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Band 1 der Erfolgs-Serie ... mit der coolsten Cinderella, die es je gab! Cinder lebt mit ihren Stiefschwestern bei ihrer schrecklichen Stiefmutter und versucht verzweifelt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Doch als eines Tages niemand anderes als Prinz Kai in ihrer Werkstatt auftaucht, steht Cinders Welt Kopf: Warum braucht der Prinz ihre Hilfe? Und was hat es mit dem plötzlichen Besuch der Königin von Luna auf sich? Die Ereignisse überschlagen sich, bis sie auf dem großen Schlossball ihren Höhepunkt finden. Cinder schmuggelt sich dort ein und verliert mehr als nur ihren Schuh … »Cinder und ihre Geschichte sind ein MUSS und gehören in jedes Bücherregal!« good-book-never-end.blogspot »Umwerfend!« Los Angeles Times »Die Debütautorin Marissa Meyer gibt der Geschichte von Cinderella eine völlig neue und aufregende Dimension.« Publishers Weekly Marissa Meyers Bestseller-Serie über Märchen, die in eine fantastische Sci-Fi Welt in der Zukunft verlegt sind, haben bereits jede Menge gühende Fans! So modern wurde die Geschichten von Cinderella, Rotkäppchen, Rapunzel und Schneewittchen noch nie erzählt ... Alle vier Bände der packenden Luna-Chroniken – jeder Band einzeln lesbar: Wie Monde so silbern (Band 1) Wie Blut so rot (Band 2) Wie Sterne so golden (Band 3) Wie Schnee so weiß (Band 4)
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Marissa Meyer
Die Luna-Chroniken 1: Wie Monde so silbern
Aus dem Englischen von Astrid Becker
Cinder lebt bei ihrer Stiefmutter und ihren zwei Stiefschwestern, arbeitet als Mechanikerin und versucht gegen alle Widerstände, sich nicht unterkriegen zu lassen. Als eines Tages in unauffälliger Kleidung niemand anderes als Prinz Kai an ihrem Marktstand auftaucht, wirft das unzählige Fragen auf: Warum braucht Kai ihre Hilfe? Und was hat es mit dem plötzlichen Besuch der Königin von Luna auf sich, die den Prinzen unbedingt heiraten will? Die Ereignisse überschlagen sich, bis sie in dem großen Ball, auf dem Cinder sich einschmuggelt, ihren Höhepunkt finden. Und diesmal wird Cinder mehr verlieren als nur ihren Schuh …
Ein unvergessliches Märchen in neuem Gewand – Cinderella reloaded!
Wohin soll es gehen?
Buch lesen
Danksagung
Viten
Für meine Großmutter, Samalee Jones, die ich mehr liebe, als sich mit Worten sagen lässt.
Erstes Buch
Sie nahmen ihr die schönen Kleider weg, zogen ihr einen alten grauen Kittel an und gaben ihr hölzerne Schuhe.
1
Die Schraube in Cinders Fußgelenk war verrostet, der Schlitz zur Mulde zermalmt. Ihre Fingerknöchel schmerzten, als sie den Metallbolzen mit aller Kraft knirschend aus der Verankerung löste. Schließlich ragte die Schraube so weit vor, dass Cinder sie mit ihrer Stahlprothese herausdrehen konnte. Nun lagen die haarfeinen Drähte frei.
Cinder warf den Schraubenzieher auf den Tisch, umfasste ihre Ferse und zog den Fuß aus der Verankerung. Ein Funke versengte ihre Fingerspitzen. Sie zuckte zusammen. Der Fuß baumelte an einem Gewirr roter und gelber Drähte.
Mit einem erleichterten Stöhnen ließ sie sich zurückfallen. Etwas wie Erlösung hing am Ende dieser Drähte – etwas wie Freiheit. Vier Jahre hatte sie unter dem zu kleinen Fuß gelitten, und sie schwor sich, dieses Mistding nie wieder anzulegen. Sie hoffte nur, Iko würde bald mit einem neuen zurückkommen.
Cinder war die einzige Mechanikerin mit Rundum-Service auf dem Wochenmarkt von Neu-Peking. Da sie kein Schild hatte, konnte man nur durch die Regale mit Ersatzteilen für Androiden auf ihr Gewerbe schließen. Ihr Stand war in eine schattige Nische zwischen einen Händler für gebrauchte Netzbildschirme und einen Stoffverkäufer gequetscht, die sich beide oft über den strengen Geruch von Metall und Schmierfett aus Cinders Stand beschwerten, obwohl dieser meistens vom Duft der Honigbrötchen aus der gegenüberliegenden Bäckerei überlagert wurde. Aber Cinder wusste genau, dass sie einfach nicht gerne ihre Nachbarn waren.
Ein fleckiges Tischtuch trennte Cinder von der vorüberziehenden Menge, von den Einkäufern und Straßenhändlern, von den Kindern und dem Lärm. Von dem Geschrei der Männer, die mit Robotern Geschäfte machten und sie herunterzuhandeln versuchten. Vom Summen der Identitäts-Scanner und von den monotonen Stimmen, die Geldtransaktionen von einem Konto auf ein anderes quittierten. Von den allgegenwärtigen Netzbildschirmen, die die Luft mit dem Geplapper von Werbung, Nachrichten und Gerüchten füllten.
Cinders Audio-Schnittstelle dämpfte die Lautstärke auf ein rauschendes Surren, aber heute wurde der Lärm von einer Melodie überlagert, die sie nicht überhören konnte. Vor ihrer Bude standen Kinder im Kreis und trällerten: »Asche und Tod, das Blut, das ist rot.« Dann brachen sie in hysterisches Gelächter aus und ließen sich auf den Asphalt fallen.
Der Anflug eines Lächelns lag auf Cinders Gesicht. Nicht wegen des gespenstischen Kinderliedes über Pest und Tod, das in den letzten zehn Jahren wieder viel gesungen wurde, denn das machte ihr Angst. Nein, sie freute sich über die Blicke der Vorübergehenden, wenn sich die kichernden Kinder quer in ihren Weg fallen ließen, und darüber, wie sie murrten, wenn sie sich umständlich um die zappelnden kleinen Körper herumdrücken mussten. Das mochte Cinder an Kindern.
»Sunto! Sunto!«
Cinders Freude verflog, als sie die Bäckerin Chang Sacha sah, die sich mit ihrer mehligen Schürze durch die Menge drängelte. »Sunto, komm sofort her! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht in der Nähe von …«
Als Sachas und Cinders Blicke sich kreuzten, biss sich Sacha auf die Unterlippe. Dann packte sie ihren Sohn und zerrte ihn am Arm hinter sich her. Der Junge wimmerte und ließ die Füße nachschleifen, und Sacha schärfte ihm noch einmal ein, dass er nicht so weit von ihrem Stand weglaufen durfte. Cinder rümpfte die Nase hinter dem Rücken der Bäckersfrau. Die übrigen Kinder flohen in die Menge, und ihr Lachen verschwand mit ihnen.
»Als ob Drähte ansteckend wären«, murmelte Cinder.
Sie reckte sich, bis ihre Wirbelsäule knackte, fuhr sich mit den schmutzigen Fingern durch die Haare und kämmte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz, dann zog sie die ölverschmierten Arbeitshandschuhe an. Zuerst die Stahlhand. Obwohl sie unter dem undurchlässigen Material sofort an der rechten Handfläche zu schwitzen begann, fühlte sie sich mit den Handschuhen wohler, weil sie die Metallplatte ihrer linken Hand verbargen. Sie spreizte die Finger, um den Krampf zu lösen, der sich beim Umklammern des Schraubenziehers im Daumenballen gebildet hatte, und blinzelte wieder auf den Platz hinaus. Sie sah überall gedrungene weiße Androiden, aber Iko war nicht unter ihnen.
Seufzend beugte sich Cinder über die Werkzeugkiste unter dem Arbeitstisch. Sie wühlte sich durch die durcheinandergewürfelten Schraubenzieher und Zangen und tauchte mit einem Seitenschneider wieder auf, der schon lange auf dem Grund der Kiste beerdigt gewesen war. Einen nach dem anderen durchtrennte sie die Drähte, die den Fuß noch immer mit ihrem Knöchel verbanden, und jedes Mal flogen Funken. Durch die Handschuhe spürte sie sie nicht, doch ihr hilfreiches Netzhaut-Display informierte sie mit einer grün blinkenden Nachricht, dass sie gleich die Verbindung zu ihrem Fuß verlieren würde.
