinen mehr: Alle, die ich kenne, sind von einer sexuellen Manie befallen, und es geht ihnen auf die Nerven wie Albernheiten, wenn jemand von seiner Seele spricht. Dilja, heute nacht will ich mit dir über Gott und mich sprechen. Ich will dir in der letzten Nacht in diesem Tempel meiner Berge beichten. Sei wie du immer gewesen bist!

Stein, verzeih mir! sagte sie flehend: Ich war so müde geworden vom Warten auf dich; mir war so kalt geworden, flunkerte sie, um ihre Launen zu entschuldigen.

7

Er griff in sein Etui, nahm eine Zigarette und steckte sie sich schnell zwischen die Lippen, nahm sie dann wieder zwischen die Finger und gestikulierte mit der Hand, während er zu sprechen begann.

Das, was ich dir anvertrauen will, Dilja, ist nicht mehr und nicht weniger, als daß ich wiedergeboren bin.

Hier hielt er einen Augenblick inne, als ob er das Gold des Schweigens über das Silber seiner Rede fließen lassen wollte. Sie wartete auf mehr und vermied es, aufzusehen, denn sie fürchtete, daß er wieder wütend werden würde über die Verständnislosigkeit, die ihr Gesicht verraten mußte. Dann redete er weiter, zuerst langsam und wohlüberlegt, doch allmählich ging er mehr aus sich heraus.

Ich weiß nicht, ob du das Wort Wiedergeburt verstehst. Ich verstehe es selbst kaum. Ich habe festgestellt, daß auch die Verfasser von Wörterbüchern es nicht verstehen. Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemals ein Mensch verstanden hat. Aber wir leben und regen uns in Gott, man kann also nicht erwarten, daß wir irgend etwas verstehen. Wir fühlen nur, daß dies oder jenes mit uns geschieht, und geben dem verschiedene Namen. Nur vertrocknete Vernunftsapostel haben geglaubt, die Dinge zu verstehen.

Was mich betrifft, so verstehe ich nicht, was geschehen ist. Ich bin genau derselbe wie vorher, nur daß Gott zu meiner Seele gesprochen hat. Das ist es, was geschehen ist. Es geschah am 4.Mai auf der Öskjuhlid. Ich habe bisher darüber geschwiegen, weil es so seltsam ist.

Als er so weit gekommen war, flammte die Begeisterung in ihm auf, ein heißer Strom dehnte seine Stimme; er warf die nicht gerauchte Zigarette in die Lava hinaus und fuhr fort:

Ich meine, Gott hat mir eine neue Perspektive gegeben. Ich weiß, er wird mich auch in neue und schönere Länder führen. Dieser große und mächtige Gott hat mich blinden, armen Toren an seinem Weg gefunden; er hat mich eingeladen und mir neue Augen gegeben, mit neuen Pupillen; er hat mich in seine Hände genommen wie einen jungen Vogel, der gegen Stacheldraht geflogen ist und den Flügel gebrochen hat. Und sieh, ich bin wie ein neuerschaffener tropischer Schmetterling aus den Krallen der Allmacht geflogen! Ich bin neu und alles um mich herum ist neu, das Dasein hat am ehesten Ähnlichkeit mit einem kunstvollen Gewebe, das gestern auf dem Webstuhl begonnen wurde, und ich habe selbst mitgeholfen, die Kettfäden aufzuziehen, das Schöpfungswerk duftet, wie ein glühend heißer Laib aus dem Ofen des Bäckers. Ich wurde umgeschaffen, damit ich fähig würde, vollkommene Gedichte über die Schönheit Gottes zu dichten. Wiedergeboren werden – das heißt lernen, den alten Meistern und den alten Liedern den Rücken zuzuwenden und zu dichten wie Gottes Erstgeborener. Ich habe mit Gott einen Vertrag darüber geschlossen, daß ich der vollkommenste Mensch auf Erden werde.

Sie blickte rasch auf und fragte:

Warum willst du so vollkommen werden?

