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Ein unbekannter Brandstifter zerstört Olivia Endicotts Buchladen in einer Kleinstadt in den Bergen von Washington. Kurz darauf taucht der attraktive Sean McCloud in der Stadt auf, in den Liv einst verliebt war und für den sie immer noch tiefere Gefühle hegt. Schon bald zeigt sich, dass der Brand in Livs Buchladen kein Zufall war. Jemand hat es auf ihr Leben abgesehen, und Sean ist überzeugt, dass der Schuldige der Mörder seines Zwillingsbruders ist. Sean und Liv stellen weitere Nachforschungen an. Gemeinsam kommen sie einem grauenhaften Geheimnis auf die Spur ...
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Seitenzahl: 729
Titel
Prolog
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Impressum
Shannon McKenna
Roman
Ins Deutsche übertragen vonPatricia Woitynek
Prolog
Gordon sah seine aufgezeichnete Seifenoper, während er wie nach jedem Job zur Entspannung seine Waffen reinigte, auch wenn er sie bei seinem heutigen Auftragsmord gar nicht benutzt hatte. Wann immer er die Augen schloss, trieben Bilder von blutüberströmten Leichen an ihm vorbei und erinnerten ihn an den erweiterten Suizid, den er an diesem Tag inszeniert hatte. Alberne Soaps funktionierten am besten, um seine überstrapazierten Nerven zu beruhigen.
Beruflicher Stress. Ein beschissener Nebeneffekt, aber er hatte gelernt, damit umzugehen.
Die heutigen Abendnachrichten hatten reißerisch die schockierende Geschichte des berühmten Kardiologen aus Seattle gebracht, der unter dem Druck seiner Arbeit zusammengebrochen war, seine wunderschöne Frau sowie die beiden jungen Söhne ermordet und anschließend seinem eigenen Leben ein Ende gesetzt hatte. Entsetzlich. Tragisch. Fast wären Gordon die Tränen gekommen.
Allerdings würde die zweite Teilzahlung seines Honorars sie sehr schnell trocknen. Alles in allem war es ein befriedigender Tag gewesen.
Als eine Schauspielerin schluchzend ihre bislang geheim gehaltene Schwangerschaft beichtete, griff er nach der Fernbedienung und spulte zu den Lokalnachrichten vor. Und das war der Moment, in dem er sie sah. Ein purer und völlig absurder Zufall.
Eine heiß-kalte Schockwelle durchlief ihn. Er hatte dieses perfekte Gesicht erst ein einziges Mal gesehen – vergrößert durch das Zielfernrohr eines Scharfschützengewehrs.
Gordon würde diese großen, versonnen blickenden Augen niemals vergessen. Sein Herz hämmerte wie wild.
Die Sendung war ein öder Beitrag über das Revitalisierungsprojekt in der historischen Altstadt von Endicott Falls. Ein forscher Moderator interviewte Gordons verschollenes Mädchen über ihren neuen Buchladen mit angegliedertem Café. Gordon griff zum Telefon und wählte. Seine Hände zitterten vor Aufregung.
Der Mann, der abnahm, verschwendete keine überflüssigen Worte. »Ja?«
»Ich habe das Mädchen gefunden. Das aus dem Mitternachtsprojekt-Desaster.«
Es trat eine verblüffte Pause ein. »Bist du dir ganz sicher?«, fragte sein gelegentlicher Arbeitgeber. »Nach fünfzehn Jahren? Sie war noch ein Teenager.«
Gordon verzichtete darauf, die beleidigende Frage zu beantworten. »Willst du herausfinden, wie viel sie weiß, bevor ich ihr das Licht ausblase?« Sein Blick schweifte über die üppigen Kurven seines verloren geglaubten Mädchens. »Ich werde sie verhören. Kostet nichts extra.«
Der andere Mann stöhnte. »Denk nicht mal daran, dich an ihr auszutoben. Das Ganze liegt Jahre zurück. Bring es einfach zu Ende. Aber sorge zuvor dafür, dass es eine polizeiliche Akte über sie gibt. Ein paar schmutzige Briefe, ein totes Haustier. Wenn du sie am Ende aus dem Weg räumst, wird niemand überrascht sein.«
Ha! Als müsste ihm jemand sagen, wie er seine Arbeit zu erledigen hatte. Gordon legte auf, spulte die Aufnahme zurück und studierte ihr Gesicht. Süß wie ein Gänseblümchen – zumindest wirkte sie so. Doch er kannte die Wahrheit. Sie war hinterhältig. Selbstsüchtig. Was sie ihm angetan hatte. War ihm einfach entwischt. Hatte sich ihm fünfzehn lange Jahre entzogen und seinen professionellen Ruf schwer beschädigt. Wie ein Geschwür brach stinkend und eitrig der Zorn in ihm auf. Er suhlte sich in dem heißen, brennenden Schmerz. Gab sich ihm hin. Seht euch nur dieses böse, verdorbene Mädchen an. Sie hatte all die Zeit über ihn gelacht und gedacht, dass sie ihn ausgetrickst und gewonnen hätte.
