Die Macht der Angst - Shannon McKenna - E-Book

Die Macht der Angst E-Book

Shannon McKenna

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Beschreibung

Der tot geglaubte Kevin McCloud taucht überraschend wieder auf. Lange Zeit hatte er sein Gedächtnis verloren, doch nun kehren langsam seine Erinnerungen zurück. Als er der Comic-Autorin Edie Parrish begegnet, spürt er eine starke Verbindung zu ihr. Doch Edie besitzt eine ungewöhnliche Gabe, die sie vor der Außenwelt geheim hält.


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SHANNONMcKENNA

DIE MACHT

DER ANGST

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Vor achtzehn Jahren gelang es Kevin McCloud, aus dem Versuchslabor des sadistischen Wissenschaftlers Dr. Ostermann zu fliehen. Schwer verletzt und ohne eine einzige Erinnerung an seine Vergangenheit überlebte er nur dank der Hilfe eines alten Mannes namens Tony, der ihn bei sich aufnahm und nach und nach wieder gesund pflegte. Bis heute quälen Kevin Fragen über seine Herkunft, doch die Hoffnung, jemals die Wahrheit über sein früheres Leben zu erfahren, hat er inzwischen aufgegeben. Als er auf die Comic-Romane der erfolgreichen Künstlerin Edie Parrish stößt, traut Kevin daher seinen Augen nicht: Die Hauptfigur sieht ihm nicht nur zum Verwechseln ähnlich – die Geschichten weisen zudem unheimliche Parallelen zu Ereignissen aus Kevins Leben auf. Fasziniert macht er sich auf die Suche nach der Autorin, nur um festzustellen, dass er sie schon einmal gesehen hat: vor langer Zeit in den Laboren des Dr. O! Kevin und Edie spüren augenblicklich eine tiefe Verbundenheit zueinander. Sie beschließen, ihre gemeinsame Vergangenheit aufzurollen und nach Antworten zu suchen. Doch obwohl Dr. O tot ist, verfolgen treue An-hänger seine grausamen Visionen weiter – und sie haben ihre nächsten Opfer bereits auserkoren…

Prolog

1994, Portland, Oregon

Tony Ranieri zog an seiner Zigarette und ließ die altersfleckigen Erkennungsmarken durch seine Finger gleiten. Er hatte keine Geduld für Rätsel. Nicht in Büchern, nicht in der Glotze. Er sah darin nichts als hirnrissige, nervenzermürbende Zeitverschwendung. Und trotzdem konnte er sich diesem nicht entziehen.

Er beobachtete, wie der Junge Desinfektionsmittel in den Eimer gab und sich den Fußboden vornahm. Tony musterte den strähnigen aschblonden Pferdeschwanz, die kräftigen Muskeln, die sich unter dem von ihm geborgten T-Shirt, das dem Jungen zwei Nummern zu groß war, wölbten. Ein erschreckendes Narbengeflecht schlängelte sich spiralförmig über seine Haut. Seine Wunden hatten in jener Nacht vor nunmehr fast zwei Jahren, als Tony den armen Tropf gefunden hatte, noch immer geblutet. Er hatte sich nicht getraut, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, aus Angst, dass die Gangster, die ihm das angetan hatten, nur darauf warteten.

Tony war fest davon ausgegangen, dass sich die Verletzungen infizieren würden. Zudem der Junge innere Blutungen und zig Knochenbrüche davongetragen hatte. Und dann sein Gesicht. Heilige Madonna.

Er hatte sich seelisch darauf eingestellt, den Leichnam heimlich verbuddeln und so tun zu müssen, als habe er den Jungen nie gesehen. Als würde nicht so schon genug auf seinem Gewissen lasten.

Aber der Junge war nicht gestorben. Ohne sich um das Rauchverbot in der Küche des Imbisslokals zu kümmern, zog Tony wieder an seiner Zigarette. Seine Schwester Rosa, dieses kolossale Schlachtschiff von einer Frau, war zwar im Haus, doch sie schlief längst. Sein Großneffe Bruno hatte sich ebenfalls schon vor Stunden ins Bett verkrümelt. Und der Junge würde ihn auf keinen Fall verpfeifen. Er hätte es nicht gekonnt, wenn sein Leben davon abhängen würde. Er konnte Geschirr spülen, Zwiebeln hacken, Teller leer kratzen und kämpfen wie ein wild gewordener Stier, aber er brachte nicht ein einziges verfluchtes Wort heraus.

Er war auch nicht mehr wirklich ein Junge, sondern musste schon um die zwanzig gewesen sein, als Tony ihn fand, doch weil er bis heute noch keinen richtigen Draht zu ihm gefunden hatte, war es bei »der Junge« geblieben. Abgesehen von seiner Schweigsamkeit und seinen Narben ließen sich keine prägnanten Charakteristika an ihm feststellen. Ohne die Narben wäre der Junge so attraktiv gewesen wie ein Filmstar. Dabei konnte er von Glück reden, dass sie ihm sein Augenlicht gelassen hatten. Tony hätte seinen rechten Arm darauf verwettet, dass der Peiniger des Jungen gerade dabei gewesen war, sich dessen Augen und anschließend seine Eier vorzuknöpfen. Er wusste, was solche Sadisten antörnte. Er wusste es nur zu gut.

Aber irgendetwas hatte die Folterorgie unterbrochen. Der Wichser musste beschlossen haben, dem Jungen einfach den Rest zu geben. Ihn totzuschlagen und die Leiche zu entsorgen.

Warum auch immer. Rätsel über Rätsel. Verdammt.

Der Junge unterbrach sein Bodenwischen und schaute über seine Schulter. Er wollte etwas sagen, wollte es unbedingt. Seine grünen Augen brannten vor Dringlichkeit. Doch es kam nichts heraus. Die Drähte waren gekappt. Er war ein Wrack. Es tat weh, ihn anzusehen.

Der Junge ließ die Schultern hängen. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Flatsch. Tunk. Wisch.

Tony schloss die Hand um die Erkennungsmarken und drückte die Kippe aus. Er war ein geradliniger Typ. Töte oder werde getötet, war die Art von Motto, mit dem er sich identifizieren konnte. Unklarheiten störten seine Verdauung. Er hatte die Marken in jener Nacht, als er den Killer verjagt hatte, in der blutdurchtränkten Jeanstasche des Jungen entdeckt. Doch entgegen Tonys anfänglicher Vermutung waren es nicht seine.

Diese Hundemarken gehörten einem alten Soldaten. Aus Tonys Generation. Aus Tonys Krieg.

Tony hatte Nachforschungen angestellt, sich unter seinen ehemaligen Marine-Kameraden umgehört und Geschichten erfahren, die selbst dem abgebrühtesten Haudegen das Blut in den Adern gefrieren lassen würden. Der Name auf dieser Marke säte Angst in den Herzen kampferprobter Männer. Er gehörte einem Scharfschützen, einem Mörder, einem Monster. Man beschuldigte ihn unsäglicher Gräueltaten. Nach Vietnam war er untergetaucht, bevor man ihn vor ein Kriegsgericht stellen konnte. Vermutlich schlitzte er seither im Auftrag von Unterweltgrößen Kehlen auf.

Er musste heute in Tonys Alter sein, hatte wahrscheinlich ein ganzes Team unter sich. Killer, so knallhart wie er selbst oder schlimmer. Schlimmere gab es immer.

Nachdenklich sah Tony dem verlorenen, kaputten Jungen dabei zu, wie er sich über seinen Eimer beugte, dann erneuerte er die Entscheidung, die er jeden Abend traf: Der Junge war nicht in der Verfassung, die Leute, die ihm das angetan hatten, zur Rechenschaft zu ziehen. Sie würden ihn wie einen Käfer zertreten. Er war besser dran, solange er Teller spülte und Böden schrubbte. Tony schaute ihn unverwandt an, während er seine nächste Kippe qualmte. Er hasste dieses nagende Gefühl des Zweifels in seiner Magengrube.

Eamon McCloud. Wer war er für den Jungen? Tony fluchte leise in seinem schweren kalabrischen Akzent, dann schob er die Marken in seine Hosentasche.

Der Name darauf könnte das verkorkste Leben des Jungen vielleicht wieder auf Spur bringen.

Oder er könnte sein Freischein in den Tod sein.

1

Ich bin am Arsch.

Unaufgeregt und wie in weiter Ferne zuckte der Gedanke durch Kevs Bewusstsein. Das Brausen eisigen Wassers toste in seinen Ohren. Der Strom würde ihn in wenigen Sekunden mit sich reißen. Es waren Sekunden, die sich nach dem hämmernden Puls in seinem Kopf bemaßen. Jedes Pochen war wie ein glühender Nadelstich, gleichzeitig lenkte nichts so sehr von einer Migräne ab, wie dem eigenen Tod ins Antlitz zu blicken.

Das Gesicht seines kleinen Engels schob sich vor sein geistiges Auge. Seine Traumgefährtin, sein Schutzgeist. Ihre seelenvollen Augen waren traurig und voller Angst.

