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Ein leidenschaftliches Plädoyer für die befreiende Kraft des Widerspruchs
Loyalität genießt einen guten Ruf. Zu Unrecht, findet Rainer Hank. Denn sie steht der Freiheit entgegen, und nicht nur das: Sie blockiert Veränderung, sie fördert Betrug (etwa in der Firma) und sie führt dazu, dass wir an ungesunden Bindungen festhalten (etwa zum eigenen Milieu). Loyalität ist typisch für ein Stammesdenken, das sich aggressiv nach außen verhält, nach innen Gehorsam fordert und Abweichler als Verräter brandmarkt. An vielen Beispielen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zeigt Rainer Hank, warum Loyalität zur Falle wird und wie wir uns daraus befreien können – um wieder unseren eigenen Kopf zu gebrauchen.
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Seitenzahl: 217
Ein leidenschaftliches Plädoyer für die befreiende Kraft des Widerspruchs!
Loyalität genießt einen guten Ruf. Sehr zu Unrecht, findet Rainer Hank. Denn sie steht der Freiheit entgegen, und nicht nur das: Sie blockiert Veränderung, sie fördert Betrug (etwa in der Firma) und sie führt dazu, dass wir an ungesunden Bindungen festhalten (etwa zum eigenen Milieu). Loyalität ist typisch für ein Stammesdenken, das sich aggressiv nach außen verhält, nach innen Gehorsam fordert und Abweichler als Verräter brandmarkt. An vielen Beispielen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zeigt Rainer Hank, warum Loyalität zur Falle wird und wie wir uns daraus befreien können – um wieder unseren eigenen Kopf zu gebrauchen.
Rainer Hank, geboren 1953, ist Wirtschaftsjournalist. Von 2001 bis 2018 leitete er die Wirtschafts- und Finanzredaktion der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, seither ist er als Publizist und Kolumnist für unterschiedliche Medien tätig, insbesondere für die FAS. 2009 erhielt er den Ludwig-Erhard-Preis, 2013 den Karl-Hermann-Flach-Preis und 2014 die Hayek-Medaille. Für sein 2017 erschienenes Buch »Lob der Macht« war Rainer Hank für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert.
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Rainer Hank
Die
Loyalitäts
falle
Warum wir dem Ruf der Horde
widerstehen müssen
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Copyright © 2021 Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26075-0V002
www.penguin-verlag.de
Inhalt
Kapitel 1 – Die Horde
Kapitel 2 – Die Familie
Kapitel 3 – Die Firma
Kapitel 4 – Die Partei
Kapitel 5 – Die Dissidenten
Kapitel 6 – Die Empörung
Kapitel 7 – Die Befreiung
Kommentierte Literatur
Dank
Kapitel 1
DIE HORDE
Seit geraumer Zeit müssen Journalisten in China eine Prüfung machen, bevor sie einen Presseausweis erhalten. Wer bestehen will, sollte mit den Lehren und Gedanken von Xi Jinping, dem chinesischen Präsidenten, gut vertraut sein. Wer dessen Lehren noch nicht beherrscht, muss unbedingt die Xi-App auf sein Mobilgerät laden. Das ist eine Art digitaler Nachfolger der Mao-Bibel, des kleinen roten Buches, das man früher in China und anderswo bei sich zu tragen hatte. Richtige Antworten sind solche, die von Xi stammen.
Früher wurde in den Prüfungen die Qualifikation der Journalisten getestet, heute geht es um den Nachweis ihrer Linientreue. Zensur oder Gleichschaltung will Xi das nicht nennen. Er spricht lieber von Loyalität, die er von allen seinen Bürgern erwartet und die in der Prüfung unter Beweis gestellt wird. Loyalität gilt der chinesischen Führung als Gebot von Patriotismus. Täglich auf der Xi-App sich einzuloggen, ist inzwischen erste Bürgerpflicht.
»Loyalität« ist ein positiver Begriff. Loyal zu sein, gilt als moralisch gut: Sie ist eine Tugend. Nicht nur in China. Und nicht erst heute. Man muss zueinanderhalten. Für seine Freunde steht man ein. Loyalität ist ein Wert an sich: Er muss nicht gelernt oder anerzogen werden. Er ist mit uns auf die Welt gekommen.