Selbstzufriedenes Miststück! Sie würde bald erfahren, wie sehr sie sich geirrt hatte.
Er fror das Bild ein und legte einen Finger an ihren Hals, zeichnete die lachende Sichel ihres verachtenswerten,rosafarbenen Mundes nach und stellte sich seine heiße Nässe vor. Die Elektrizität des Fernsehers knisterte an seiner Fingerspitze.
Das würde sehr amüsant werden.
1
Er hatte diesen Traum so oft, dass er einem Déjà-vu-Erlebnis gleichkam. Sein Zwillingsbruder Kevin saß auf dem Felsen hinter dem Haus und sah genauso aus wie kurz vor seinem Tod: einundzwanzig Jahre alt, sonnengebräunt, in abgeschnittenen Jeans und Flipflops. Aschblonde Haare, die er eigenhändig mit der Küchenschere gestutzt hatte. Sein Grübchen, das tief in sein Gesicht gemeißelt war, als lachte er über irgendeinen Insiderwitz, den Sean niemals verstehen würde.
»Du bist tot«, knurrte Sean. »Ist es zu viel verlangt, dass du endlich mit diesem Scheiß aufhörst und mich in Ruhe lässt? Geh ins Licht, oder wohin auch immer du verdammt noch mal gehen solltest. Verzieh dich endlich!«
Ich will doch nur helfen, meinte Kevin nachsichtig. Du könntest ein wenig Unterstützung gebrauchen. Du spülst dich selbst den Abfluss runter, Bruder. Gurgel, gluck und Tschüss.
»Du kannst mir nicht helfen!«, brüllte Sean. »Du bist tot! Mich weiter zu foltern, bringt nichts! Es hilft mir nicht! Und das wird es auch nie!«
Kevin zeigte sich unbeeindruckt. Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen. Seine Geisterstimme nahm diesen irritierenden Tonfall an, in dem Kev immer mit seinem labileren Zwilling sprach. Du musst etwas wegen Livs Auto unternehmen. Sie ist …
»Vergiss Liv! Hör auf, mich zu quälen! Lass mich allein!«
Allein … allein … allein. Das Echo begleitete ihn während des Aufwachens, und es gab keine Möglichkeit, zu entkommen. Er musste sich immer wieder von Neuem damit auseinandersetzen. So, als wäre es gerade erst passiert.
Ja, es war ein neuer gottverdammter Tag. Ja, Kevin war noch immer tot. Und ja, Kevin würde auch tot bleiben. Unwiderruflich.
Es wäre so viel einfacher, das zu akzeptieren, wenn sein Zwillingsbruder diese geisterhaften Besuche einstellen würde. Aber das sollte Kevin mal jemand erklären. Dieser starrsinnige Idiot.
Das Licht drang durch seine verklebten Lider. Sean riskierte einen blinzelnden Blick. Ein unbekanntes Zimmer. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 12:47 Uhr an. Die Fakten stürmten auf sein gemartertes Hirn ein. Erdrückend und kalt wie eine Lawine überrollte ihn die Realität.
Ein weiterer Fehlschlag. Sein alljährlicher Versuch, den 18. August aus dem Kalender zu streichen, war wieder mal gescheitert. Er war ein hirnloser Optimist, dass er es jedes Jahr wieder versuchte. Der Wecker sprang klickend auf 12:48 Uhr um. Es blieben noch elf Stunden und zwölf Minuten dieses beschissenen Tages, die er durchstehen musste.
Er wollte sich umdrehen, als sein Bein mit einem seidigen Oberschenkel kollidierte. Der Winkel zwischen diesem Schenkel und dem Hinterteil war anatomisch nicht möglich.
Er zwang sich, die Augen scharf zu stellen. Oh, richtig. Da war mehr als ein Paar weiblicher Beine. Die Lichtstreifen, die durch die Jalousien hereinfielen, erschwerten es ihm, das Wirrwarr schlanker Gliedmaßen zu sortieren.
Zwei Mädchen lagen überkreuz im Bett – eines blond, das andere brünett. Hübsche Pobacken, alle von ihnen. Rund und glatt wie Enteneier. Das Gesicht der Brünetten wurde von einer dichten Mähne dunkler Haare verdeckt. Der Kopf der Blondine steckte unter dem Kissen, nur ein paar vereinzelte lockige Strähnen lugten hervor.
