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1944 lernen Heinrich Fausten und Gretel Sanders sich kurz vor einem Luftangriff kennen und lieben und verabreden sich für den nächsten Nachmittag. Am nächsten Morgen jedoch wird Heinrich vorzeitig abberufen. Die Alliierten sind in der Normandie gelandet. Heinrich und Gretel verlieren sich aus den Augen. Durch eine Nierenkrankheit gelingt es Gretel, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner bringt sie ihren Sohn zur Welt. Im Chaos dieser Nacht erklärt Gretels Mutter das Kind als ihr eigenes, um Gretel die Schande einer unehelichen Mutter zu ersparen. Doch Gretel leidet zeitlebens unter dieser Lüge. Zwei ernsthafte Gelegenheiten, zu heiraten, schlägt sie aus. Mehrmals kommt es beinahe zu einer neuen Begegnung zwischen Gretel und Heinrich, aber nie wirklich. Heinrich heiratet Helma, die ihn im Lazarett aufopfernd pflegte... Heinrichs und Helmas Tochter Petra lernt in Hamburg einen Arzt kennen, der bald an einem Missionskrankenhaus in Papua-Neuguinea arbeiten soll. Er bittet Petra, trotz des großen Altersunterschieds, seine Frau zu werden und lädt ihre Familie ein zu einem ersten Kennenlernen vor der Verlobung. Als sie eintreffen, erkennt Gretel, dass der erwartete Schwiegersohn niemand anders als der Vater ihres Sohnes ist. Der seit seiner Geburt erwartete Tag - aber wie ganz anders!
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
„Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich geh nochmal ins Städtchen.“
„Ins Städtchen – auf einmal? Du sagst doch, das Nest hier ödet dich an!“
Nicht nur das Nest hier, auch du selbst, dein ewiges Betütteln und das Bewundern meiner Schwestern, denkt er. Aber so höflich ist er immerhin, das nicht auszusprechen. Und außerdem: was ödet ihn nicht an, wenn er ehrlich ist?
„Was hast du vor?“ fragt sie unruhig.
„Weiß ich nicht. Einfach nochmal raus, den schönen Tag genießen“, antwortet er kurz angebunden, „Warte nicht mit dem Abendessen auf mich!“
„Dein vorletzter Urlaubstag!“ jammert die Mutter, „Übermorgen musst du schon wieder an die Front!“
Er achtet nicht darauf, verschwindet einfach, durchstreift ziellos das kleine Städtchen und lässt sich schließlich treiben von den Menschen, die zum Marktplatz vor dem Rathaus strömen. Gelangweilt lässt er sich auf eine der Bänke unter den alten Linden nieder, die ihn umgeben. Typisch Kleinstadt, denkt er mit der Überlegenheit des Großstädters. Aber eigentlich sehnt er sich nicht nach Düsseldorf zurück, der Stadt, in der er aufgewachsen ist.
Ein einzelnes Mädchen fällt ihm auf. Zum zweiten oder dritten Mal scheint es nun schon das Kinoprogramm zu studieren. Von Zeit zu Zeit schaut es nervös in eine der kleinen Nebenstraßen hinein, als erwarte es jemand und wendet sich dann wieder der Reklame zu. Schade, denkt er, sieht so nett aus, direkt zum Ansprechen. Wartet aber anscheinend auf einen Andern.
Plötzlich ein Ruf aus einer Seitenstraße:
„Hallo, Gretel!“
Das Mädchen wendet sich um.
„Elfriede! Endlich!“ ruft es, erleichtert oder vorwurfsvoll, schwer zu unterscheiden. Ein blonder Lockenkopf, etwa gleich alt, noch unter zwanzig, schätzt er, erscheint. Sie schießen auf einander zu.
„Entschuldige, dass ich dich so lang hab' warten lassen“, sprudelt die Blonde aufgeregt und noch ganz außer Atem hervor, „Stell dir vor: Lutz ist gekommen! Hat drei Wochen Urlaub: Ich glaub', ich träume!“
Sie fällt Gretel um den Hals, wirbelt sie herum, ist nichts als Freude und Glück.
„Also nichts mit Kino“, hört er Gretel sagen.
„Kannst du doch hoffentlich verstehen“, lacht Elfriede und verschwindet.
„Viel Spaß!“ ruft Gretel hinter ihr her. Aber das hört Elfriede schon nicht mehr. Ratlos bleibt Gretel zurück, schluckt an Tränen, die keiner sieht, macht unschlüssig ein paar Schritte; da ist Heinrich neben ihr.
„Versetzt?“ scherzt er. Sie wirft ihm einen wütenden Blick zu.
„Haben Sie anscheinend mitgekriegt. Ist aber ein plausibler Grund. Und geht Sie im Übrigen einen Dreck an, verstanden?“
„Verstanden“, antwortet er und weicht nicht von ihrer Seite.
„Ich bin nicht so eine, wie Sie sie suchen. Hauen Sie gefälligst ab“, fährt sie ihn ärgerlich an.
„Woher wissen Sie, was für eine ich suche?“
„Na, was für eine schon?“ meint sie wegwerfend. „Sie scheinen keine gute Meinung von deutschen Soldaten zu haben“, erwidert er.
„Sind Sie denn einer?“ fragt sie mit einem misstrauischen Blick auf seinen Zivilanzug.
„Wollen Sie mein Soldbuch sehen?“ lacht er und greift nach seiner Jackentasche.
„Ach nein; ich glaub' Ihnen auch so“, sagt sie verlegen, „Sind Sie hier im Lazarett?“
„Seh' ich so aus? Ich bin kerngesund. Bin nur auf Urlaub hier. Meine Familie ist hierher evakuiert. Nachdem sie in Düsseldorf ausgebombt wurde.“
„Ausgebombt? Sie auch? Ich komme aus Ludwigshafen.“
„Und wohin gehen Sie jetzt an diesem herrlichen Nachmittag?“
„Wahrscheinlich nach Hause. Was sonst? Ins Kino lassen sie mich jetzt nicht mehr hinein. Die sind immer recht sauer, wenn dauernd noch Leute „Sind Sie denn noch Schülerin oder schon Studentin?“ Sie lacht.
„So was Feines bin ich nicht.“
„Was heißt hier: Feines? Sind Sie denn schon berufstätig?“
„Genau.“
„Da haben Sie aber schon früh Feierabend“, staunt er.
„Dafür muss ich allerdings auch schon um sieben im Büro sein. Der Chef will, dass wir zur selben Zeit da sind wie die Arbeiter.“
„Aber das heißt doch nicht, dass Sie jetzt schon nach Hause müssen, Sie könnten zum Beispiel noch ein bisschen spazieren gehen. Mir das Städtchen zeigen.“
„Bin doch selber fremd.“
„Ist doch nicht schlimm. Da können wir ja gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen“, schlägt er vor.