Das fängt schon in der Familie an: Wir stehen zusammen, weil wir zusammengehören. Familie bedeutet Zugehörigkeit, über die Generationen hinweg. Loyal zu den Eltern sind wir auch dann, wenn wir uns über sie ärgern oder – etwa in der Pubertät – sie uns peinlich sind und wir am liebsten wegrennen würden. Wir tun es nicht oder kommen gleich wieder zurück. Loyalität ist eine Form der Treue zu anderen. Schließlich bekommen wir auch etwas dafür: Ich halte zu meiner Familie, weil meine Familie zu mir hält. Wir gehen zusammen durch dick und dünn, meistens jedenfalls.
Loyalität, so nennen wir das starke und warme Band einer Zugehörigkeit. Dieses Band hat einen verpflichtenden Charakter, der in beide Richtungen wirksam ist. Ohne Loyalität gäbe es kein Zusammenleben. Eine Gesellschaft, der das Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit abgeht, könnte nicht überleben. Sie müsste zerfallen. Zumindest in der abendländischen Tradition ist das Versprechen der Treue zwischen Mann und Frau Voraussetzung für Liebe, Ehe und Aufzucht der Nachkommen. Wer das Gebot, loyal zu sein, verletzt, gilt nicht nur als illoyal – »Das tut man nicht!« –, sondern wird nicht selten von der Gruppe geächtet, die er verlässt. Er oder sie ist ein »schwarzes Schaf«, ein Dissident. Kommt es noch schlimmer, wird er zum Verräter. Die Verpflichtung zu Loyalität gilt zwischen Freunden, sie gilt in der Familie. Es gibt sie in der Gemeinde (der Orts- und der Kirchengemeinde). Es gibt sie im Clan. Es gibt sie in der Ethnie (Schwaben, Bayern, Sorben); wir sprechen von Heimatverbundenheit. Geht es um eine Nation und Vaterland, nennen wir es Patriotismus.
Wie weit geht die Pflicht zur Loyalität? Sehr weit. Sie würde den Regisseur Roman Polanski immer noch kompromisslos lieben, bekennt die französische Filmschauspielerin Fanny Ardant, auch wenn erwiesen wäre, dass er eine Minderjährige vergewaltigt habe. Polanski sei für sie »ein Teil meiner Familie«. Auch wenn eine ihrer drei Töchter jemanden umgebracht hätte, so Fanny Ardant, würde sie sie vor der Polizei verstecken: »Ich würde immer meine Familie verteidigen – auch wenn das ein moralisches Dilemma ist.«
Offenbar rührt Loyalität an etwas in unserem Inneren, das der Entstehung von Sittlichkeit, Moral und Recht vorgelagert ist. In den linken Kreisen, in denen ich groß geworden bin, gab es in den siebziger Jahren eine Debatte darüber, ob wir einem zum Terroristen gewordenen Freund aus der RAF Unterschlupf gewähren würden. Warum zeigten viele sich dazu bereit? Weil die frühere Verbindung gebietet, den Freund zu schützen? Weil wir möglicherweise immer noch gemeinsame Ziele haben, auch wenn wir uns in der Wahl der erlaubten Mittel unterscheiden?
Loyalität verliert ihre Unschuld, sobald man sich ihr nähert. Kann eine Haltung eine Tugend sein, wenn sie in letzter Konsequenz zu einem Verbrechen führen würde? Kann Loyalität uneingeschränkt für gut befunden werden, wenn dem Abweichler das Stigma des Verrats anhaftet und er nicht nur von denen verfolgt wird, die er verlassen hat, sondern auch tief im Innern von seinem Gewissen?
Loyalität steht offenbar im Gegensatz zur Freiheit. Sollte sie tatsächlich eine Tugend sein, eine liberale Tugend wäre sie nicht. Nicht zuletzt das eingangs erwähnte chinesische Beispiel zeigt dies überdeutlich. Womöglich ist Loyalität aber auch nicht nur keine liberale, sondern auch keine linke Tugend. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat darauf hingewiesen, dass sich Loyalität und Solidarität schlecht miteinander vertragen. Loyalität gilt immer nur den wenigen, Solidarität ist universal. Loyalität schließt einige ein – zum Beispiel die Familie –, andere aber aus: alle, die nicht zur Familie gehören. Deshalb hat die Loyalität nicht nur ein Problem mit der Freiheit (sie ist nicht liberal), sondern auch mit der Gerechtigkeit (sie ist nicht links).