Er streichelte den Hintern, der ihm am nächsten war, während er das Zimmer mit einem Blick nach Beweisen absuchte, dass er geschützten Sex gehabt hatte. Eine, zwei, drei … und sogar noch eine vierte Kondomverpackung lagen auf dem Nachttisch. Allem Anschein nach war er seiner heiligen männlichen Pflicht gegenüber den schlafenden Zuckerpuppen nachgekommen – sehr gut.
In unzusammenhängenden Bruchstücken kam die Erinnerung zurück. Stacey. Die Blondine war Stacey. Die Brünette hieß Kendra.
Vorsichtig schlüpfte er aus dem Bett. Er wollte die Mädchen nicht wecken, ganz egal, wie rund und rosig ihre Pobacken waren. Er war heute nicht in Stimmung, den heiteren Charmeur zu geben.
Er ließ den Blick über sie schweifen und versuchte, den Impuls nachzuvollziehen, der ihn letzte Nacht in ihre Arme getrieben hatte. Vermutlich war es die Brünette gewesen. Mit diesen küssenswerten Grübchen am Kreuz konnte er sich beinahe einreden, sie wäre Liv.
Nicht, dass er je Livs nackten Hintern gesehen hätte. Er hatte sich darauf beschränkt, sie aus der Ferne anzuschmachten, wie die erhabene, jungfräuliche Göttin, die sie war. Wenngleich er ihr bei einer Gelegenheit seine Verehrung ziemlich gründlich mit seinem Finger gezeigt hatte.
Sein Schwanz hüpfte aufgeregt wie ein Welpe, wann immer er an diese warme Sommernacht zurückdachte, als er sie in dem Raum mit den historischen Geschichtsbüchern in die Ecke gedrängt und seine Hand unter ihren Rock geschoben hatte. Er erinnerte sich an ihre Enge, die zart und fest seinen Finger umschlossen hatte. Daran, wie sie die weichen Schenkel gegen seine Hand gepresst hatte. An die erstickten, hilflosen Laute, die sie von sich gegeben hatte, als sie gekommen war.
Der Geruch alter Bücher ließ ihn bis heute hart werden.
Diese Vergnügungsreise in die Vergangenheit bescherte ihm nun trotz seines beachtlichen Katers eine gewaltige Erektion. Er massierte seinen geschwollenen Ständer und betrachtete dabei den appetitlichen Hintern der Brünetten. Beinahe war er versucht, sich einen Gummi überzuziehen, die Augen zu schließen und …
Herrgott, nein. Er schüttelte den Kopf über diese miserable Idee, dann erstarrte er, als mit der Wucht eines großen chinesischen Gongs zur Strafe ein grauenvoller Schmerz durch seinen Schädel wummerte. Autsch. Fünfzehn Jahre, und er trauerte dem Mädchen noch immer hinterher.
Es hätte komisch sein können, wäre es nicht so verdammt armselig gewesen.
Sean rieb sich die pochende Stirn und spielte das Liv-Video in seinem Kopf ab. Er hatte ihr einen Gefallen damit getan, ihr den Laufpass zu geben, bevor er irgendetwas unverzeihlich Dummes tun konnte – wie zum Beispiel, sie zu heiraten, dem Äquivalent dazu, sich vor ihr auf die Knie zu werfen und ihr persönlicher Fußabtreter zu werden. Er hätte sich ins Zeug gelegt, um ein guter Junge zu sein, nur um am Ende doch zu scheitern. Kummer, Leid, Demütigung und der ganze Kram. Er kannte sich damit so gut aus, dass es ihn anödete.
Trotzdem sah er noch immer den Ausdruck in ihren Augen, als er ihr gesagt hatte, dass sie sich verpissen solle. Er sah ihn jede Nacht um vier Uhr früh, ganz egal im Bett welchen Mädchens er aufwachte. Und immer spürte er diese verdammte Leere in seiner Magengrube, wenn er an den größten Fehler seines Lebens zurückdachte. Der Fehler, der ihn zu dem Menschen gemacht hatte, der er nun war.
Sean warf einen letzten Blick auf den hinreißenden Po der Brünetten und seufzte. Er musste Hunderte von Mädchen gevögelt haben, um dieses eine aus dem Kopf zu bekommen. Bisher zwar ohne Erfolg, aber nun ja. Er war nicht der Typ, der so schnell aufgab.