Sie zögert. Eigentlich ist er ihr nicht gerade unsympathisch. Sieht auch nicht aus wie einer, der ein Abenteuer sucht. Eher wie einer, der sich langweilt.
„Warum eigentlich nicht“, sagt sie mehr zu sich selbst als zu ihm und wundert sich dann über ihren eigenen Mut,.
„Vielleicht auf den Burgberg. „Ist eine herrliche Aussicht da droben. Bei gutem Wetter sieht man bis zum Odenwald.“
Sie führt ihn den Weg, den fast alle um diese Zeit zu gehen scheinen.
„Wie friedlich das alles aussieht“, sagt sie, als sie das Städtchen hinter sich gelassen haben, „So schön und doch so bedroht.“
„Nicht nur die Schönheit. Alles ist bedroht“, antwortet er, froh, ein Thema gefunden zu haben. „Manchmal denke ich,“ sagt sie leise, „dass die schlimmste Bedrohung die aus uns selber ist.“
„Hören Sie auf! Um Himmels willen“, fällt er ihr erschrocken ins Wort. Sie lacht bitter.
„Keine Angst. Ich werde keine Wehrkraftzersetzung treiben, wenn Sie das fürchten. Ich meine es ganz allgemein: dass wir nämlich nicht nur andere, dass wir auch uns selbst zerstören, jeder Einzelne vielleicht unerkannt und sicher oft unbewusst, aber unausweichlich ...“
„Nicht so pessimistisch, Gretel!“ wehrt er ab und spürt doch beglückt, dass da jemand ist mit denselben Gedanken und Ängsten wie er.
„Woher wissen Sie meinen Namen?“ fragt Gretel erstaunt.
„Ich habe doch Ohren. Elfriedes Ruf war nicht zu überhören. Sie sind also ein Gretchen.“
„Gretel, nicht Gretchen. Nur alte Frauen heißen heute noch Gret-chen.“
„Mir fielen dabei eben Faust und Gretchen ein.“
Sie sieht ihn fragend an.
„Kennen Sie nicht? Goethes Faust ...“
„Nein“, gesteht sie verschämt, „Goethes größtes Drama, meinen Sie das?“
Er nickt.
„Den Namen kenne ich natürlich“, fährt sie fort, „Den hat doch jeder in der Schule gelernt. Aber gesehen oder gelesen habe ich Faust noch nicht. Würde ich mir auch nicht zutrauen. Ist was für Gebildete, solche wie Sie wahrscheinlich einer sind. Aber nicht für mich. Ich bin zu ungebildet dazu. Vielleicht auch zu dumm.“
„Genau wie Fausts Gretchen“, lacht er, „Die dachte das auch. Und sah doch mit ihrem schlichten Herzen tiefer als er mit seinem alles ergründen wollenden Verstand.“
Sie findet keine Antwort.
„Faust und Gretchen“, fährt er fort, „Ist das nicht ein Zufall? Du heißt Gretchen und ich heiße Faust. So ähnlich wenigstens. Aber mein Vorname ist genau der des Doktor Faust: Heinrich.“
„Und die Nachnamen? Wie heißt Gretchen mit Nachnamen?“
„Das verriet uns der Herr Goethe leider nicht. „Aber ich, falls du das meinst, - ich habe nur zwei Buchstaben mehr als Doktor Faust: Fausten.“ Er schiebt seinen Arm unter den ihren.
„Du kannst ruhig Heinrich zu mir sagen“ flüstert er fast und zieht sie näher an sich heran. Sie lässt es verwirrt geschehen. Noch nie hat ein Bursche, ein junger Mann sie so berührt.
„Ich glaube, hier haben sich zwei gefunden, die zu einander gehören“, wagt er einmal zu sagen.
„Ist das nicht doch noch etwas zu früh, so etwas zu sagen?“ versucht sie, abzuwehren, „Wir kennen uns doch erst so kurz.“
„Mir ist, als habe ich dich von Anfang an gekannt“ gibt er zurück und zieht sie fester an sich heran. Eng umschlungen gehen sie weiter, als seien sie sich niemals unbekannt gewesen. Sie plaudern, erzählen, wechseln zwischen Lustigem und Ernstem. Von ihren Träumen sprechen sie nicht. Weder von ihren Albträumen noch von denen für ihre Zukunft. Wahrscheinlich haben sie beide in dieser Stunde keine. Weil diese Stunde selbst wie ein Traum ist. Herausgerissen aus Raum und Zeit, eingetaucht in eine scheinbare große Harmonie und einen Frieden, von dem sie sich nicht zugeben, wie unwirklich er ist.
Überall auf dem Burgberg küssende Paare, scheu oder übermütig an Bäume oder zwischen die bemoosten Mauern gekuschelt, die meisten Männer in Uniform. Immer hat Gretel bisher solche Mädchen insgeheim beneidet. Hat kaum noch zu hoffen gewagt, dass auch sie sich einmal so in die Arme eines Mannes schmiegen dürfte. Nie hat sich bisher ernsthaft einer für sie interessiert. Zu Hause, im Beruf: immer war sie die Fleißige, Verlässliche, mit der man rechnen konnte und die man brauchte. Tat immer ihre Pflicht, manchmal auch ein bisschen mehr, nie weniger. Muss schön sein, geliebt zu werden, denkt sie und dann mit klopfendem Herzen: Ob das Liebe ist, dieses Aufregende, das ihr den Atem zu rauben droht?
Noch nie hat sie so etwas gespürt. Und da kommt so ein Fremder daher, lädt sie zu einem kleinen Spaziergang ein und ihr ganzes Herz pulst ihm entgegen.
Und auch über ihn kommt es mit einem Mal, dass er glaubt, die Liebe habe ihn ergriffen. Bei ihm allerdings nicht zum ersten Mal. Bisher jedoch war das nur wie ein flüchtiges Ahnen, nichts Bleibendes. Dies hier ist anders als bei all den Mädchen, mit denen ich mir bisher zu spielen erlaubte, ist er sich plötzlich gewiss und erschrickt beinah bei dem Gedanken und bei der Art, wie sie es geschehen lässt, dass sie immer enger an einander rücken.
„Gretel“, sagt er zärtlich und sie hört es beglückt, „Gretel, du Liebe ...“
„Heinrich“, haucht sie. Er drückt sie fester an sich.
„Frierst du?“ fragt er, „Du zitterst ja.“
Sie wischt sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Aber da ist keine Haarsträhne, die sie zurück drängen müsste, da ist nur noch Sehnsucht - und vielleicht etwas Anderes. Eine dunkle, unerklärliche, nie so gespürte Angst. Eine Angst, die aber überstrahlt wird von diesem Andern, Neuen, dem Unerklärlichen...