Allein kann man nicht loyal sein, es braucht ein Gegenüber. Sich selbst kann man treu bleiben. Loyalität beschreibt jedoch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe irgendwie gleichgesinnter Freunde, Kameraden, Kollegen. Wo ist die Grenze zum Netzwerk oder zum Filz, der die Zusammengehörigkeit über die Legalität stellt und Kriminalität in Kauf nimmt oder gar offensiv vertritt, wie bei der Mafia zu beobachten?
Den Untiefen der Loyalität soll in diesem Buch nachgespürt werden. Warum hat die Loyalität (etwa in Firmenphilosophien) einen so glänzenden Ruf? Ich glaube, Loyalität wird überschätzt. Illoyalität hingegen wird zu Unrecht moralisch verunglimpft. Dies hat auch mit der Begrifflichkeit zu tun: Illoyal klingt verwerflich, aufrührerisch, negativ. Könnte es positive Begriffe geben? Souveränität, Mündigkeit, Resilienz, Dissidenz? Vielleicht auch Befreiung, Integrität, Selbstbestimmung, Autonomie? Dies alles wären geeignete Kandidaten, die freilich in ihrem Begriff unterschlagen, dass man nichts geschenkt bekommt, gerade die Souveränität und auch die Freiheit nicht, denn ihr gehen schmerzhafte Ablösungsprozesse – Illoyalitätserfahrungen – voran.
Es gilt deshalb, die Dissidenz, den Mut zur Selbstbefreiung zu stärken und zugleich die Gefahren der Loyalität aufzuzeigen. Das ist das Ziel dieses Buches.
Soziale Bewegungen sind Gruppen starker Loyalität. In jüngster Zeit sind viele davon auf die Welt gekommen. Die staatlich verordnete Solidaritätszumutung in den Monaten des Corona-Shutdowns provozierte als Gegenschlag eine bürgerlich-populistische Protestbewegung, die den individuellen Freiheitsdrang im gesellschaftlichen Ausnahmezustand zur Sprache brachte, zugleich aber nach innen einen Loyalitätsdruck aufzubauen vermochte, dessen Konformitätserwartung sich aus allerlei kruden Verschwörungstheorien speiste. Sie nennen sich »Querdenker«, ohne sich bewusst zu sein, wie uniform die Opposition dieser Sozialbewegung daherkommt.
Als sozialer Protest versteht sich auch die Klimabewegung. Es gibt sie in der gemäßigten Variante der Fridays for Future (FFF) und in der radikalen der Extinction Rebellion, die mit Straßenblockaden die Selbstausrottung der Menschheit verhindern will. Diese Bewegungen wollen das Gute und bekämpfen das Böse, malen den Untergang der Welt an die Wand oder, kaum weniger schlimm, eine dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen auf dem Planeten.
Darin ähneln sich Corona-Protest, FFF und Pegida, so unterschiedlich die politischen Ziele und die Zusammensetzung ihrer Unterstützergruppen sind. Alle neigen sie zu einem gewissen Dualismus und Manichäismus: Wir sind die Guten, die Erleuchteten. Die anderen sind die Bösen, die Verblendeten. Die anderen – das ist der Mainstream. Auch Pegida – »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« – ist eine Bewegung. Auch hier mischen sich Untergangsfantasien mit der Beteuerung, jetzt seien die letzten Tage angebrochen, um das Schlimmste verhindern zu können: die ethnische Überfremdung.
Die Bedeutung von Bewegungen nimmt zu. Ständig sind wir gezwungen, Stellung zu beziehen Mir sind all diese Oppositionsbewegungen nicht geheuer, die Querdenker nicht, FFF nicht und Pegida erst recht nicht. Pegida kann man rechtspopulistisch nennen, FFF kann man grünpopulistisch nennen. Der Corona-Protest ist weder links noch rechts, dafür aber umso mehr populistisch. Der Begriff des Populismus soll hier neutral gebraucht werden. Populismus bekennt sich zu einer Emotionalisierung des Politischen (das ist sowohl von rechts wie von links möglich). Populisten verstehen sich als Anwälte des Volkes, dem sie Stimme und politischen Einfluss verleihen wollen. Die Gegner der Populisten sind in der Regel die Eliten, die Mächtigen, die tonangebenden Schichten, denen vorgeworfen wird, sie hätten das Volk alleingelassen.
