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Vater Staat weiß alles besser: vor allem, wie man Schulden macht
Die Schuldenlast und die Abwertungen ganzer Volkswirtschaften, die die Märkte vornehmen, bringen es an den Tag: Der Staat hat sich übernommen, sein in den meisten westlichen Ländern auf annähernd 50 % aufgeblähter Anteil am gesamten wirtschaftlichen Geschehen führt unweigerlich in die Krise. Da die Regierungen jetzt sparen müssen, haben sie kaum mehr Gestaltungsspielraum, sodass die Parteien einander zunehmend ähneln. Die Demokratie wird dadurch leer: eine hochexplosive Mischung von Finanzkrise und politischer Ohnmacht. Rainer Hank zeichnet die historische Entwicklung nach, die vom Rechtsstaat zum Fürsorge- und schließlich zum paternalistischen Staat führte, der die Initiative des Bürgers, aber auch sein soziales Gewissen erstickt und ihn in immer mehr Lebensfragen – von der Helmpflicht bis zum Rauchverbot reglementiert. Der Bürger reagiert auf diese zunehmende Entmündigung mit einer sich oftmals irrational entladenden Wut.
Aber Rainer Hank belässt es nicht bei Analyse und Kritik, er zeigt auch, wie der Staat auf sozialverträgliche Weise Ausgaben senken könnte, und entwirft alternative Modelle, die Auswege aus der Krise weisen: Dezentralisierung, Steuerreformen, Rückführung des Staatsanteils, mehr direkte Demokratie im Verbund mit einer Stärkung der föderalen Strukturen und eine früh einsetzende Erziehung zur Mündigkeit.
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Seitenzahl: 561
»Für einen Minister ist es sehr verführerisch, ein derartiges Mittel [die Staatsschulden] zu nutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden.«
David Hume, 1741
»Die überschuldeten westlichen Staaten werden nicht umhinkönnen, ihre Rolle zu überdenken. Die Staaten sind überdimensioniert, kosten zu viel und arbeiten nicht besonders gut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Leute dieses Missverhältnis nicht mehr hinnehmen.«
Paul Romer, 2010
Dass Staaten über ihre Verhältnisse leben, ist nicht neu. Es gehört zum mythischen Wissen der Menschheit. Wer einmal Richard Wagners »Ring« gehört hat, weiß, dass das ganze Weltenunheil schon am Vorabend der Tetralogie mit einer schweren Staatsschuldenkrise seinen Lauf nimmt. Weil Wotan sich beim Bau seiner Prachtburg Walhall hoffnungslos übernommen hatte (»giert ihr Männer nach Macht«) und niemand ihm mehr Kredit geben wollte, war das Reich der Götter schon am Anfang des Dramas pleite. Da half es dem Staatschef und Obergott Wotan auch nichts mehr, den Nibelungen ihren Goldschatz zu stehlen, um die Schuld zu begleichen. Die Staatsdämmerung wird zur Götterdämmerung.
Dass Staaten pleitegehen, weiß nicht nur der Mythos, sondern auch die Geschichte. Kein Staat auf Erden, der im Laufe der Jahrhunderte nicht schon mindestens einmal finanziell am Ende war. Der Spanier Philipp II. (1527 bis 1598), in dessen Land die Sonne nicht unterging, musste mehrfach die Zahlungsunfähigkeit ausrufen. Den Banken blieb keine andere Wahl, als ihre Kredite abzuschreiben. Aufwendige Kriege verschlangen viel Geld; Steuern zur Schuldentilgung waren nicht ausreichend vorhanden, die Pleiten wurden unausweichlich. Merkwürdig, dass die alten Gläubigerbanken, sofern sie die Krise überlebt hatten, schon wenig später dem König abermals Kredit zu geben bereit waren. Offenbar waren die Abschreibungsverluste langfristig geringer als die Zinsgewinne. Stets ging die Party weiter – und die Banken waren immer dabei.
Haben die Menschen diese Erfahrungen vergessen? Nach der Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 ist die Staatsschuldenkrise der Jahre 2011/12 die zweite große Erschütterung, die die Welt in unmittelbarer Folge erlebt. Beide Male wurden wir Zeitgenossen von der Krisenerfahrung kalt erwischt. Beide Male war und ist das Wehklagen darüber groß, dass niemand – kein Ökonom, kein Politiker, kein Journalist – gewarnt hat. Waren es in der Finanzkrise die Staaten, die als Retter in der Not herhalten mussten, so gehen in der darauf folgenden Fiskalkrise die vermeintlich starken Staaten selbst in die Knie, verweigern den Schuldendienst angesichts steigender Schuldzinsen – und kein »Erlöser« ist mehr nahe. Die Krise des Euro ist in Wahrheit eine veritable Staatsschuldenkrise. Dass eine Währungsunion ohne politische Union die ohnehin verschuldeten Staaten zu weiterer exzessiver Verschuldung verführen werde, haben die Ökonomen im Übrigen ausnahmsweise vorhergesehen: »Der Euro kommt zu früh«, warnten 150 renommierte deutsche Ökonomen schon 1998 in der FAZ. Und ihre internationalen Kollegen sahen das nicht viel anders: von Paul Krugman (»Das Europrojekt war ein schrecklicher Fehler«) bis Martin Feldstein, der schon 1997 die Sorge äußerte, die Nachteile (Inflation, Arbeitslosigkeit) des Euro würden die Vorteile bei Weitem übertreffen. Aber auch das war rasch vergessen worden.
Dass wir alle von der Krisengeschwindigkeit der letzten Jahre überrumpelt wurden, liegt, wie uns die Historiker belehren, an der Geschichtsvergessenheit unserer Zeit. Doch als Vorwurf taugt diese Erklärung nicht allzu viel. Ist nicht jede Zeit geschichtsvergessen? Nietzsche hat darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zu vergessen eine conditio humana ist, weil andernfalls uns die Last der Vergangenheit die Luft zum Atmen nähme. Selbst wenn wir die Staatsschuldenkrisen der frühen Neuzeit oder die Finanz- und Bankenkrisen des 19. Jahrhundert stets vor Augen gehabt hätten: Hätte es uns wirklich etwas genützt? Hätten die Griechen, die Italiener, die Deutschen und Franzosen weniger Schulden gemacht? Wohl kaum.
Offenbar gehören Krisen zum Leben dazu. Als Illusion hat sich der Glaube erwiesen, wonach wirtschaftliche Ungleichgewichte die Ausnahme, Gleichgewichte aber die Regel sind. Wir müssen, nach der zweiten Krise innerhalb weniger Jahre, unsere Figur-Grund-Wahrnehmung ändern. Nicht das Gleichgewicht ist der Normalfall, die Krise (und ihre stete Wiederholung) selbst ist die Regel. Es mag uns passen oder nicht. Was wie Stabilität aussieht, ist nur der Zwischenraum zwischen zwei Krisen. Die intellektuellen und politischen Konsequenzen dieser Figur-Grund-Vertauschung sind dramatisch: Bislang ging es immer nur um Theorien und Strategien der Krisenvermeidung. Stets hatten wir die Vorstellung von Gleichgewichtsstörungen im Kopf, seien sie vermeidbar oder auch nicht: Wenn aber nicht das Gleichgewicht, sondern die Krise der Normalfall ist, wird eine Theorie der Krise als zyklischer Dauerzustand und permanenter Wiederholungsfall nötig.1 Vor lauter Krisenvermeidungstheorien wurde die Notwendigkeit übersehen, eine Theorie der Krise zu schreiben. Kein Wunder: Die Krise als Normalfall betrachten zu müssen ist eine Kränkung, nicht nur für Politiker, sondern auch für heutige Ökonomen. Denn beider Profession ist es doch, mit social engineering eine gute und stabile Welt zu zimmern. Ihr Geschäftsmodell lebt von der Versicherung, Krisenvermeidung sei möglich. Seit ein europäischer Rettungsgipfel den anderen jagt, ist das Vertrauen der Bürger in dieses Versprechen dramatisch verloren gegangen. Nicht nur Karl Marx, auch die großen Ökonomen des frühen 20. Jahrhunderts hätten darüber belehren können, dass das Krisenvermeidungsversprechen nichts anderes ist als eine anmaßende Illusion. Marx, Schumpeter & Co. lagen indes, weil scheinbar unnütz, über Jahre brach.