Als sie mit einem Ruck den letzten Draht kappte, fiel der Fuß klappernd auf den Asphalt.
Was für ein Unterschied! Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich schwerelos.
Sie machte Platz auf dem Tisch und stellte den Fuß wie ein Heiligtum darauf. Dann beugte sie sich wieder über ihr schmutziges Fußgelenk und begann, den Stumpf mit einem alten Lappen zu reinigen.
KLONK.
Cinder schnellte hoch, schlug mit dem Kopf gegen die Tischunterseite und machte einen Satz rückwärts. Ihr finsterer Blick fiel zuerst auf eine leblose Androidin, die jetzt auf dem Arbeitstisch hockte, dann auf den Mann hinter ihr, der Cinder verwundert aus kupferbraunen Augen ansah. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Diese Lippen hatte jedes Mädchen im Land schon tausend Mal bewundert.
Ihr Ärger verflog.
Seiner Überraschung folgte eine Entschuldigung. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe nicht gesehen, dass hier jemand war.«
Cinder hörte ihm vor Verwirrung kaum zu. Während ihr Herz immer schneller klopfte, scannte ihre Netzhaut sein Gesicht, das ihr aus all den Jahren, in denen sie es auf Dutzenden von Bildschirmen gesehen hatte, so bekannt vorkam. Im wirklichen Leben war er größer, und das graue Kapuzen-Sweatshirt war etwas ganz anderes als die feine Kleidung, in der er normalerweise auftrat. Dennoch benötigte Cinders Scanner nur 2,6 Sekunden, um sein Gesicht zu vermessen und das Bild mit der Datenbank im Netz abzugleichen. Nach einer weiteren Sekunde erschienen auf dem Display die Informationen, die ihr bereits bekannt waren. Die Angaben liefen in grünen Buchstaben am unteren Ende ihres Gesichtsfeldes entlang.
Prinz Kaito, Kronprinz des Asiatischen Staatenbundes
ID #0082719057
Geboren am 7. April 108 D.Z.
88.987 Suchergebnisse, chronologisch absteigend
Gepostet am 14. Aug. 126 D.Z.: Kronprinz Kai lädt am 15. Aug. zur Pressekonferenz, um die Fortschritte der Letumose-Forschung und mögliche Hinweise auf Gegenmittel …
Cinder sprang auf. Beinah wäre sie vornübergefallen, denn sie hatte ihren fehlenden Fuß vollkommen vergessen. Sie klammerte sich an der Tischkante fest und brachte eine unbeholfene Verbeugung zu Stande. Das Netzhaut-Display sank außer Sichtweite.
»Eure Hoheit«, stammelte sie mit gesenktem Kopf, froh, dass er ihren leeren Knöchel hinter dem Tischtuch nicht sehen konnte.
Der Prinz warf einen schnellen Blick über die Schulter, bevor er sich zu ihr herüberbeugte. »Vielleicht, ähm …« Er legte den Finger an die Lippen: »… was das mit der Hoheit angeht?«
Mit großen Augen zwang Cinder sich zu nicken. »Gut. Selbstverständlich. Wie … kann ich … seid Ihr …« Sie schluckte. Die Worte klebten wie Bohnenmus an ihrer Zunge.
»Ich bin auf der Suche nach einem Linh Cinder«, sagte der Prinz. »Ist er da?«
Cinder wagte es, eine Hand von der Tischplatte zu lösen und den Saum ihres Handschuhs hochzuziehen. Sie starrte dem Prinzen auf die Brust und stammelte: »Das … Das bin ich.«
Er legte die Hand auf den kugelrunden Kopf der Androidin.
»Sie sind Linh Cinder?«
»Ja, Eure Hohei…« Sie biss sich auf die Lippe.
»Die Mechanikerin?«
Sie nickte. »Womit kann ich Euch dienen?«
Statt zu antworten, beugte sich der Prinz so weit vor, dass ihr nichts übrig blieb, als ihm in die Augen zu sehen. Dann schenkte er ihr ein schnelles Lächeln. Ihr Herz machte einen Satz.
Der Prinz richtete sich auf und wieder musste sie ihm mit den Augen folgen. »Eigentlich hatte ich mir Linh Cinder anders vorgestellt.«
»Na ja … Ihr seid auch nicht unbedingt so … wie ich … ähm.« Um seinem Blick auszuweichen, zog sie die Androidin zu sich heran. »Wie kann ich Euch behilflich sein, Eure Hoheit?«
Die Androidin sah aus, als sei sie gerade eben vom Förderband gestiegen, aber an der weiblichen Figur erkannte Cinder, dass sie ein veraltetes Modell war. Sie war glatt, auf ihrem birnenförmigen Körper saß ein kugelrunder Kopf und ihre helle Oberfläche schimmerte.
»Sie lässt sich nicht mehr anschalten«, sagte Prinz Kai, während er Cinder bei der Inspektion des Roboters zusah. »Von einem Tag auf den anderen ging gar nichts mehr.«
Cinder drehte die Androidin herum, so dass das Licht ihres Sensors auf den Prinzen gerichtet war. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte und Routinefragen stellen konnte – so musste sie sich konzentrieren, geriet nicht aus der Fassung und verlor nicht vor Aufregung den Zugang zum Internet über ihr Gehirn. »Hattet Ihr vorher schon mal Probleme mit ihr?«
»Nein. Sie wird jeden Monat von den kaiserlichen Mechanikern gewartet, dies ist ihre erste richtige Störung.«
Prinz Kai nahm Cinders Metallfuß vom Arbeitstisch und betrachtete ihn neugierig von allen Seiten. Angespannt sah Cinder ihm dabei zu, wie er in den verdrahteten Hohlraum spähte und mit den beweglichen Zehen spielte. Mit dem zu langen Ärmel seines Sweatshirts wischte er einen Ölfleck ab.
»Ist Euch nicht heiß?« Cinder bereute ihre Frage sofort, denn nun wandte er ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah der Prinz verlegen aus. »Ich glühe«, gab er zu, »aber ich will doch nicht auffallen.«
Cinder war kurz davor, ihm zu sagen, dass das nicht funktionierte, aber dann besann sie sich. Da ihr Stand nicht von einer Traube kreischender Mädchen belagert wurde, schien es wohl zu klappen. Er sah nicht wie ein kaiserlicher Mädchenschwarm aus, sondern einfach wie ein Verrückter.
Cinder räusperte sich und nahm sich wieder die Androidin vor. Sie fand die fast unsichtbare Verriegelung und öffnete das rückwärtige Bedienungsfeld. »Warum wird sie nicht von den kaiserlichen Mechanikern repariert?«
»Sie haben’s versucht, aber sie konnten den Fehler nicht finden. Und dann hat einer vorgeschlagen, sie zu Ihnen zu bringen.« Er legte den Fuß zurück und betrachtete die Regale mit Körperteilen für Cyborgs und ramponierten Ersatzteilen für Androiden, Hover, Netzbildschirme und tragbare Bildschirme. »Man sagt, Linh Cinder sei der beste Mechaniker in Neu-Peking. Ich hatte einen alten Mann erwartet.«
»So, sagt man das?«, murmelte sie.
Er war nicht der Erste, der darüber staunte. Die meisten ihrer Kunden begriffen nicht, dass ein Teenager, noch dazu ein Mädchen, die beste Mechanikerin der Stadt sein sollte, und sie hatte den Grund für diese Begabung nie herausposaunt. Je weniger Leute wussten, dass sie ein Cyborg war, desto besser. Es wäre unerträglich, wenn sie alle Markthändler so verächtlich ansehen würden wie Chang Sacha.
Mit dem kleinen Finger schob sie ein paar Drähte zur Seite. »Manchmal verschleißen sie einfach. Vielleicht ist es Zeit für einen neuen.«
»Das geht leider nicht. Sie enthält streng geheime Informationen. Es ist eine Frage der nationalen Sicherheit, dass ich sie herunterlade, bevor es ein anderer tut.«
Cinder ließ die Hände sinken und sah ihn von unten an.