Doch er würdigte eine so einfältige Frage keiner Antwort.

Ich habe gelobt, in meiner Seele nichts anderem Raum zu gewähren als der Freude an der geistigen Schönheit der Dinge. Keinem geistlosen Wunsch oder körperlichen Verlangen, keiner fleischlichen Begierde oder Lust. Ich bin mit der Schönheit im Anblick der Dinge vermählt. Ich will hin und her reisen durch das Dasein wie ein seliger Laienmönch, der überall das Lächeln der Heiligen Mutter sieht. Mein Brot und Wein ist die Herrlichkeit Gottes im Anblick der Dinge, das Bild Gottes auf der Münze Gottes. Ich bin der Sohn des Tao in China, der vollkommene Jogi in Indien, der große Weber von Kaschmir, der Schlangenbändiger in den Tälern des Himalaja, der Heilige Christi in Rom.

Ich glaube, du hast nicht alle Tassen im Schrank! sagte das Mädchen und blieb stehen, um ihn anzusehen, denn sie verstand nichts. Sie standen still auf dem Weg.

8

Der erste Brachvogel pfiff im Südwesten wie ein junger Betrunkener, der nicht schlafen kann. Sonst waren die Vögel noch nicht auf den Beinen. Zwei Schafe, gesetzt und ehrbar wie ältere Hausfrauen, trotteten gemächlich einen schmalen Schafspfad entlang; sie dachten nach. Die leichte Brise war zur Windstille geworden; alles wurde naß vom Tau. Der mit Buschwerk bewachsene Rand der Lava duftete.

Und sie fragte schließlich völlig unwillkürlich:

Willst du dann nicht heiraten?

Ich habe gelobt, nie mehr eine Frau anzurühren, antwortete er kurz und bündig.

Mehr? fragte sie, ohne sich völlig klarzumachen, wonach sie fragte.

Es ist unvollkommen, ein menschliches Geschöpf zu heiraten, sagte er. Ein vollkommener Mensch weiht sich nur seinem Ideal. Wäre die Ehe der Weg gewesen, um die Menschheit aus ihren Sünden zu erheben, dann hätte Jesus Christus die Welt dadurch erlöst, daß er geheiratet und in Jerusalem eine Zimmermannswerkstatt eingerichtet hätte mit einem Schild über dem Eingang. Der Apostel Paulus hätte sich Speisezimmermöbel und ein Klavier gekauft, wie ein englischer Missionar, und angefangen, ein Haus zu führen. Wenn die Menschenseele mächtig und stark würde dadurch, daß sie als Opfer auf dem Altar der Wollust in der sogenannten heiligen Institution der Ehe brennt, dann würden die Meister in Tibet auf den Knien liegen vor rot geschminkten Keuschheitsteufeln, und Heilige und Märtyrer würden wie Affen um üppige Freudenmädchen in dekolletierten Negligés herumscharwenzeln. Es ist entsetzlich, mit einer Frau verlobt zu sein, nicht in der Abendkühle spazierengehen zu können wie der Herrgott, ohne einen ganzen Frauenkörper an sich hängen zu haben! Und obendrein muß man dieses schwitzende Stück Fleisch nachts im Bett ertragen, wo es einen fast erdrückt, schmatzt und stöhnt im Schlaf, keucht und riecht. Marriage is an ignominious capitulation.

Stein, schäm dich! Glaubst du, eine Frau habe nicht eine Seele genau wie ein Mann, du Flegel!

Er antwortete augenblicklich:

Ach, es kann schon sein, daß die Frau eine Seele hat, wann habe ich gesagt, daß die Frau keine Seele habe? Es interessiert bloß niemand, ob sie eine Seele hat, und schließlich hat sich bisher keiner darum gekümmert. Das wäre noch schöner, wenn man eine Seele heiraten sollte. Als ob irgendein Mann seit den Tagen Adams eine Frau deshalb angesehen hätte, weil sie eine Seele hat, so ein Blödsinn! Wenn mir jemand die Seele einer Frau in einem Glaskolben brächte, würde ich den Kolben auf der Stelle in den Keller hinunterschaffen lassen, in die Abstellkammer, in der mein Vater die leeren Flaschen aufbewahrt.