Er fühlte sich von seinem eigenen Körper hintergangen. Die Mengen Tequila, die er sich letzte Nacht hinter die Binde gegossen hatte, hätten einen längeren Gedächtnisschwund garantieren müssen. Vielleicht sollte er sich mit einer gröberen pharmazeutischen Keule eins überbraten. Nur waren harte Drogen nicht sein Ding. Die Verzweiflung, die den Leuten anhaftete, die sie vertickten und konsumierten, war eine wirkungsvolle Abschreckung. Er mochte noch nicht mal Alkohol sonderlich. Er brachte ihn dazu, sich auf peinlichste Weise zu blamieren. Nicht, dass es ihm selbst viel ausgemacht hätte, in Ausnüchterungszellen oder in Notaufnahmen aufzuwachen, aber es nervte seine Brüder ohne Ende. Inzwischen waren sie nämlich aufrechte, respektable Familienmenschen, Stützen der Gesellschaft. Mit Brief und Siegel mit ihren hübschen Ehefrauen verheiratet. Und bald schon würden sie ihre Familien erweitern.
Connor und Erin hatten bereits losgelegt. Nur noch vier Monate bis zum Stichtag. Ein Baby, wow. Onkel Sean. So ein freudiges und normales Ereignis. Als wären seine Brüder nicht in derselben irren Parallelwelt aufgewachsen wie er. Die wilden Söhne des verrückten Eamon.
Schlimmer noch war dieses neue Familienphänomen, mit dem er sich plötzlich konfrontiert sah: ein Rudel besorgter Schwägerinnen, die sich zusammengerottet hatten, um ihn dazu zu bringen, sich zu öffnen und teilzuhaben. Gott bewahre! Sie waren klasse Frauen, und es war süß von ihnen, sich zu sorgen, aber das ging zu weit.
Seine Jeans lagen, unter allerlei Reizwäsche vergraben, auf der Designercouch. Eine weitere Kondomverpackung flatterte zu Boden, als er die Hose herauszog. Sean grunzte unbeeindruckt und durchwühlte seine Taschen.
Typisch. Dem Aussehen der Mädchen nach zu urteilen, hatte er seine Taxi-Notreserve verprasst, um ihnen ein paar Drinks zu spendieren. Also saß er ohne eine Transportmöglichkeit fest, wo zur Hölle auch immer. Sich zuzudröhnen, konnte manchmal echt üble Folgen haben.
Ein Abstecher zum Klo förderte zwei weitere Kondomverpackungen zutage. Also hatte er am Waschbecken und/oder in der Dusche Sex gehabt. Beim Pinkeln starrte er auf die Folienfetzen und versuchte, sich an sein aquatisches Abenteuer zu erinnern. Er fühlte sich schmutzig.
Nicht, dass er moralische Probleme mit einem anonymen Dreier hätte. Ganz im Gegenteil. Frauen waren immer köstlich. Nur her damit. Er war heute einfach nur zutiefst deprimiert. Und es würde noch schlimmer werden.
Das Gesicht, das ihm aus dem Badspiegel entgegenstarrte, war vertraut und fremd zugleich. Es war auch das Gesicht seines eineiigen Zwillingsbruders, wie Kevin jetzt hätte aussehen können. Sie waren sich nicht ganz so ähnlich gewesen wie manch andere Zwillingspaare, aber Seans eigenes Abbild war noch immer sein bester Anhaltspunkt. Die oberflächlichen Details waren identisch: der muskelbepackte Körper, plus/minus die eine oder andere Narbe, und das wellige aschblonde Haar, das in seinem Fall in letzter Zeit struppig geworden war. Dazu das Spiegelbild von Kevins Grübchen in seiner eigenen stoppeligen Wange.
Heute war in dem grimmigen Gesicht, das ihm entgegenblickte, kein Grübchen zu sehen. Unter seinen Augen schimmerten blassviolette Ringe, die seine hellgrünen Iriden seltsam ausgewaschen wirken ließen. Die tiefen Mulden unter seinen Wangenknochen erweckten den Eindruck, als wären sie mit einem Beil hineingehackt worden. Er sah grau aus in dem ungnädigen Licht. Bleich wie ein Zombie oder wie eine Gestalt, mit der man Kinder erschreckte, damit sie sich gut benahmen.
Wenn er am 18. August in einen Spiegel blickte, war er gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, wie sehr sein Gesicht Kevins glich – und wie sehr es das eben auch nicht mehr tat. Es war nach fünfzehn Jahren des Raubbaus härter und kantiger geworden. Er hatte einen Fächer von Blinzelfalten um seine Augen herum und Kerben um seine Mundwinkel.
Im Laufe der Jahre würde die Ähnlichkeit weiter verblassen, bis Sean irgendwann ein verknöcherter, zahnloser, jammernder alter Kauz wäre, der mehrere Male die Spanne von Kevins kurzem Leben gelebt hatte. Ein gähnender Abgrund ungezählter Jahre.