Er hielt ihrem Blick ganze drei Sekunden stand, bevor sein Mund zuckte. »War nur ein Scherz. Nainsi war meine erste Androidin, und ich hänge sehr an ihr.«
Ein kleines orangefarbenes Licht flackerte am Rande von Cinders Gesichtsfeld auf. Ihre Optobionik hatte ein Signal des Prinzen aufgefangen, auch wenn sie nicht wusste, was es war – vielleicht ein Schlucken, ein allzu schneller Lidschlag, ein Anspannen des Unterkiefers.
Sie war an das kleine orangefarbene Licht gewöhnt. Es leuchtete dauernd auf.
Es bedeutete, dass jemand log.
»Nationale Sicherheit«, sagte sie. »Sehr komisch.«
Der Prinz legte den Kopf zur Seite, als wollte er sie zum Widerspruch herausfordern. Eine Strähne seines schwarzen Haars fiel ihm in die Augen. Cinder sah weg.
»Lehrdroidin 8.6«, las sie vom schwach beleuchteten Display im Plastikschädel ab. Die Androidin war fast zwanzig Jahre alt. Uralt. »Sie scheint völlig in Ordnung zu sein.«
Mit der geballten Faust schlug Cinder der Androidin gegen die Schläfe. Sie konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie über die Tischkante fiel. Der Prinz erschrak.
Cinder stellte die Androidin auf die Füße und drückte auf den Schalter, aber nichts geschah. »Ihr glaubt gar nicht, wie oft das funktioniert.«
Der Prinz kicherte. »Sind Sie sicher, dass Sie Linh Cinder sind? Die Mechanikerin?«
»Cinder! Ich hab ihn!« Mit blinkendem blauem Sensor schwenkte Iko aus der Menge auf Cinders Arbeitstisch zu und knallte einen nagelneuen Stahlfuß neben die Androidin. »Eine riesige Verbesserung zum alten und fast unbenutzt. Die Verkabelung sieht kompatibel aus. Und außerdem konnte ich den Händler auf 600 Univs runterhandeln.«
Panik erfasste Cinder. Noch immer auf ihrem menschlichen Bein balancierend, schnappte sie sich den Fuß und warf ihn hinter sich. »Gute Arbeit, Iko. Nguyen-shifu wird sich über den Austauschfuß für seine Eskortdroidin freuen.«
Ikos Sensor verdunkelte sich. »Nguyen-shifu? Verarbeitung fehlgeschlagen.«
Cinder deutete auf den Prinzen und lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Iko, ich möchte dir unseren Kunden vorstellen.« Sie senkte die Stimme. »Seine Kaiserliche Hoheit.«
Iko hob den Kopf und peilte den Prinzen, der mehr als einen Meter über ihr aufragte, mit dem runden Sensor an. Das Licht flackerte auf, als ihr Scanner ihn zugeordnet hatte. »Prinz Kai«, sagte sie. Ihre metallische Stimme quiekte. »In Wirklichkeit seht Ihr sogar noch besser aus.«
Cinder drehte sich vor Verlegenheit der Magen um, obwohl der Prinz lachte.
»Das reicht, Iko. Komm in den Laden.«
Iko gehorchte, hob das Tuch an und kroch unter dem Tisch hindurch.
»So eine Persönlichkeit lernt man nicht alle Tage kennen«, bemerkte Prinz Kai. Er lehnte sich an Cinders Stand, als brächte er jeden Tag Androiden zum Markt. »Haben Sie sie selbst programmiert?«
»Ob Ihr es glaubt oder nicht, sie wurde so geliefert. Wahrscheinlich ein Programmierfehler. Bestimmt hat meine Stiefmutter sie deswegen so billig bekommen.«
»Ich habe keinen Programmierfehler!«, protestierte Iko von hinten.
Cinder sah dem Prinzen in die Augen. Von seinem Lächeln geblendet, zog sie den Kopf hinter der kaiserlichen Androidin ein.
»Also, was meinen Sie?«, fragte er.
»Ich muss eine Fehlerdiagnose durchlaufen lassen. Dafür brauche ich ein paar Tage, vielleicht sogar eine Woche.« Cinder strich sich das Haar hinters Ohr und setzte sich, um das Innenleben der kaiserlichen Androidin zu untersuchen, froh, ihr Bein entlasten zu können. Bestimmt brach sie damit eine Benimmregel, doch dem Prinzen schien es nichts auszumachen. Er beugte sich zu ihr herüber, um ihren Händen beim Arbeiten zuzusehen.
»Wollen Sie eine Anzahlung?«
Er hielt ihr sein linkes Handgelenk mit dem eingelassenen ID-Chip hin, aber Cinder winkte ab. »Nein, danke. Es ist mir eine Ehre.«
Prinz Kai wollte ihr widersprechen, ließ aber dann die Hand sinken. »Wahrscheinlich wird sie vor dem Fest nicht mehr fertig, oder?«
Cinder schloss das Display der Androidin. »Ich glaube, das müsste ich schaffen. Aber ohne genauer zu wissen, was ihr fehlt …«
»Ja, klar.« Er lehnte sich zurück. »War auch nur Wunschdenken.«
»Wie kann ich Euch erreichen, wenn sie fertig ist?«
»Schicken Sie mir eine Tele an den Palast. Oder sind Sie nächstes Wochenende wieder hier? Dann könnte ich noch mal vorbeikommen.«
»O ja!«, rief Iko von hinten. »Wir sind jeden Markttag da. Kommt doch wieder! Das wäre wunderbar.«
Cinder fuhr zusammen. »Ihr braucht aber nicht …«
»Es wäre mir ein Vergnügen.« Zum Abschied neigte er höflich den Kopf und zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Cinder erwiderte seinen Gruß. Sie wusste, sie hätte aufstehen und sich verbeugen müssen, doch sie wollte ihren Gleichgewichtssinn kein zweites Mal auf die Probe stellen.
Sie wartete, bis sich sein Schatten vom Tisch entfernt hatte, bevor sie sich auf dem Platz umsah. Offensichtlich hatten die Marktbesucher den Prinzen in ihrer Eile nicht bemerkt. Cinder entspannte sich.
Iko rollte neben sie, die Metallgreifer vor der Brust verschränkt. »Prinz Kai! Kannst du mal meinen Ventilator angucken? Ich glaube, ich laufe heiß.«
Cinder beugte sich hinunter, um den Ersatzfuß aufzuheben. Sie wischte ihn an ihrer Cargohose ab und begutachtete die Metallplatte. Zum Glück hatte sie sie nicht zerbeult.
»Stell dir Peonys Gesicht vor, wenn sie das erfährt!«, sagte Iko.
»Wahrscheinlich kreischt sie wie verrückt.« Noch einmal ließ Cinder aufmerksam den Blick über die Passanten schweifen. Ihr wurde leicht schwindelig. Sie konnte es nicht erwarten, Peony alles zu erzählen. Der Prinz persönlich! Es war nicht zu fassen. Es war unglaublich. Es war …
»O nein!«
Cinders Lächeln gefror. »Was ist?«
Mit einem gekrümmten Finger deutete Iko auf ihre Stirn. »Du hast da einen Ölfleck.«
Cinder rubbelte an ihrer Augenbraue. »Du nimmst mich auf den Arm!«
»Bestimmt ist es ihm kaum aufgefallen.«
Cinder ließ die Hand sinken. »Ist sowieso egal. Komm, hilf mir, den Fuß anzulegen, bevor der nächste Prinz vorbeikommt.« Sie stützte den Knöchel auf dem Knie ab und verband die farbigen Drähte. Hoffentlich hatte sich der Prinz täuschen lassen.
»Passt wie angegossen, stimmt’s?« Iko hielt ihr die Schrauben hin. Cinder drehte sie in die vorgebohrten Löcher.
»Das ist lieb von dir, Iko, vielen Dank. Ich hoffe nur, dass Adri nichts merkt. Sie bringt mich um, wenn sie rauskriegt, dass ich 600 Univs für einen Fuß ausgegeben habe.« Nachdem sie die letzte Schraube angezogen hatte, streckte sie das Bein aus, rollte auf der Ferse vor und zurück und wackelte mit den Zehen. Alles war noch etwas steif. Es würde ein paar Tage dauern, ehe die Nervensensoren sich an die neue Verkabelung angepasst hatten, aber wenigstens musste sie jetzt nicht mehr hinken.