Jetzt wollte das Mädchen in die Lava hinauslaufen, doch er bekam sie zu fassen, nahm ihren Arm, ließ sie neben sich gehen, ob sie wollte oder nicht, und goß das Füllhorn seiner Beredsamkeit aus über sie, die sprachlos war.

Dilja, wagst du denn nicht zu sehen, wie sich meine Brust öffnet und die Wahrheit nackt hervortritt? Oder glaubst du, daß ich zum Spaß hier vor dir stehe und kluge Sachen sage? Nein, Dilja, so etwas tut keiner zum Spaß. Dilja, bleib einmal stehen und sieh mich an wie ein Mensch den anderen, und nicht wie ein Spiritist Teleplasma ansieht. Betrachte mich einmal, wie ich bin, ohne mein Bild mit einem dummen Heiligenschleier zu verhüllen. Du sollst nicht glauben, daß ich wie ein Meister spreche, weil ich vom Nirwana getrunken habe! Nein, ich spreche wie ein schwärmerischer Verseschmied aus der Zeit Klopstocks, denn mein Leben besteht aus Versen.

Er ließ sie auf dem Weg anhalten, damit sie ihn ansehen konnte, und deutete auf seine Brust:

Ich verbiete dir ein für allemal, mich anzusehen wie ein Fotograf, der das Licht abwechselnd von oben, von unten und von der Seite auf sein Versuchskaninchen richtet. Schau her! – und er deutete wieder auf seine Brust:

Hier wohnt die Sünde! Hier wohnt der Hauptfeind und Erzteufel, dieser unermüdliche Seelenverderber, der ohne Unterlaß versucht, meinen Geist in die Verdammung zu locken: Cupiditas carnis. Seit ich ein Kind war, war mindestens die Hälfte meines ganzen Denkens ein Sklave der Leidenschaften und Lüste, drehte sich um Unzucht und Obszönität, Frauenleiber und Geschlechtsakte. Die Perversitäten gibt es nicht, in die ich mich nicht mit größerer Inbrunst hineingelebt hätte, als ich jemals das Vaterunser gebetet habe. Jetzt sind es bald sechs Jahre, seitdem ich meine Unschuld in den Armen eines widerlichen Frauenzimmers verlor, daheim in der Waschküche. Im gleichen Sommer und im darauffolgenden Winter nahm ich regelmäßig an Saufgelagen mit einigen älteren Kameraden teil, sooft sich die Gelegenheit dazu bot. Wir saßen bis tief in die Nacht hinein mit Mädchen zusammen und benahmen uns wie wildgewordene Tiere. Wenn ich erst tags darauf nach Hause kam, behauptete ich, ich sei mit den christlichen Pfadfindern unterwegs gewesen.

Zu Hause bin ich von Anfang an wie ein Abgott verehrt worden, und ich habe keinen Menschen so unbarmherzig und gewissenlos belogen wie meine Mutter. Sie ist der Mensch, zu dem ich nie ein wahres Wort gesagt habe, so weit meine Erinnerung zurückreicht. Meine Mutter ist selbstsüchtig, leidenschaftlich und ehrlich, und weil sie ständig an sich selbst denkt, hat sie nie Zeit, nachzuforschen, was unter der raffinierten Scheinheiligkeit anderer verborgen sein könnte. Für mich war es eine Kleinigkeit, die lächelnde und liebevolle Maske des braven Kindes aufzusetzen, wenn sie in der Nähe war. Ich habe meinen wahren Charakter immer verborgen, nur nicht vor meinen Kameraden, in deren Augen die Männlichkeit um so größer ist, je schlimmere Unzucht man treibt. Wann hast du zum Beispiel von meinen Ausschweifungen gehört?