So sind es vor allem zwei Wahrheiten, die simpel klingen und doch alles andere als banal sind, die in den Krisenjahren schonungslos offengelegt werden: dass nämlich menschliches Wissen unvollständig und dass die Zukunft unsicher und unkalkulierbar ist. Dies gilt generell, aber auch für die Wirtschaft und für die Finanzmärkte. Es waren die beiden größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) und John Maynard Keynes (1883 bis 1946) – oberflächlich Antipoden, die einander aber näher sind, als sie selbst zugeben woll-ten – , denen wir diese Einsicht verdanken. »Ich gestehe, dass ich wahres, aber unvollständiges Wissen dem Anschein exakten Wissens bevorzuge, das sich als falsch herausstellt«, sagte Hayek in seiner Dankesrede für den Ökonomienobelpreis im Jahr 1974. Und Keynes wusste nicht nur, dass die Zukunft ungewiss ist, sondern dass Menschen sich, eben weil die Zukunft unsicher ist, kurzfristig nicht immer rational verhalten, sondern ihren Trieben (animal spirits) folgen. Allzu selbstbewusst hat die Ökonomie diese Erkenntnis der konstitutionellen Bescheidung in den Wind geschlagen und sich ein mathematisch exaktes Wissen rationaler Erwartungen und Entscheidungen angemaßt. Inzwischen übt auch die Ökonomik sich in Demut; neue Schulbildungsversuche nennen sich bescheiden »Ökonomik des unvollständigen Wissens« (Imperfect Knowledge Economics).2
Die verdrängte Erkenntnis unvollständigen Wissens und unplanbarer Zukunft ist die gemeinsame Klammer, die das vorliegende Buch über den Staat (und die Staatsschuldenkrise) mit dem vor drei Jahren erschienenen Buch über den Markt (und die Finanzkrise) verbindet.3 Es waren die unknown unknowns (Donald Rumsfeld), Ereignisse, die wir nicht nur nicht kennen, sondern von denen wir noch nicht einmal wissen, dass wir sie nicht kennen, die die Finanzmärkte 2008 ff. ins Taumeln gebracht haben. Womit man nicht rechnen kann, darauf kann man sich auch schlecht vorbereiten. Aber man kann den allzu sicheren Gewissheiten (der Theorie effizienter Märkte oder den mathematischen Gleichgewichtsmodellen) Skepsis entgegenbringen, wenn man allein schon um die Möglichkeit solcher unknown unknowns weiß. Deshalb war es schon vor drei Jahren eine Fehleinschätzung all jener, die angesichts wankender Märkte überstürzt ihre Sehnsüchte auf den Staat projizierten, dass sie viel zu zukunftssicher dem Staat in unbegrenzter Allmacht die Rolle des redemers of last resort, einer Art Erlösers der unerlösten Märkte, zugewiesen haben. Schneller, als es dem planend vorhersehenden Wissen der Staatsfreunde recht war, wurde klar, dass nicht nur Banken, sondern auch Staaten labile Institutionen sind – und dies, obwohl Banken wie Staaten von vielen als too big to fail (als zu groß, um pleitezugehen) angesehen werden. Wenn aber weder Staaten noch Banken pleitegehen dürfen und wenn zugleich entweder Staaten Banken retten (Finanzkrise) oder Banken Staaten retten (Schuldenkrise), dann ist letztlich die Frage, wo noch ein Retter ist, wenn Banken wie Staaten wechselseitig als Retter ausfallen. Die Sehnsucht nach dem letzten Retter bleibt jedenfalls groß. Kein Wunder, dass viele an die (staatlichen) Zentralbanken – eine Art Zwitter auf der Grenzlinie zwischen Staat und Markt – diese Funktion des Erlösers delegieren wollen, die grenzenlos Geld drucken können, wenn den Staaten das Geld auszugehen droht. Es ist allemal der irrationale Glaube an die Alchimie, der in Zeiten der Krise seine Anhänger findet.
Man muss freilich die Geister scheiden: Wenn von vielen jetzt gesagt wird, die Finanzkrise und die Eurokrise offenbarten das Versagen des Kapitalismus, dann ist das nicht die Auffassung, die in diesem Buch vertreten wird. Im Gegenteil: Der Kapitalismus funktioniert. Sein Vermögen, Wohlstand für alle zu schaffen, hat er nicht verloren. Wer daran zweifelt, muss sich in China und Indien umschauen, aber natürlich auch in Wohlstandsländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Genauso wenig wird in diesem Buch die oft gehörte Meinung vertreten, die Finanzkrise habe die Eurokrise verursacht, womit dann wohl gemeint sein soll, ohne die Finanzkrise hätte es keine Eurokrise gegeben. Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus: Finanzkrise und Eurokrise sind im Kern Schuldenkrisen. Einmal lag der Ursprung der Krise in der exzessiven privaten Verschuldung amerikanischer Häuserbauer (»subprime«), das andere Mal lag er in der exzessiven öffentlichen Verschuldung entwickelter Wohlfahrtsstaaten. Dass die privaten Schulden in einigen Ländern (Spanien, Irland) in öffentliche Schulden umgewandelt wurden, hat die Staatsschuldenkrise noch verstärkt, ist aber nicht ihr Auslöser. Ebenso wenig ist die Finanzindustrie Verursacher der Krise, was nicht unterschlägt, dass beide Male – in der Finanzkrise wie in der Staatenkrise – die Finanzindustrie an der Verschuldung kräftig verdient und sie geradezu befeuert hat, um zugleich hinterher die Hände in Unschuld zu waschen, will sagen die zugehörige Haftung zu leugnen. Nein, mit Kapitalismuskritik, hervorgeholt von den Speichern der siebziger und achtziger Jahre, ist noch nicht einmal ein Zollbreit Erkenntnis zu gewinnen.
In Deutschland, aber auch anderswo, führt die Erfahrung der Staatsschuldenkrise nicht zur Bescheidung des Nichtwissens, sondern zur Neuauflage des immer schon Gewussten, mithin zu den bekannten, zwischenzeitlich eingemotteten antikapitalistischen Reflexen: Von Jürgen Habermas bis Sahra Wagenknecht wissen plötzlich alle wieder, dass es nur der Neoliberalismus sein kann, der uns die ganze Misere eingebrockt hat. »Entfesselte Märkte«, was immer man sich darunter vorstellen soll, treiben ihr Unwesen, zwingen Staaten in die Knie und treiben Regierungen vor sich her und in den Ruin. In Umkehrung des gängigen Vorwurfs an die Liberalen, sie folgten stets blind der Devise »Der Markt hat immer recht«, wissen die Antikapitalisten aller Länder neuerdings wieder: »Der Markt ist immer schuld.« Weil sie keine Alternative haben, rufen die Antikapitalisten dem Kapitalismus ihr existenzialistisches »Empört Euch!« entgegen, dessen wuchtige Rhetorik allemal von der Pflicht zur Analyse entbindet.