»Er ist super«, sagte sie und zog den Stiefel an. Ihr Blick fiel auf den alten Fuß in Ikos Greifern. »Das Mistding kannst du weg…«
Ein Schrei durchbohrte Cinders Trommelfell und in ihrer Audio-Schnittstelle piepste es. Erschrocken drehte sie sich zu dem Geräusch um. Auf dem Markt herrschte plötzlich Stille. Die Kinder, die zwischen den Marktständen Verstecken gespielt hatten, krochen aus ihren Schlupflöchern hervor.
Chang Sacha, die Bäckerin, hatte geschrien. Verdutzt kletterte Cinder auf ihren Stuhl, um über die Menge hinwegsehen zu können. Sie entdeckte Sacha in ihrem Stand, hinter den Glasvitrinen mit süßen Teilchen und Brötchen mit Schweinehack. Sie starrte auf ihre ausgestreckten Hände.
Im selben Moment, in dem die Menge auf dem Platz begriff, hielt Cinder sich schon die Nase zu.
»Die Pest«, schrie einer. »Sie hat die Blaue Pest!«
Auf der Straße kam Panik auf. Mütter rissen ihre Kinder an sich und legten ihnen schützend die Hände aufs Gesicht, während sie verzweifelt von Sachas Stand wegdrängten. Krachend wurden überall die Rollläden heruntergelassen.
Sunto schrie und rannte zu seiner Mutter, doch sie hob abwehrend die Hände. Nein, nein, bleib dort. Ein benachbarter Ladenbesitzer packte den Jungen und klemmte ihn sich im Weglaufen unter den Arm. Sacha rief ihm etwas nach, aber ihre Worte gingen im Aufruhr unter.
Cinder drehte sich der Magen um. Sie konnten nicht weglaufen; Iko würde im Chaos niedergetrampelt werden. Sie biss sich auf die Wange, griff nach der Schnur in der Ecke und ließ die Metalltür herab. Dunkelheit umfing sie, am Boden drang nur ein einzelner Strahl Tageslicht herein. Vom Asphalt stieg Hitze auf; in dem engen Raum wurde es stickig.
»Cinder?«, fragte Iko mit bedrückter Roboterstimme. Sie drehte den Sensor auf und füllte den Stand mit blauem Licht.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Cinder. Sie sprang vom Stuhl und nahm den verschmierten Lappen vom Tisch. Die Schreie wurden schon leiser und der Stand schien wie eine Welt für sich. »Die Bäckerei ist auf der anderen Seite des Platzes. Wir haben hier nichts zu befürchten.« Trotzdem kroch sie zur hinteren Wand mit den Regalen, duckte sich und hielt den Lappen über Mund und Nase.
Cinder atmete so flach wie möglich, während sie auf die Sirenen des Rettungshovers warteten, der Sacha fortbrachte.
2
Die Sirenen waren noch nicht verklungen, als ein weiteres Gefährt brummend auf dem Platz landete. Die Stille des Marktes wurde von lauten Schritten durchbrochen. Jemand erteilte im Kommandoton Befehle. Ein anderer antwortete heiser.
Cinder hängte sich ihre Kuriertasche um und kroch über den staubigen Boden ihres Stands hinter das Tuch über ihrem Arbeitstisch.
Sie steckte die Finger in den Lichtstreif unter der Tür und schob sie ein bisschen höher. Dann drückte sie die Wange auf das warme, unebene Pflaster und konnte drei Paar gelber Stiefel vor der Bäckerei am anderen Ende des Platzes ausmachen. Ein Rettungstrupp. Sie schob die Tür noch etwas höher, um die Männer mit den Gasmasken zu beobachten, die den Stand mit Flüssigkeit aus einem gelben Kanister tränkten. Trotz der Entfernung rümpfte Cinder bei dem Gestank die Nase.
»Was ist los?«, fragte Iko von hinten.
»Sie zünden Chang-jiĕs Stand an.« Als sie den Blick über den Platz schweifen ließ, fiel ihr ein blütenweißer Hover in einer Ecke auf. Von den drei Männern abgesehen war der Platz menschenleer. Sie rollte sich auf den Rücken und sah hoch in Ikos Sensor, der noch immer im Dunkeln leuchtete. »Wir verschwinden, sobald das Feuer auflodert. Dann sind sie abgelenkt.«
»Stecken wir in Schwierigkeiten?«
»Nein. Aber ich habe heute keine Lust auf einen Ausflug zur Quarantänestation.«
Einer der Männer spuckte einen weiteren Befehl aus, gefolgt von schlurfenden Schritten. Cinder warf noch einen Blick durch den Spalt. Etwas Brennendes wurde in den Stand geworfen und bald vermischte sich der Geruch von Benzin mit dem von angebranntem Toast. Die Männer waren zurückgetreten, ihre uniformierten Gestalten hoben sich deutlich von den auflodernden Flammen ab.
Cinder tastete nach Prinz Kais Androidin und zog sie zu sich herunter. Sie klemmte die Androidin unter den Arm, dann schob sie die Rolltür so weit hoch, dass sie darunter durchrobben konnte, die Rücken der Männer fest im Blick. Iko folgte ihr und flitzte zum nächsten Stand, als Cinder die Tür herunterließ. Sie schossen an den Ständen vorüber, von denen die meisten bei der Massenflucht weit geöffnet zurückgelassen worden waren, und bogen in die erste enge Gasse zwischen den Läden. Dunkle Rauchschwaden stiegen in den Himmel über ihnen. Sekunden später brauste eine Gruppe Nachrichtenhover über die Gebäude hinweg zum Marktplatz.
Als sie weit genug entfernt waren und das Gewirr von Gassen verlassen hatten, liefen sie langsamer. Die Sonne ging hinter den Hochhäusern im Westen unter. Die feuchte Augusthitze stand regungslos zwischen den Gebäuden, nur manchmal wehte eine warme Brise und wirbelte den Abfall aus der Gosse auf. Vier Straßen vom Markt entfernt gab es wieder Anzeichen von normalem Leben – Fußgänger standen auf den Bürgersteigen herum und tratschten über den Ausbruch der Blauen Pest. Die Netscreens an den Häuserwänden zeigten Live-Bilder von dem Feuer und dem Rauch im Zentrum von Neu-Peking, untertitelt mit sensationsheischenden Schlagzeilen, in denen die Zahl der Infizierten mit jeder Sekunde anstieg – obwohl bisher erst ein Mensch offiziell für pestkrank erklärt worden war, soweit Cinder es überblickte.
»All die klebrigen Brötchen«, sagte Iko, als sie an einer Nahaufnahme des verkohlten Stands vorbeigingen.
Cinder biss sich in die Wange. Sie hatten beide noch nie die berühmten Süßigkeiten der Marktbäckerei probiert. Iko, weil sie keine Geschmacksnerven hatte, und Cinder, weil Chang Sacha keine Cyborgs bediente.
Nach und nach gingen die hoch aufragenden Bürogebäude und Einkaufszentren in ein chaotisches Viertel aus Apartmenthäusern über, die so dicht nebeneinanderstanden, dass sie wie eine endlose Landschaft aus Glas und Beton aussahen. Früher waren die Wohnungen in dieser Gegend geräumig und begehrt gewesen, aber mit den Jahren waren sie so oft unterteilt und umgestaltet worden – immer in dem Versuch, mehr Menschen auf derselben Quadratmeterzahl unterzubringen –, dass aus den Gebäuden Labyrinthe von Korridoren und Treppenhäusern geworden waren.
Doch Cinder vergaß das hässliche Viertel, als sie in ihre eigene Straße einbog, denn für einen flüchtigen Moment konnte sie zwischen den Gebäuden einen Blick auf den Palast von Neu-Peking erhaschen, der prachtvoll auf der Klippe hinter der Stadt aufragte. Die spitzen Golddächer des Palastes glitzerten orange in der Sonne und die Fenster warfen ihr schimmerndes Licht auf die Stadt zurück. Verzierte Giebel, gestaffelte Pavillons, die gefährlich nah am Klippenrand balancierten, und runde Tempel, die sich in den Himmel reckten. Cinder nahm sich mehr Zeit als sonst, um den Palast zu betrachten, und dachte an jemanden, der hinter diesen Mauern lebte, der vielleicht sogar in dieser Sekunde dort oben war.