Er riss den Medizinschrank auf und nahm den Inhalt in Augenschein.
Excedrin – gegen den Kopfschmerz. Sean schüttelte vier heraus, warf sie sich in den Mund, kaute, schluckte. Er beugte sich vornüber, lehnte seine pochende Stirn an das kühle Porzellan und stieß einen langen Schwall von Obszönitäten aus.
Es war einfach zum Kotzen. Hätte die Zeit seine Wunden nicht heilen müssen? War das nicht ein natürlicher Prozess, vergleichbar mit einer Kontinentalverschiebung? Er bemühte sich so sehr loszulassen, aber dieses gottverfluchte Gefühl kreiste über ihm wie ein Aasgeier, der nur darauf wartete, ihm die Augen auszupicken und sich an seinem Fleisch gütlich zu tun. Manchmal wollte er sich einfach auf den Rücken legen und dem alten Geier den Gefallen tun.
Und so fing es an. Das gluckernde Geräusch, mit dem Sean sein Leben den Abfluss runterspülte.
Er musste unbedingt hier raus. Sich ohne Kaffee und den Austausch von Nettigkeiten davonzuschleichen, war nicht die feine englische Art, aber besser verschwinden als zuzulassen, dass sich die charmante Sexmaschine von letzter Nacht vor den Augen der Mädchen in einen grunzenden Zombie verwandelte.
Als er vorsichtig an seinen Achseln schnüffelte, hätte es ihn fast umgehauen. Trotzdem war eine Dusche zu riskant. Das Gleiche galt für Kaffee, entschied er voll Bedauern, während er einen sehnsüchtigen Blick auf die glänzende Hightech-Kaffeemaschine in der Küche warf. Das Bohnenmahlwerk würde die beiden Honigbienen wecken, und dann säße er in der Patsche. Er wäre genötigt zu lächeln, zu plaudern, ihnen seine Telefonnummer zu geben.
Er stolperte nach draußen in ein nichtssagendes Wohnviertel. Ohne Geld, ohne Brieftasche. Er verließ am Abend vor dem 18. August das Haus immer ohne Kreditkarten oder irgendetwas, auf dem seine Adresse stand. Nur Bargeld und Kondome. Auf der Suche nach zuckenden Lichtern, dröhnender Musik, Sex, Tanzen, Alkohol – alles, was eine höhere Erkenntnisfunktion abtötete, war ihm recht.
Eine Prügelei half auch, vorausgesetzt, es fand sich jemand, der dumm genug war, sich mit ihm anzulegen. Er liebte eine ordentliche Schlägerei.
Da er keine Ahnung hatte, welche Richtung er einschlagen sollte, entschied er sich blindlings für eine leicht abschüssige Straße. Bergauf zu laufen, würde seinen Herzschlag beschleunigen, und jedes Ba-bumm grub sich schon jetzt in sein Hirngewebe wie der Schlag eines Hammers.
Nach unten. In den Abfluss, wie Kevin ihm in seinem Traum vorgehalten hatte. Das Feiern, das Ficken, das Prügeln. An Tagen wie diesen enttarnte er es als das, was es war: ein billiger Trick, um ihn von dem Krater in seiner Brust abzulenken.
Sein gesamtes Leben war eine gottverdammte Farce.
Der Krater wurde größer, der Boden bewegte sich, drohte, ihn in sich hineinzusaugen. Wenn er fiele, würde er möglicherweise nie wieder den Weg nach oben finden. Sein Vater hatte es nicht geschafft. Ebenso wenig Kevin. Sie waren gefallen wie Steine. Bis auf den Grund.
Wums. Das gedämpfte Knallen einer Autotür veranlasste ihn, herumzuwirbeln und eine Angriffshaltung einzunehmen, noch ehe er überhaupt merkte, dass er sich bewegte.
Die Anspannung fiel von ihm ab, als er seine Brüder aus Seth Mackeys Wagen aussteigen sah. Dann kam Seth heraus, gefolgt von Miles.
Sean rutschte das Herz in die Hose. Es war ein Hinterhalt. Er war erledigt.
Die Blicke, die die Männer wechselten, bewirkten, dass er sich wie ein Sechsjähriger fühlte.
Sean hat einen seiner Ausraster. Schnell, holt das Betäubungsgewehr.
Der einzige Mensch, der ihn besser gekannt hatte, als Connor und Davy ihn kannten, war auf den Tag genau seit fünfzehn Jahren tot. Wenn er gekonnt hätte, hätte er es auf die Sekunde genau berechnet, aber der exakte Todeszeitpunkt war nicht zu ermitteln gewesen. Kevins Körper war nach seinem Sturz in den Hagen’s Canyon bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Er war durch die Leitplanke gerast, endlose Sekunden in die Tiefe gefallen, dann folgten der brutale Aufprall und der laute Knall, als der Pick-up explodierte – und das war’s.