„Frieren“, lacht sie, „Mir ist eher heiß.“
„Aber der Wind ist kühler geworden“, sagt er besorgt und legt zärtlich seinen Arm um ihre Schultern. Dass doch dieser Augenblick nie aufhören möchte, denkt sie und schließt die Augen.
„Wir haben uns noch so viel zu sagen“, stellt er fest. Und das ist keine Lüge, „Aber wir haben nicht viel Zeit. Übermorgen muss ich wieder zur Front. Bleibt uns nur noch ein einziger Tag, vielleicht nur ein paar Stunden ...“
Und leise, fast flüsternd, mehr zu sich selbst:
„Und eine Nacht. Vielleicht auch zwei.“
Er sucht nach ihrem Mund und spürt, wie ihre Lippen sich öffnen, erstaunt und wie unbewusst Spürt, wie eine Welle von Zärtlichkeit ihre ganzen Körper durchflutet.
„Halt mich fest“, keucht er.
Und sie möchte doch von ihm gehalten werden bis an das Ende der Welt. Er schließt die Augen. Spürt die Wärme ihres jungen Körpers. Und ein alles andere übersteigendes Drängen zu ihr hin.
„Gretel“, flüstert er nach einer Weile, die ihm unendlich erscheint. „Übermorgen muss ich wieder zur Front ... Und ich habe noch nie eine Frau ... Würdest du sie erste sein? Die erste und ...“ Einen Auenblick zögert er; dann bricht es aus ihm heraus: „Und die einzige?“ Und als sie nicht antwortet; „Jezt weiß ich: Ich liebe dich doch. Vom ersten Augenblick an, als ich dich sah. Nein, eher schon! Ich glaube, ich habe dich immer geliebt. Gesucht und geliebt. Und endlich gefunden. Spürst du das nicht?“
„Heinrich“, schluchzt sie und überlässt sich dem Streicheln seiner Hände und einer neuen Flut von Küssen ...
Seligkeit und Angst, beide in einander verschlungen wie sie selbst. Keine Fragen. Was jetzt geschieht, geschehen wird, geschieht jenseits von Denken und Wissen. Ist nicht geplant, kommt über sie wie eine Urgewalt. Sie suchen beide mit den Augen nach einem Platz, der verschwiegen genug ist, das Stöhnen ihrer schmerzlichen Lust zu bewahren. Kriechen fast lautlos unter einen dichten Holunderbusch eines leicht verwilderten Gartens vor ihnen. Sie halten den Atem an und gehen auf Zehenspitzen, als fürchteten sie, mit ihren Schritten etwas sehr Großes, vielleicht sogar Heiliges zu zertreten ...
Über der Haardt neigt sich die Sonne und versinkt fast unmerklich. Schatten, ins Ungewisse wachsend, hüllen bald den Burgberg ein. Die Zeit bleibt nicht stehen, weil zwei Menschen in die Mitte der Seligkeit eintauchen ...
Unten im Städtchen schließt das Kino. Ein Film von Heldentum und Liebe. Die Liebenden auf dem Burgberg fragen nicht danach. Sie fragen nach nichts. Die Fragen werden später kommen ...
Jäh bricht die Wirklichkeit über sie herein. Die Sirenen heulen. Wieder einmal.
„Fliegeralarm!“ sagt Gretel kreidebleich. Er hält ihr den Mund zu. Sie zittert, als sie sich mit einem Ruck von ihm löst und hastig sich anzukleiden beginnt.
„Lass doch die Welt untergehen“, flüstert er.
„So schnell geht sie nicht unter“, antwortet Gretel bitter.
Heinrich bringt seinen Anzug in Ordnung.
„Kommst du mit mir in unsern Stollen?“ fragt Gretel. „In Zivil lassen sie dich sicher hinein“.
„Besser nicht“, antwortet er, „Aber wir müssen uns wiedersehen, morgen. Unbedingt! Es geht um unser Leben.“
Nach Dienstschluss, vereinbaren sie. Schon im Laufen ruft sie ihm zu:
„Nicht am Büro selbst. Lieber am Kino. Das kennst du ja. Vor der Reklame. Kurz nach fünf!“ Sie rennen nach verschiedenen Seiten. Überall Menschen, die den Berg hinunter hasten. Lichtfinger greifen bereits in den Himmel, kreuzen, bündeln sich. Wird eine heiße Nacht werden, denkt Heinrich, während er sich dem Städtchen nähert.
Schade, denkt Gretel und winkt rasch im Gehen.
In den Städten gibt es Bunker, in die alle hasten, die ihre Beine gebrauchen können, so bald die Sirene ertönt. In den Dörfern und Kleinstädten bleibt keine andere Zuflucht als die Keller oder manchmal alte Stollen, die von irgendwelchen Vorfahren vor langer Zeit in die Erde getrieben wurden, weiß einer, wozu. Auch in Dürnstein hat man rechtzeitig vor dem Ausbruch des Krieges ein paar solcher Geheimgänge entdeckt und der Bevölkerung zur Verfügung gestellt.
„Was ist denn mit dir los?“ fragt die Nachbarin, die ihr den Platz im Stollen freigehalten hat, „Du zitterst ja. Bist du krank oder hast du auf einmal Angst?“ Alle sagen sie hier Du zu ihr, tun so, als hätten sie sie schon von Kindesbeinen an gekannt. Oder als sei sie noch ein Kind.
„Quatsch“, sagt Gretel, „Bin bloß so gerannt.“
„Wo warst du denn so lange?“ hakt die Mutter ein, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, „Das Kino ist doch längst zu Ende.“
„Spazieren. Das schöne Wetter ausnützen. Darf ich das nicht?“ gibt Gretel schnippisch zurück.
„Oh,“ grinst die Nachbarin.
„Stille Wasser gründen tief“, frozzelt eine andere Frau und stößt Gretels Mutter an, „So fängts an. Ganz heimlich still und leise, Passen Sie auf! Die mausert sich.“
Von draußen dringt Fluggetöse herein.
„Die sind schon über uns“, sagt jemand.
Die ersten Detonationen.
„Das kann nicht weit von hier gewesen sein“, vermutet eine Stimme, „Nicht in Ludwigshafen, aber wahrscheinlich auch nicht direkt hier.“
Einige Kinder wimmern.
„Die tun uns doch nichts“, versucht eine Mutter sie zu trösten, „Unsern Stollen kriegen sie nicht klein. Schlaf ruhig weiter!“
Aber wie kann man ruhig weiter schlafen in solcher Nacht? Aus dem ersten Schlaf gerissen, über die dunklen Straßen gehetzt, aufgescheucht wie junge Hasen sind sie fast alle. Vergebliche Mühe, sie zu beruhigen.