Er wartete einen Augenblick auf Antwort, und als sie schließlich aufblickte, lächelte sie ihn an, als ob sie glaubte, man könne alle Sünden der Welt mit einem Lächeln tilgen, und fragte:

Warum erzählst du mir so etwas Häßliches, Stein, in der letzten Nacht? Denn du bildest dir doch nicht ein, daß ich auch nur die Hälfte von dem, was du sagst, glaube.

Nein! sagte er. Da sieht man es. Das einzige, was du weißt, ist dies: Stein Ellidi ist gescheit, dichterisch begabt, hübsch. Als ob ich nicht wüßte, was ihr sagt! Schon von Kindheit an war es meine größte Freude, mich mit Kunst zu beschäftigen; das ist wahr. Ich will nicht anfangen, darüber nachzugrübeln, woher das kommt, aber das Künstlerische hat von jeher einen sehr großen Teil meines Lebens ausgemacht. Schon immer waren und sind meine schönsten Zukunftsträume die des Künstlers. Wenn die Hälfte meines Lebens Sünde ist, dann ist die andere Hälfte Poesie.

Ich habe so eigenartig gedacht wie das Siebengestirn oder die Muttergottes, die über dem Mond steht, oder wie ein Engel mit drei Köpfen oder die Tiere im Buch der Offenbarung; nein, man kann es nicht in Worte fassen. Ich bin ganze Frühlingsnächte lang an der Raudarar-Bucht gesessen oder gestanden, betäubt von der Allmacht wie ein Götzenbild in einer Wolke von Weihrauch, und erst wieder zu mir gekommen, wenn es tagte und ich merkte, daß ich die ganze Nacht damit zugebracht hatte, Steine auf dem Wasser hüpfen zu lassen und Kometen an die Wände des Sonnensystems zu zeichnen…

Er hielt an und sah sich um: Die dunkelblauen Berge erhoben sich über bewaldete Lavahügel und grüne Senken, und die tiefen Klüfte mit dem klaren Wasser verzweigten sich in der Lava, stumm, kühl und silbrig, der Berg Skjaldbreidur im Osten weich, kalt und rein.

Gott segne die Berge, sagte er plötzlich. Welche Wonne, die letzte Nacht am Herzen seines Landes verbringen zu können. In dieser Kirche möchte ich sterben, wenn alles fehlschlägt!

Darauf berührte er ihren Arm, damit sie sich seinem Schritt anpaßte, und sie gingen weiter. Er fuhr da fort, wo er aufgehört hatte.

Dilja. Der Mensch hat zwei Naturen; dagegen läßt sich nichts machen. Der Mensch hat eine Seele, und der Mensch hat einen Körper, und was die Seele fordert, steht in Widerspruch zu dem, was der Körper begehrt, und der Körper begehrt die Dinge, welche die Seele töten. Das heißt auf lateinisch spiritus adversus carnem. Es gibt Böses und Gutes auf der Welt, und der Mensch kann frei wählen. Der Mensch kann zwischen zwei Möglichkeiten wählen, der Vollkommenheit und der Verdammnis. Auch wenn dir das vielleicht sehr philosophisch vorkommt, so hat es zumindest keine holprigen Reime wie das Gesangbuch oder der Faust. Bis vor zwei Jahren oder sogar noch länger glaubte ich, daß alles, was das Christentum über Himmel und Hölle, Gott und den Teufel sagt, Geschwätz und Lüge sei, und der christliche Glaube nichts anderes als ein politischer Schwindel alter Bischöfe; mir schien die Androhung ewiger Verdammnis nichts anderes zu sein als eine Erfindung, um das gutgläubige Volk dem Papst untertan zu machen. Jetzt bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß das Christentum vom Anfang bis zum Ende die reine, unerhörte Wahrheit ist. Das wurde mir eines Abends jetzt im Frühjahr klar. Ich wurde am Kragen gepackt. Man hat mir die Leviten gelesen. Ein höheres Wesen sprach zu mir im Namen Gottes. Und das geschah auf der Öskjuhlid, diesem erbärmlichen, immer wieder aufgewühlten Hügel, wo noch nie jemand eine Vision hatte. Ja, Dilja, jetzt habe ich angefangen zu sprechen, da ist es am besten, wenn ich dir alles erzähle und nichts verschweige.