Typisch für sozial-populistische Bewegungen ist ihre sehr offene Organisationsform. Man muss nicht formal beitreten, schon gar nicht gewählt werden. Es reicht, dabei zu sein. Viele haben einen charismatischen Führer oder eine charismatische Führerin an der Spitze (etwa Greta Thunberg und Luisa Neubauer bei FFF, Lutz Bachmann bei Pegida, Michael Ballweg bei Querdenken). Ihnen wird Gefolgschaft geleistet. Es gibt einen gemeinsamen Glauben in der Bewegung, der sich relativ einfach formulieren lässt: Das Ende der Welt ist nahe. Jetzt ist Zeit zum Handeln, es ist fünf vor zwölf.
Die neuen Bewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie für sich absolute Gewissheit in Anspruch nehmen und ihnen jede Form von Mehrdeutigkeit – Ambiguitätstoleranz – zuwider ist. Mehrdeutigkeit ist es, was sie an der herrschenden Politik hassen. Es geht ihnen um Eindeutigkeit. Authentizität und Identität werden hoch aufgeladen, Ambiguität trägt dagegen den Makel der lauen Unentschiedenheit, ja Feigheit in sich.
Wissenschaft lebt von Ambiguität, Skepsis, harter Kritik und Prognoseungenauigkeit. Prognosen gibt es nur als Wahrscheinlichkeiten, nicht als Vehikel der Apokalypse. Die neuen Bewegungen suchen in der Wissenschaft das Gegenteil: Eindeutigkeit, Klarheit, Affirmation und Prognosegenauigkeit, am besten auf den Tag und die Stunde. Und viele Wissenschaftler geben sich gern dafür her – sei es aus der Hoffnung auf Weltrettung oder aus Geltungsdrang.
Wir Menschen sind von Natur soziale Wesen. Allein verkümmern wir. Zugehörigkeit stiftet Gemeinsamkeit, bringt Nähe, befreit aus der Einsamkeit. »Bowling alone«, diesen treffenden Warn- und Weckruf erfand der amerikanische Harvard-Politologe Robert Putnam Ende des 20. Jahrhundert für die Erbärmlichkeit einer isolierten Existenz, die nirgendwo verankert ist, weil ihr die Heimat fehlt: Man kann nicht allein kegeln. Es braucht einen Kegelklub. Aber weil viele nachbarschaftliche Gemeinschaften – landläufig Vereine genannt – verschwunden sind, bei denen man sich zum gemeinsamen Kegeln trifft (oder wahlweise zum gemeinsamen Singen, Lesen, Gärtnern), bleibt dem Einzelnen nur das »bowling alone«. Die Protestbewegung befreit aus dieser Falle. Die Parole lautet: Es kommt auf dich an. Du machst einen Unterschied, wie heute häufig ungelenk anglizistisch zu hören ist: Together we can make a difference.
Freundschaft ist das entscheidende Stichwort, ein anderes Wort für Loyalität, eine Art Synonym. Freundschaft ist gleichsam die soziale Urform der Loyalität, was man schon daran erkennt, dass man nicht von »loyaler Freundschaft« sprechen kann. Es wäre eine Tautologie. Loyalität setzt Freundschaft voraus, oder aber es ist keine Loyalität. »We few, we happy few, we band of brothers«, so lautet der anfeuernde Vers in der berühmten St.-Crispins-Tag-Rede in Shakespeares Drama »Heinrich V.«: Die Schlacht scheint längst verloren. Um seine verzweifelten Offiziere, Vasallen und Soldaten zu ermutigen, spricht Heinrich selbst zu ihnen, ihr König und Anführer. Es gelingt ihm, seine Männer zu inspirieren und ihre Moral zu steigern. Sie vollbringen das scheinbar Unmögliche und schlagen den zahlenmäßig überlegenen Gegner vernichtend. Es sind nur Worte, die, fast skandierend – das dreifache »we« – die Loyalität der Truppe beschwören und aktualisieren. Sie gelten nicht nur den Soldaten, sondern der »band of brothers«: einer verschworenen Horde von Freunden oder Brüdern. Wir schaffen das!
Die vermutlich berühmteste Analyse der Freundschaft stammt von Carl Schmitt. In seiner Schrift »Der Begriff des Politischen« von 1932 nennt der Berliner Staatsrechtler die Unterscheidung von Freund und Feind die Letztunterscheidung des Politischen, die man ihrerseits nicht aus anderen Kategorien ableiten oder auf jene rückbeziehen kann: weder moralisch (dort gilt »gut/böse«) noch ästhetisch (dort gilt »schön/hässlich«) erklärbar. Schmitt insistiert, die Freund/Feind-Unterscheidung sei sehr konkret und existenziell zu verstehen, keinesfalls metaphorisch oder symbolisch. Der Feind ist der Gegner, gegen ihn führen wir Krieg.