Wie im Traum erkennt Gretel ihre Geschwister und nimmt wie gewöhnlich Katja und Detlef in den Arm, versucht leise, ein Wiegenlied zu singen. Ist ja schließlich nicht die erste Nacht, die sie im Bunker verbringen. Die Kleinen klammern sich an die große Schwester wie so oft. Lauschen und hoffen, zittern und versuchen, dabei ein zu schlafen. Einmal wird die Müdigkeit sie übermannen, weiß Gretel aus Erfahrung.
„Scheinen weiter zu fliegen“, stellt jemand fest, „Wahrscheinlich haben wir nochmal Glück. Aber die armen Menschen in Ludwigshafen!“
„Freut euch nicht zu früh! Die sind noch nicht zurück“, jammert eine Frau, „Das bedeutet nichts Gutes. Heute Nacht habe ich geträumt, sie hätten hier Brandbomben geworfen und halb Dürnstein habe gebrannt. So ein klarer, deutlicher Traum. Ich fürchte, das ist wirklich eine Warnung. So etwas gibt es doch!“
„Mein schöner Teppich und meine guten Möbel!“ jammert eine andere Stimme, „Wenn ich daran denke, dass das alles ...“
Und ärgerlich weist eine andere sie zurecht:
„Wenn du jetzt schon so flennst, wenn jemand anderes so etwas nur träumt, was willste dann erst machen, wenn es wirklich geschieht? Jeden kann es treffen. Schämen solltest du dich! Es geht um Sein oder Nichtsein unseres Volkes in diesem Krieg - und du bibberst vor Angst, wenn du dir nur vorstellst, einen Teppich zu verlieren!“
Stille. Niemand wagt eine Erwiderung.
Einige Hände falten sich in solchen Nächten heimlich oder auch gelegentlich laut zum Gebet. Bei manchen ist es nicht mehr als ein stummes Schreien ohne Hoffnung auf Erhörung. Beten fällt schwer, wenn man aus der Übung gekommen ist, vielleicht sogar darüber gespottet hat, wie es Mode war in den letzten Jahren und jetzt erst recht propagiert wird. Andere flüstern miteinander. Irgendwie muss man die Zeit doch totschlagen, wenn man nicht schlafen kann.
„Hast du schon von dem Polen gehört?“ tuschelt jemand hinter Gretels Rücken. Nicht zu ihr; aber die Stimme ist ihr nicht fremd. Rosa, die Vorlaute, eins der wenigen Mädchen, die sie hier kennt. Aber wer kennt diese Rosa nicht? Jede Neuigkeit weiß sie zuerst und gibt sie weiter, am liebsten im Bunker. Da ist es so schön schaurig, genau richtig für Gruselgeschichten.
„Von welchem Polen?“ fragt eine andere, noch junge Stimme. Rosa kichert.
„Frag doch nicht so dumm! Von welchem schon? Du weißt genau: von dem Polen vom Untergassen-Bäcker. Dem schönen Wladim. Der die Anneliese im Schlaf überfallen hat.“
„Sag bloß, du glaubst das. 'Wenn meine Tochter mir mit einem Bankert ankommt, die schlag ich eigenhändig tot', soll der August einmal gesagt haben. Und der wär' dazu imstande! Klar, dass die Anneliese sich da eine Geschichte ausdenken musste, wenn ihr ihr Leben lieb ist. Dem August möcht' ich auch nicht in die Hände fallen in so einer Situation. Aber so kann er die Anneliese jetzt sogar nach allen Regeln der Kunst bedauern. Vergewaltigt, das arme Ding! Und noch dazu von einem Polen. Einem von diesen Untermenschen, die unsere germanische Rasse bedrohen! Nur komisch, dass die Anneliese das alles erst ein paar Wochen später erzählte!“
„Meinst du wirklich, es war ein anderer?“
Wieder dieses hässliche Kichern.
„Du dürftest so ziemlich der einzige Mensch sein, der darauf hereingefallen ist außer dem August. Für so dumm hätt' ich dich nicht gehalten, nee.“
Katja, die Neunjährige, zuckt im Schlaf. Speichel fließt aus ihrem Mund. Sie versucht, mit den Armen um sich zu schlagen. Gretel hält sie fest.
„Schlaf schön weiter“, murmelt sie ihr ins Ohr.
„Was ist los?“ fragt die Mutter. Sie sitzt ihr gegenüber, an Martin gelehnt, ihren ältesten Sohn. Schwer zu sagen, wer wen zu stützen vermag. Mit fast fünfzehn ist einer so gut wie erwachsen in dieser Zeit.
„Nichts Besonderes“, beruhigt Gretel.
Und zu Katja wie beschwörend:
„Schon gut, lass die Andern erzählen!“
Und weiter streichelt sie Katja und Detlef. Nicht alle haben im Grauen des Krieges das Streicheln verlernt ...
„Und was ist jetzt mit dem Polen?“ fragt hinter Gretel eine Stimme aufgeregt, „Man kann doch nicht einfach einem Menschen so etwas nachsagen!“
Wieder dies böse Lachen.
„Kann man wohl. Sogar unter Eid, wenns drauf an kommt.“
Auch im Flüsterton schlägt die Erregung durch. Und wieder Rosas harte Stimme:
„Wer fragt denn nach so einem? Ist doch bloß ein Pole ... Was soll mit dem schon sein? Abgeholt haben sie ihn heute Morgen.“
Und wieder erschrocken die andere Stimme; Angst schwingt darin und eine Spur Menschlichkeit:
„Zum Prozess?“
Rosa lacht. Wieder dies hässliche Lachen, bei dem einen beim Hören schon friert.
„Prozess?“ äfft sie nach, „Wie ich den August kenne und bei seiner Freundschaft mit dem Ortsgruppenleiter, nur einen kurzen. Einen ganz kurzen.“
„Mein Gott!“
Stöhnte jemand hinter ihr oder entsprang das Stöhnen nur ihr selbst? Gretel zuckt zusammen, löst ihre Hand von Detlefs Schulter und schlägt sie vor die Augen.
„Mein Gott! Wohin sind wir hier geraten? In welch einer Welt leben wir?“ schreit sie lautlos auf.
Eine neue Detonation draußen, heftiger als die vorherigen. Aufschreie aus verschiedenen Kehlen. Gretel klammert sich an die Nachbarin, über deren Dummheit oder Einfalt sie sich sonst gelegentlich amüsierte. Sie weiß nicht, wer das Mädchen ist, dem Rosa die Sache mit Anneliese und dem Polen erzählte. Die Einheimischen scheinen sich fast alle unter einander zu kennen. Sie selbst wird hier nie heimisch werden, spürt sie. Ist nur geduldet. Aufgenommen auf Befehl, wie so Vieles in diesen Zeiten nur auf Befehl geschieht. Notgedrungen, nicht aus Erbarmen ...