Mit den »Abgründen des kapitalistischen Systems« (Michael Lewis) hat die von der europäischen Gemeinschaftswährung aufgedeckte Staatsschuldenkrise trotz feuilletonistischen Trommelfeuers nicht das Geringste zu tun. Mit Derivaten und komplizierten Finanzprodukten, wie die Linke gerne schwadroniert, im Übrigen auch nicht. Aber Kredite sind keine Derivate: Sie sind das Simpelste, was die Finanzindustrie anzubieten hat. Es gibt sie schon seit Jahrtausenden (Walhall lässt grüßen). Und Schuldner, die nicht zahlen wollen oder können, gab es auch schon immer. Um den Mechanismus von Zins, Zinseszins, Risiko, Rendite und Verschuldung zu verstehen, muss man weder Finanzmathematiker noch Börsenhändler sein. Eher schon muss man etwas von Psychologie und politischer Ökonomie verstehen, um zur Frage vorzustoßen, warum Menschen und Staaten auf Kredit leben (und warum andere ihnen Kredit geben), obwohl sie ahnen, dass sie für die Folgen ihrer ungedeckten Konsum- oder Investitionswünsche am Ende nicht geradestehen können.
Noch einmal sei es betont: Die Krise des Euro ist eine veritable Staatsschuldenkrise, keine Krise des Marktes. Sie beruht darauf, dass in den europäischen Wohlfahrtsstaaten seit mehr als hundert Jahren die Ausgaben schneller wuchsen als die Einnahmen und die sozialen Ansprüche stets größer waren als das finanzielle Potenzial, das nötig wäre, diese Ansprüche zu erfüllen. Weil die Zinsen im ersten Jahrzehnt nach Einführung des Euro das Risiko möglicher Zahlungsausfälle nicht spiegelten, trieben es viele Staaten (vor allem an der europäischen Peripherie) umso bunter. Und am Ende fiel gerade in den Staaten des Euroraums dieses Verschuldungsrisiko allen wie Schuppen von den Augen, auch wenn andere Staaten (Japan, USA, Großbritannien) ebenfalls bis zur Halskrause verschuldet sind. Wenn man den Ratingagenturen eine Mitschuld an der Krise geben will, dann haben sie nicht versagt, weil sie seit 2010 Ländern wie Italien oder Spanien ihre Bestnoten nahmen, sondern weil sie das eigentlich schon viel früher hätten tun müssen und sie lange Jahre aber das Risiko eines möglichen Zahlungsausfalls nicht gesehen haben. Aber auch das war möglicherweise rational, weil die Märkte erwarteten, dass im Falle eines Falles schon der deutsche Steuerzahler oder die Europäische Zentralbank für den Schaden aufkommen würden.
Nicht das Versagen von Märkten ist das Thema der Staatskrise, sondern der Skandal, dass (Mehrheits)demokratien nicht mit Geld umgehen können. Insgesamt haben die Industriestaaten im Jahr 2012 nach dem neuesten Staatsschuldenbericht der OECD einen Finanzierungsbedarf (Neuverschuldung und Emission auslaufender früherer Bonds) auf Rekordhöhe von 10,5 Billionen Dollar (2011: 10,4 Billionen).4 Damit steigt die Schuldenlast der Industrieländer von durchschnittlich 72,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2011 auf 74,9 Prozent – in absoluten Zahlen 36 Billionen Dollar – im Jahr 2012, bei insgesamt trotz Intervention der Zentralbanken steigenden Finanzierungskosten (Zinsen). Auch die jährlichen Defizite, also die zusätzlichen Schulden der Staaten, liegen nach Angaben der OECD nahe am historischen Rekord von durchschnittlich sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Demokratien im Wohlfahrtsstaat sind, was die Verschuldungsspirale betrifft, gefährlicher als Monarchien. Denn ihre Regierungen können das finanziell ungedeckte Sozialversprechen nur um den Preis des politischen Machtverlustes zurücknehmen. Das werden sie aus rationalen Gründen nicht tun und sich stattdessen immer weiter verschulden. Aufwendige Kriege hingegen, der Grund, warum Monarchien in der Geschichte sich in Schulden stürzten, sind immer irgendwann einmal zu Ende gegangen – nicht zuletzt, weil Banken sich weigerten, weiter Kredit zu geben, und damit implizit den Frieden förderten. Dann gab es einen Schuldenschnitt. Und das Ganze ging von vorn los.
Demokratien im Wohlfahrtsstaat brauchen die Märkte, die sie zur Disziplin anhalten. Dieser Mechanismus hat in jüngster Zeit sogar ordentlich funktioniert. Was die versammelten Intellektuellen in den linken (und anderen) Lagern Deutschlands, Österreichs, Frankreichs etc. nicht hinbekommen haben, schaffen die Märkte in ein paar Monaten: Sie fegen die Machthaber aus dem Amt. Die Waffen der Märkte sind nicht die Stimmzettel, sondern die Kurszettel, auf denen die Anleihenrenditen notiert werden: Wer nicht spurt, dem schrauben sie den Zins nach oben. Berlusconi-Italien war, wenn wir nichts übersehen haben, im Spätherbst 2011 mindestens die sechste Regierung Europas, die innerhalb eines guten Jahres vor den Finanzmärkten in die Knie ging und abdankte. Wollten nicht gerade die Linksintellektuellen Europas Berlusconi aus dem Amt haben? Jetzt ist Berlusconi weg, und es ist auch wieder nicht recht.
Aber eben nicht nur in Italien, auch in vielen anderen Ländern haben die Märkte, horribile dictu, Politik gemacht und Regierungen zum Abdanken gezwungen. In alphabetischer Reihenfolge sind das: Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Slowakei, Spanien. Und was macht die intellektuelle Elite? Sie ruft Zeter und Mordio, weil die Demokratie angeblich die Kontrolle verloren habe und die Weltpolitik den Märkten überlasse. Die politische Klasse werde »von den Märkten kujoniert«, behauptet Jürgen Habermas metaphernreich und sieht ein »postdemokratisches« Zeitalter am Himmel heraufziehen.5 Dabei hat der langjährige Hausphilosoph des deutschen Linksbürgertums noch nicht einmal so unrecht. Weil er nicht genau hinschaut, bleibt ihm aber die Einsicht in die wahren Ursachen dieser Gefahr verstellt.
Tatsächlich stehen Regierungen Europas derzeit unter doppelter Aufsicht. Neben der Abwahldrohung durch ihre Völker gibt es jetzt die Zinsschraube der Gläubiger. Das ist neu; lange Zeit haben die Märkte geschlafen und das Risiko übersehen. Inzwischen steigt der Preis in dem Maße, wie die Rückzahlungswilligkeit der Staaten fraglich wird. Staaten nämlich sind, genau genommen, nie zahlungsunfähig. Stets können sie sich, auch wenn sie über keine eigene Notenpresse verfügen, Geld besorgen: indem sie Ausgaben kürzen, Einnahmen (Steuern, Gebühren) erhöhen oder Eigentum verhökern. Staatsbankrott bedeutet nicht die Zahlungsunfähigkeit, sondern die Zahlungsunwilligkeit. Stellen Regierungen den Schuldendienst ein, hat der Gläubiger (anders als bei Privatinsolvenzen) keine Sicherheiten. Es sei denn, er würde mit der Kavallerie einmarschieren und Vermögenswerte pfänden.
Drohung des Volkes und Drohung der Märkte sind meist gegenläufig. Die Griechen verweigern jegliches Sparprogramm (Austeritätsregime), würden am liebsten weiter Wohlfahrtsparty feiern und die Rechnung nach Europa schicken: andernfalls drohen Unruhen, Wahlniederlagen und, schlimmstenfalls, Anarchie. Die Gläubiger dagegen wollen Ausgabendisziplin, verlangen, dass die Staaten ihre Ausgaben den Einnahmen anpassen; andernfalls droht die Strangulierung durch den Zins – oder die Demissionierung der Regierung.