Schon seit dem Aufstehen wusste er, dass dies der Tag sein würde. Kev hatte es an diesem Prickeln erkannt, so als würde jemand auf seinen Nacken starren. Allerdings war die Überraschung relativ gering, nachdem er den Tag für adrenalinintensive sportliche Aktivitäten reserviert hatte – seine einzige Freude in dieser Existenz, die sich sein Leben schimpfte. Eigentlich sollte man meinen, dass jeder vernunftbegabte Mensch, der einen Wink aus dem Jenseits erhalten hatte, dass der eigene Tod unmittelbar bevorstand, sich den Tag lieber mit Sitcom-Wiederholungen auf der Couch vertreiben würde. Oder eine Buchhandlung besuchen und sich in Abhandlungen über Wachsamkeit und freiwillige Einfachheit vertiefen. Wahlweise könnte man sich auch, eine Matcha Latte süffelnd, in einem Kino verstecken und sich eine Naturdokumentation reinziehen. Hauptsache, man blieb in Deckung.

Aber so tickte Kev nun mal nicht. Seine funktionstüchtigen, geistig gesunden Hirnzellen hatten sich zu einer Reise ins Weltall aufgemacht. Zusammen mit seinen Erinnerungen und seiner normalen und natürlichen Furcht vor dem Tod. Lebensgefahr? Immer her damit. Er müsste sowieso längst tot sein. Man brauchte sich nur sein Gesicht anzuschauen. Kinder rannten schreiend zu ihren Müttern, sobald sie die verunstaltete Seite sahen.

Die Kälte hatte den Schmerz abgestumpft. Kev fühlte die Hand nicht mehr, mit der er sich an dem Ast des toten Baums festklammerte. Genauso wenig, wie er die mehrfachen Knochenbrüche in seinem anderen Arm spürte. Das versehrte Glied trieb nutzlos auf dem Wasser, ein Spielball des reißenden Flusses, der nur wenige Meter entfernt in die Tiefe stürzte. Die gebrochenen Knochen bauschten den vom Blut rosarot verfärbten Nylonstoff seiner Jacke zeltartig auf. Allerdings bezweifelte Kev, dass er den Arm je wieder brauchen würde, sobald ihn die Strömung über die Kante des Wasserfalls katapultiert hätte.

Und wennschon. Er war bereits vor Jahren komplett zermalmt worden. Hatte von geborgter Zeit gelebt. Ein halbes Leben, auf halber geistiger Drehzahl. Ohne zu wissen, wer er war.

Fang gar nicht erst damit an. Halt einfach die Klappe. Er ließ sich auf selbstmörderische Wagnisse wie dieses nur ein, damit der Adrenalinkick ihn davon abhielt, in Selbstmitleid zu zerfließen. Das allein war der Grund, warum er sich in Steilwände hängte, mit dem Drachen in gefährlichen Luftströmungen aufstieg und Wildwasserrafting über heimtückische Stromschnellen riskierte. Wenn er dem Tod ins Auge blickte, fühlte er sich energiegeladen, verankert im Hier und Jetzt. Beinahe lebendig.

Seit Tony ihn gerettet hatte, hatte er einen Mechanismus entwickelt, der seine emotionale Ebene massiv unterdrückte. Kev schaffte es zu funktionieren, aber mehr auch nicht. Was vermutlich auf das Hirntrauma zurückzuführen war, das seine Amnesie ausgelöst und ihm die Sprache genommen hatte – damals, in den schlechten alten Tagen.

Was immer es war, er hatte die Nase gestrichen voll. Wenn er könnte, würde er zum Militär gehen und Kampfjets fliegen. Nur so zum Spaß. So viel zum Thema Bewältigungsmechanismen. Aber die Armee würde nicht zulassen, dass jemand mit falscher Verdrahtung, einer fragwürdigen Identität und dazu noch einem schwarzen Loch in seinem Gedächtnis mit Hundert-Millionen-Dollar-Spielzeugen herumflog. Stattdessen würden sie ihn Motoren reinigen lassen. Vorausgesetzt, sie nahmen ihn überhaupt. Nein, er würde sich mit hochriskanten Sportarten begnügen müssen. Sie brachten ihm einen ungeheuren Nervenkitzel. Kev war süchtig danach, nach den Farben und Geräuschen. Dem überwältigenden Gefühl, lebendig zu sein, alles bewusst wahrzunehmen. Ohne Panikattacken.

Er hatte sich das hier selbst zuzuschreiben. Jetzt würde er eben den Preis zahlen. Kev starrte auf die Kante des Wasserfalls. Die Tonnen von Wasser, die Dutzende Meter in die Tiefe krachten, ließen Wolken von Sprühnebel aufsteigen. Wie viele Dutzend Meter? Er versuchte, sich zu erinnern. Mehrere Dutzend. Mindestens acht. Yippie.

Nicht, dass er Angst vor dem Tod verspürte. Höchstens Neugier. Bedauern, weil er nun niemals mehr eine Antwort auf die entscheidenden Fragen seiner Existenz bekommen würde, zumindest nicht als lebender Mensch, und wer wusste schon, was danach kam? Kev hatte nie darüber spekuliert. Sein derzeitiges sterbliches Dasein war bereits mit genügend Fragezeichen behaftet und das schon, solange er zurückdenken konnte. Also grob sein halbes Leben. Er wusste nicht, wie alt er war. Tony hatte ihn auf etwa zwanzig geschätzt, als er ihn vor achtzehn Jahren in dem Lagerhaus aus der Gewalt seines Peinigers gerettet hatte. Folglich müsste er inzwischen um die vierzig sein.

Wenigstens würde der Junge es schaffen. Die Massen rauschenden Eiswassers machten Kev bewegungsunfähig, doch aus dem Augenwinkel bemerkte er Aktivität in den Bäumen, die das felsige Ufer säumten. Es wurden Rettungsmaßnahmen eingeleitet. Es waren außer Kev noch andere Leute an der Stelle gewesen, wo er angelegt hatte, als die Jugendlichen die Kontrolle über ihr Schlauchboot verloren hatten und ohne Ruder vorbeigetrudelt waren. Nur ein Mensch mit einem schwarzen Loch im Schädel konnte lebensmüde genug sein, ihnen an diesem Teil der Stromschnellen nachzusetzen, aber Kev hatte sich nicht die Zeit genommen, sich mit dieser unumstößlichen Wahrheit auseinanderzusetzen, sondern war blindlings seinem Instinkt gefolgt.

Er hatte einen langen, aussichtslosen Kampf mit den Naturgewalten geführt, während der Fluss wilder und das Tosen des Wasserfalls lauter geworden war.

Und der Tod grinsend auf ihn wartete. Froh, ihn wiederzusehen. Hallo, alter Freund.

Vielleicht hatte Kev es unterbewusst sogar darauf angelegt gehabt. Bruno warf ihm jedes Mal, wenn er sich solch halsbrecherischen sportlichen Herausforderungen stellte, vor, von einem Todeswunsch beseelt zu sein. Gut möglich, dass er recht hatte. Aber es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vor allem jetzt nicht mehr.

Als er die Jungen erreichte, waren sie bereits gekentert. Er entdeckte einen auf- und abtauchenden Kopf und schaffte es durch reines Glück, einen der beiden aus dem Wasser zu ziehen. Dann stürzten sie in eine Gumpe, sein eigenes Schlauchboot kippte um, und sie wurden wie Zweige hin- und hergeworfen. Kev drückte den prustenden und wild mit den Armen rudernden Jungen an sich, während er sie beide mit aller Kraft über Wasser zu halten versuchte. Er hatte ihn unbedingt retten wollen. Um jeden Preis. Doch jetzt drohte er schlappzumachen. Dabei fühlte er sich seltsam schwerelos.

Der andere Junge war über die Fallkante gestürzt. Das war unendlich grausam, und Kev empfand tiefes Bedauern. Für den zweiten war Hilfe unterwegs, aber die Gier, mit der das Wasser an dem Baum saugte, führte ihm die unerbittliche Wahrheit vor Augen.

Er würde untergehen. Und zwar jeden Moment.

Kev zwang sich, den Kopf zu drehen und zu dem Jungen zu sehen. Er war etwa sechzehn. Wie eine ertrinkende Ratte klammerte er sich an die geschützte Seite des Felsens, der den Wasserfall an der Kante in zwei lange dünne Schwänze teilte, denen er seinen Namen – Schwalbenschwanzfälle – verdankte. Der Druck des Wassers presste ihn gegen das massive Gestein. Er hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber er würde überleben. Das war eine gute Nachricht.