Und sie ahnt, dass so wie in diesem Bunker in Dürnstein auch an anderen Orten Menschen reden. Auch in Ludwigshafen und ...
Einzig die Kinder überhören das Sirren und Bersten der fallenden Bomben und schlafen. Obwohl es ziemlich nah zu sein scheint heute.
„Notabwürfe“, vermutet jemand, als es wieder stiller wird, „Der Angriff gilt bestimmt wieder Ludwigshafen.“
„Oder Mannheim.“
Wie man sich damit beruhigen kann, denkt Gretel, dass man selbst weiter lebt, während andere sterben. Macht das der Krieg?
Keiner zählt, wie oft dieses dumpfe Dröhnen sich noch wiederholt. Auch Gretel nicht. Sie denkt an Heinrich. Wo er jetzt wohl ist? Ob er es noch geschafft hat bis zum Bunker am Markt? Oder ob er irgendwo vorher Schutz gesucht hat, fragwürdigen Schutz in einem fremden Keller?
Jähes Erschrecken: Wenn es ihn treffen würde, ihn! Das Schlimmste von allem: sie würde es nie erfahren ...
Morgen schon, denkt sie und verbessert sich mit einem Blick auf die Uhr: Heute Abend am Marktplatz. Sie wird nicht auf ihn zugehen. So etwas gehört sich nicht für ein Mädchen. Sie wird sich so hinstellen, dass er sie nicht übersehen kann und wird warten, bis er sie anspricht. Aber dann wird sie lächeln. Sie werden mit einander zum Burgberg hinauf steigen. Und irgendwann werden sie einander küssen. Und vielleicht noch mehr. Es war doch so schön ...
Allmählich verstummt das Gerede im Raum. Nicht nur die Kinder schlafen. Auch die Erwachsenen haben es mit der Zeit gelernt. Irgendwann schläft auch Gretel. Schläft, während wenige Kilometer weiter der Himmel Tod und Verderben sprüht. Schläft, während in Ludwigshafen und in anderen Städten Menschen sterben. Fremde und Bekannte. Junge Mädchen, mit denen sie zur Schule ging, Kinder mit ihren Müttern oder ohne sie, Alte nach einem erfüllten Leben - und die Tragischsten: Soldaten auf Urlaub. Sie wird nur einen Teil der Namen durch die Zeitung erfahren, manche vielleicht erst nach Jahren oder auch nie.
Sie schläft, ohne zu wissen, wo Heinrich diese Nacht verbringt. Heinrich, dem sie ihr Äußerstes gab, mehr als sie je zu denken gewagt hätte. Für Stunden oder Minuten gestohlenen Glücks. Erst gegen Morgen endlich der ersehnte lange Heulton: Entwarnung. Sie weckt die Kleinen und schleppt sich schlaftrunken mit ihnen nach Hause. Noch einmal Glück gehabt, denkt sie. Und nicht nur sie allein. Und keiner weiß, wie kurz oder lang das flüchtige Glück währen wird. Nicht fragen, nicht nachdenken. Weiter leben.
Es ist der 6. Juni 1944, fünf Uhr früh. Ein Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen wird. Aber davon ahnt in diesem Augenblick weder Gretel etwas noch Heinrich, der die Nacht in einem fremden Keller irgendwo in Dürnstein verbracht hat.
Morgen werde ich weg müssen, denkt er, während er müde die letzten paar Meter bis zu seiner Mutter hinter sich bringt.
Heute Abend werden wir uns noch einmal sehen, denkt Gretel und lächelt.
Es liegt etwas in der Luft, denkt Heinrich und lächelt nicht.
„Wo kommst du denn auf einmal her?“ fragt Ilse und stützt sich auf den Besen, „Im Stollenr kannste nicht gewesen sein; da hätt' dich wenigstens eine von uns gesehen.“ Hanna, die Ältere, kippt eine Schippe Glassplitter in einen Eimer.
„Junge, Junge, wo warst du bloß wieder die ganze Nacht?“ zetert die Mutter, während sie die wenigen Geschirrteile aussortiert, die die Druckwelle noch einigermaßen heile ließ.
„Irgendwo in einem Keller; ich kann dir nicht sagen, in welchem“, brummt Heinrich, „Der Alarm hat mich irgendwo vor dem Städtchen überrascht. Aber Keller gibts überall. Sogar welche mit Leuten drin, die einen einlassen. Gehen längst nicht alle in den Stollen.“
„Hast du gesehen, was passiert ist?“
„Das Eckhaus da vorn ist weg.“
„Haben wir auch schon festgestellt,“ lacht Ilse grimmig, „das hier sind sozusagen die Begleiterscheinungen davon.“
Sie klopft auf das Glas.
„Und sonst?“ drängt Hanna.
„Ich weiß nicht. Ich bin müde.“
„Wir auch“, knurrt Hanna und zeigt auf die Kartons mit Scherben, „Drei Scheiben sind noch heile in der ganzen Wohnung. Drei Scheiben und nicht drei Fenster!“
„Gut, dass kein Winter ist und es nicht regnet“, versucht Heinrich, sie zu besänftigen, „Die Scherben laufen euch nicht weg. Wollt ihr nicht erst noch etwas schlafen? Bis ihr zum Dienst müsst, dauert noch ein bisschen.“
„Schlafen“, lacht Ilse in demselben bitteren Ton wie eben, „Wo denn? Sieh dich doch um! Wir sind ja schließlich keine Fakire, ist doch alles voller Glas und Scherben überall ...“
„Das Brot ist heile geblieben!“ ruft die Mutter erleichtert aus der Küche, „Und das übrige Essbare im Schrank auch!“
„Der Vorteil einer klemmenden Schranktür“, grinst Hanna, „Die hält sogar den Sprengbomben stand.“ Sie geht neugierig zur Tür.
„Haste Hunger? fragt sie den Bruder.
„Im Moment nicht“, antwortet Heinrich.
„Wem haste denn gestern wieder was vorgeschwindelt?“ fragt sie und knufft ihn freundschaftlich in die Rippen.
„Kannst du es immer noch nicht lassen?“ seufzt die Mutter, „Haste wieder so 'nem naiven jungen Ding Märchen erzählt? Welchen Namen hast du dir denn dies Mal ausgedacht?“
„Das hättste nicht für möglich gehalten“, lacht er,
„Heinrich Fausten!“
„Ach nee“, grinst Ilse.
Er wendet sich ab.