Natürlich hatte sie immer gewusst, dass der Prinz dort wohnte, wenn sie den Palast angesehen hatte, aber heute fühlte sie eine Verbindung, die es vorher nicht gegeben hatte, und mit ihr eine fast stolze Freude. Sie hatte den Prinzen kennengelernt. Er war zu ihrem Stand gekommen. Er wusste, wie sie hieß.
Sie atmete die feuchte Luft ein und zwang sich weiterzugehen. Das war albern. Sie klang schon fast wie Peony.
Sie nahm die kaiserliche Androidin unter den anderen Arm, als sie mit Iko unter dem Überbau des Phoenix Towers hindurchging. Ihr freies Handgelenk hielt sie vor den ID-Scanner an der Wand und hörte das Klicken des Schlosses.
Iko nutzte ihre Armverlängerungen, um die Kellertreppe herunterzuscheppern, hinein in ein halbdunkles Labyrinth von Lagerräumen, die mit Kaninchendraht abgesperrt waren. Ein schimmeliger Geruch schlug ihnen entgegen. Die Androidin schaltete ihre Scheinwerfer ein und vertrieb die Schatten, die das spärliche Halogenlicht geworfen hatte. Der Weg vom Treppenhaus zum Lagerraum Nr. 18–20 war ihnen vertraut – zu der beengten, kühlen Zelle, in der Adri Cinder zu arbeiten erlaubte.
Cinder machte zwischen dem Durcheinander auf dem Arbeitstisch Platz für die Androidin und setzte ihre Kuriertasche auf dem Boden ab. Sie tauschte ihre schweren Arbeitshandschuhe gegen weniger ölige aus Baumwolle, bevor sie den Lagerraum verschloss. »Falls Adri fragt«, sagte sie auf dem Weg zu den Fahrstühlen, »unser Stand ist nicht in der Nähe der Bäckerei.«
Ikos Licht flackerte. »Ist registriert.«
Sie waren allein im Fahrstuhl. Erst als sie im achtzehnten Stockwerk ausstiegen, wurde aus dem Gebäude ein summender Bienenstock – Kinder jagten sich auf den Fluren, zahme und verwilderte Katzen hielten sich dicht an die Wände gedrückt, und ein unentwegtes, verworrenes Netscreen-Geschnatter schwappte unter den Türen hervor. Cinder passte ihre Schnittstelle im Gehirn an das weiße Rauschen an, während sie den Kindern auf dem Weg zu ihrer Wohnung auswich.
Die Tür stand weit offen. Cinder blieb stehen und kontrollierte die Nummer, bevor sie eintrat.
Aus dem Wohnzimmer hörte sie Adris harte Stimme. »Einen tieferen Ausschnitt für Peony. Sie sieht aus wie eine alte Frau.«
Cinder sah um die Ecke. Adri stützte sich mit einer Hand an dem Sims des holografischen Kamins ab. Sie trug einen mit Chrysanthemen bestickten Satinmorgenrock, der gut zu den protzigen Papierfächern passte, die die Wand hinter ihr schmückten – auf alt gemachte Reproduktionen. Ihr Gesicht war zu stark gepudert und die Lippen entsetzlich grell geschminkt, so dass sie fast selbst wie eine Reproduktion aussah.
Aus ihrem Make-up zu schließen, hatte sie beabsichtigt auszugehen, auch wenn sie die Wohnung selten verließ.
Falls sie bemerkt hatte, dass Cinder im Flur war, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Der Netscreen über den kalten Flammen zeigte Berichte vom Markt. Der Stand der Bäckerin lag in Schutt und Asche, nur das Gerüst eines tragbaren Ofens ragte hervor.
Mitten im Zimmer standen Pearl und Peony, eingehüllt in Seide und Tüll. Peony hielt ihr gelocktes dunkles Haar hoch, während sich eine Frau, die Cinder nicht kannte, an dem Ausschnitt ihres Kleides zu schaffen machte. Als Peony Cinder bemerkte, leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Sie deutete auf ihr Kleid und konnte nur mit Mühe ein Quieken unterdrücken.
Cinder lächelte zurück. Ihre jüngere Stiefschwester sah wie ein Engel aus in ihrem silbern schimmernden Kleid, das im Schein des Feuers in Lavendeltönen leuchtete.
»Pearl.« Adri bedeutete ihrer älteren Tochter, sich zu drehen, und Pearl wirbelte herum. Am Rücken lief eine Knopfleiste aus Perlen herab. Ihr Kleid ähnelte Peonys mit dem eng anliegenden Mieder und dem rüschenbesetzten Rock, aber ihres war golden wie Sternenstaub. »In der Taille kann es noch enger werden.«
Die Fremde fädelte eine Nadel durch den Saum von Peonys Ausschnitt. Als sie Cinder in der Tür stehen sah, erschrak sie, wandte sich dann aber schnell wieder ihrer Arbeit zu. Sie trat zurück, nahm die Stecknadeln aus dem Mund und legte den Kopf zur Seite. »Es liegt jetzt schon sehr eng an«, sagte sie. »Sie soll doch tanzen, oder nicht?«
»Sie soll einen Ehemann finden«, sagte Adri.
»Ach, nicht doch!«, kicherte die Schneiderin und zupfte an dem Stoff um Pearls Taille. Cinder sah genau, wie Pearl ihren Bauch so weit wie möglich einzog; unter dem dünnen Kleid zeichneten sich ihre Rippen ab. »Sie ist noch viel zu jung für die Ehe.«
»Ich bin siebzehn«, sagte Pearl und sah die Frau ärgerlich an.
»Siebzehn! Sehen Sie? Ein Kind. Zeit, Spaß zu haben, stimmt’s, Mädchen?«
»Für Spaß kostet sie mich zu viel«, sagte Adri. »Ich erwarte Resultate von diesem Kleid.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Linh-jiĕ. Sie wird bezaubernd wie der Morgentau sein.« Sie steckte die Nadeln wieder in den Mund und wandte sich erneut Peonys Ausschnitt zu.
Adri hob das Kinn und ließ sich schließlich doch dazu herab, Cinders Gegenwart zu bemerken, indem sie ihren Blick auf deren Cargohose und schmutzige Stiefel richtete. »Warum bist du nicht auf dem Markt?«
»Er ist heute früher geschlossen worden«, sagte Cinder und sah vielsagend auf den Netscreen, doch Adri folgte ihrem Blick nicht. Cinder täuschte Unbekümmertheit vor und hob den Daumen. »Ich wasche mich nur schnell, dann bin ich auch fertig zur Anprobe.«
Die Schneiderin unterbrach ihre Arbeit. »Noch ein Kleid, Linh-jiĕ? Ich habe nicht genug Stoff für …«
»Hast du den Magnetriemen am Hover ersetzt?«
Cinders Lächeln gefror. »Nein. Noch nicht.«
»Tja, keine von uns geht zum Ball, wenn er bis dahin nicht repariert ist.«
Cinder ließ sich nicht anmerken, wie gereizt sie war. Sie hatten in der letzten Woche schon zweimal darüber gesprochen. »Ich brauche Geld, um einen neuen Magnetriemen zu kaufen. Mindestens 800 Univs. Wenn die Einnahmen vom Markt nicht direkt auf dein Konto überwiesen würden, hätte ich längst einen gekauft.«
»Und ich soll dir vertrauen, dass du dir kein albernes Spielzeug kaufst?«, fragte Adri mit einem verächtlichen Blick auf Iko, dabei gehörte diese eigentlich ihr. »Außerdem kann ich nicht beides bezahlen: einen Magnetriemen und ein Kleid, das du sowieso nur einmal tragen würdest. Entweder du findest einen anderen Weg, den Hover zu reparieren, oder du musst dir das Kleid für den Ball selbst besorgen.«
Cinders Gereiztheit verstärkte sich. Sie hätte darauf hinweisen können, dass Adri Pearl und Peony Kleider von der Stange statt von der Schneiderin hätte kaufen können, damit noch Geld für Cinders übrig blieb. Oder darauf, dass die beiden ihre Kleider auch nur einmal anziehen würden. Oder darauf, dass sie diejenige war, die das Geld verdiente, und sie deswegen auch bestimmen sollte, wie es ausgegeben wurde. Aber all ihre Argumente würden zu nichts führen. Rechtlich gesehen war Cinder Adris Eigentum, genau wie die Haushalts-Androidin – und damit auch ihr Geld, ihre paar Habseligkeiten und selbst der neue Fuß, den sie erst vor ein paar Stunden angeschlossen hatte. Adri erinnerte sie nur allzu gerne daran.