Die dumpfe, gnadenlose Endgültigkeit des Ganzen machte Sean noch immer ratlos.
Es hatte keine Bremsspuren vor dem ausgefransten Loch in der Leitplanke gegeben. Er hatte gesucht und gesucht. Kevin hatte offenbar gar nicht versucht zu bremsen.
Sean sah Kevins in die Tiefe stürzenden Jeep auch in Davys und Connors Augen widergespiegelt. Er wandte rasch den Blick ab. Er konnte den Schmerz nicht ertragen, konnte ihn nicht teilen. Er hatte keinen Trost anzubieten, und er litt zu sehr, um von ihnen welchen anzunehmen. Er wollte sich einfach nur allein irgendwo verkriechen. In irgendeinem Ausguss.
Es war leichter, Seth und Miles ins Gesicht zu sehen als seinen Brüdern. Also tat er es. »Wer hat euch denn zu dieser Freakshow eingeladen?«
Miles zuckte nervös die Schultern. Seth verzog den Mund zu einem humorlosen Grinsen. »Ich hatte selbst mal einen Bruder. Ich brauche keine Einladung.«
Autsch. Er hatte recht. Seths jüngerer Bruder war auch gestorben. Auf sehr schlimme Weise und erst vor ein paar Jahren. Sein Verlust war frischer als Seans.
Danke, Jungs. Noch etwas, weswegen er sich beschissen fühlen durfte.
Sean wandte den Blick ab und fand kein anderes Ziel als Seths schwarzen Chevy. »Wie habt ihr mich überhaupt gefunden? Über X-Ray Specs?«
»Dieses Mal haben wir dich persönlich überwacht«, antwortete Connor. »Aus sicherer Entfernung. Dich immer wieder wegen Trunkenheit und ordnungswidrigem Verhalten gegen Kaution aus dem Knast zu holen, ist peinlich.«
»Dann macht euch nächstes Mal nicht die Mühe«, schlug Sean vor. »Lasst mich einfach verrotten.« Er fischte sein Handy aus der Tasche. Der integrierte Sender belastete die Batterie. Normalerweise wurde ihm warm ums Herz bei der Vorstellung, dass seine Brüder sich genug um ihn sorgten, um ihn sogar mittels GPS-Tracker zu überwachen. Gott, wie rührend.
Connor, Davy und Seth hatten alle unglaublich wilde Abenteuer durchstehen müssen, die sie zu der Überzeugung gebracht hatten, dass Peilsender eine großartige Sache für die ganze Familie waren.
Die meiste Zeit sah er das genauso wie sie. Wenn Kevin einen bei sich getragen hätte, hätte Sean ihn möglicherweise rechtzeitig finden können, um ihn daran zu hindern …
Nein. Hör auf damit!, ermahnte er sich.
Wieder wallte hilflose Wut in ihm auf. Er schleuderte das Handy über einen Maschendrahtzaun. Es zerschmetterte mit einem dumpfen Knacken auf dem Asphalt.
»Das war kindisch und verschwenderisch«, bemerkte Davy säuerlich.
Sean setzte sich wieder in Bewegung. Seine Brüder sowie Miles und Seth folgten ihm wie Hunde, die einem Knochen nachjagten. Der einzige Weg, sie loszuwerden, bestünde darin, sie k. o. zu schlagen, aber jeder der drei Älteren würde es je nach Tagesform mit ihm aufnehmen können. Sogar Miles schlug sich, nach all dem Training, das er im Dojo absolviert hatte, inzwischen gar nicht mehr so schlecht. Alle vier zusammen … keine Chance. Er verabscheute Schmerzen. Also würde er lieber verzichten.
»Er war auch unser Bruder«, sagte Davy ruhig.
Sean schnappte scharf nach Luft. »Ich hatte nicht die Absicht, meine miese Laune an irgendjemandem auszulassen. Das habe ich auch jetzt nicht. Ich liebe euch, Jungs, aber seid so nett und verpisst euch.«
Es trat eine kurze Pause ein. »Nein«, informierte Connor ihn knapp.
»Du kannst dir die Mühe sparen, uns noch mal darum zu bitten«, sagte Davy.
»Ganz meine Meinung«, fügte Seth leicht zeitverzögert hinzu.