Der Konflikt, um den es geht, heißt nicht Diktatur des Volkes versus Diktatur der Finanzmärkte, sondern Mehrheitsdemokratie versus Rechtsstaatlichkeit. Demokratien sind, nach einem berühmten Wort des schwedischen Finanzwissenschaftlers Knut Wicksell, nichts anderes als die »Diktatur der zufälligen Mehrheit«. Können demokratische Mehrheiten ihren Ausgabenhunger mit Steuern nicht mehr befriedigen, weil sie womöglich die Auswanderung der Besitzbürger fürchten, greifen sie in zunehmendem Maße zur Staatsverschuldung. Weil alle demokratischen Wohlfahrtsstaaten so handeln, sind (fast) alle inzwischen überschuldet (gemessen am Maastricht-Vertrag, der verlangt, dass der Schuldenstand eines Staates nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen dürfe).
Als Schuldner aber treffen die Staaten nicht auf »anonyme Märkte«, sondern auf konkrete Vertragspartner, hinter denen stets reale Menschen (Kreditgeber) stecken: Wenn sie sich verschulden, ist das nichts anderes als ein privatrechtlicher Vertrag zwischen Schuldnern (Staaten) und Gläubigern (Banken, Privatleuten), bei dem der Preis (Zins) und Rückzahlungsmodalitäten (Tilgung) vereinbart werden. Verträge sind einzuhalten, so lautet ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Auch demokratische Mehrheiten legitimieren den Vertragsbruch nicht. Wenn Staaten ihre Schulden nicht tilgen oder die Zinszahlungen von einer bestimmten Höhe an verweigern, ist das ein Verstoß gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der auch durch Mehrheitsbeschluss nicht besser wird.
Mit anderen Worten: Es geht in Europa derzeit auch um einen Konflikt zwischen Mehrheitsdemokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die liberale Tradition Europas – von John Locke über David Hume bis Lord Acton – hat stets die Demokratie der Rechtsstaatlichkeit nachgeordnet. Doch das Bestrafungspotenzial der Massen wirkt für Regierungen gefährlicher als die Sanktionsdrohung des Vertragsbruchs. Wo kein Kläger, da kein Richter. Es sind die Märkte, die heute für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit eintreten und diese mit der Zinsschraube (dem Preismechanismus) erzwingen.
Dieses Buch widerspricht der wohlfeilen Marktschelte, zuweilen aufrichtig empört, aber stets auf Analyse zielend und ohne den Markt zu glorifizieren. Die Schuldenkrise, ich wiederhole mich, ist der untauglichste Gegenstand, an dem man das Versagen der Marktwirtschaft exemplifizieren kann, gerade wenn man anerkennt, dass die Märkte zu Über- und Untertreibungen neigen und ihrerseits eine Ordnung, ein Design brauchen, damit sie Regeln folgen können.
»Die Notwendigkeit von Prinzipien und die Gefahr des Dahintreibens«, überschreibt der Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek ein Kapitel in seinem epochalen Buch Die Verfassung der Freiheit (1960).6 Wer nämlich keine Prinzipien hat oder seine Prinzipien aufgibt, der kommt notwendig zu Ergebnissen, die er nicht gewollt hat. Er wird das Dahintreiben stets als »alternativlos« beschreiben und sich dabei doch immer nur vom Augenblick treiben lassen. Erst gar keine Hilfe für Griechenland, dann ein bisschen Hilfe für Griechenland, dann Hilfe für die ganze Eurozone, schließlich machen wir daraus noch einen Hebel, und am Ende nimmt die Zentralbank die »Bazooka« (Panzerfaust) in die Hand. Das Parlament hechelt jeder Volte der Regierung hinterher. Keiner hat es gewollt, aber alle nennen es zum Schluss unabänderlich. Soll man das eine gute Demokratie nennen?
Um der Gefahr des »Dahintreibens« zu widerstehen, empfiehlt Hayek, Liberalismus und Demokratie gedanklich zu trennen. Der Liberalismus »befasst sich mit den Aufgaben des Staates und vor allem mit der Beschränkung seiner Macht. Die demokratische Bewegung befasst sich mit der Frage, wer den Staat lenken soll.« Der Liberalismus glaubt, dass die Gesetze gewissen Grundsätzen folgen sollen: »Er anerkennt die Herrschaft der Mehrheit als eine Methode der Entscheidung, aber nicht als eine Autorität, die sagen kann, wie die Entscheidung ausfallen soll.« Nur »doktrinäre Demokraten«, von denen es heute zu wimmeln scheint, meinen, der Mehrheitswille bestimme nicht nur, was Gesetz ist, sondern auch, was ein gutes Gesetz ist. Daraus folgt: Der Liberalismus plädiert für die Beschränkung der Macht der Mehrheit durch Regelbindung und im Interesse der Stärkung der Demokratie, nicht im Interesse ihrer Schwächung.
Was uns nun, mit Hayeks Analyse im Sinn, heute vollends deprimiert, ist die Tatsache, dass es zu dem prinzipienlosen Dahintreiben gekommen ist, obwohl es zuvor durch die Maastricht-Verträge Regelbindung und Prinzipien gegeben hat. Die Frage ist deshalb, wie der Krise zu entkommen ist. Die Mehrheitsmeinung neigt dazu, für neue, »strengere« Prinzipien und Regeln zu plädieren, verbunden mit einer stärkeren zentralen fiskalischen Sanktionsmacht Europas – oder der Zahlerstaaten (»Mehr Europa, nicht weniger«). Eine strikt einzuhaltende Selbstverpflichtung der Regierungen soll jedem Staat seine eigene Fiskal- und Schuldenpolitik erlauben und Abweichungen davon durch europäische Überwachungsorgane streng bestrafen. Die Fiskaldesigner überbieten sich in Vorschlägen, wie denn nun die zukünftige Architektur der Eurozone aussehen soll, damit Verschuldungsexzesse zulasten Dritter nicht mehr vorkommen können. Doch auf den einen fundamentalen Einwand haben sie keine Antwort. Er lautet: Warum sollen Mehrheitsdemokratien, nachdem sie einmal ihre Prinzipien über Bord geworfen haben, dies nicht auch ein zweites Mal tun, egal wie smart die neue Architektur ausfällt? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und wer einmal die Regeln austauscht und sich dahintreiben lässt, der wird es wieder tun. Deshalb glaubt auch noch nicht einmal die EU-Kommission den Beteuerungen der Staats- und Regierungschefs auf ihrem Dezember-Gipfel 2011 in Brüssel, ein Fiskalpakt (mit oder ohne automatischen Sanktionsmechanismus) werde nun jene Haushaltsdisziplin bewirken, die der Maastricht-Pakt zwar gefordert, aber nicht bewirkt hat. Nur am Rande sei angemerkt, dass die Phalanx der Fiskaldesigner auch das Problem unzureichenden menschlichen Wissens nicht parieren kann, von dem wir eingangs gesprochen haben. Mit sehr viel anmaßendem Politiker- oder ökonomischem Expertenwissen wird hier an einer neuen Eurowelt herumgebastelt, ohne die unknown unknowns relativierend in Betracht zu ziehen.