Also schluckte sie den Ärger hinunter, bevor Adri einen Funken ihrer Rebellion bemerken konnte.
»Vielleicht kann ich den Magnetriemen gegen etwas anderes tauschen. Ich versuche es mal in ein paar Läden hier in der Gegend.«
Adri schnaubte. »Warum tauschen wir ihn nicht gegen diese nutzlose Androidin?«
Iko schoss hinter Cinders Beine.
»Wir würden nicht viel für sie bekommen«, sagte Cinder. »Niemand will so ein altes Modell.«
»Ach, wirklich? Vielleicht sollte ich euch beide als wandelnde Ersatzteillager verkaufen.« Adri griff nach dem unfertigen Saum von Pearls Ärmel und fummelte daran herum. »Mir ist es ganz egal, wie du den Hover reparierst. Aber tu’s vor dem Ball, und zwar billig. Dieses Schrottding belegt da unten nur einen kostbaren Parkplatz.«
Cinder steckte die Hände in die hinteren Hosentaschen. »Willst du damit sagen, wenn ich den Hover in Stand setze und ein Kleid besorge, darf ich dieses Jahr mitkommen?«
Adris Mundwinkel zuckten kaum merklich. »Es würde an ein Wunder grenzen, wenn du etwas Passendes zum Anziehen findest, das gleichzeitig diese …« Ihr Blick fiel auf Cinders Stiefel. »… Absonderlichkeit versteckt. Na gut. Wenn du den Hover reparierst, darfst du mit zum Ball gehen.«
Peony lächelte Cinder erstaunt an, während ihre ältere Schwester zur Mutter herumwirbelte. »Das ist nicht dein Ernst! Die? Die soll mitkommen?«
Cinder lehnte sich gegen den Türrahmen und versuchte ihre Enttäuschung vor Peony zu verbergen. Pearls Wutausbruch war überflüssig. Ein kleines orangefarbenes Licht hatte am Rande von Cinders Gesichtsfeld aufgeleuchtet – Adri hatte ihr Versprechen nicht ernst gemeint.
»Tja«, sagte sie und bemühte sich, zuversichtlich auszusehen. »Dann schaue ich mich mal nach einem Magnetriemen um.« Adri winkte gleichgültig in Cinders Richtung. Pearls Kleid beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit, und Cinder war entlassen.
Cinder warf einen letzten Blick auf die prachtvollen Gewänder ihrer Stiefschwestern, bevor sie das Zimmer verließ. Kaum hatte sie den Flur betreten, schrie Peony laut auf.
»Prinz Kai!«
Cinder erstarrte, ging zurück und sah auf den Netscreen. Die Pestwarnungen waren von einer Live-Übertragung einer Pressekonferenz aus dem Palast abgelöst worden. Prinz Kai sprach vor den Journalisten – Menschen und Androiden.
»Mach den Ton an«, sagte Pearl und schubste die Näherin zur Seite.
»… Forschung bleibt unsere oberste Priorität«, sagte Prinz Kai gerade, wobei er sich an den Seiten seines Pultes festhielt. »Unser Forschungsteam ist fest entschlossen, einen Impfstoff gegen diese Krankheit zu finden, der meine Mutter bereits zum Opfer gefallen ist und die uns meinen Vater zu nehmen droht – wie auch Zehntausende unserer Bürger. Heute ist die Krankheit innerhalb unserer Stadtgrenzen ausgebrochen, die Lage hat sich verschärft. Wir können nicht mehr behaupten, dass diese Krankheit ausschließlich die armen ländlichen Gemeinden unseres Landes betrifft. Letumose bedroht uns alle. Wir müssen sie aufhalten. Erst dann können wir uns dem Aufbau unserer Wirtschaft zuwenden und den Asiatischen Staatenbund wieder zum Blühen bringen.«
Die Menge klatschte pflichtschuldig. Seit die Pest vor mehr als einem Dutzend Jahren das erste Mal in einer kleinen Stadt der Afrikanischen Union ausgebrochen war, wurde sie erforscht. Seitdem hatte man jedoch erst wenige Fortschritte gemacht. Dabei war die Krankheit in der Zwischenzeit überall auf der Welt aufgetaucht – an Hunderten von Orten, die keine offensichtliche Verbindung hatten. Hunderttausende waren erkrankt, hatten gelitten und waren gestorben. Sogar Adris Ehemann hatte sich auf einer Reise nach Europa angesteckt – auf derselben Reise, auf der er sich darauf eingelassen hatte, der Vormund eines elfjährigen verwaisten Cyborgs zu werden. Cinder konnte sich kaum an ihn erinnern, aber sie wusste noch, wie er in die Quarantänestation verfrachtet wurde, während Adri tobte, dass er sie nicht mit diesem Ding zurücklassen könne.
Adri sprach nie über ihren Ehemann, auch in der Wohnung erinnerte nur wenig an ihn. Die einzigen Andenken waren holografische Plaketten und reich verzierte Medaillen, die auf dem Kaminsims aufgereiht waren – Auszeichnungen für herausragende Leistungen und Preise von einer internationalen Technologiemesse aus drei aufeinanderfolgenden Jahren. Cinder hatte keine Ahnung, was er erfunden hatte. Doch was auch immer es sein mochte, offensichtlich war es nicht gerade erfolgreich, denn seine Familie blieb nach seinem Tod fast mittellos zurück.
Auf dem Bildschirm wurde die Rede des Prinzen unterbrochen, als ein Fremder auf die Bühne trat und Prinz Kai eine Nachricht überbrachte. Die Augen des Prinzen verdunkelten sich. Der Netscreen wurde schwarz.
Der Konferenzraum wurde durch einen Schreibtisch vor einem blauen Hintergrund ersetzt. Dahinter saß eine Frau, der man ihre Gefühle nur an ihren weißen Fingerknöcheln ablesen konnte.
»Wir unterbrechen die Pressekonferenz Seiner Kaiserlichen Hoheit mit einem Bericht zum Zustand Seiner Kaiserlichen Majestät, des Imperators Rikan. Die Ärzte des Imperators haben soeben mitgeteilt, dass Seine Kaiserliche Majestät sich nun im dritten Letumose-Stadium befindet.«
Die Schneiderin schnappte nach Luft und nahm die Nadeln aus dem Mund.
Cinder lehnte sich gegen den Türrahmen. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, Kai ihre Anteilnahme und Genesungswünsche für den Kaiser auszusprechen. Er musste sie für gefühllos halten. Und für dumm.
»Für Seine Kaiserliche Majestät wird alles nur Erdenkliche getan, und die Palastsprecher versichern uns, dass die Forscher unablässig auf der Suche nach einem Impfstoff sind. Noch immer wird dringend nach Freiwilligen für die Erprobung eines Gegenmittels gesucht, auch wenn die Cyborg-Einberufung weitergeht.
In Hinsicht auf das 126. Friedensfest hat es wegen der Krankheit des Imperators Kontroversen gegeben, aber Prinz Kaito hat die Presse wissenlassen, dass das Fest wie geplant stattfindet. Er hofft, dass es etwas Freude in diese sonst so düstere Zeit bringen möge.« Die Moderatorin machte eine Pause. Sie zögerte, obwohl der Teleprompter direkt vor ihr war. Plötzlich sah sie sanft aus, und die strenge Stimme sang fast, als sie schloss: »Lang lebe der Imperator.«
Leise wiederholte die Schneiderin die Worte. Wieder wurde der Bildschirm schwarz, dann sah man den Pressekonferenzraum, aber Prinz Kai hatte die Bühne verlassen und die Journalisten hatten sich im ganzen Raum verteilt, jeder erstattete vor seiner Kamera Bericht.