Wir müssen uns hier mit Carl Schmitt nicht weiter befassen, noch nicht einmal Stellung zu seinem Antiliberalismus nehmen. Was freilich unbestreitbar ist: Die Unterscheidung von Freund und Feind breitet sich heute überall aus. Wer nicht für uns ist, wird ignoriert. Man nennt das jetzt »Cancel Culture«. Sie lässt sich mit allen moralischen Kräften der Welt nicht zum Verschwinden bringen. Die neuen populistischen Bewegungen sind dafür der Beweis.
Mehrdeutigkeit und Differenzierung haben es in dieser Welt schwer. Exklusion ist die Kehrseite der Inklusion: »Ich befürchte, wir müssen anerkennen, dass die menschliche Natur in ihrem Gen-Set nicht nur eine Neigung zur Xenophobie eingebaut hat, sondern auch eine Lust an der Gewalt gegen Gruppen, die den Hass allein dadurch anziehen, dass sie schwach sind«, hat der israelische Psychoanalytiker Carlo Strenger – er ist 2019 gestorben – vermutet. Xenophobie meint: Die anderen werden a priori als Feinde bekämpft und nicht als Konkurrenten im sportlichen Wettbewerb wahrgenommen.
Xenophobie gibt es nicht nur als Rassismus, Xenophobie kann auch im Gewande des Antirassismus daherkommen, wenn ausschließlich POC – People of Color – das Recht zu Rede, Urteil und Vernunft zugeteilt bekommen, während die weißen Frauen und Männer zum zuhörenden Schweigen verdonnert werden. Die sogenannte Identitätspolitik entbindet von der Pflicht, jede Aussage vernünftig zu begründen, einerlei wer sie trifft. Stattdessen macht es jetzt einen entscheidenden Unterschied, wer spricht: Die »Opfer« dürfen sprechen. Die Täter müssen zuhören (wenn sie Glück haben). Selbst wenn man dies als Entprivilegierung des weißen Mannes rechtfertigt, muss man immerhin zugeben: Identitätspolitik spaltet die Gesellschaft und konstituiert Binnenloyalitäten innerhalb sich überbietender Opfergruppen.
Man kann die Verschärfung des Freund-Feind-Verhaltens (es ist ja nicht nur Freund-Feind-Denken) als Wiederkehr der Stammeskultur im aufgeklärten Zeitalter der Globalisierung deuten. Die populäre Literatur spricht von »Tribalismus«. »Menschen brauchen die Zugehörigkeit zu Gruppen«, schreibt die amerikanische Publizistin Amy Chua, die einen Bestseller über die ebenso rigiden wie erfolgreichen Erziehungsmethoden der »Tigermutter« veröffentlichte: Denn Menschen seien Stammeswesen. Stämme sortieren sich nach Blut (Familie), Ethnie, Religion, Nation oder Staat. Gefragt nach ihrer Zughörigkeit, nennen die allermeisten Menschen erst den Stamm (ich bin Schwabe), dann das Land (ich bin Deutscher) und, wenn überhaupt, erst dann die EU (ich bin Europäer) oder gar die Welt (ich bin Weltbürger). »Menschen sind nicht einfach ein bisschen tribal, wir sind sehr tribal«, schreibt Amy Chua: Sobald wir zu einer Gruppe gehören, werden unsere Identitäten in erstaunlicher Weise mit ihr verknüpft, sogar auf chemische Weise.« Tribalismus ist per se nichts Schlechtes, denkt man etwa an den Sportverein. Aber Tribalismus kann auf der Stelle in Xenophobie umschlagen, in Fremdenfeindlichkeit. Die Nähe zu den Freunden kommt selten ohne Hass gegen die Feinde aus.