Es war weder ihrer Körperkraft noch ihrer Geschicklichkeit zu verdanken, dass sie an dieser Felsnase Halt gefunden hatten, sondern allein ihrem Glück. Und dann, ebenso unvermittelt: Zack. Das Mistding tauchte so schnell auf, dass Kev den Jungen gerade noch aus der Gefahrenzone stoßen konnte, bevor der Baumstamm gegen ihn krachte, ihm den Arm und Gott allein wusste, was noch in seinem Brustkorb zertrümmerte, sodass er hilflos im Wasser trieb, während der Stamm vertikal auf die Fälle zugeschwemmt wurde, bevor er sich in letzter Sekunde an einem Felsen verfing. Er bildete eine Barriere, einen provisorischen Damm, an dem Kev sich festhalten konnte. Wenn auch nur vorübergehend.

Das Scheißding hatte ihm den Arm gebrochen, nur um ihn anschließend vor dem sicheren Tod zu retten. Aber sobald er freikäme, würde er ihm definitiv wieder den Stinkefinger zeigen. Dieser verfluchte Baum würde dafür sorgen, dass Kev auf ihm über die Fallkante ritt.

Die sich ewig wiederholende Geschichte seines Lebens. Innerlich musste er über diese groteske Ironie lachen. Lief es nicht immer gleich? So war es schon mit Tony gewesen, als der ihn vor einem anderen Verhängnis gerettet und ihn trotz seines Hirntraumas, seiner desolaten körperlichen Verfassung und seiner Sprachlosigkeit bei sich aufgenommen hatte. Er hatte ihn gegen Kost und Logis in seinem Imbisslokal Teller spülen und Böden schrubben lassen. Nachts hatte Kev in dem schimmligen, fensterlosen Kabuff, das ihm als Quartier diente, auf seiner durchhängenden Pritsche gelegen und der Wandfarbe beim Abblättern zugesehen. Und das verfluchte Jahre lang.

Tony war sein Rettungsseil gewesen. Dasselbe Seil, das ihn anschließend stranguliert hatte. Es hätte komisch sein können. Nur war es das nicht.

Der Baum würde jeden Augenblick in die Tiefe stürzen. Die elastischen Äste, die sich auf der anderen Seite in den Felsen verfangen hatten, drohten unter dem Druck des reißenden Gewässers nachzugeben, das sie höhnisch dazu drängte, endlich zu kapitulieren. Der Stamm rollte und rüttelte, während sich die Strömung gnadenlos gegen ihn stemmte.

Jeden Moment würde es so weit sein. Kev wappnete sich, versuchte, sich zu konzentrieren, sich bereitzuhalten und weiterzuatmen. Ein schwieriges Unterfangen. Er bibberte vor Kälte, war ringsum von Wasser umgeben. Der Junge riss den Mund auf und beschwor Kev verzweifelt, irgendetwas zu unternehmen. Als hätte er einfach gegen den Strom anschwimmen können, selbst wenn er nicht verletzt gewesen wäre. Er hatte nicht mehr Kraft als eine beschädigte Puppe. Mit einem finalen Ruck der reißenden Wogen kam der Baum ächzend frei. Die behäbige Zeitlupe, in der das geschah, dehnte die letzten Sekunden, in denen Kev sich an ihm festklammerte, grausam lange aus.

Er setzte alles daran, bei Bewusstsein zu bleiben. Ihm stand sein letzter wilder Ritt bevor. Er sollte ihn besser genießen. Kev fragte sich, ob er nach seinem Tod endlich wissen würde, wer er gewesen war. Was er getan, wen er gekannt hatte. Wen geliebt.

Wahrscheinlich nicht. Das hier war alles, was er bekommen würde. Es würde genügen müssen.

Gurgelnd zog die Strömung ihn unter den Baumstamm, dann spuckte sie ihn hinaus in die unermessliche Weite. Über ihm und unter ihm nichts als Leere. Er überschlug sich.

Der Engel füllte sein ganzes Bewusstsein aus. Diese großen, grauen Augen, die schmerzliche Zärtlichkeit darin. Kev verspürte einen scharfen Stich des Bedauerns, den er nicht verstand. Dann sah er ein anderes Gesicht, das ihn missbilligend anblickte, während die unveränderlichen Gesetze der Physik sich erbarmungslos an ihm austobten. Ein Gesicht, das ihn jede Nacht in seinen Träumen besuchte. Das eines jungen Mannes, seine Züge quälend vertraut.

Kev erinnerte sich plötzlich, dass er noch an diesem Morgen im Traum mit ihm gestritten hatte. Der Mann hatte ihm die Leviten gelesen. »Der Tod ist einfach. Das hast du mir selbst gesagt. Das Leben ist die eigentliche Herausforderung. Schwachkopf. Heuchler. Du widerst mich an.«

Darum hatte er gewusst, dass der heutige Tag gefährlich werden würde.

Ein Teil seines Bewusstseins jauchzte vor irrationaler Freude, als die eiskalte, mit Sprühnebel vermischte Luft über sein Gesicht rauschte. Wow. Dieser Ritt machte Spaß. Ein anderer Teil dachte über die Beschleunigungsrate fallender Objekte, über Scherwinde und die zu erwartende Kraft seines Aufpralls auf den Felsen unter ihm nach. In diesem letzten, endlosen Moment errechnete er sie bis zur zehnten Ziffer hinter der Dezimalstelle …

Dann stürzte er in das leere, weiße Nichts.

Der Teufel sollte sie holen, diese begriffsstutzige, bescheuerte, nichtsnutzige Kuh.

Ava Cheung konzentrierte sich wieder, bis jeder Gedanke laserscharf war. Unendlich viel Information strömte durch das menschliche Nervensystem, damit sich der Körper geschmeidig bewegen konnte. Das Meiste davon war reiner Automatismus. Wie viel, konnte man sich gar nicht vorstellen, bis man versuchte, die eigenen Impulse auf einen fremden Körper zu übertragen, während man gleichzeitig dessen freien Willen mithilfe des eigenen unterdrückte. Mandys Reaktionen waren erbärmlich. Ein unbeholfenes Schlurfen, mehr nicht. Ava bekam das Mädchen einfach nicht dazu, den Mund zu schließen und ihn geschlossen zu halten. Ihr Sabbern machte sie rasend, der Anblick war umso grotesker angesichts Mandys aufreizender Schönheit, wenngleich ihre dicht bewimperten blauen Augen leer wirkten hinter der Brille und ihre Pupillen infolge der für das X-Cog-Interface benötigten Drogen stark erweitert waren.

Ava war froh, dass die Durchführung eines X-Cog-Interface ein Können voraussetzte, das vergleichbar mit dem perfekten Beherrschen eines Musikinstruments war. Es erforderte höchste Konzentration, die Person, die die Sklavenkrone trug, so zu steuern, dass sie sich natürlich bewegte und artikulierte. Man konnte zwar die Drogendosis erhöhen und damit den Widerstand der Testperson verringern, aber damit würde sich in weniger als einer Stunde ihr Hirn verflüssigen. Nein, man musste ein Virtuose sein wie Ava – und natürlich wie Dr. O.

Allerdings machte das das X-Cog-Interface wirtschaftlich weniger rentabel. Wer war schon bereit, so viele Stunden aufzuwenden, um eine neue Fähigkeit zu erlernen? Die meisten Menschen waren faule, verachtungswürdige Blindgänger. Für sie mussten die Dinge einfach sein.

Ava war fest entschlossen, das X-Cog jedem zugänglich zu machen, der über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügte, und Mandy war der x-te Versuch, dieses Ziel zu erreichen. Aber ein Virtuose brauchte nun mal ein anständiges Instrument, um darauf zu spielen, und nicht ein abgenutztes, unempfängliches Stück Dreck.

Ava riss sich die Masterkrone vom Kopf und schleuderte sie unsanfter, als im Hinblick auf ihre Entwicklungs- und Herstellungskosten ratsam war, auf den Tisch. Die stromlinienförmige Silberkappe unterschied sich drastisch von Dr. Os schwerem, klobigem Prototypen, von dem Ava Spannungskopfschmerzen bekommen hatte. Dr. O hatte keinen Sinn für ästhetische Gesichtspunkte gehabt. Er war ein Mann der Resultate gewesen.

Die neue, elegante Optik war Avas eigenes Design. Alles Essenzielle war vorhanden, doch das Endergebnis bestach durch ein federleichtes Zusammenspiel flexibler Drähte und Sensoren auf einer fast gewichtslosen Netzkappe. Sowohl Master- als auch Sklavenkrone waren so gefertigt, dass sie problemlos unter einem Hut, einem Tuch oder einer Perücke versteckt werden konnten.

Doch bei Mandy war Avas Brillanz vergeudet. Diese Versagerin würde auf direktem Weg in den Schredder wandern. Das Mädchen wimmerte, als Ava ihm Brille und Helm vom Kopf zerrte und dabei ganze Büschel langer blonder Haare ausriss. Wütend nahm Ava ihre eigene Schutzbrille ab. Dieses hirnlose, unfähige Schaf. Das X-Cog-Interface bei ihr zu versuchen, war, als sendete man Nervenimpulse durch einen Lehmklumpen.