»Ich kenne einen Cyborg, der sich freiwillig zu den Pest-Tests melden könnte«, sagte Pearl. »Warum sollten wir auf ihre Einberufung warten?«
Cinder warf Pearl einen giftigen Blick zu. Pearl war fast einen Kopf kleiner als Cinder, obwohl sie ein Jahr älter war. »Gute Idee«, sagte sie. »Dann kannst du dir einen Job suchen, um dein hübsches Kleid zu bezahlen.«
»Sie entschädigen die Familien der Freiwilligen, Drahtkopf«, schnauzte Pearl zurück.
Die Cyborg-Einberufung war vor einem Jahr vom kaiserlichen Forschungsteam ins Leben gerufen worden. Jeden Morgen wurde eine andere ID-Nummer aus den Tausenden von Cyborg-IDs gezogen, die im Asiatischen Staatenbund lebten. Sie waren aus so weit entfernten Provinzen wie Mumbai oder Singapur herangekarrt worden, um als Versuchskaninchen für ein Gegenmittel herzuhalten. Alle taten so, als wäre es eine Ehre, sein Leben für das Wohlergehen der Menschheit zu opfern, aber eigentlich zeigte es nur wieder einmal, dass Cyborgs nicht wie alle anderen waren. Viele von ihnen hatten großzügigen Wissenschaftlern ihr Überleben zu verdanken, deswegen schuldeten sie denjenigen, die sie erschaffen hatten, ihre Existenz. Viele fanden, Cyborgs hätten Glück gehabt, überhaupt so lange zu leben. Also war es nur folgerichtig, dass sie die Ersten waren, die ihr Leben der Suche nach einem Gegenmittel opferten.
»Wir können ihnen Cinder nicht anbieten«, sagte Peony und raffte ihren Rock. »Sie muss meinen Portscreen reparieren.«
Pearl schnaubte und wandte sich ab. Peony rümpfte die Nase hinter dem Rücken ihrer Schwester.
»Hört auf, euch zu zanken«, sagte Adri. »Peony, du zerknitterst deinen Rock.«
Cinder ging hinaus in den Flur, als die Schneiderin ihre Arbeit wieder aufnahm. Iko war ihr zwei Schritte voraus, sie hatte es eilig, Adris Gegenwart zu entkommen.
Natürlich wusste Cinder es zu würdigen, wenn Peony sie verteidigte, aber sie wusste auch, dass es im Grunde egal war. Adri würde sie nie zum Freiwilligentest schicken, weil sie dann kein Einkommen mehr hätte. Und Cinder war sicher, dass Adri noch keinen einzigen Tag in ihrem Leben gearbeitet hatte.
Aber wenn sie einberufen wurde, konnte niemand etwas dagegen unternehmen. Und in der letzten Zeit war es ihr so vorgekommen, als sei eine unverhältnismäßig hohe Anzahl der Ausgelosten aus Neu-Peking und den Vororten gekommen.
Und jedes Mal, wenn eine Jugendliche einberufen wurde, hörte Cinder im Kopf das Ticken einer Uhr.
3
»Du gehst zum Ball!« Iko schlug ihre Greifer gegeneinander, als würde sie klatschen. »Wir müssen ein Kleid für dich besorgen und Schuhe. Diese schrecklichen Stiefel lasse ich dich nicht tragen. Du kriegst neue Handschuhe und …«
»Kannst du hier mal reinleuchten?«, bat Cinder und zerrte an der obersten Schublade ihres Werkzeugschranks. Polternd wühlte sie zwischen Ersatzbolzen und Fassungen herum, als Iko näher kam. Ihr bläuliches Licht verdrängte das Halbdunkel des Lagerraums.
»Stell dir das Essen vor, das es da gibt«, sagte Iko. »Und die Kleider. Die Musik!«
Cinder achtete nicht auf sie, sondern heftete verschiedene Werkzeuge an Ikos magnetisches Gehäuse.
»O Gott! Denk an Prinz Kai! Du könntest mit ihm tanzen!«
Jetzt unterbrach Cinder ihre Arbeit und blinzelte in Ikos blendendes Licht. »Warum sollte der Prinz mit mir tanzen?«
Ikos Ventilator sprang an, als sie nach einer Antwort suchte. »Weil du dann keinen Ölfleck auf der Stirn hast?«
Cinder unterdrückte ein Kichern. Schlussfolgerungen von Androiden konnten so unwahrscheinlich simpel sein. »Ich sage es dir ja nur ungern, Iko«, meinte sie, knallte die Schublade zu und durchwühlte die nächste, »aber ich gehe nicht zum Ball.«
Ikos Ventilator setzte kurz aus. »Verarbeitung fehlgeschlagen.«
»Erstens habe ich gerade all mein Erspartes für einen neuen Fuß ausgegeben. Aber selbst wenn ich Geld hätte, warum sollte ich es für ein Kleid, Schuhe oder Handschuhe verschwenden?«
»Wofür denn sonst?«
»Für einen kompletten Satz Schraubenschlüssel vielleicht? Einen Werkzeugschrank mit Schubladen, die nicht klemmen?« Sie schob die zweite Schublade mit der Schulter zu, um ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen. »Oder für eine Anzahlung auf eine eigene Wohnung, in der ich nicht mehr Adris Dienerin sein müsste?«
»Adri würde deine Entlassung aber nicht unterschreiben.«
Cinder öffnete die dritte Schublade. »Ich weiß. Das würde sowieso viel mehr kosten als so ein doofes Kleid.« Sie nahm eine Ratsche und eine Handvoll Schraubenschlüssel heraus und legte sie oben auf den Werkzeugschrank. »Vielleicht könnte ich mir eine Hauttransplantation leisten.«
»Deine Haut ist doch total in Ordnung.«
Cinder sah Iko aus dem Augenwinkel an.
»Ach, du meinst für deine Cyborg-Teile.«
Cinder schloss die dritte Schublade, nahm die Kuriertasche von der Werkbank und schaufelte die Werkzeuge hinein. »Was meinst du, was könnten wir sonst noch brauchen … oh, den Wagenheber. Wo habe ich den hingelegt?«
»Das ist doch blöd«, sagte Iko. »Vielleicht kannst du irgendwas gegen ein Kleid eintauschen oder du kaufst dir ein gebrauchtes. Ich will schon so lange mal in den Secondhandladen auf der Sakura gehen. Weißt du, welchen ich meine?«
Cinder durchwühlte die Werkzeuge, die sich zufällig unter der Werkbank angesammelt hatten. »Ist mir egal. Ich gehe nicht mit.«
»Ist gar nicht egal. Es geht um den Ball! Und um den Prinzen!«
»Iko, ich repariere seine Androidin. Aber deswegen sind wir noch längst keine Freunde.« Als sie die Androidin erwähnte, fiel Cinder etwas ein. Einen Moment später zog sie den Wagenheber hervor. »Und es ist egal, weil Adri mich sowieso nicht gehen lässt.«
»Sie hat gesagt, wenn du den Hover reparierst …«
»Genau. Und wenn er wieder heile ist? Was ist mit Peonys Portscreen, der dauernd verrücktspielt? Was ist mit …« Sie sah sich um und entdeckte einen rostigen Androiden in einer Ecke. »Was ist mit dem alten Gärtnerdroiden 7.3?«
»Was soll Adri mit dem alten Ding? Sie hat doch gar keinen Garten mehr. Noch nicht mal einen Balkon.«
»Ich meine ja auch nur, dass sie mich eigentlich gar nicht gehen lassen will. Solange sie noch Sachen hat, die ich reparieren kann, sind meine ›Pflichten‹ nicht erledigt.« Cinder stopfte noch ein paar Unterstellböcke in die Tasche und redete sich ein, dass es ihr nichts ausmachte. Jedenfalls nicht viel.
Sie passte sowieso nicht auf einen steifen Ball. Selbst wenn sie ihre metallischen Monstrositäten unter feinen Handschuhen und Tanzschuhen verbergen konnte, ließ sich ihr mattbraunes Haar nicht frisieren. Außerdem hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie man sich schminkte. Wahrscheinlich würde sie doch nur abseits der Tanzfläche sitzen, sich über die Mädchen lustig machen, die eine Ohnmacht vortäuschten, um Prinz Kais Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und so tun, als sei sie nicht eifersüchtig. So tun, als würde sie das alles nicht stören.