„Das werdet ihr nie verstehen können. Ihr mit eurem Begriff von Ehrlichkeit! Was ihr nicht nachweisen könnt, ist für euch schon gelogen. Als hättet ihr noch nie gehört, dass auch Phantasie eine Gottesgabe ist!“
„Junge, Junge“, stöhnt die Mutter, „Ich hab' es immer gesagt: du bist genau wie dein Vater!“
„Bitte, Mama,“ legt sich Ilse ins Mittel, „Fang nicht wieder damit an!“
„Schließlich ist heute Heinrichs letzter Urlaubstag“, springt Hanna ihr bei, „Da musst du ihn doch nicht wieder verärgern.“
Vorsichtig schüttelt sie die Couchdecke aus.
„Ein Glück, dass das alte Möbelstück so schäbig ist, dass man ohne Decke auf den blanken Federn liegen müsste!“ lacht sie dazu, „So können wir dir armem Kerl wenigstens gleich noch ein Lager fertig machen, wo doch dein eigenes schönes Zimmer unter den Trümmern in Düsseldorf geblieben ist!“
Sie breitet ein Laken über der Liege aus und streicht es sorgfältig glatt.
„Nun schlaf' recht schön!“
„Möchte ich schon“, gähnt er, „Aber ihr habts doch auch nötig!“
„Hast Recht“, sagt Hanna und gibt Heinrich die Decke, „Schlaf gut! Und auch ich hau' mich jetzt einfach noch eine Stunde aufs Ohr. Fertig aufräumen kann ich auch heut' Nachmittag noch, wenn ich vom Dienst komm'.“
Entschieden wendet sie sich noch einmal um und der Mutter zu.
„Aber nicht, dass du alleine jetzt alles in Ordnung bringst, Mama! Du schläfst jetzt auch!! Hast du verstanden? Und dann genießt ihr die letzten paar Stunden miteinander noch so gut es geht, du und Heinrich!“
Sie schüttelt ihr eigenes Bettzeug vorsichtig aus, Ilse und die Mutter folgen ihrem Beispiel. Wenige Minuten später ist es still in der Wohnung. Man lernt das schnelle Einschlafen, wenn die Gefahr vorüber ist, lernt es, zwischendurch kurz für ein paar Minuten abzuschalten, wenn man ständig bedroht und gefordert oder beides zugleich ist und die Spannung für einen Augenblick nach lässt. Man lernt es draußen an der Front. Und man lernt es in der Heimat, in der der Krieg längst ebenfalls eingekehrt ist.
Es liegt etwas in der Luft, denkt Heinrich, bevor er einschläft, bestimmt liegt etwas in der Luft.
Es ist der 6. Juni 1944, sechs Uhr früh. Eine Stunde, die in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Ein paar Stunden später, als die Schwestern längst zur Arbeit gegangen sind, donnert jemand gegen die Tür. Die Klingel tut es nicht mehr. Verwundert öffnet die Mutter. Ein Uniformierter.
„Wohnt hier Leutnant Fausten?“
„Fähnrich Fausten“ korrigiert Heinrich und erscheint schlaftrunken an der Tür. Der Kurier knallt die Haken zusammen.
„Eine Depesche für Sie. Ich warte.“
Wieder das Stiefelknallen. Heinrich reißt das Papier auf, liest, blickt flüchtig nach der Uhr, dann zu dem Boten.
„In Ordnung. In zwanzig Minuten einsatzbereit!“
Martha Fausten schreit auf.
„Was hat das zu bedeuten?“
Heinrich reicht ihr das Schreiben. Ein militärischer Dienstbefehl, unterschrieben und versiegelt.
„Vorzeitig abberufen.“, erklärt er, „Damit muss ein Offizier eben rechnen. Auch wenn er gerade erst zum Leutnant und Zugführer ernannt wurde ...“ und knallt ihr das andere Schreiben vor die Augen. Das erste liest er noch einmal und erklärt: „Was fragst du noch? Es geht los in Frankreich. Nichts mit einem letzten gemütlichen Urlaubstag.“
Neues Stiefelknallen. Knirschende Scherben.
„Als ob es auf den einen Tag ankäme!“ jammert die Mutter.
„Manchmal sogar auf eine Stunde oder weniger“, sagt Heinrich und beginnt hastig, seine Sachen zu packen.
„Noch nicht einmal gefrühstückt hast du!“ schluchzt die Mutter und flitzt in die Küche, um ihm das Beste aufzutischen, das sie noch im Haus hat. Nichts davon rührt er an. Dazu reicht die Zeit nicht mehr. Da packt sie unter Tränen ein, so viel er in seinem Gepäck noch unterbringen kann. Heinrich seufzt. Nicht nur, weil ihm wieder einmal ihr ewiges Bemuttern auf die Nerven geht.
„Mama,“ sagt er schließlich, auf einem Happen kauend, den er sich widerwillig doch noch genommen hat, „Da ist eine Sache. Da brauche ich deine Hilfe.“
„Du, meine Hilfe? Jetzt auf einmal noch!“ lacht sie bitter.
„Ja, ich“, versucht er umständlich, ihr zu erklären, „Es gibt da ein Mädchen. Ich weiß ihre Adresse nicht, nur ihren Vornamen: Gretel. Der Alarm kam uns dazwischen. Gerade, dass wir uns auf heute Abend verabreden konnten. Kurz nach fünf vor der Kinoreklame am Markt. Ich habe es ihr fest versprochen. Du siehst ja selbst: es ist nicht meine Schuld, wenn ich das Versprechen nicht halte.“
Und dann dringender, fast flehend:
„Bitte, Mama, es ist sehr wichtig! Kannst du zu ihr gehen und ihr sagen, warum ich nicht kommen kann. Und gib ihr meine Adresse und bitte sie um die ihre und schicke sie mir auf alle Fälle, bitte!“ Und dringend:
„Wirklich: Es ist wichtig. Sehr wichtig!“
„Ein Mädchen sehr wichtig,“ spöttelt die Mutter,
„Jetzt auf einmal!“
Er beißt sich auf die Lippen.
„Kannst du mir vielleicht ein einziges Mal glauben, Mama?“ drängt er sie, „Auch sie weiß nur meinen Namen. Nicht einmal mehr zum Austauschen der Adressen reichte die Zeit. Der Alarm riss uns auseinander – verstehst du das nicht? Es ging alles so rasend schnell. In der Ferne fielen schon die ersten Bomben ...“
„Aber ich kenne sie doch nicht, weiß nicht, wie sie aussieht,“ versucht Martha noch einmal, sich zu wehren, „Ich kann doch nicht einfach ...“
„Kannst du wohl. Das sieht man doch, ob eine auf jemand wartet. Sagst du eben einfach ihren Namen. Es wird kein Dutzend Gretels vor dem Kino stehen um diese Zeit. Und mit Sicherheit nur eine, die auf Heinich Fausten wartet ...“
„Soll ich mich etwa lächerlich machen vor der? Und vor dem ganzen Publikum am Marktplatz?“
„Mama!“ Er fleht sie an: „Bitte, Mama, bitte! Es ist vielleicht der letzte Wunsch, den du mir erfüllen kannst. Du allein.“
Sie starrt ihn an.