Ava strich sich das glänzende schwarze Haar nach hinten, dann musterte sie Mandy, die mit offen stehendem Mund auf puddingweichen Beinen schwankte. Das Mädchen trug den silbernen Elastan-Sport-BH und die Shorts, die Ava als uniformelle Bekleidung ihrer Probanden in Auftrag gegeben hatte. Sie wollte, dass die Mädchen gut und aufreizend aussahen. Aber der Speichel, der Mandy vom Kinn troff, war alles andere als sexy.

Der Gesichtsausdruck des Mädchens widerte sie an. Ava verpasste Mandy eine schallende Ohrfeige. Mit verdatterter Miene taumelte sie gegen den Tisch.

Ava schlug sie wieder, härter diesmal. Und noch einmal. Klatsch. Klatsch. Blut sickerte aus Mandys Nase und aus ihrer gespaltenen Lippe. Sie hob die Hände, versuchte, ihr Gesicht zu schützen. Ava drosch auf ihre Ohren und auf ihren Hinterkopf ein, bis das Mädchen nach vorn torkelte und auf die Knie stürzte.

»Hör auf, Ava. Das sind Millionen von Dollar, die du da zusammendrischst.«

Sie fuhr herum und bedachte den Mann, der gerade ins Zimmer gekommen war, mit giftigem Blick. »Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Des.«

Desmond wies mit dem Kinn in Mandys Richtung. »Sie ist meine Angelegenheit.«

»Sie ist ein wertloses Stück Scheiße«, zischte Ava.

»Lass deinen Frust nicht an ihr aus.« Sein arroganter, besserwisserischer Ton weckte in ihr das Bedürfnis, ihm mit einem Messer eins seiner blauen Augen herauszupulen. »Du dachtest, du könntest eine direktere Kontrolle über die Sklaven-Krone bekommen, indem du die Verbrennungen intensivierst und zugleich die Menge der Drogen verringerst. Du hast dich geirrt. So was passiert. Es war ein Irrtum. Er wird dir nicht noch einmal unterlaufen. Finde dich damit ab, Ava, und brich zu neuen Ufern auf.«

»Aber der Grundansatz ist perfekt! Nächstes Mal werde ich eine Neukalibrierung der –«

»Nein.« Die scharfe Entgegnung nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Wir haben den Punkt, an dem wir unsere Maßnahmen verringern sollten, schon vor Wochen erreicht. Kein Schneiden mehr, und auch kein Brennen.«

Es hatte keinen Sinn, mit Des zu streiten, wenn er diesen Ton anschlug. Er war derjenige mit dem Geld und den Kontakten, er finanzierte diese ganze Show, seit Dr. O den Radieschen beim Wachsen zusah. Aber an die Grenzen ihrer Macht über ihn zu stoßen, verhagelte Ava wie immer gewaltig die Laune. Sie trat Mandy brutal ins Gesäß. Das Mädchen kippte mit einem jämmerlichen Ächzen nach vorn. »Halt mir keine Vorträge«, sagte sie säuerlich. »Ich bin es, die sich mit solch stinkendem Abschaum abgeben muss, um Testpersonen aufzutreiben! Ich verschwende meine kostbare Zeit damit, mich mit Ecstasy-Huren wie dieser hier rumzuplagen, anstatt mich auf meine Forschung zu konzentrieren!« Sie versetzte Mandy einen weiteren Kick; das Mädchen wimmerte. »Ich muss diesen nervtötenden Scheiß endlich an jemanden delegieren können!«

»Ich versuche mein Bestes, Baby, trotzdem verstehe ich nicht, warum du so versessen darauf bist, die Probanden aufzuarbeiten. Ich genieße es viel mehr, diejenigen meinem Willen zu unterjochen, die nicht geschnitten oder gebrannt wurden. Es ist ihr innerer Widerstand, der die Sache so aufregend macht, findest du nicht?«

Ava schnaubte verächtlich. »Hier geht es nicht um Nervenkitzel. Du hast noch nie versucht, eine Testperson zu etwas Komplexerem zu zwingen als dazu, dir den Schwanz zu lutschen. Versuch mal, jemanden dazu zu bringen, eine Reihe von Codes einzugeben, dann siehst du schon, wie weit du kommst. Um ein Mädchen dazu zu nötigen, dir einen zu blasen, musst du ihm nur eine Zwanzig-Dollar-Knarre an die Schläfe halten. Dafür braucht man keine X-Cog-Krone im Wert von zehn Millionen Dollar. Mein Ziel ist es, das X-Cog an Rüstungskonzerne zu verkaufen. Verstehst du? Ziehen wir noch immer an einem Strang?«

»Fellatio ist ein ziemlich komplexer motorischer Prozess.« Des klang ein wenig verschnupft. »Vor allem, wenn man an Händen und Füßen gefesselt ist.«

Ava verdrehte die Augen. »Bitte. Überlass die Neurowissenschaft mir.«

Er winkte ab und wechselte das Thema. »Ich habe gute und schlechte Nachrichten.«

»Die schlechten will ich gar nicht erst hören«, bemerkte sie gereizt.

»Dann verrate ich dir die guten zuerst.« Er stupste Mandy nachdenklich mit dem Zeh an. »Wir benötigen stetigen Nachschub an hochqualitativen, handverlesenen Laborratten. Außerdem müssen wir uns wegen der Entsorgungsproblematik etwas einfallen lassen. Erinnerst du dich noch an Tom Bixby, von der Oase?«

Ava zog eine Grimasse. Bixby war eins von Dr. Os reichen Schoßhündchen gewesen. Er hatte Ostermans Programm zur Steigerung des Gehirnpotenzials nicht nur überlebt, sondern sogar davon profitiert. Anschließend war er mit Des nach Harvard gegangen. Ava würde seine lüsternen Blicke und grapschenden Hände nie vergessen. »Ein arrogantes Arschloch, wenn ich mich richtig entsinne. Das ist also dein brillanter Vorschlag?«

»Er leitet inzwischen sein eigenes, militärisch ausgerichtetes Unternehmen. Bixby Enterprises. Die Firma ist sehr einflussreich. Ich denke, das X-Cog dürfte äußerst interessant für ihn sein. Zudem würde uns der Umstand, dass er dem Club O angehört, mehrere zusätzliche Sicherheitsbarrieren garantieren.«

Ava schürzte die Lippen. »Trotzdem ist er ein ausgemachter Wichser.«

Des rollte ungeduldig die Augen. »Spiel nicht die verwöhnte Göre. Ihm eine Partnerschaft anzubieten würde unsere Probleme mit einem Handstreich lösen.«

»Und uns viele andere bescheren.«

Desmonds Blick wurde hart. »Ich habe einen Demo-Termin mit ihm vereinbart. Du wirst ein braves Mädchen sein, Ava.«

Witzig, wie er plötzlich den Macho herauskehrte. Sie zur Ordnung zu rufen versuchte. Sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Erzähl mir die schlechten Nachrichten«, verlangte sie. »Vielleicht muntern die mich ja auf.«

Mit geblähten Nasenflügeln und geröteten Wangen starrte er sie an. Ihre Verärgerung machte ihn geil. Eine Reaktion, die Ava häufig zu ihrem Vorteil nutzte. »Ich habe heute an einer Vorstandssitzung der Parrish Foundation teilgenommen«, erklärte er schließlich. »Parrish macht genau da weiter, wo dieses Miststück von seiner Ehefrau aufgehört hat. Linda zu verlieren hat ihn für eine Weile außer Gefecht gesetzt, aber die Party ist vorbei, die Gäste haben den Pool verlassen. Er hat ein Team auf Finanzkriminalität spezialisierter Analytiker angeheuert, um jedem Penny nachzuforschen, den die Parrish Stiftung in den vergangenen drei Jahren ausgegeben hat, und sämtliche zukünftigen Projekte auf Herz und Nieren zu überprüfen. Mit dem Freibrief ist es vorbei.«

»Oh Gott«, stöhnte Ava. »Dabei stehe ich so kurz vor dem Durchbruch.«

»Ich weiß. Aber was können wir tun? Er ist ein ebenso scharfer Hund wie diese Furie, die sich seine Ehefrau schimpfte, möge sie in der Hölle schmoren. Nach dem Riesenskandal um Dr. O wollen die Sittenwächter weitere peinliche Eskapaden tunlichst vermeiden.«

»Diese beschissenen Heuchler. ›Auch Helix war ein Opfer‹«, spottete sie.