Dieses Buch will sich nicht anmaßen zu entscheiden, was die Menschen denken sollen. Es will sich aber in aller Bescheidung die Freiheit nehmen, »Möglichkeiten und Folgen gemeinsamen Handelns aufzuzeigen, an die die Mehrheit noch nicht gedacht hat«7 . Deshalb wird hier entschieden für Dezentralität anstatt für Zentralität plädiert. Anstatt immer neue zentralistische Fiskalregeln mit für alle Beteiligten demütigenden Überwachungs-und Sanktionsregimes zu zimmern, die der Demokratie einen schweren Schaden jetzt schon zugefügt haben, würde eine strikte Fiskalautonomie, also Einnahmen- und Ausgabenverantwortung auf dezentraler, kantonaler, gemeindlicher Ebene ohne solche Brüsseler oder gar deutsche Strafkammern auskommen. Es müsste freilich eine alte Regel ganz streng wieder zur Anwendung kommen: Jeder haftet für sich selbst (No-Bail-out-Prinzip). Jede Gebietskörperschaft darf wirtschaften, wie sie will. Sie kann sich verschulden, wie sie will, darf aber im Falle eines Falles nicht darauf zählen, herausgepaukt zu werden (und die Gläubigerbanken dürfen das natürlich auch nicht). Ein dezentrales Europa bräuchte keinen zentralen Brüsseler Fiskalplaner. Ein dezentrales Europa – ob mit oder ohne Euro – könnte nebenbei auch zeigen, dass Wettbewerb der dezentralen Einheiten als politisches Entdeckungsverfahren, jenes Prinzip, das die Überlegenheit des »European Miracle« begründete, auch heute dem Zentralismus überlegen ist: Es ist die geschmähte Kleinstaaterei bei offenem Binnenmarkt, der wieder zu Ansehen zu verhelfen ist. Es ist nämlich kaum zu erwarten, »dass es einem Volk gelingen wird, einen demokratischen Staatsapparat erfolgreich zu betreiben und zu erhalten, wenn es sich nicht zuerst mit den Traditionen einer unter der Herrschaft des Rechts stehenden Regierung vertraut gemacht hat«.8
Genau deshalb werden die Analysen dieses Buches nicht bei der Schuldenkrise verharren, sondern auch kritisch fragen, wie es dazu kommen konnte, dass sich der Staat in einem langen historischen Prozess immer weiter in die Gesellschaft hineingefressen hat: Die Meinung von der »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft« (Ernst Forsthoff) hat seit über hundert Jahren ständig mehr Freunde gefunden, die die Menschen davon zu überzeugen suchten, dass der Staat nicht bloß ihre äußere und innere Sicherheit garantieren müsse, es im Übrigen aber ihre eigene Sache sei, ob, wie und in welchen geselligen Formen sie in Freiheit miteinander lebten und miteinander umgingen. Diese liberale Auffassung von der Natur des Staates wurde als Minimal- und Nachtwächterstaat verspottet. Die Notwendigkeit einer Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft war dagegen die Geburt des Wohlfahrtsstaats und des paternalistischen Staates zugleich, der wie ein guter Vater seinen Bürgern in vielen Lebenslagen zu helfen den Anspruch hat: Wo die Menschen schwach sind (was nicht zu bestreiten ist), soll der Staat sie halten und ihre Schwäche kompensieren. Kein Minimal-, sondern ein Maximalstaat ist das.
Der Preis (materiell wie immateriell) für den Tausch der Freiheit gegen den Wohlfahrtsstaat und den Paternalismus wurde nie genannt. Inzwischen werden die Rechnungen präsentiert. Es sind bei Weitem nicht nur, aber eben auch jene Schecks und Milliardengarantien, die die staatlichen Rettungsfonds EFSF oder ESM von den Bürgern der reichen Länder (Deutschland, Frankreich) einfordern. Es sind eben erst recht die Kosten einer zunehmenden Entmündigung und Freiheitsbeschränkung, an welche die in den Wohlfahrtsstaaten lebenden Menschen sich inzwischen gewöhnt haben und woraus sie ihren »sekundären Krankheitsgewinn« (Sigmund Freud) ziehen. Überall hat der Staat seine Finger und sein Geld drin, nicht nur in der üppigen Sozial-, immer mehr auch in der nicht minder üppigen Familienpolitik: Der Staat zahlt die Krippenplätze für die Kleinen und, wenn sich diejenigen, die ihre Kinder nicht in die Krippe geben, benachteiligt fühlen, zahlt er denen eben auch ein Betreuungsgeld. Noch für ihren privatesten Bereich verlangen die Bürger, verwöhnt und korrumpiert zugleich, staatliche Unterstützung. Anders wäre es nicht zu erklären, dass eine bürgerliche Regierung in Deutschland jetzt sogar die Kosten künstlicher Befruchtung ungewollt Kinderloser subventionieren will. Angesichts dieser ständig wachsenden finanziellen Ansprüche ist es aber auch zu erklären, warum der Staat zunehmend auf Schulden angewiesen ist und, nicht wenig feige, den Preis des Paternalismus nicht den heutigen Profiteuren, sondern künftigen Generationen in Rechnung stellt.
Noch einmal sei es gesagt: Es gilt, die Präferenzen der Menschen zu achten. Wenn die Bürger viel Staat wollen, wer wollte sich anheischig machen, ihnen das zu verwehren? Aber fragen wird man dürfen, ob der in den Schuldentaumel führende Tausch der Freiheit gegen den umverteilenden Wohlfahrtsstaat und den besserwissenden paternalistischen Staat ein guter Deal war. Sagen wird man dürfen, dass Bürger, die einen üppigen Staat wollen, dann auch bereit sein müssen, die Rechnung ganz zu übernehmen, und nicht feige an die Nachgeborenen die Kosten delegieren können, wenn ihnen die Lasten zu groß zu werden drohen. Verträge zulasten Dritter sind weder mit der Gerechtigkeit zu vereinbaren, noch respektieren sie die menschliche Freiheit, die immer auch die Freiheit sein muss, Nein zu sagen.
Dieses Buch ist ein Versuch, die Theorie des Staates wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nicht der Staat steht am Anfang, sondern die menschliche Freiheit. Nicht die Umverteilung steht am Ursprung der Idee der Gerechtigkeit, sondern das Recht des Einzelnen auf sein Eigentum. Nicht die Schulden – das Leben auf Kosten anderer – stehen im Zentrum, sondern die Selbstverantwortung für das eigene Leben und die Haftung für die Folgen seines Tuns. Der Staat soll subsidiär die menschliche Freiheit garantieren; er soll die Freiheit aber nicht beschränken. »Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten«, hat George Bernard Shaw gesagt. Es ist aber keine Entschuldigung dafür, sich vom Staat tyrannisieren und von dessen scheinbar fürsorglicher Absicht entmündigen zu lassen. Der Preis ist zu hoch.
Dass dieses Buch für die liberale Idee wirbt, dürfte schon am Ende dieser Einleitung klar geworden sein. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll hier gleich zu Anfang mit sechs populären Mythen aufgeräumt werden:
Wer Pro-Markt ist, ist nicht Pro-Business. »Business«, das sind Unternehmer und Unternehmen, die egoistische Ziele verfolgen und am liebsten den Wettbewerb zum Schaden der Menschen außer Kraft setzen wollen. Der »Markt« aber ist ein Ort, an dem Menschen ungestört kooperieren und konkurrieren mit dem Ziel, »to better ones condition« (Adam Smith).Wer liberal ist, muss kein FDP-Mitglied sein. A-liberales Denken und antiliberale Politik findet sich (leider) bei den Freidemokraten (fast) genauso häufig wie bei anderen Parteien.Wer den Markt stärken will, will nicht den Staat schwächen. Er weist beide in seine Grenzen.Ein liberales Programm ist auch ein Programm der Gerechtigkeit. Die Weltenteilung, wonach die einen für Effizienz, die anderen für Ethik zuständig sind, wird zwar auch von Ökonomen häufig geteilt. Sie ist aber ein Übel.Wer die Mehrheitsdemokratie kritisiert, ist kein Feind der Demokratie.Wer die Einführung des Euro eine Fehlentscheidung nennt, ist nicht gegen Europa.»Freiheit braucht Ordnung.«
Branford Marsalis, Jazzsaxophonist
Nie ging es uns so gut wie heute: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das den individuellen Wohlstand der Menschen misst, liegt in Deutschland mit fast 30 000 Euro auf dem höchsten Stand in der Geschichte. In den vergangenen 150 Jahren hat sich unser durchschnittliches Einkommen mehr als verzwölffacht. Ein Wunder, das wir Produktivität nennen: Denn weder arbeiten die Menschen heute zwölfmal so viel wie damals, noch ist der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung um das Zwölffache gestiegen. Wir sind einfach viel produktiver geworden. Es kommt heute mehr (und Besseres, Originelleres) heraus, wenn jemand eine Stunde lang arbeitet. Und überdies können wir uns heute mehr Freizeit leisten als früher: Einen Teil der Produktivitätsgewinne gönnen wir uns als Muße, denn insgesamt arbeiten wir deutlich weniger Stunden im Jahr als früher. Mehr Wohlstand bei weniger Arbeit, so lautet die Bilanz der Fortschrittsgeschichte unseres reichen Landes. Von den Wohlstandserfolgen profitieren wir als Arbeitnehmer und als Konsumenten. Machen wir es konkreter. Spürbare Wohlstandsgewinne fallen schon innerhalb einer Generation (und nicht nur auf hundertfünfzig Jahre gesehen) an: Für einen Liter Milch musste man im Jahr 1980 noch 8,8 Minuten arbeiten. Heute hat die gleiche Menge einen Gegenwert von 4,1 Minuten Arbeitszeit. Und für ein Kilo Schweinefleisch wurden vor dreißig Jahren eineinhalb Stunden gearbeitet; heute kann man sich den Braten schon nach 40 Minuten leisten. Noch atemberaubender wird es, wenn wir statt auf Lebensmittel auf Elektronik blicken: Der Erwerb eines Farbfernsehers »verbrauchte« 1980 fast 229 Stunden Arbeitszeit, heute hat man ihn sich schon nach 60 Stunden verdient. Ähnlich sieht es mit Handys und Computern aus: Produktivität und Preisverfall beschleunigen sich. Innovationen bereichern unser Leben zu erschwinglichen Preisen.