Dabei war sie schon neugierig auf das Essen.
Außerdem kannte der Prinz sie jetzt, jedenfalls ein bisschen. Auf dem Markt war er freundlich zu ihr gewesen. Vielleicht forderte er sie zum Tanzen auf. Aus Höflichkeit. Oder aus Ritterlichkeit, wenn er sie alleine herumstehen sah.
Das wackelige Phantasiegebäude krachte so schnell in sich zusammen, wie es entstanden war. Es war unmöglich und es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken.
Sie war ein Cyborg und würde nicht zum Ball gehen.
»Ich denke, wir haben alles«, sagte sie und überspielte ihre Enttäuschung, indem sie sich die Tasche über die Schulter hängte. »Bist du so weit?«
»Verarbeitung fehlgeschlagen«, sagte Iko. »Wenn die Hover-Reparatur nicht dazu führt, dass Adri dich zum Ball gehen lässt, warum gehen wir dann zum Schrottplatz? Wenn sie sich so sehr einen Magnetriemen wünscht, soll sie doch selbst im Müll wühlen!«
»Weißt du warum? Ball hin oder her, ich glaube schon, dass sie dich für ein paar Univs verkaufen würde, wenn wir ihr einen Grund liefern. Abgesehen davon haben wir die Wohnung für uns, wenn sie auf dem Ball sind. Hört sich das nicht gut an?«
»Das hört sich super an!«
Cinder drehte sich um und sah Peony durch die Tür wogen. Sie trug noch immer ihr silbernes Ballkleid, aber jetzt waren die Säume am Hals und an den Ärmeln fertig. Am Dekolleté war eine hauchfeine Spitzenborte eingearbeitet, die die Tatsache unterstrich, dass Peony mit vierzehn schon Kurven hatte, von denen Cinder nicht einmal zu träumen wagte. Cinder wusste nicht, ob ihr Körper jemals weiblich hätte werden sollen, aber was auch immer die Chirurgen mit ihr getan hatten, hatte das zunichtegemacht. Sie sah aus wie eine Bohnenstange. Zu eckig. Zu jungenhaft. Zu linkisch mit ihrem künstlichen Bein.
»Irgendwann erwürge ich Mama noch«, sagte Peony. »Sie macht mich ganz verrückt. ›Pearl muss einen Ehemann finden‹, ›Meine Töchter treiben mich in den Ruin‹, ›Niemand sieht, was ich für sie getan habe‹, bla, bla, bla.« Sie reckte den Zeigefinger in die Luft, während sie ihre Mutter nachäffte.
»Was machst du hier unten?«
»Mich verkriechen. Oh, und dich bitten, ob du dir meinen Portscreen ansehen kannst.« Sie zog einen tragbaren Bildschirm hinter ihrem Rücken hervor und hielt ihn Cinder hin.
Cinder nahm ihn an, aber ihre Aufmerksamkeit galt Peonys schimmerndem Kleid, dessen schleifender Saum Wollmäuse aufwirbelte. »Das Kleid wird dreckig. Adri wird zur Furie!«
Peony streckte die Zunge raus, aber sie hob den Rock bis zu den Knien. »Also, was meinst du?«, fragte sie, auf den nackten Fußballen federnd.
»Du siehst unglaublich aus.«
Peony drehte sich kokett hin und her und zerknitterte den Stoff beim Raffen noch mehr. Aber dann wurde sie plötzlich ernst. »Sie hätte dir auch eins machen lassen sollen. Es ist nicht fair.«
»Eigentlich will ich gar nicht hin.« Cinder zuckte die Achseln. In Peonys Ton lag so viel Mitgefühl, dass sie sich nicht die Mühe machte zu widersprechen. Normalerweise konnte sie ihren Neid auf die Stiefschwestern ignorieren – dass Adri so vernarrt in sie war, dass ihre Hände so weich waren –, vor allem weil Peony ihre einzige menschliche Freundin war. Aber den Stich von Eifersucht bei Peonys Anblick in diesem Kleid konnte sie nicht so leicht ignorieren.
Sie wechselte das Thema. »Was ist los mit dem Port?«
»Es kommt nur noch Wortsalat raus.« Peony fegte ein paar Werkzeuge von einem Stapel leerer Farbeimer und suchte sich den saubersten Platz aus, bevor sie sich mit aufbauschendem Rock setzte. Dann trommelte sie mit den Hacken gegen die Plastikeimer.
»Hast du etwa schon wieder so eine bescheuerte Promi-App runtergeladen?«
»Nein.«
Cinder hob eine Augenbraue.
»Nur eine Sprach-App. Sonst nichts. Und die brauchte ich für die Schule. Oh, bevor ich’s vergesse … Iko, ich hab dir was mitgebracht.«
Iko rollte zu Peony, die ein Samtband aus ihrem Mieder zog, das von der Anprobe übrig geblieben war. Als Iko es sah, wurde es heller im Raum.
»Vielen Dank«, sagte die Androidin, als Peony ihr das Band um das dünne Handgelenk band. »Es ist wunderschön.«
Cinder legte den Portscreen neben Prinz Kais Androidin auf die Werkbank. »Ich sehe ihn mir morgen an. Jetzt müssen wir los, einen Magnetriemen für Ihre Majestät suchen.«
»Oh? Wohin geht ihr?«
»Zum Schrottplatz.«
»Das macht bestimmt total Spaß«, warf Iko ein, die das schlichte Armband immer wieder mit dem Sensor abtastete.
»Wirklich?«, fragte Peony. »Kann ich mitkommen?«
Cinder lachte. »Sie nimmt dich nur auf den Arm. Iko übt sich in Sarkasmus.«
»Ist mir egal. Alles ist besser, als in die stickige Wohnung zurückzugehen.« Peony fächerte sich Luft zu und lehnte sich gedankenverloren gegen einen Stapel Metallregale.
Cinder zog sie von dort weg. »Vorsicht, dein Kleid.«
Peony begutachtete ihren Rock, dann die ölverschmierten Regale. Sie winkte ab. »Im Ernst, kann ich mitkommen? Hört sich spannend an.«
»Hört sich dreckig und stinkend an«, sagte Iko.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Cinder. »Du hast gar keine Geruchsrezeptoren.«
»Ich habe eine phantastische Vorstellungsgabe.«
Grinsend drängte Cinder ihre Stiefschwester zur Tür hinaus. »Na gut, zieh dich um. Aber beeil dich. Ich muss dir was erzählen.«
4
Peony gab Cinder einen Klaps auf die Schulter und hätte sie fast in einen Haufen abgenutzter Androiden-Laufgummis geschubst. »Wie konntest du mir das so lange verschweigen? Du bist doch schon seit mindestens vier Stunden zurück!«
»Ja, ich weiß, tut mir leid«, sagte Cinder und rieb sich die Schulter. »Es gab einfach keine passende Gelegenheit. Ich wollte nicht, dass Adri etwas davon mitbekommt. Sie soll das nicht ausnutzen.«
»Ist doch egal, was Mama denkt. Ich will es ausnutzen. Himmel, der Prinz. An deinem Stand. Ich kann nicht glauben, dass ich nicht dabei war. Warum eigentlich nicht?«
»Du wurdest gerade mit Samt und Seide ausstaffiert.«
»Mist!« Peony trat gegen einen zerbrochenen Scheinwerfer. »Du hättest mir eine Tele schicken müssen. Ich wäre zwei Sekunden später da gewesen, ob das Ballkleid nun fertig gewesen wäre oder nicht. Mist! Ich hasse dich. Jetzt ist es raus. Ich hasse dich. Wirst du ihn wiedersehen? Musst du doch, oder? Ich könnte aufhören, dich zu hassen, wenn du mir versprichst, mich beim nächsten Mal mitzunehmen, okay?«
»Ich hab einen!«, rief Iko, die schon zehn Meter weiter war. Sie tauchte einen verrosteten Hover in ihr Flutlicht, wodurch sich die Schuttberge dahinter in dunkle Schatten verwandelten.