Des betrachtete das stöhnende Mädchen zu seinen Füßen. »Diese Ausraster machen keinen guten Eindruck, Ava. Warte damit, bis wir uns eine etwas geheimere Einrichtung leisten können. Allerdings wird das erst passieren, wenn wir den Vorstand in der Tasche haben.«

»So lange kann ich nicht warten! Außerdem wird niemand sie vermissen. Sie ist nur ein billiges Flittchen, das ich vom Boden einer Toilette in einem Tanzschuppen aufgekratzt habe. Kein Wunder, dass sie ein solcher Rohrkrepierer ist.« Sie kickte Mandy in die Nieren. »Ich benötige besseres Rohmaterial.«

»Zuerst brauchen wir eine verlässliche Finanzierung.« Desmonds Stimme war streng. »Außerdem jemanden, der uns mit Laborratten versorgt und den Müll gefahrlos für uns entsorgt. Die Parrish Foundation beobachtet uns mit Argusaugen. Es ist zu riskant.«

»Charles Parrish streicht seit Jahren Hunderte Millionen für medizinische Patente ein«, beklagte Ava sich verbittert. »Als ob es ihn je interessiert hätte, wo der Gestank herkam, bevor er seine Nase direkt in die Scheiße gerieben hat.«

»Zum Glück setzt er sich zur Ruhe. Ich werde bei dem Bankett anlässlich seiner Pensionierung eine arschkriecherische Ansprache für diesen Geizkragen halten. Ich könnte gähnen vor Langeweile.«

»Er setzt sich zur Ruhe? Das ist gut.«

»Das kann man so oder so sehen. Denn damit hat er nur umso mehr Zeit, seiner obsessiven Kontrollsucht, was die Forschungsgelder der Stiftung betrifft, zu frönen.«

Ava quittierte das mit einem strahlenden Lächeln. »Dann bringen wir ihn eben um.«

Des reagierte perplex. »Aber das würde unser Problem nicht lösen.«

»Nein? Du sitzt doch im Vorstand, zudem hast du die letzten beiden Mitglieder persönlich ausgewählt, nachdem wir uns um Linda gekümmert hatten. Wenn Parrish tot ist, wird der Rest von ihnen für die vierhunderttausend im Jahr, die Stadionloge, den Learjet und die gesponserten Luxusurlaube alles tun, was du verlangst. Sie sind wie Lemminge. Es ist das reinste Kinderspiel, Dessie.«

Er grunzte. »Das wohl kaum. Du darfst dir das Ganze nicht zu einfach vorstellen.«

»Aber es ist einfach«, insistierte Ava. »Wir eliminieren die scharfen Hunde und stellen uns einen handverlesenen Vorstand zusammen. Wir kreieren die perfekte Tarnung in Form von unverfänglichen, blitzsauberen Produktenwicklungsresultaten, auf die sie alle stolz sein können. Dann schöpfen wir einen gewissen Prozentsatz der Erträge ab und lassen sie in unsere eigentliche Forschung fließen, so, wie Dr. O es getan hat. Mit dem feinen Unterschied, dass wir es nicht verbocken und zulassen, dass uns das Ganze um die Ohren fliegt.«

Des wirkte noch nicht völlig überzeugt, aber er tat den Vorschlag auch nicht kurzerhand ab.

»Wer erbt das Parrish-Vermögen, wenn er stirbt?«, wollte Ava wissen.

Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Seine jüngere Tochter, Ronnie. Sie ist dreizehn. Edie, die ältere, war zusammen mit uns auf der Oase, erinnerst du dich? Eine Brillenschlange mit Drahtfresse. Das Programm zur Kognitionsförderung hat bei ihr volles Rohr versagt. Wenn ich mich recht entsinne, hat sie es nie in den Club O geschafft. Hatte einfach nicht das Zeug dazu.«

Ava nickte. Ja, sie erinnerte sich an die stille Edie. Sie hatte zu den Privilegierten gehört, genau wie Des. Reiche Kinder, denen man die verweichlichte Version von Dr. Os Psychospielen hatte angedeihen lassen, damit sie bessere Zensuren nach Hause brachten. Ava hasste die verzogene kleine Schlampe dafür.

»Wer bekommt das Erbe, falls Ronnie etwas passiert?« Ihre Stimme klang nun härter.

»Ava, bitte«, murmelte Des. »Wir können nicht jeden in Sichtweite umbringen.«

»Wer?«, beharrte sie.

Er zuckte die Achseln. »Die Stiftung, nehme ich an. Ich weiß, dass Edie aus dem Testament gestrichen wurde, weil ich meinen Vater und Charles dabei belauscht habe, wie sie über sie sprachen. Er hat ihr die persönlichen Mittel gestrichen und eine komplette Enterbung vorbereitet. Das war vor mehreren Jahren.«

»Was hat sie angestellt? Drogen genommen? Zu viel gefeiert? Mit den falschen Männern gevögelt?«

Des schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist einfach nur seltsam. Charles schämt sich für sie, und das erträgt er nicht. Sie hatte, nun ja, gewisse Probleme. Du weißt schon …« Er ließ den Zeigefinger an seiner Schläfe kreisen. »Mich überrascht das nicht, nachdem sie einer von Dr. Os Blindgängern war. Die meisten von ihnen sind schon vor Jahren kollabiert.«

Ava tippte sich an die Lippe. »Dr. O war derart besessen davon, mit Edie Parrish ein Interface zu machen, dass er fast am Rad gedreht hat«, sagte sie. »Sie hatte die perfekten Testergebnisse dafür, nur leider war sie Charles Parrishs geliebtes Töchterchen. Osterman musste sie mit Samthandschuhen anfassen und sich auf sein standardisiertes Kognitionsförderungsprogramm beschränken. Es hat ihn schier verrückt gemacht.«

Sie behielt den Rest des Gedankens für sich. Wie sie, Ava, die Hauptlast von Dr. Os Frustration hatte tragen müssen. Er hatte es an ihr ausgelassen. Darum hatte sie allen Grund, diese verlogene kleine Parrish-Prinzessin zu verabscheuen.

Des schaute sie verblüfft an. »Was fand er so faszinierend an ihr? Was ließen die Testergebnisse und Kernspintomografien denn erkennen?«

Avas Lächeln war voll Bitterkeit. Des konnte manchmal ein entsetzlich ignoranter Vollidiot sein. »Sie entsprachen exakt meinen eigenen«, erklärte sie mit leiser Stimme.

Seine Miene war noch immer verständnislos. »Soll heißen?«

Sie seufzte. »Ich war sein bestes Interface. Abgesehen von Kev McCloud natürlich. Wir sind die Einzigen, die nicht an einer Gehirnblutung verendeten. Einige überstanden es ein paar Tage, aber nur McCloud und ich waren hinterher wieder einsetzbar. Nur so habe ich überlebt, anstatt zusammen mit den anderen im Schredder zu landen.« Mit einer anmutigen Geste strich sie sich die Haare zurück. »Hübsch zu sein erwies sich ebenfalls als Vorteil.«

Des stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. »Hm. Ich verstehe. Nun, das tut mir leid.«

Sein geheucheltes, oberflächliches Mitgefühl trieb sie zur Weißglut. »Nein, das tut es nicht. Es geht dir am Arsch vorbei, und genau so wollen wir beide es haben«, fauchte sie. »Kev McCloud war der Grundstein von Dr. Os Forschung. Ohne ihn wäre das X-Cog überhaupt nie geboren worden. Darum hat Osterman unentwegt nach Testergebnissen gesucht, die seinen ähnelten – wahlweise meinen. Und Edie Parrish konnte sie vorweisen. Das ist alles.«

Des ließ ein zweifelndes Grunzen hören. »Kev McCloud hat es geschafft, zu fliehen und das gesamte Projekt zu ruinieren. Wie es scheint, müssen in dem perfekten Interface ein paar faustdicke Lücken geklafft haben. Und dann hat sein Zwillingsbruder Sean Dr. O gezwungen, sich eigenhändig die Kehle aufzuschlitzen. Du erinnerst dich? Das sollte dir zu denken geben, Ava.«

Zu denken? Am liebsten hätte sie schallend gelacht. Sie hatte deswegen jahrelang Albträume gehabt und sich unablässig das Gehirn zermartert, wie Sean McCloud es angestellt hatte. Nachdem es ihr nicht gelungen war.

Wie zur Hölle hatte er das gemacht? Sie selbst hatte so viele Jahre als Dr. Os Sklavenkronen-Mädchen fungiert. Missbraucht als eine Marionette, während sie unentwegt von Knochen zermalmenden Hammerschlägen, zustechenden Messern, hackenden Beilklingen geträumt hatte. Von Strömen arteriellen Bluts. Ihre Hände begannen zu zittern, wenn sie nur daran dachte.