„Sag doch so was nicht! Mal den Teufel nicht an die Wand!“
Sie schlägt die Hände vor das Gesicht. Hilflos, verzweifelt.
„Also gut. Wenn es dir so wichtig ist“, gibt sie endlich nach. Wie sie fast immer nachgegeben hat, wenn er sie um etwas bat. Er atmet auf. Sieht nach der Uhr.
„Der Wagen wird gleich hier sein. Grüß mir Hanna und Ilse – vor allem aber Gretel ... Und sieh sie dir gut an. Du wirst sie sicher noch öfter sehen, denke ich. Ich bin sicher: sie wird dir gefallen ...“
Auf einmal, denkt die Mutter und schüttelt den Kopf.
Auf der Straße hupt ein Auto. Und schon saust Heinrich mit seinem ganzen Gepäck die Treppe hinunter. Achtet nicht auf die Mutter, die so schnell nicht mit ihm Schritt halten kann. Als sie an der Haustür ankommt, ist Heinrich schon eingestiegen. Sie ruft ihm noch zu. Heinrich winkt nicht einmal. Ehe sie es begreifen kann, biegt das Militärfahrzeug bereits um die Ecke.
Heinrich war nie ein Freund von langen Abschiedsszenen, tröstet sie sich. Aber dieser übertraf alle, denkt sie und fühlt sich plötzlich sehr alt, während sie sich müde die Treppe wieder hoch schleppt. Nicht einmal gratuliert hat sie ihm zur Beförderung. So schnell ging das alles.
Was um sie herum geschieht, nimmt sie nicht wahr, geht achtlos an der Nachbarin vorbei, die mit einem Eimer voll Glasscherben zum Müllplatz unterwegs ist.
„Heil Hitler!“ grüßt diese betont laut, als müsse sie eine Schlafende wecken und wendet sich aufgeregt an Martha Fausten.
„Haben Sie es schon gehört?“, zupft sie die Ältere am Arm, „Bei Dieppe in der Normandie sind die Alliierten gelandet! Kam eben im Radio durch.“
„Mein Gott,“ stöhnt Martha Fausten, „Deswegen also!“
„Was deswegen?“
Sie antwortet nicht, flüchtet in die Wohnung. Die wird es sich bald denken können, denkt sie, die neuesten persönlichen Nachrichten verbreiten sich nicht nur auf dem Dorf mit Windeseile. Die Kleinstadt ist nicht viel besser. Aber die Schwätzerin soll nicht sehen, dass ich heule. Die Mutter eines Leutnants darf keine Schwäche zeigen ...
Sie arbeitet fieberhaft. Auch wenn die Mädchen es nicht wollen: es gibt nichts Besseres als Arbeit, um von den Gedanken und Ängsten abzulenken. Aber die lassen sich nicht so einfach abwimmeln. Vorzeitig abberufen ... nach Frankreich ... In der Normandie gelandet ...Gegen fünf Uhr nachmittags begibt sie sich mit Unbehagen auf den Weg. Als sie den Marktplatz erreicht, ist schon das Brummen in der Luft. Sie sieht noch das Mädchen vor dem Kino stehen, anscheinend in die Reklame vertieft. Das einzige Mädchen weit und breit. Heinrich hatte mal wieder Recht mit seiner Behauptung, denkt sie. Kein Zweifel, das muss sie sein. Sie will den Marktplatz überqueren. Da hält sie jemand mit Gewalt zurück.
„Weg da! Hören Sie denn nicht? Jabos!“
Die Fremde rennt davon. Sie selbst steht wie versteinert. Starrt nur auf das Mädchen, das von der Kinoreklame in den erstbesten Hauseingang flieht und Deckung sucht.
Tiefflieger! Die Schrecken der letzten Kriegsmonate, vor allem außerhalb der großen Städte. Ehe noch die Sirenen Zeit haben zu heulen, sind sie schon da. Fliegen so tief und so schnell, dass die Abwehr sie nicht erkennen kann. Feuern mit ihren Bordkanonen auf alles, was sich bewegt. Ehe Martha Fausten es noch begreift und sich ebenfalls in den nächsten Hauseingang retten kann, ist sie schon getroffen, stürzt zu Boden, schreit auf ...
So schnell wie sie kamen, brausen die Flugzeuge davon, von Flüchen und Schreien begleitet. Ihre Garben treffen wahllos wie immer. Mitten in eine Gruppe von Menschen, die von der Arbeit kamen, wird am nächsten Morgen in der Zeitung stehen. Und ein paar Vereinzelte, zufällige Passanten ...
Daran denkt in diesem Augenblick noch niemand. Da sind nur die gellenden Schreie der Verletzten. Und stumm dazwischen am Boden einige Tote. Als das Brummen in den Lüften sich verliert, eilen Verschonte herbei, um zu helfen, wo etwas zu helfen ist. Die Zeit, bis der Sanitätswagen kommt und die Verletzten zum Krankenhaus bringt, scheint endlos zu sein. Wenig später bringen ein paar Luftschutzhelfer, halbe Kinder noch oder alte Männer, die noch nicht identifizierten Toten zur Turnhalle der Realschule.
Als Ilse verspätet von der Arbeit kommt, ist auch Hanna noch nicht da. Auch bei ihr wahrscheinlich Aufräumarbeiten wie überall im Städtchen, denkt sie, kann spät werden. Aber wo in aller Welt ist Mutter um diese Zeit? Dann findet sie auf dem Küchentisch den Zettel:
„Heinrich vorzeitig abberufen. Ich muss dringend noch einmal in die Stadt. Bin bald zurück ...“
Vorzeitig abberufen, liest sie und erschrickt. Das heißt: zurück in die Normandie! Auch sie hat die Nachricht von der Invasion der Alliierten gehört. Das einzige Gesprächsthema an diesem Tag. Bis zum Nachmittag, als die Tiefflieger kamen. Sie hat es gehört bei der Arbeit: das Brummen, das Ballern über dem Städtchen. Und dann sprach auch das sich herum: Soll ein paar Getroffene gegeben haben, heißt es. Nichts Besonderes mehr, fast alltäglich geworden in diesem Stadium des Krieges. Sogar Tote ...
Abberufen, denkt sie, liest weiter und erschrickt erneut:
Bald zurück, liest sie und sieht auf die Uhr. Sagt sich entsetzt: Das passt nicht zu Mama, bald und dringend. In die Stadt ... Etwas stimmt da nicht! Mama ist immer zu Hause, wenn wir kommen. So dringend kann nichts sein, dass sie immer noch nicht hier ist. Grauen erfasst sie. Denn da ist plötzlich ein Gedanke, gegen den sie sich wehrt und den sie doch nicht abschütteln kann.