Er sprach mit fiebrigem Eifer, in kurzen Sätzen, mit plötzlichen Pausen dazwischen.

Du erinnerst dich, Mama und Papa waren im Frühjahr zehn Tage im Nordland. Und fort war diese stumme, hohle Strenge, die im Haus herrscht, wenn Papa daheim ist. Du kennst ja unser Haus und weißt, wie düster die Diele ist; sie erinnert an eine Dorfkirche in Spanien; die Helligkeit kommt irgendwo von oben her; und die polierten Möbel stehen unnütz herum; dort setzt sich nie jemand hin; und die Schlingpflanzen ranken sich an allen Wänden hinauf, schwarzgrün und häßlich. Keine menschliche Behausung macht einen so verrückt wie die Diele daheim.

Und zehn Tage lang war bis auf das Personal im Keller niemand zu Hause außer mir und Helga, dem Stubenmädchen. Ich saß oben auf meinem Zimmer und las; ich hatte an dem Tag keine Lust gehabt, mich anzukleiden, und saß in Schlafanzug und Morgenrock vor dem Kamin. Ich hatte gerade ein paar neue Romane bekommen; ich weiß noch, welche das waren, aber es tut nichts zur Sache.

Romane machen schwindlig, denn sie öffnen einem die Weite menschlichen Lebens. Ich wußte nicht, was ich tat, Dilja. Ich suchte nach den Schlüsseln, schlich hinunter und öffnete den Weinkeller. Und ich trug einen ganzen Arm voller Flaschen zu mir hinauf und fing an zu trinken. Nein, Dilja, ich wußte nicht, was ich tat. Ich fühlte mich so teuflisch wohl. Dieser herrlich teuflische Vorsatz zu sündigen brannte in jeder Faser meines Körpers. Die größte Seligkeit auf der Welt, das ist der Vorsatz zu sündigen. Zu sündigen, das ist, wonach sich die Heiligen sehnen. Ich läutete. Es vergingen ein paar Augenblicke.

Dann ging die Tür auf. Helga stand da, um nachzusehen, was ich wünschte, ruhig und höflich wie immer. Und als sie den Wein vor mir auf dem Tisch sah, wurde sie sichtlich noch schüchterner. Das war das erste Mal, daß ich sie anders ansah als der Herr einen Domestiken.

Helga, sagte ich, ich möchte Ihnen ein Glas Champagner anbieten, weil ich mit niemandem anstoßen kann.

Doch sie wollte es nicht annehmen, sie sagte, sie trinke nie, habe nur zwei- oder dreimal im Leben Wein gekostet, und dann nur wenige Tropfen, sie wage es nicht, sie glaube, sie würde betrunken. Sie sah mir direkt in die Augen und sagte nein. Aber ich ließ ihr keine Ruhe, bis sie nachgab und versprach, ein halbes Glas zu trinken, doch auf keinen Fall mehr. Sie wollte sich unter keinen Umständen setzen, nein, nur im Stehen am Glas nippen, nachdem ich unbedingt mit jemandem anstoßen mußte.

Doch ehe sie sich’s versah, hatte sie Platz genommen. Ja, bevor sie es richtig merkte, hatte sie das Glas ausgetrunken. Sie sagte, sie hätte noch nie so guten Wein gekostet, überhaupt nicht gewußt, daß Wein so gut sein könnte.

Im Haus meiner Eltern verführte ich dieses arme Mädchen auf schändliche Weise, beraubte sie ihrer Jungfräulichkeit, ließ mir von ihr im Rausch der Wollust Treue schwören und behandelte sie drei Tage und Nächte lang wie eine Hure.

9

Am Morgen des vierten Tages kam ein Telegramm von meinen Eltern. Sie fuhren von Akureyri ab.