Ava blockte diese gefühlsmäßige Erinnerung automatisch ab, um wieder funktionieren zu können. »Die McClouds sind Freaks. Edie wird anders sein. Sie ist weiblich, künstlerisch begabt, kreativ. Schüchtern, mit einer introvertierten Persönlichkeit. Dank ihres Vaters vermutlich sogar ein emotionales Wrack, was unseren Zwecken absolut zupass käme. Sie wird ein braves kleines Mädchen sein und mir bestimmt nicht die Kehle durchschneiden.«

Desmonds blaue Augen wurden schmal. »Was wird das hier? Gerade noch wolltest du sie töten, und jetzt willst du ihr die Sklavenkrone aufsetzen?«

»Zuerst die Krone, anschließend töte ich sie«, sagte Ava beschwingt. »Man sollte Ressourcen nicht unnötig verschwenden.«

Des schaute vielsagend zu Mandy, die sich auf dem Boden wiegte und dabei am Daumen nuckelte. »Das ist für dich keine Verschwendung?«

Ava knirschte mit den Zähnen. »Nein. Das ist für mich ein einkalkuliertes Risiko. Also, was werden wir wegen Parrish unternehmen?«

Er wirkte ratlos. »Keine Ahnung«, murmelte er. »Ich weiß es einfach nicht.«

Sie seufzte. Des war gelegentlich furchtbar schwer von Begriff. »Des, Schätzchen, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Er will in Rente gehen, nicht wahr? Ein Risikoalter für einen Mann. Ich spreche von gesundheitlichen Problemen, chronischen Schmerzen. Von Trauer und Einsamkeit. Zudem musste er letztes Jahr einen schweren Verlust verkraften. Die arme Linda. Er muss angeschlagen sein. Depressiv. Und dann noch seine Tochter, mit ihren psychischen Problemen. Ach, herrje. Wie bedauernswert. Und dann hat er sie auch noch enterbt. Sie muss sehr böse auf ihn sein. Bestimmt fühlt sie sich betrogen. Vielleicht lässt sie sich sogar zu einem …« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, »… Mord hinreißen?«

Desmonds Miene ließ erkennen, dass er langsam zu begreifen begann. »Ja, das wäre gut möglich. Es würde niemanden überraschen. Er ist ja auch wirklich ein selbstgerechter, aufgeblasener Geizhals. Es ist ein Wunder, dass ihr nicht schon jemand zuvorgekommen ist.«

»Wie überaus tragisch«, fuhr Ava betrübt fort. »All die Jahre, in denen er sich für die Firma, die Gemeinschaft aufgeopfert hat … und nun muss es so enden, ermordet von seinem eigen Fleisch und Blut. Das ist wie bei Shakespeare.«

»Trotzdem bleibt Ronnie zu berücksichtigen, falls du dich auf das Geld beziehst«, wandte Des ein. »Ronnie wäre die Erbin seines –«

»Edie muss schrecklich eifersüchtig auf ihre jüngere Schwester sein«, fuhr Ava verträumt fort. »Daddys kleiner Liebling, nicht wahr? Ich wette, Edie liegt nachts wach und tüftelt an einem Plan, wie sie dieses eingebildete, selbstherrliche kleine Miststück am besten ins Jenseits befördert. Also murkst sie die Schwester ab, anschließend begeht sie Selbstmord. Es ist entsetzlich. Es ist einfach der Hammer.«

Des lachte leise. »Ich liebe es, was dein Gehirn so alles ausbrütet«, sagte er mit unverhohlener Bewunderung. »Dein wahnsinniges Genie kennt einfach keine Grenzen.«

»Bis auf die, die du mir mit deiner Zimperlichkeit setzt.« Ava trat das Mädchen, das in Embryonalstellung auf dem Boden kauerte, in die Rückseite des Oberschenkels. »Entsorge diesen Müll für mich. Ich bin es leid, sie anschauen zu müssen.«

Sein Lächeln erstarb. »Ich erledige keine Schmutzarbeit, Ava«, knurrte er. »Auch wenn ich weiß, dass es dich antörnen würde.«

»Dann besorg uns mehr Geld. Das würde mich ebenfalls antörnen. Denk in größeren Dimensionen. Ist es nicht das, was Dr. O uns gelehrt hat?« Ava leckte sich über die glänzenden roten Lippen – eine bewusste Geste, um Des scharfzumachen – und schlenderte zu der Chaiselongue. »Zersprenge die Ketten deiner Vorstellungskraft, hat Dr. O immer gesagt. Denk darüber nach. Die vollständige Kontrolle über die Parrish Foundation. Und dazu noch Parrishs Privatvermögen. Seine vielen Milliarden, investiert in das X-Cog, mit einer tausendprozentigen Rendite. Wäre das nicht einfach … geil?«

Sein Lächeln brachte seine perfekten Zähne zum Vorschein. Desmond Marr, zukünftiger Präsident von Helix. Harvard-Absolvent. Gehätschelter Prinz. Avas persönlicher Sklave.

Auch Des war einer von Dr. Os Zöglingen gewesen, allerdings hatte er, der Sohn des Mitbegründers von Helix, Raymond Marr, die Oase von einer wesentlich angenehmeren Seite kennengelernt. Des war ein verwöhntes Schoßtier gewesen, eine Perserkatze mit Diamanthalsband. Desmond hatte niemals die Erfahrung eines Sklavenkronen-Interface machen müssen.

Ava hatte zu der anderen Kategorie von Schoßtieren gezählt, den herrenlosen, hungrigen Streunerkatzen. Sie hatte, genau wie der Rest der jugendlichen Ausreißer, die sich aus Prostituierten, Junkies und Punks zusammensetzten, für ihren Aufenthalt bezahlen müssen. Sie war unter jenen gewesen, mit denen Dr. O nach Herzenslust experimentieren konnte, um messbare Ergebnisse zu erhalten. Helix begründete sich auf ihrer aller Qualen.

Genauer gesagt auf ihren Gebeinen. Denn sie waren alle tot. Alle, bis auf Ava. Und vielleicht noch Kev McCloud. Er könnte irgendwo dort draußen überlebt haben.

Des war seit Jahren ihr Liebhaber, schon seit dem Tag, an dem sie sich auf Dr. Os Oase des Schreckens kennengelernt hatten. Der Funke war sofort übergesprungen, denn sie hatten vieles gemeinsam. Aber gewisse Dinge würde Desmond niemals verstehen. Wenn man nie ein Sklave gewesen war, wie konnte man dann wissen, was es hieß zu dominieren? Ein privilegierter Junge wie er, mit Milliarden im Hintergrund, könnte das niemals begreifen. Es war eine unüberwindbare Schranke zwischen ihnen. Leider.

Aber man musste Ava nur ansehen. Sie war nicht an einer Gehirnblutung verreckt, so wie der Rest der Laborratten. Sie war etwas Besonderes, und Dr. O hatte das erkannt. Von einer zur Sklavin auserkorenen Zombie-Hure war sie zu Dr. Os krönendem Erfolgsbeweis aufgestiegen. Sie hatte die intensivsten und drastischsten seiner kognitionsfördernden Techniken über sich ergehen lassen. Er hatte ihr beigebracht, die X-Cog-Masterkrone zu bedienen, und ihr weitere Studien ermöglicht, sodass sie heute mehrere Diplome in Neurowissenschaft und Biotechnik vorweisen konnte. Mit Dr. O als ihrem Mentor hatte sie fast ebenso viele Produkte für Helix’ biowissenschaftliche und nanotechnologische Sparten entwickelt wie Dr. O in all den Jahren selbst. Er war hart mit ihr umgesprungen, doch dabei hatte er sie zu etwas Besonderem gemacht.

Manchmal vermisste sie diesen entarteten, sadistischen Psychopathen sogar. Es war schön, jemanden zu haben, der stolz auf einen war. Der einen anerkannte.

Selbst wenn er dir dabei die Knochen brach, die Glieder abhackte und dein Blut trank. Dich zu Staub zertrat und zu Asche verbrannte.

Des streichelte seine Erektion und starrte dabei auf Avas straffen, kurvigen Körper, ihre Titten. Er warf einen verunsicherten Blick zu dem Mädchen auf dem Boden.

»Ignorier sie einfach«, meinte Ava. »Ich werde ihr später eine Injektion geben und sie in die Kühlkammer packen, nachdem du dir ja deine lilienweißen Hände nicht schmutzig machen willst.«

Seine Wangen röteten sich. Ihre Schelte steigerte seine Lust, aber sie durfte es nicht übertreiben, andernfalls würde die Situation ausarten. Des war groß, stark, extrem schnell, und er besaß eine böse Ader, die sehr tief reichte.

»Keine Bemerkungen mehr über die Schmutzarbeit«, knurrte er.

»Oh, Dessie«, schnurrte sie mit kehliger Stimme. »Ich liebe es, wenn du streng wirst.«

»So, tust du das? Dreh dich um, dann zeige ich dir, wie streng ich sein kann.«

Ava spürte die aufgeheizte Stimmung und zögerte. Das Timing musste perfekt sein. Sie drehte sich betont langsam um und streckte sich auf der Chaiselongue aus. Ihr knapper Minirock verbarg kaum die Stellen, die sie stets rasiert, parfümiert und schlüpferlos hielt. Allzeit bereit. Es war eine alte Konditionierung, die sich schwer ablegen ließ. Sie räkelte sich, dabei begutachtete sie ihr Spiegelbild in den silbern glänzenden Aktenschränken ihr gegenüber. Ihre schwarzen Haare wippten, ihre roten Lippen standen einen Spaltbreit offen. Sie sah gut aus, befand sie zufrieden. Gefährlich und unberechenbar. Höllisch sexy.