Die heutige Evolutionsbiologie ist der Überzeugung, dass der Mensch nicht als isolierter »Homo Oeconomicus« auf die Welt gekommen ist, sondern als soziales Wesen, das sich immer schon in einer Gruppe vorfindet: Das monadische Ich ist evolutionsgeschichtlich eine Fiktion. Wir haben in der Gruppe gemeinsam mit anderen unser Leben begonnen. Das hat enorme Konsequenzen. Wir neigen dazu, die eigene Gruppe zu begünstigen und zu bevorzugen. »Ingroup-Favorism« nennen die Evolutionsbiologen dieses Verhalten. Es ist ein anderes Wort für Loyalität. Es wird von der Gruppe belohnt mit einem »warmen Zugehörigkeitsgefühl«. Genau dieses Geschäft zum beiderseitigen Vorteil gilt inzwischen als zentraler Trieb menschlichen Gemeinschaftsverhaltens: Wir helfen lieber den Mitgliedern der eigenen Gruppe als den Mitgliedern anderer Gruppen.
Nicholas Christakis, ein an der Universität Yale lehrender Professor für Evolutionsbiologie, demonstriert es sehr anschaulich: In einem Experiment gab man Fünfjährigen T-Shirts mit unterschiedlichen Farben (Rot, Blau, Grün und Orange), dann zeigte man ihnen Fotos von Kindern, die T-Shirts in ebendiesen Farben trugen. Den Kindern war bewusst, dass sie ihre T-Shirts nach dem Zufallsprinzip erhalten hatten und dass die Kinder auf den Fotos sich in nichts unterschieden außer eben der Farbe des T-Shirts. Trotzdem bevorzugten die Teilnehmer an dem Experiment die Kinder mit denselben Hemdfarben, sie gaben ihnen mehr von einer knappen Ressource (Spielzeugmünzen) ab und hatten eine positivere Meinung von ihnen. Außerdem hielten sie die Kinder ihrer eigenen Farbgruppe für freundlicher und glaubten, dass sie eher bereit sein würden, Spielsachen mit ihnen zu teilen. Und schließlich erinnerten sie sich eher an positive Handlungen ihrer Farbgruppe und gaben in Beschreibungen von ihresgleichen eher positive Informationen weiter. »Und alles nur, weil sie zufällig ein T-Shirt mit einer bestimmten Farbe erhalten hatten«, schließt Christakis seinen Bericht über das Experiment, das man bei jedem Fußballspiel im Stadion selbst überprüfen kann. Christakis nennt das universale Prinzip der Begünstigung der eigenen Gruppe ein »eher deprimierendes Phänomen« der Evolution. Irgendwie passt die selbstverständlich sich einstellende, die Mitglieder der eigenen Gruppe privilegierende Loyalität, die mit der ebenso selbstverständlichen Diskriminierung der Mitglieder anderer Gruppen einhergeht, nicht so ganz in das von vielen propagierte, idealistische Konzept der Urgruppe, in der das Gute einer altruistischen Gemeinschaft entstanden sein soll. Als ob die Freund-Feind-Dichotomie angeboren wäre oder, sagen wir vorsichtiger, die Loyalität zur Ingroup und Abgrenzung von den anderen sich wie von alleine einstellen würde.
Das Ergebnis des Kinderspiels ist kein Zufall, sondern hat System: Gruppen teilen einen gemeinsamen Glauben, spezielle Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen, worin sie sich von anderen Gruppen unterscheiden. Solche Normen sind ungeschriebene Regeln. Deshalb brauchen alle Gruppen sogenannte »ethnische Zeichen«; im genannten Beispiel etwa die T-Shirts einer bestimmten Farbe oder die Zuschauerwelle »La Ola« im Fußball. Neben Kleidungsstücken und Gruppenbewegungen kommen auch direkte Körperveränderungen (Tattoos) oder »Gruppensprech« (Dialekte, Slang) als Erkennungszeichen infrage. Dies alles sind völlig zufällige Zeichen, sie haben keinen innerensemiotischen Bezug zu den gemeinsamen Werten, die man vertritt, besitzen aber den Vorzug, dass sie sichtbar sind und allen Mitgliedern signalisieren, wohin sie gehören. Wirsehen, wer zu uns gehört und wer nicht, und müssen uns gar nicht mehr mühsam über innere Überzeugungen und Werte verständigen. Und die anderen sehen das auch.
Was ist überhaupt eine Gruppe? Darüber gibt es eine Menge Literatur. Wichtig ist, dass eine Gruppe zahlenmäßig überschaubar bleibt. Die Hutterer, eine in Amerika verbreitete religiöse Gemeinschaft mit deutschen Wurzeln, die das Ideal der christlichen Gütergemeinschaft verwirklichen will, begrenzt die Zahl der Gemeindemitglieder auf maximal 150. Wächst die Gemeinde weiter, leiden sowohl Loyalität wie Solidarität, sagen die Hutterer. Man kann es auch nüchterner sagen: Bis zu 150 Mitgliedern lässt sich wirksam Gruppendruck herstellen, darüber hinaus steigen die Chancen, sich erfolgreich wegzuducken.