Noch nie ging es uns so gut wie heute
Pro-Kopf-Einkommen=1 (1800 n. Chr.)
Quelle: Gregory Clark: A Farewell to Alms. Princeton University Press 2008
Eines ist wahr: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Doch das ändert nichts an unserem Ausgangspunkt: Auch die ärmeren Schichten sind bis heute Dekade um Dekade reicher geworden, wenngleich nicht so stark, wie die Reichen reicher wurden. Mag sein, dass dies die Ärmeren unglücklich macht. Mag sogar sein, dass das ungerecht ist. Dass es uns heute aber so gut geht wie noch nie, gilt trotzdem für alle Menschen. »Gut gehen« meint auch mehr als die materiellen Lebensbedingungen. Wohlstand hat auch eine immaterielle Seite: Er erweitert unsere Kommunikationsmöglichkeiten und schenkt uns größere Wahlfreiheit. Wir haben mehr Alternativen, zu entscheiden, wie und wo wir leben wollen.
So reich wir sind, dünkt es uns doch gleichzeitig, als seien wir heute deswegen noch lange nicht die freiesten, sondern ganz im Gegenteil die hilfsbedürftigsten und unselbstständigsten Menschen seit vielen Generationen.9 Der Eindruck stellt sich ein, wenn man Zahl und Aktivität staatlicher Instanzen betrachtet, die ständig damit befasst sind, möglichst alle Bürger umfassend zu betreuen und ihnen Hilfe aller Art zuteilwerden zu lassen. Die meisten der Berliner Ministerien sind Betreuungsministerien: Das Arbeitsministerium betreut Arbeitslose und Rentner, das Familienministerium umsorgt Kleinkinder, Familien, Frauen, Alleinerziehende und Pflegefälle, das Bildungsministerium kümmert sich um Schüler, Studenten und Wissenschaftler und das Gesundheitsministerium sorgt sich um die Volksgesundheit. Ganz abgesehen vom Verbraucherschutzministerium, welches die schützende Sorge des Staates schon im Namen führt. Hinzu kommen ungezählte gesellschaftliche Organisationen, die (meist mit staatlichem Geld) Konsumentenschutz, Anlegerschutz, Forschungs- oder Landwirtschaftsschutz betreiben und den Bürgern helfend, lenkend und dirigierend unter die Arme greifen. Wie ein guter Vater kümmert sich der Staat um seinen Bürger: Er weiß sogar, welche Glühlampen für ihn gut sind, und schreibt ihm in seinen Kalender, wann er die alten 60-Watt-Birnen gegen die neuen LED-Leuchtkörper austauschen muss.
Der moderne Staat ist nicht nur Wohlfahrtsstaat, der die Menschen vor den Fährnissen der großen Lebensrisiken (Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit) schützen und versichern will. Er ist längst ein »paternalistischer« Betreuer geworden, der Vorschriften und Verbote erlässt und mit Geld bestraft und belohnt, um seinen Bürgern zu ihrem Glück zu verhelfen. Zur Frage, was wir mit Staat meinen, soll uns vorläufig die Definition des Soziologen Max Weber genügen, wonach Staat eine Gemeinschaft ist, die »innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich mit Erfolg beansprucht«, also ein auf Legitimität zielendes »Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen«.10
Staatliche Leistungen gibt es nicht umsonst. Bundes- und Länderhaushalte waren finanziell noch nie so groß wie heute. Der Bürger lässt sich sein Umsorgtwerden viel kosten, die »amtliche« Abgabenquote (Steuern und Sozialbeiträge addiert) beträgt inzwischen fast 40 Prozent des Bruttoeinkommens; die »reale« Abgabenquote, die alle vom Staat bedingten Ab- und Ausgaben misst, beträgt bis zu 70 Prozent. Das bedeutet: Etwa die Hälfte des durch eigene Leistung erworbenen Einkommens fließt an den Staat (oder an parastaatliche Organisationen wie Renten- und Krankenversicherung), bevor es auf vielfältig verschlungenem Wege wieder bei den Bürgern (manchmal bei anderen, manchmal bei denselben) landet. Wenn man es plakativ sagen will, so arbeiten die Menschen mehr als die Hälfte eines jeden Jahres für den helfenden, betreuenden und Wohlfahrt produzierenden Staat. Erst danach steht ihnen ihr Einkommen zur freien Verfügung. »Bereitstellen« laute das Zauberwort in diesem Land, meint ein Schweizer Beobachter, der genau hingehört hat: Bereitstellen soll der Staat mehr öffentliche Wohnungen zu bezahlbaren Mieten, er soll Bedürftige aller Art angemessen unterstützen und er soll Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen. Dass dafür »Gelder« fließen müssen, bleibe meist unerwähnt, ergänzt unser Schweizer Beobachter. Man sieht ja auch nicht, dass wir das halbe Leben fürs Bereitstellen arbeiten. Dass dies gleichwohl die Ausgaben bei Weitem nicht deckt, ist spätestens seit der europäischen Schuldenkrise in das allgemeine Bewusstsein gedrungen: Der Schuldenstand auch unseres Landes ist mit bald zwei Billionen Euro (!) – das entspricht etwa 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2,4 Billionen Euro – höher als je zuvor. Der paternalistische Wohlfahrtsstaat gönnt uns Bürgern mehr, als wir uns aus eigener Steuerkraft leisten können. Dieser Staat lebt üppig, er lebt, wie man gerne sagt, über seine Verhältnisse und also auf zu großem Fuße und auf Kosten künftiger Generationen. Niemand weiß, wann und wie Deutschland (vielen anderen Ländern geht es nicht besser) in der Lage sein wird, diese Schulden zurückzuzahlen.
Offenbar sind wir mit wachsendem Wohlstand immer betreuungsbedürftiger und unselbstständiger geworden. Als ob der Reichtum uns geschwächt und nicht gestärkt hätte. Das mutet paradox an. Müsste man nicht annehmen, im Zuge größeren Reichtums schwinde die Notwendigkeit staatlicher Fürsorge, Umverteilung und Daseinsvorsorge, weil jeder Bürger, nach Maßgabe seines Einkommens, das Nötige zur Verfügung habe und der Wohlstand ihn dazu ermächtige, sein Leben gemäß seiner eigenen Vorstellung zu führen? Ja, man müsste. Aber es ist anders gekommen: Der allbetreuende Staat hat sich im Lauf der Geschichte unersetzlich gemacht.