Beim Näherkommen öffnete Des erst seinen Gürtel, dann seine Hose. Er brachte seinen überdurchschnittlich großen Schwanz zum Vorschein, auf den er so stolz war.

Er schob Avas Rock hoch, spreizte ihre Beine und befingerte ihre Öffnung. Mit theatralischem Enthusiasmus wand sie sich keuchend unter seinen forschenden Händen. Sein Ego war so groß, dass er ihr die Nummer jedes Mal wieder abkaufte, ganz egal, wie sehr sie überzog. Männer.

Er stieß seine Hand tiefer, dann knurrte er: »Du bist klatschnass.«

In Wahrheit war sie von den Prügeln, die sie Mandy verabreicht hatte, erregt, aber Ava sah keinen Sinn darin, ihm das auf die Nase zu binden. Abgesehen davon konnte sie auf Kommando feucht werden. Sie wusste, an welche abartigen Dinge sie denken musste, um scharf zu werden.

»Das habe ich allein dir zu verdanken.« Sie ließ ihre Stimme tremolieren, um eine verborgene Verletzlichkeit anzudeuten und ihn weiter anzustacheln, damit er sich wie der König fühlte, der glaubte, sie mit seinem pochenden Zepter unterwerfen zu können.

Er umfasste ihre Pobacken und drang in sie ein. Ava stöhnte wollüstig, als er zuzustoßen begann. Dies war der ermüdende Teil. All dieses Sich-Winden und Keuchen. Des war relativ ausdauernd, darum dauerte es eine ganze Weile, ehe er sich zu kommen gestattete. Ironischerweise schrieb Avas persönliche Politik vor, ihn für diese Qualität zu loben, obwohl sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

Aber sie stand es durch, indem sie sich in diesen vertrauten Zustand schwebender Ablösung versetzte, ihr geheimer Rückzugsort, wann immer sie Sex über sich ergehen lassen musste. Sie ließ gerade genug von sich zurück, um eine überzeugende Show abzuliefern, während der Rest ihres überdurchschnittlich funktionstüchtigen Hirns auf Hochtouren arbeitete. Es war mit der Vorbereitung des nächsten X-Cog-Interface beschäftigt.

Zu schade, dass der Proband nicht Edie Parrish höchstpersönlich sein konnte.

Der Gedanke bescherte ihr einen Ansturm echter sexueller Hitze, der sie überraschte. Wow. Sie hatte Des auf ihre Seite gezogen, indem sie sich seine Schwachstelle zunutze machte, und war dabei selbst in Fahrt geraten. Sie betrachtete es als kleinen Bonus. »Ist sie hübsch?«, gurrte sie.

»Wer?«, grunzte er, während seine Hüften gegen ihre Kehrseite klatschten. »Wen meinst du?«

»Edie Parrish. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Ist sie hübsch?«

Seine Stöße wurden langsamer. »Was weiß ich? Ich schätze schon. Sie ist groß, hat lange Haare, trägt eine scheußliche Brille. Sie macht nichts aus sich. Aber sie hat ansehnliche Titten. Warum interessiert dich das?«

Ava wandte den Kopf um und schaute ihn mit vor Lust wildem Blick an. »Wenn wir sie in unsere Gewalt bringen, will ich ihr die Krone aufsetzen. Und es mit dir tun. Durch sie.«

Des geriet dermaßen aus dem Konzept, dass er vergaß, sich zu bewegen. »Was?«

»Sie wird das beste Interface aller Zeiten werden.« Ava schob das Becken nach hinten, um seinen Schwanz wieder in sich aufzunehmen. »Viel besser als alle anderen. Ich werde sie in eine unersättliche Nymphomanin verwandeln. Ich werde sie Dinge tun lassen, die du dir nicht mal in deinen kühnsten Träumen ausmalen könntest.«

»Ich verfüge über eine ziemlich ausgeprägte Vorstellungskraft«, warnte er sie.

Sie drehte den Kopf wieder zu ihm und lächelte. »Dinge, die ich meinem eigenen Körper niemals zumuten würde«, erklärte sie zuckersüß. »Wilde, perverse, schmutzige Dinge.«

Des rammte so hart in sie hinein, dass sie ein gequältes Keuchen unterdrücken musste. »Du bist eine niederträchtige Hexe«, sagte er mit bewundernder Stimme.

»Danke.« Sie drehte sich um und wappnete sich gegen jeden einzelnen Stoß, wobei sie wimmernde, katzenartige Laute von sich gab. Sie hatte ihn an der Angel. Jetzt würde er alles daransetzen, um es wahr werden zu lassen. Als ihr stürmischer Ritt in die Endphase eintrat, stellte Ava überrascht fest, dass ihre Fantasie bezüglich eines X-Cog-Dreiers mit der willenlosen Edie Parrish in der Hauptrolle … ihr einen explosiven Orgasmus bescherte.

Er zog beim Laufen eine Blutspur hinter sich her. Überall schockierte Gesichter, Münder, die ein entsetztes O formten, Menschen, die panisch zurückwichen. Niemand stoppte seinen verzweifelten Sprint zum Büro des Mannes. Sie mussten die Wahrheit erfahren, dafür sorgen, dass das Töten ein Ende fand.

Doch der Mann hörte nicht zu. Er reagierte angewidert, erschrocken. Kev hatte gedacht, dass das Blut und die Verbrennungen genug sein würden, um seine Behauptungen zu belegen.

Ein Irrtum. Er hatte die Leute zu Tode verängstigt. Seine blutenden Wunden hatten sie die Scheuklappen aufsetzen lassen. Denn er war der lebende Beweis dafür, dass es eine Hölle auf Erden gab.

Es kam zu einem Kampf, aber Kev war geschwächt von den Drogen, der Folter. Er schleuderte einen der Kerle durch das Fenster, aber es waren zu viele. Sie überwältigten ihn. Schleiften ihn weg. Dann sah er den kleinen Engel.

Wie absurd, in der Hölle einen Engel zu erblicken. Er war zierlich, perfekt und einer sonnenbeschienenen Wolke gleich in strahlendes Weiß gehüllt. Ein heller Glorienschein krönte sein Haar. Das engelsgleiche Mädchen schaute ihn mit furchtlosen, unergründlichen Augen an; es sah kein Monster, wie aus einem Albtraum entsprungen, sondern wirklich ihn. Sie verlor sich in der Ferne, als sie ihn abführten. Ihr mitleidiger Blick ruhte weiter auf ihm, während er sich verzweifelt den Hals verrenkte, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Er rief nach ihr, aber sie war zu weit weg –

Kev rang nach Luft, fühlte den scharfen Übergang zwischen Träumen und Wachen, doch die Erinnerung an seinen kleinen Engel verweilte. An diese unergründlichen, sanften Augen. An den Mann, den er um Hilfe angefleht und der ihn im Gegenzug angebrüllt hatte, still zu sein, zu verschwinden, ihn in Ruhe zu lassen. An den Sicherheitsdienst, der ihn weggebracht hatte. Und an einen Namen. Jemand schrie einen Namen. Den des Monsters, das gestoppt werden musste.

Osta… Ostamen …?

Dann war er weg. Verdammt. Er verflüchtigte sich wie Nebelschwaden.

Kev schnappte nach Luft, durchstöberte sein Hirn nach dem Namen. Das hier kam ihm vor wie … verdammt, es kam ihm vor wie eine Erinnerung. Nicht wie ein Traum, sondern wie eine Erinnerung.

Aufregung durchströmte ihn. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Das Licht blendete ihn. Der Geruch von Desinfektionsmitteln malträtierte seine Nase. Sein Kopf pochte, sein Innerstes war in Aufruhr. Undefinierbare Geräusche hämmerten gegen seinen Schädel.

Kev unternahm einen weiteren Versuch, die Augen zu öffnen und den Kopf zu wenden. Ohne Erfolg. Auf seine Lider drückte ein Gewicht. Sein Körper war wie aus Blei. Seine Anstrengung, sich zu bewegen, verursachte … Schmerz. Unbeschreiblichen, verzehrenden Schmerz, wie er ihn nicht mehr empfunden hatte, seit –

Sein Bewusstsein zuckte vor dem Gedanken zurück, als hätte er einen Hochspannungszaun berührt. Nein, es war eine Erinnerung. Er hatte eine verfluchte Erinnerung berührt. Oh Gott. Und sie tat weh. Die Erinnerung tat weh. Kev versuchte, sich zu beruhigen. Atme.

Was zur Hölle passierte gerade mit ihm? Er war vor Angst wie von Sinnen. Die Geräusche und Gerüche waren entsetzlich intensiv. Er wollte schreien, sich zusammenkrümmen, weinen. Sich verstecken.