Erst rasch, dann immer beklommener macht sie sich auf den Weg. Auf den Weg ins Städtchen. Am Marktplatz soll es Verletzte gegeben haben, hört sie unterwegs. Aber der Marktplatz ist leer. Wären die Blutflecken nicht, sähe er aus wie jeden Tag. Als sei nichts gewesen.
Sie hastet ins Krankenhaus. Nicht eingeliefert, erfährt sie an der Pforte. Keine Frau Martha Fausten und auch keine noch Unbekannte ihres Alters. Und hinterher zögernd, bei den Toten sollen allerdings Unbekannte dabei sein. Man habe sie zum Identifizieren in die Turnhalle der Realschule gebracht. Zutritt nur für Angehörige.
„Mein Gott!“ stöhnt Ilse, wehrt sich gegen den Gedanken, der auf sie einstürzt. Lässt sich aber doch den Weg zur Turnhalle erklären, den Weg zu den Toten. Sie findet die zerfetzte Leiche, die Rechte um ein zerknülltes Stück Papier gekrallt. Weinend bricht sie neben der Mutter zusammen. Dort findet auch Hanna sie nach einiger Zeit. Beide fallen sich in die Arme.
„Heinrich vorzeitig abberufen,“ schluchzt Hanna, „Und Mama tot!“
Zu viel auf einmal ...
Was in aller Welt hatte die Mutter um diese Zeit ohne Tasche und ohne Geld am Marktplatz zu tun? fragt sich Ilse, Und was soll dieser Zettel mit Heinrichs Adresse in ihrer Hand? Leutnant Heinrich Fausten ... Doch da ist keiner, der ihr Antwort geben könnte...
Kaum eine halbe Stunde mag der ganze Spuk gedauert haben von den ersten Schüssen bis zum letzten Aufräumen am Markt. Noch nicht alle Leute haben sich zerstreut. In kleineren oder größeren Grüppchen stehen sie beisammen und reden, schimpfen lauthals oder jammern je nach Temperament. Wie verloren kommt sich Gretel zwischen ihnen vor, als sie mit ihren Blicken die Seitenstraßen absucht. Aber niemand stört sich an ihr. Jeder ist mit sich selbst und seinem kleinen Kreis beschäftigt.
Gretel wartet. Wartet erst mit wachsender Ungeduld, dann mehr und mehr mit Unverständnis und Enttäuschung, aber auch mit Sorge. Was ist los? fragt sie sich. Sie war doch früh genug hier, hatte sich sogar eine Viertelstunde früher frei genommen. Zögernd begibt sie sich zum Krankenhaus. Heinrich wurde nicht eingeliefert. Die Toten allerdings habe man erst einmal in die Turnhalle der Realschule gebracht, zur Identifizierung, fährt die Frau an der Rezeption zögernd fort.
Die Toten ...
Alles in ihr wehrt sich gegen den Gedanken. So wie sich fast alle dagegen wehren, die sich dann doch wie sie mit mehr oder weniger schleppenden Schritten und mehr oder weniger Hoffnung zur Turnhalle begeben. Ob sie sich das zutraue, fragt der Wachhabende. Gretel nickt unsicher. Und weiß: sie wird es aushalten müssen. So oder so wird das Ergebnis furchtbar sein ...
Heinrich ist nicht unter den Toten. Sie könnte nicht sagen, was sie mehr gefürchtet hat: ihn zu finden oder nicht. Wie mechanisch schleppt sie sich nach Hause. Fürchtet, dass sie Heinrich so oder so verloren hat. Dass er weder an diesem Abend noch morgen oder übermorgen noch irgendwann zu ihr kommen wird. Denn morgen geht sein Urlaub zu Ende, hat er gesagt. Nur dieser eine Abend wäre ihnen geblieben. Er kam nicht. Ausgeträumt der Traum.
Als sie sich an den Trümmern des in der letzten Nacht zerstörten Gebäudes vorbei oder über sie hinweg einen Weg in ihre Straße sucht, sieht sie die Uniform. Die blau-graue Luftwaffenuniform. Ihr Herz schlägt plötzlich wie wild. Gehört Heinrich nicht zur Luftwaffe? Ist ein Wunder geschehen? Wie hat er ihre Adresse erfahren? Die Uniform verschwindet in der Tür. In ihrer Haustür. Ihr schwindelt. Das Wunder, denkt sie selig, sieht ihn vor ihrer Wohnungstür und stürzt ihm nach, so laut und polternd, dass sie nichts außer ihren eigenen Schritten mehr hören kann, nimmt immer zwei Stufen auf einmal, schnauft auf dem letzten Absatz einen Augenblick, um das pochende Herz zu beruhigen. Dann reißt sie die Tür auf, sieht die stahlblaue Gestalt umarmt von Mutter und Geschwistern, erstarrt.
Alle drehen sich nach ihr um.
„Papa“, stammelt sie erbleichend. Er horcht auf, wendet sich ihr zu.
„Aber was ist denn los, Mädchen?“ fragt er verwundert, „Du siehst ja aus, als hätte ich dich erschreckt!“
„Lass sie“, beruhigt ihn Maria, „Manchmal kann Freude so groß sein, dass sie einen wie ein Schreck durchfährt.“
„Danke, Mama“, haucht Gretel kaum hörbar leise, geht mit weichen Knien auf den Vater zu, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Erstaunt wischt er ihr ein paar Tränen von ihren Wangen.
„Mädchen“, sagt er, „So eine Begrüßung! Du bist ja richtig erwachsen geworden.“
Alle lachen. Nur Gretel kann den Tränen nicht wehren, die plötzlich aus ihren Augen stürzen. Freudentränen, denkt der Vater gerührt.
Gretel verschwindet auf der Toilette, dem einzigen Ort, wo man sie nicht suchen wird.
„Die Freude scheint ihr auf den Magen geschlagen zu sein“, frozzelt Martin und schlägt dem Vater kumpelhaft auf die Schulter, „Da sind wir doch ein anderes Kaliber, Papa!“
8. Juni 1944.
Zwei Tage dauert nun schon die mörderische Schlacht. Langsam, aber unaufhaltsam gewinnt der Feind an Terrain. Mit allen Mitteln kämpft er, aus allen Richtungen. Vom Meer her, am Boden, aus der Luft, eine erdrückende Übermacht. Die Deutschen, nicht nur zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen, wehren sich verbissen. Der Strand ist übersät mit zerschossenen Panzern und Amphibienfahrzeugen ... und mit Toten und Verletzten.
Verzweifelt ballert die selbst unentwegt unter Beschuss genommene Flak. Aus den sich dauernd mehrenden Einschlaglöchern der Granaten bellen