In der Forschung hat es »Dunbar’s Number« – benannt nach dem britischen Anthropologen Robin Dunbar – zu Bekanntheit gebracht. Sie bezeichnet die maximale Anzahl von Menschen, zu denen wir eine stabile soziale Beziehung aufrechterhalten können. Auch Dunbar spricht von 150 Leuten, die eine solche Gruppe umfassen könne. Deren Definition lautet folgendermaßen: die Anzahl jener Menschen, mit denen du dich auf einen Drink zusammentätest, träfest du sie zufällig in einer Bar. Dunbars Zahl definiert noch eine sehr lockere Form der Zugehörigkeit. Je stärker der soziale Kitt der Loyalität, so darf man vermuten, umso kleiner wird die Zahl möglicher Gruppenmitglieder. Dunbar spricht von 50 »sozialen« Freunden, 15 »guten« Freunden und nicht mehr als fünf wirklich »engen« Freunden. Am Ende bleibt eben die (Groß-)Familie als Urgruppe übrig. Interessant daran: Lernen wir neue Freunde kennen, lassen wir alte Freunde fallen. Die Anzahl der Freunde bleibt über den Lebenszyklus konstant, sie wächst entgegen unserer Erwartung nicht.
Die Begünstigung der eigenen Gruppe schlägt nicht selten um in blindes Vertrauen, irritierenderweise sogar gegen eigenes besseres Wissen. Berühmt geworden ist ein Experiment aus den fünfziger Jahren, das der Gestaltpsychologe Solomon Asch durchgeführt hat. Auf einer Karte wurde einer Gruppe eine Linie präsentiert. Neben dieser Referenzlinie wurden drei weitere Linien gezeigt, wobei es die Aufgabe der Versuchspersonen war einzuschätzen, welche dieser drei Vergleichslinien gleich lang wie die Referenzlinie war. Das zu erkennen war nicht schwer, 95 Prozent der Gruppenmitglieder lagen richtig. Im nächsten Schritt setzte Asch nun Probanden in eine Gruppe, in der die anderen Gruppenmitglieder absichtlich eine falsche Linie nannten. Was geschah? Die anderen Probanden ließen sich beirren, lediglich ein Viertel blieb trotz der Gegenstimmen immer bei der richtigen Antwort.
Was lernen wir aus Aschs Experiment? Wenn alle anderen etwas Falsches behaupten, lassen sich selbst die schlauesten Menschen ein A für ein C vormachen. Dann glauben sie, was die anderen glauben, auch wenn es definitiv falsch ist.
Wenn viele sich fragen, wie es zu sogenannten Filterblasen in den heutigen »Stämmen« kommt, samt irrationalen Verschwörungstheorien, dann hat Asch die Antwort: Wir unterwerfen uns wider besseres Wissen den falschen Überzeugungen der Mehrheit der Gruppe. Innerhalb einer Gruppe verhalten wir uns irrational, glauben, was die anderen glauben, weil es uns wichtig ist, es mit der Mehrheit nicht zu verderben. Herdenverhalten führt dazu, dass die Teilnehmer ihr privates Wissen, Empfinden, Vermuten, Zweifeln zurückstellen und stattdessen sich dem öffentlich geäußerten Urteil der anderen Gruppenmitglieder anschließen.
Der Jurist und Verhaltenswissenschaftler Cass C. Sunstein hat untersucht, was aus Einzelmeinungen innerhalb einer Gruppe wird. Das Ergebnis gibt zu denken: In der Gruppe urteilen wir alle extremer, als es jeder Einzelne ohne die Gruppe täte. Die Gruppe polarisiert und radikalisiert ihre Mitglieder – in welche politische Richtung auch immer. Woran das liegt? Menschen hungern nach Bestätigung, sagt Sunstein. Wenn zwei einander recht geben, fühlen sich beide sicherer. Schließt sich ein Dritter an, wird es noch besser. Man nennt das eine Bestätigungskaskade, die wiederum bei allen zur Verfestigung ihrer Meinung führt. Jetzt hauen wir auf den Putz – die Älteren unter uns Männern kennen diesen Mechanismus vom Stammtisch.