Am Beginn der Entwicklung stand einmal der Gedanke der Fürsorge als Übergangsphänomen, die sich selbst überflüssig machen müsste und so schnell wie möglich wieder zu verschwinden hätte, sobald es den Menschen besser ginge. Dann aber setzte sich die Erfahrung durch, dass Staatshilfe eine Dauereinrichtung sei, die freilich nur in genau definierten Fällen wirksam werden durfte. So meint Wilhelm Röpke: »Schließlich wird dann in unseren Tagen das revolutionäre Prinzip herrschend, das den Staat zu einem Tag und Nacht arbeitenden Pumpwerk der Einkommen macht, mit seinen Röhren und Ventilen, seinen Saug- und Druckströmen.«11
Der Staat ist nicht nur Helfer in der Not, sondern Helfer in allen Lebenslagen, rund um die Uhr.
Für absurd halten deshalb die meisten Menschen den Gedanken, der beste Staat sei jener, in dem die Menschen keine staatliche Unterstützung nötig haben. Dabei ist der Gedanke doch gar nicht so schlecht. Doch dass Eigenvorsorge vor Fremdvorsorge gehe, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Die Bürger haben sich an das »große Pumpwerk der Einkommen« gewöhnt. »Das aber heißt nichts anderes, als dass den Massen das Geld aus der linken in die rechte Tasche praktiziert wird. Auf dem Umwege über den Staat und mit den gewaltigen Leistungsverlusten«, um noch einmal Wilhelm Röpke zu zitieren.
Längst hat die Gesellschaft sich vom Ideal der Selbstversorgung wegbewegt. Wäre es anders, müsste der Staat nur jenen helfen, die zur Selbstversorgung nicht in der Lage sind. Für die Kombination von betreuendem Paternalismus öffentlicher Instanzen, zunehmender Umverteilung und steigendem Abgabendruck wird zumeist das Wort »Solidarität« gebraucht. »Solidarität« ist ursprünglich ein Begriff des römischen Rechts, der die Solidarhaftung (in solidum) des einzelnen Schuldners für eine Gemeinschaftsschuld bezeichnet, der dann im späten 18. Jahrhundert moralisch aufgeladen wurde und auf eine wechselseitige – mehr und mehr auch: finanzielle – Kooperationsverpflichtung zwischen den Individuen einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft verweist. Solidarität ist, wie Hans Willgerodt bemerkt hat, zugleich eine politische Waffe, die dazu dient, staatliche und sozialpolitische (inzwischen auch: europapolitische) Aktivitäten einer kritischen Prüfung zu entziehen und die Verteilströme im Nebel der Intransparenz zu belassen. Solidarität nimmt das Barmherzigkeitsgebot christlicher Nächstenliebe auf und deutet es um als kollektiv gesellschaftliche Verteilungs- und Betreuungspflicht noch für die Fernsten. Mit der Rhetorik der Solidarität wird der Fürsorgestaat zur Dauerinstitution.
Aufgabe des Wohlfahrtsstaates ist offenbar längst nicht mehr nur die Umverteilung von Geld von den Leistungsfähigeren zu den Leistungsschwächeren. »Daseinsvorsorge« lautet das Stichwort, das die Staatstheorie für den öffentlichen Hilfsauftrag erfunden hat. Es soll zum Ausdruck bringen, dass die Grundbedingungen des materiellen, sozialen und kulturellen Lebens (vom durch die Sozialhilfe garantierten Grundeinkommen bis zum öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm) jedermann ohne Ansehen der Person oder seiner Leistungsfähigkeit gewährt werden müssten. Daseinsvorsorge ist ein anderes Wort für eine staatliche Plan-und Betreuungswirtschaft, die ihren Auftrag aus der Rhetorik der Solidarität ableitet. Daseinsvorsorge ist somit die Staatstheorie des modernen Wohlfahrtsstaates.
»So lebt der moderne Mensch nicht nur im Staat, sondern auch vom Staat«, schrieb Ernst Forsthoff (1902 bis 1974), der einflussreiche konservative Staatsrechtler und Freund Carl Schmitts, der seinen Gedanken mehr oder weniger unverändert von den dreißiger bis in die späten fünfziger Jahre treu geblieben ist: »Der Verlust des beherrschenden Lebensraums und der mit ihm gegebenen Daseinsreserven setzt ihn (sc. den Bürger) dem Staat aus. Er weiß sich vom Staat abhängig und trägt an den Staat das Bedürfnis nach Sicherung und Gewährleistung seiner Existenz heran, das er in seinem labilen Individualbereich nicht mehr befriedigt findet.« Der Einzelne sehe seine Daseinsmöglichkeit nur »in der sozialen Gruppe gesichert«, schreibt Forsthoff: »Die Entwicklung ist also von der individuellen über die kollektive zur politischen Daseinssicherung und Verantwortung gegangen.«12 Mit anderen Worten: Der »moderne Mensch«, wie Forsthoff ihn sieht, hat seine Freiheit gerne und aus freien Stücken eingetauscht gegen eine Staatsabhängigkeit, die ihn, den labilen Menschen, stabilisiert. Stabilität gibt sich aus als Lohn für den Freiheitsverlust. Forsthoffs Diktum von der »Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft« kommt den Freunden des Wohlfahrtsstaates gerade recht, liefert es doch unter dem Vorwand der Fürsorge und Solidarität die Legitimation zur Entmündigung der Bürger und ihrer auf Spontaneität beruhenden Vergesellschaftung. Denn der Staat kann jetzt so tun, als hätten die Bürger selbst ihn zu Hilfe gerufen. Das war immer schon der Trick aller Interventionisten: Sie haben es verstanden, meist mit ordentlichem Erfolg, ihre Politik nicht als »proaktiv«, sondern als »reaktiv« zu verkaufen. Demnach wäre es nicht der Staat gewesen, der immer besitz- und freiheitsergreifender geworden wäre, sondern der Bürger, der immer mehr Hilfe gebraucht habe und der seinen Staat auch um diese Hilfe gebeten habe.13
Dass der Wohlstands- und Produktivitätsgewinn der letzten hundertfünfzig Jahre eigentlich die Voraussetzung zu größerer individueller Selbstständigkeit und Selbsthilfe geschaffen hat, wird dabei geflissentlich unterschlagen, ignoriert oder als unerheblich beiseitegetan. Was zählt für die Legitimation der Staatsbedürftigkeit, sind die zunehmenden Schwächen von Individuum, Familie oder Gesellschaft in der Moderne. Wahlweise können der Zerfall der Familienstrukturen, die größeren Ausschläge des Konjunkturzyklus, die höheren Anforderungen an die Flexibilität des Einzelnen in der Industriegesellschaft, die wachsenden Ungleichheiten im Spätkapitalismus oder, wenn das alles noch nichts nützt, die dunklen Mächte der Globalisierung zur Begründung der Hilfsbedürftigkeit ins Feld geführt werden. So ähnelt im rhetorischen Gestus der sozialstaatliche Interventionismus dem militärischen Eingriff: Allemal fühlt sich als Helfer wohler, wer sich von den schwachen Opfern gerufen weiß. Der Staat hat in zunehmendem Maße seine Grenzen überschritten und Individuum, Familie und Gesellschaft kolonialisiert.