Ich drückte meiner Geliebten einen letzten, kraftlosen Kuß auf die fieberheißen Lippen, warf die fleckigen und verschwitzten Bettlaken zur Seite, stand auf und öffnete die Fenster, damit der kühle Nordwind von der anderen Seite der Bucht durch das Haus blasen konnte. Ich war benebelt und verwirrt nach der Trinkerei der vergangenen Tage, zog mich aber an und schwankte hinaus.

Ich stand draußen vor der Tür wie ein hellbrauner, streunender Hund, der unten am Strand irgendwelchen Unrat verschlungen hatte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, ob ich überhaupt irgendwo auf Gottes weiter Welt eine Zuflucht hätte und ob es wohl jemanden gäbe, bei dem ich mich in diesem Zustand sehen lassen könnte. Und es fiel mir kein einziger Mensch ein, nicht einer. Stell dir das vor, Dilja. Es kommen Stunden, in denen der Mensch buchstäblich keinen Freund hat! Eine solche Angst kann dir das Herz zernagen, daß kein Trost auf der Welt sie zu beruhigen vermag, kein Lächeln sie mildern, keine Mutterträne sie abwaschen, kein Verlobtenherz sie mit Vergebung und Zuneigung besiegen kann. Wer sollte den Menschen retten können, der sich dem Teufel seiner Seele verschrieben hat? Die Zeit allein breitet das Vergessen über die Wunden. Die Ewigkeit erweist, ob sie heilen.

Ich schlenderte von der Bucht über die Wiesen hinauf; auf keinen Fall wollte ich in die Stadt hinuntergehen, wo jeder zweite Dummkopf mich grüßen würde, lächelnd vor Ehrerbietung, wie wenn Betrunkene Telefonmasten und Blaukreuzler grüßen, denn diesen meinen sogenannten Freunden wollte ich am allerwenigsten in die Arme laufen. Ich ging eine Zeitlang nach Süden, über Zäune und Hecken, Gräben, Sümpfe, steinige Hügel und feuchte Wiesen und mied alle Wege. Ich saß auf den Steinen der Anhöhen und zeichnete in meiner Verzweiflung mit den Absätzen meiner Stiefel Zauberkreuze, Kreise und Keilschriftzeichen, oder ich wälzte mich in dem weißen, verdorrten Gras der Hügel und Kuppen.

Ja, Dilja, meine Brust hob und senkte sich wie eine ausgeleierte Ziehharmonika; ich wälzte und wälzte mich auf der grauen Grasdecke und bat Gott den Herrn, mich zu Staub werden zu lassen, wie ich es einst gewesen war, und nie mehr aufstehen zu müssen, nicht einmal am Jüngsten Tag. Mein Kopf war wie ein riesiges Irrenhaus, in dem der Teufel und alle Idioten des Sonnensystems in den Fenstern liegen und Gott anglotzen und im grellen Licht die Gesichter verziehen.

Ich saß den ganzen Nachmittag in einer Kneipe in Hafnarfjördur, ohne einmal aufzusehen. Ich saß in einer Ecke hinter einer Tür, die ständig auf- und zugemacht wurde, aber ich achtete nicht darauf; ich trank entsetzlich starken Kaffee aus einer dicken Steinguttasse. Und dort aß ich gegen sechs Uhr Fisch und Kartoffeln und Milchreis.

Ich ging am Abend zurück, querfeldein, wie am Morgen, nur ging ich jetzt am Strand entlang und machte mir einen Spaß daraus, auch auf alle Landzungen und Halbinseln hinauszugehen, wie um nachzusehen, ob meine eigene Leiche irgendwo zwischen dem Tang angetrieben worden wäre. Ich zog mich aus und badete, als ob ich glaubte, die Unkeuschheit im kalten Meerwasser abwaschen zu können. Und als ich auf die Öskjuhlid kam, war es etwa neun Uhr, und die Sonne stand über der Faxabucht.