Am Ende kann es passieren, dass einige die Gruppe verlassen, weil ihnen die Radikalisierung der anderen nicht geheuer ist. Die Gruppe wird dadurch zwar kleiner, aber noch radikaler, weil nur die Allerloyalsten bis zum Schluss bleiben, die sich untereinander bis ins Extrem anfeuern. Cass Sunstein, der amerikanische Forscher, bezieht diese Erkenntnisse aus Experimenten im Labor. Er hat damit unwissentlich, aber präzise den Radikalisierungsprozess der deutschen AfD beschrieben, quasi ein Experiment im real-demokratischen Staat.
Dass wir Konflikte wie Kampfesrituale von Stämmen austragen, könnte tatsächlich eine Wiederkehr des archaisch Verdrängten sein in nur scheinbar aufgeklärten Zeiten. Solche Überlegungen gab es unter den Intellektuellen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs. Damals standen sich Totalitarismen von rechts (Hitler) und links (Stalin) gegenüber. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die Denker der Frankfurter Schule, nannten diesen Rückfall in die Barbarei »Dialektik der Aufklärung«. Hannah Arendt, die jüdische Emigrantin in New York, analysierte den Terror totalitärer Bewegungen von links wie rechts, etwa in ihrem Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Und Karl Popper, der große britisch-österreichische Liberale, sprach von der anhaltenden Verführbarkeit der Menschen durch den »Ruf der Horde« in seinem Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1944): Er wolle zeigen, »dass sich die Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat – vom Übergang aus der Stammes- oder geschlossenen Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur offenen Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten der Menschen freisetzt«.
In diesem »ewigen Kampf« (Popper) beobachten wir seit geraumer Zeit einen Rückfall in den neuen Tribalismus: Der »Ruf der Horde« hat heute abermals Verführungskraft. Was neu ist: Der einfache Gegensatz von globalisierten, urbanisierten, aufgeklärten, intellektuellen Eliten und provinziellen Stammesgruppen stimmt nicht wirklich. Denn auch die Eliten weisen Stammesstrukturen auf. Der »tribal instinct« ist nicht nur ein Instinkt, zur Gruppe zu gehören. Er ist auch ein Instinkt der Exklusion. Es geht stets darum, dass die mit den roten Trikots zusammenhalten und die mit den gelben oder grünen Trikots die anderen sind, von denen man sich abgrenzt. Auch Eliten verhalten sich nicht anders als die Kinder im T-Shirt-Experiment. Im Stamm herrscht ein Druck zu Konformität, den wir – beschönigend – Loyalität nennen.
Dass auch die aufgeklärten Eliten dem Ruf der Horde verfallen können, widerspricht unserem universalistisch-aufgeklärten Selbstverständnis, das nicht zulässt, dass wir Konflikte mithilfe von Metaphern und Bildern aus der Frühgeschichte der unaufgeklärten Gattungsentwicklung verstehen wollen. Der bereits zitierte israelische Analytiker Carlo Strenger zeigt in seinem Buch »Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen«, dass auch die liberalen Eliten Stämmen angehören wollen: Es sind meritokratische Stämme, bei denen Einsatz und Erfolg belohnt werden. Die Loyalität in diesem Stamm gilt der Meritokratie: Leistung soll zählen und nichts als Leistung. Also nicht Familie, Herkunft, Geld etc. Andere Stämme, die über Blut, Erde, Ethnien oder Konfessionen zusammengehalten werden, gelten aus Sicht der Eliten als primitiver und archaischer. Auch wenn die Meritokratie häufig ein illusionäres Versprechen ist, so gehört dies doch zu ihrem elitären Selbstverständnis. Das ist anstrengend, weil sich der Stamm der Elitären einem permanenten Wettbewerb unterwirft. Kein Wunder, dass den »meritokratischen Stamm« eine latente Depressivität plagt, zumindest aber eine leichte Melancholie: Angehörige der Elite wollen im Leben »Spuren« hinterlassen und werden doch die zutreffende Angst nie los, sie müssten irgendwann spurlos die Erdoberfläche verlassen. Größenwahn und Verzweiflung sind sich manchmal sehr nahe.
Eines freilich schweißt die Eliten fest zusammen, so hart auch der meritokratische Wettbewerb intern ausfällt: die Distanz bis hin zur Verachtung gegenüber den populistischen Bewegungen. Es droht die schärfste Sanktion bis hin zum Verstoß, wenn Angehörige der urbanen Elite Ver