Instinktiv nahm er Zuflucht zu der Vision seines kleinen Engels. Seinem magischen Talisman. Die sanften grauen Augen betrachteten ihn ruhig. Weise und freundlich. Er hielt sich an ihm fest, bis die Panik nachließ. Der kleine Engel ließ ihn nie im Stich. Er hatte Kev vor all diesen Jahren aus seiner Verwirrung, seiner sprachlosen Dunkelheit geholfen. Zurück in eine relative Normalität, in der er funktionieren konnte. Seine akustische Wahrnehmung kehrte zurück. Er bekam wieder Luft.

Stimmen. Ton, der leiser und lauter wurde. Er strengte die Ohren an, um etwas zu verstehen.

»… keine Anzeichen für frühere physische Hirntraumata, die eine Erklärung für die Amnesie liefern könnten«, sagte eine männliche Stimme. »Wie lautete damals seine Diagnose? Wo wurde er behandelt? Ich würde gern mit seinem Arzt sprechen.«

Es entstand eine lange Pause. »Er war nicht in Behandlung«, antwortete eine gedämpfte Stimme.

Eine Stimme, die er kannte. Kev versuchte von Neuem, die Augen zu öffnen. Vergeblich. Er schien gelähmt zu sein.

Bruno. Das war der Name des Mannes. Bruno. Brunos Gesicht, Brunos Geschichte glitten an ihren Platz in seinem Gedächtnis. Es war eine ungeheure Erleichterung. Bruno Ranieri. Sein Ziehbruder. Tonys Großneffe. Tony Ranieri. Das Imbisslokal. Rosa. Okay. Er hatte es. Er wusste jetzt, wer er war. Halbwegs.

Kev. Kev Larsen, so nannte er sich, wann immer jemand sich die Mühe machte, ihn danach zu fragen. Er klammerte sich an diesen Namen, so es denn sein richtiger war, wie an einen Rettungsanker.

»Aber er … er muss offensichtlich einen schrecklichen …« Der fast hysterisch klingende erste Mann verstummte für einen kurzen Moment. »Was um alles in der Welt ist ihm zugestoßen?«

Eine weitere zögerliche Pause. »Wir wissen es nicht.«

»Wie bitte?«, fragte der andere ungläubig.

»Wir wissen es einfach nicht«, wiederholte Bruno abwehrend. »Mein Onkel hat ihn damals so gefunden. Er war gefoltert worden, keine Ahnung, von wem oder warum. Er weiß es selbst nicht. Wie schon gesagt: Er konnte nicht sprechen. Noch Jahre später nicht.«

»Und er weiß noch nicht einmal, was –«

»Nein«, fiel Bruno ihm unwirsch ins Wort. »Er hat null Erinnerung.«

»Also ist sein Name … seine ganze Identität …«

»Reine Erfindung, ja. Sie ist gerade achtzehn geworden«, vollendete Bruno ironisch. »Seine frühere Identität ist unbekannt.«

Es trat Stille ein. »Nun … das ist unfassbar. Wurden Nachforschungen angestellt? Haben Sie die Polizei eingeschaltet oder einen Privatdetektiv?«

»Zum damaligen Zeitpunkt wollte mein Onkel nicht nach den Kerlen fahnden, die ihn so zugerichtet hatten«, entgegnete Bruno. »Ich meine, sehen Sie ihn doch nur an.«

»Ja, das kann ich nachvollziehen«, murmelte der Mann. »Es ist grauenhaft.«

Endlich gelang es Kev, die Augen zu öffnen. Die Helligkeit attackierte seinen Sehnerv und bohrte sich wie ein rot glühendes Eisen bis in sein Gehirn. Der Schmerz war entsetzlich. Überall grelle Lichter, piepende Geräte.

Er war bewegungsunfähig. Gefangen in einer Starre absoluter Agonie. Angst türmte sich in ihm auf, als er auf den Wellen des Schmerzes durch sein Innerstes getragen wurde, einer Erinnerung entgegen, die ein tödliches Geheimnis für ihn bereithielt. Kev zuckte zusammen, als jemand ihn berührte und ihm die Wange tätschelte.

»… Sie mich hören? Kev? Hören Sie uns?«

»He, Kev!« Brunos Stimme. »Wach auf, Mann. Ich bin’s! Bist du wach?«

Kev blinzelte nach oben ins Licht. Das aufgeregte Stimmengewirr war tierisch laut, es sprengte ihm schier die Schädeldecke weg. Die Helligkeit tat weh, so weh …

Patsch. Patsch. Patsch. Das sanfte, unablässige Klatschen an seiner Wange hallte in seinem Kopf wider und verursachte ihm weitere Pein. Wieder zwang er sich zu blinzeln.

Jung, gut aussehend. Dunkle lockige Haare, engstehende Augen, die auf ihn hinabblickten. Ein weißer Arztkittel. Ein lächelndes, selbstzufriedenes Gesicht. Patsch. Patsch. Patsch.

Wahnsinnige Augen, in denen die Flammen der Hölle tanzten. Ein nasser roter Mund, ein irres Grinsen, das sich in sein Gehirn fraß. Kev wurde gestoßen, seine Glieder verrenkt. Er versteckte sich vor dem abartigen Troll. Besser, sich in einem Loch zu verkriechen und dort elendig zugrunde zu gehen, als wieder seinen Geist vergewaltigen zu lassen von diesem … diesem –

»Os… ter… man«, zwang er die Silben aus seinem Mund. Osterman.

Nein. Osterman würde ihm nie wieder Folterqualen zufügen. Niemals wieder.

»Was war das?« Von Ostermans Reißzähnen tropfte Blut, sein heißer Atem stank nach Schwefel. »Haben Sie etwas gesagt? Versuchen Sie es noch einmal! Wir hören Ihnen zu.«

Sich Schläuche und Infusionsnadeln aus dem Körper reißend, sprang Kev mit einem Wutschrei aus dem Bett. Er stürzte sich auf diesen Satan Osterman und warf ihn zu Boden.

Wie ein Berserker brüllend, packte er den Kerl am Schlafittchen und prügelte auf ihn ein. Plötzlich spürte er kalte Fliesen unter seiner Wange. Hände, die ihn festhielten, ihn von seiner Beute loseisten, und dann – oh nein – den Stich einer Nadel.

Er war zurück in seinem Verlies. Seinem einzigen Versteck, tief verborgen im dunkelsten Winkel seines Bewusstseins. Ohne Licht. Die Tür fest verrammelt.

Schaufelweise prasselte die Erde auf seinen mentalen Fluchtort, bis die Finsternis absolut war.

2

Den Blick auf den Eingang des Restaurants und die dämmrige Straße dahinter fixiert, nippte Edie Parrish an ihrem Rotwein. Noch immer nichts zu sehen von der aufrechten Gestalt ihres Vaters oder auch nur seinem Mantel, der um seine Beine schlug. Bewusst ließ sie die Anspannung aus ihrer Brust, ihrem Gesicht, ihren Händen herausströmen, indem sie gleichmäßig ein- und wieder ausatmete. Das Essen würde gut verlaufen. Ihr Vater selbst hatte um das Treffen gebeten. Sie würde es als Friedensangebot werten. Ihr blieb keine andere Wahl.

Weil sie Ronnie verzweifelt wiedersehen wollte. Sie verzehrte sich danach. Und ihr Vater war der Hüter des Schlüssels zu diesem Turm. Es war sein wirksamstes Instrument, um seine unbezähmbare Tochter zu kontrollieren, und er benutzte es gnadenlos, bestrafte sie für jedes vermeintliche Fehlverhalten, indem er sie von ihrer jüngeren Schwester fernhielt. Die Brillanz dieser Strategie lag in ihrer Einfachheit.

Hätte es Ronnie nicht gegeben, hätte Edie schon vor Jahren die Flucht angetreten.

Sie schluckte den gallebitteren, alten Zorn runter. Vielleicht würde ihr heute Abend irgendeine geniale Idee einfallen, um ihn zu überzeugen. Vielleicht würde ihr Dad seine Meinung doch noch ändern. Ihr blieb nur die Hoffnung.

Edie ließ sich gegen die Rückenlehne sinken, dann vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, bevor sie mit einem Anflug von Scham dem Impuls nachgab und in dem kleinsten ihrer Skizzenbücher bis zu einer Seite blätterte, auf der noch Platz war. Der Diskretion halber ließ sie die Haare vors Gesicht fallen, dann nahm sie ihre Observierung der anderen Gäste wieder auf. Ihr Blick wurde weich, als sie winzigste Details registrierte, die ihr Bewusstsein nicht für wichtig genug erachtete, um sie zu bemerken. Das Ganze konnte ihr Ärger einbringen, das wusste sie, trotzdem erlag sie der Versuchung. Wann immer sie Menschen beobachtete, juckte es sie in den Fingern, ihren Füller oder Bleistift zur Hand zu nehmen. Sie wusste, dass sie dafür einen Preis würde zahlen müssen, doch es gab einen Teil in ihr, dem das völlig schnuppe war. Und dieser Teil siegte immer.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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