Selbst wenn die Moderne das Subjekt geschwächt haben sollte (sie wird es mit Sicherheit im selben Maße auch gestärkt haben), wäre das noch immer nicht notwendig eine Begründung für den usurpatorischen Übergriff des Staates. Denn womöglich ergäben sich aus freien Stücken andere Formen der wechselseitigen Unterstützung, von der familiären über die Nachbarschaftshilfe bis zu Bündnissen gesellschaftlicher oder kirchlicher Fürsorge? Womöglich würde sich aus der Schwäche eine neue Stärke entwickeln? Wer kennt schon das in die Zukunft offene Wechselspiel von Evolution und menschlicher Freiheitsentscheidung? Im Nachhinein ist es freilich ganz unmöglich, den schlüssigen Gegenbeweis anzutreten für die Überlebensfähigkeit der Bürger und gegen die Vertreter der Staatsbedürftigkeit. Denn nicht ohne Raffinesse hat der Staat genau jene Hilflosigkeit der Bürger geschaffen, die er in der Begründung für seine Fürsorglichkeit als Voraussetzung braucht. Crowding-out nennen die Ökonomen diesen Mechanismus: Menschen treten in ihren privaten Aktivitäten – resigniert, erleichtert, empört – den Rückzug an, in dem Maße, in dem der Staat seine Allzuständigkeit erklärt. Was er in die Hand nimmt, darum muss man sich selbst schon nicht mehr kümmern.
Der Staat dient der Gewissensentschuldung des Einzelnen. Er sterilisiert das Gefühl der Verantwortlichkeit füreinander, das moralische Gebot, einander in der Not nicht alleinzulassen und zu helfen, wo die Not groß ist. Diese Art der Gewissensreinigung mag eines der mächtigsten Motive sein, warum so viele sich die Entmündigung gefallen lassen. Sie merken nicht, dass der Staat dabei notwendigerweise viel Sozialkapital zerstört. Und wenn sie es merken, dann ist es ihnen gerade recht. Dabei wäre es nicht nur moralisch geboten, sondern auch ökonomisch effizienter, wenn Hilfe und Solidarität durch soziale Normen und nicht durch Staatsintervention geleitet würden.
Machen wir drei Beispiele. Nehmen wir zunächst (1) die allgemeine Schulpflicht. In Deutschland dürfen Eltern ihre Kinder nicht selbst unterrichten. Das Monopol des Staates beschneidet ihre Freiheit. Schule ist in Deutschland eine Sache des Staates, und zwar ausschließlich und (fast) monopolistisch. Wer eine private Schule eröffnen will, muss mit großen Schwierigkeiten rechnen. Wer seine Kinder gar selbst unterrichtet oder zu einem Hauslehrer schickt, bekommt es mit der Polizei zu tun. Denn er begeht eine grobe Ordnungswidrigkeit. Da merken wir, wie rasch der fürsorgliche Staat zum autoritären Polizeistaat werden kann, der zeigt, wo die Gewalt zu Hause ist. Diese Gewalt ist auch dann nicht legitimiert, wenn sie sich im Dienste der Freiheit der Kinder mandatiert gibt, deren Bildungsrecht vor dem Eingriff von Eltern zu schützen sei, die ihre Sprösslinge aus eigennützigen Gründen lieber rasch zum Geldverdienen schicken wollen. Spätestens seit Pisa ist für jedermann einsichtig, dass, wie immer im Leben, ein Monopol nicht effizient sein kann und Wettbewerb nottäte. Dass die Privatschulen solch großen Zulauf haben, ist dafür der beste Beweis. Da sind die betuchten Mittelschichteltern sogar bereit, zweimal zu bezahlen: Als Steuerzahler für die allgemeinen Schulen, deren Dienstleistungen ihre Kinder gar nicht in Anspruch nehmen, und als Direktzahler in den privaten oder kirchlichen Schulen und Internaten. Es gibt gewiss Gründe dafür, dass der Staat ein gewisses Maß an Bildung seinen Bürgern auferlegt (obzwar auch dies ein Eingriff in die Freiheit ist), aber es gibt keinen Grund zu verordnen, dass Bildung ausschließlich in staatlichen Einrichtungen von staatlichen Beamten exekutiert wird. In Wirklichkeit geht es nicht darum, freie Bürger zu erziehen, es geht darum, »Staatsbürger«, also Untertanen, zu produzieren, wie schon Wilhelm von Humboldt scharfsinnig bemerkt hat. Wäre es anders, bräuchte es keine allgemeine Schulpflicht; es genügte eine allgemeine und staatlich überwachte Bildungspflicht, einerlei, woher einer seine Weisheit bezieht.
Ähnlich verhält es sich (2) mit einem anderen, mit Milliarden auf den Weg gebrachten Großprojekt, dem staatlichen Kinderkrippenbau. Dass der Markt in der Bereitstellung frühkindlicher Betreuungsangebote versage, wird zum gern gebrauchten Argument für die Notwendigkeit des Staatseingriffs. Doch merkwürdig? Warum stellt der Markt kein Angebot bereit, wo doch offenkundig eine solch große Nachfrage (die ebenfalls zur Begründung für den Staatskrippenbau benutzt wird) besteht, während er die Bedürfnisse nach frischen Brötchen, Windeln für Babys oder Popkonzerten offenbar ganz passabel befriedigt? Sieht man genauer hin, liegt es nicht an fehlenden Krippenanbietern, sondern an der fehlenden Zahlungsbereitschaft der Eltern, die nicht (mehr) bereit sind, den vollen Preis der Betreuung für ihre Kleinsten zu übernehmen, weil sie der Überzeugung sind, Bildung sei eine Aufgabe der Allgemeinheit. Das ist die Folge des Crowding-out. Der Staatseingriff baut auf einem Zirkelschluss, den er selbst längst vorbereitet hat. Erst wurde den Eltern eingeredet, Bildung und Kinderbetreuung seien eine Staatsaffäre. Nachdem sie sich an diesen Gedanken gewöhnt und ihre Zahlungsbereitschaft eingestellt haben, kommt der Staat als Helfer in der Betreuungsnot daher, weil Private dazu offenkundig nicht bereit sind. Crowding-out hat seine vorhersagbare Wirkung selbst intellektuell nicht verfehlt, was man am besten daran sieht, dass die meisten Leute es heute abstrus fänden, schlüge man ihnen vor, sie könnten sich auch auf privater Basis um Betreuung oder Bildung ihrer Kinder kümmern.
Mehr noch: Ein »kostenloses« Krippenangebot für alle verdrängt die private Betreuung der Kinder durch Eltern, Tagesmütter,
1. Auflage 2012
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by
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eISBN 978-3-641-08241-3
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www.randomhouse.de
Leseprobe
Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. München 2010.
Roman Frydman/Michael D. Goldberg: Beyond Mechanical Markets. Asset Price Swings, Risk, and the Role of the State. Princeton 2011.
Rainer Hank: Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash. München 2. Aufl. 2009.
OECD: Sovereign Borrowing Outlook. Paris, Dezember 2011.
Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin 2011.
Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen, 4. Aufl., 2005, S. 132–151.
Hayek: Die Verfassung der Freiheit, S. 289 f.
Hayek: Die Verfassung der Freiheit, S. 151.
Den Widerspruch zwischen Wohlstandsgewinn und Staatsabhängigkeit zur Sprache gebracht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst der Freiburger und Kölner Schule der Sozialen Marktwirtschaft. Vgl. Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern 1958; Hans Willgerodt: Der Bürger zwischen Selbstverantwortung und sozialer Entmündigung (1988). In: Werten und Wissen. Beiträge zur politischen Ökonomie. Stuttgart 2011, S. 246–264.
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922, S. 29 f.
Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern 1958, S. 262.
Ernst Forsthoff: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung. Stuttgart 1959, S. 17. Das Kapitel ist (mit Ausnahme geringer Korrekturen) identisch mit Ernst Forsthoffs Buch Die Verwaltung als Leistungsträger aus dem Jahr 1938.
Leszek Balcerowicz: Toward a Limited State. In: Cato Journal, Vol. 24, No. 3 (Herbst 2004), S. 185–204.