Sean ließ sich auf eine niedrige Steinmauer sinken, die ein Blumenbeet umsäumte, und legte sein erhitztes Gesicht in die Hände. »Wo bin ich?«
»In Auburn«, antwortete Davy. »Wir sind dir letzte Nacht nachgefahren.«
»Ich hole den Wagen«, verkündete Seth. »Ihr behaltet ihn inzwischen im Auge.«
Sean schnaufte empört. Als befürchteten sie, dass ihm Schaum vor den Mund treten und er unkontrolliert zu zucken anfangen würde.
»Was ist das für ein Haus, aus dem du gerade gekommen bist?«, wollte Connor wissen.
Sean zuckte die Schultern. »Ein paar Mädchen wohnen dort«, murmelte er. »Eine Blondine und eine Brünette. Nette Körper. Hab sie im Hole kennengelernt, glaube ich zumindest.«
»Du dreckiger Hurenbock.« In Davys Stimme klang ein überheblicher Unterton mit, der Sean in Rage versetzte.
»Wage es nicht, über mich zu urteilen«, knurrte er. »Du hast die Liebe deines Lebens jede Nacht in deinem Bett. Das Gleiche gilt für Connor und Seth. Also, lasst mich in Ruhe, okay? Der Rest von uns Arschlöchern muss die Nächte schließlich auch irgendwie rumkriegen.«
»Du armer, ungeliebter Junge«, spottete Davy, was Miles mit einem grunzenden Geräusch quittierte. Connor schlug die Hand vor den Mund und sah weg. Der Pick-up kam neben ihnen zum Stehen. Davy und Connor fassten Sean an den Ellbogen.
Er schüttelte sie ab und stand ohne Hilfe auf. »Darf ich fragen, aus welchem Grund ihr mir heute auf den Sack geht?«
»Du darfst gern fragen, aber wir brauchen keinen Grund«, entgegnete Davy. »Wir gehen dir aus reiner Gewohnheit auf den Sack, du vorlauter kleiner Scheißer.«
Von wegen klein. Er war so groß wie jeder seiner Brüder und muskulöser als Connor, aber er hatte nicht die Energie zu streiten. Er rutschte auf die Rückbank des Wagens. Connor stieg von der einen Seite ein, Miles von der anderen, sodass Sean zwischen ihnen eingeklemmt wurde.
Seth fuhr los. »Hast du Zeit, einen Job zu übernehmen?«, fragte er. »Du siehst nicht gerade überbeschäftigt aus.«
Sean unterdrückte ein Stöhnen. Manchmal arbeitete er freiberuflich als Bodyguard für SafeGuard, Inc., die Sicherheitsfirma, die Seth und Davy vor einiger Zeit gegründet hatten. Normalerweise riefen sie ihn an, wenn sie es mit schwierigen Klienten zu tun hatten.
Heute langweilte ihn die Vorstellung zu arbeiten bis an die Grenze der Totenstarre.
»Was, ein Leibwächterjob, den sonst keiner will? Ich bin nicht in der Stimmung, das Ego irgendeines Manager-Arschlochs zu streicheln oder der Jagdtrophäe eines Bonzen die Einkaufstüten zu tragen. Streicht mich von eurer Liste. Ein für alle Mal.«
»Es ist kein Leibwächterjob«, widersprach Connor. »Und es ist auch nicht für SafeGuard, sondern für mich. Ich arbeite gerade an einem ungewöhnlichen Fall. Eine ziemlich gruselige Sache. Die ›Höhle‹ hat mich als Berater hinzugezogen. Ich dachte, die Geschichte könnte dich interessieren.«
Connors Beratertätigkeiten für verschiedene Strafverfolgungsbehörden waren auf schauerliche Weise immer interessant.
Er kapitulierte beinahe sofort. »Was macht den Fall so interessant?«
»Wir suchen einen Killer, der sich auf Mathe- und Naturwissenschaftsstudenten spezialisiert hat.«
»Was?« Sean blinzelte. »Wie abgefahren.«
»Ja. Sechs Fälle in vier Monaten. Die Opfer sind im klassischen College-Alter, Jungen wie Mädchen. Alle wurden nach einer vermeintlichen Überdosis tot vor Diskotheken aufgefunden, nur erinnert sich niemand daran, sie drinnen gesehen zu haben. Jeder von ihnen hatte eine Begabung für Mathe, Computer, Technik. Alle wiesen die gleiche mysteriöse Hirnschädigung auf. Keiner hatte Familie. Der Täter wählt sie sehr sorgfältig aus.«
Sean ließ sich das durch den Kopf gehen. »Irgendwelche Hinweise auf sexuellen Missbrauch?«
»Bei den Mädchen wurden sexuelle Aktivitäten kurz vor dem Tod nachgewiesen, aber dieser Hurensohn achtet sehr genau darauf, keine DNA zu hinterlassen. Und offensichtlich reizt es ihn nicht, die Jungen zu vergewaltigen. Ich habe Miles schon auf die Sache angesetzt. Aber ich könnte deine Hilfe zusätzlich gebrauchen.«
Sean hegte seine persönlichen Bedenken bezüglich der »Höhle«, jener im Verborgenen operierenden FBI-Spezialeinheit, der sein Bruder früher angehört hatte. Vor allem weil sie der Grund war, warum Connor bei mehr als einer Gelegenheit beinahe getötet worden wäre.
»Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich euch helfen könnte?«, brummte er.
»Sei kein Idiot«, wies Connor ihn zurecht. »Du bist immer eine Hilfe, wenn du nicht gerade einen deiner Aussetzer hast. Abgesehen davon könntest du ein bisschen Ablenkung gebrauchen.«
»Ach so«, sagte Sean langsam. »Das ist also so etwas wie ein Mitleidsjob.«
»Ach, halt die Klappe«, fuhr Connor ihn an. »Du gehst mir auf die Nerven.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Projiziere deine eigenen verdammten Bewältigungsmechanismen nicht auf mich, Con. Das Superman-Cape schleift auf dem Boden, wenn ich es trage. Ich suche mir meine eigenen Ablenkungen. Ein heißer Dreier mit ein paar hübschen Mädels ist eher mein Ding, als der geistige Tiefflieger, der ich nun mal bin.«
»Ich kenne dich seit deiner Geburt«, antwortete Connor resigniert. »Versuch es erst gar nicht.« Er fuhr sich mit einer grausam vernarbten Hand übers Gesicht – ein Andenken an eine seiner Beinahebegegnungen mit dem Tod. Sean überkam die unwillkommene Erinnerung daran, wie übel sein Bruder dran gewesen war. Er blockte sie ab, wollte nicht daran denken.
Er schüttelte sich. »Ich weiß die Geste zu schätzen, aber ich leide nicht unter Geldknappheit. Außerdem habe ich meine eigenen Geschäfte, die mich auf Trab halten. Strafverfolgungsbehörden beratend zur Seite zu stehen, fühlt sich für mich zu sehr nach echter Arbeit an.«
»Es ist echte Arbeit, du fauler Chaot«, belehrte Connor ihn. »Es steigert deine Konzentration, wenn du echter Arbeit nachgehst. Und genau das solltest du tun, anstatt dieses absurden Schwachsinns … Was war noch mal dein letzter Idiotenjob? Berater für Martial-Arts-Filme? Hör doch auf mit dem Quatsch!«
Sean hatte diese schon länger schwelende Unstimmigkeit satt. »Es ist ein sehr lukrativer absurder Schwachsinn«, knurrte er. »Ich habe gut zu tun, bin von der Straße weg, gerate nicht mit dem Gesetz in Konflikt, und ich pumpe euch nicht um Geld an. Was zum Henker willst du noch von mir?«
»Nicht von dir. Für dich.« Davy wandte den Kopf nach hinten, um seinen Bruder auf dem Rücksitz mit seinem Röntgenblick zu fixieren. »Hier geht es nicht um Geld, Sean. Es geht darum, dass du dich auf etwas anderes fokussierst als auf dein erbärmliches Selbst.«
Sean warf den Kopf gegen den Rücksitz und schirmte mit der Hand seine Augen gegen das grelle Tageslicht ab. Dies war der Preis, den er für seine Heimfahrt bezahlen musste.
Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es zwecklos war, an diesem Punkt seiner Standpauke einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie würden weiter mit dem Fleischklopfer auf ihn eindreschen, bis er nur noch ein zitternder, blutiger Klumpen wäre. Nicht dass das noch lange dauern würde.
Am besten sollte er sie einfach reden lassen, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht auftun würde.
»Du spülst dein Leben den Ausguss hinunter, und wir sind es leid, Däumchen zu drehen und zuzusehen, wie es geschieht«, fuhr Davy fort.
Den Abfluss hinunter. Eine Gänsehaut breitete sich auf Seans Rücken aus.
»Lustig, dass du das sagst«, erwiderte er. »Mich überläuft es gerade eiskalt, weil Kevin letzte Nacht nämlich exakt dasselbe zu mir gesagt hat.«
Connor atmete scharf ein. »Ich hasse es, wenn du das tust.«
Sein Ton riss Sean aus seiner Gedankenversunkenheit. »Häh? Was habe ich denn getan?«
»Du sprichst über Kevin, als wäre er noch am Leben«, sagte Davy dumpf. »Bitte lass das. Es macht uns alle fix und fertig.«
Es trat eine lange, unglückliche Stille ein. Sean holte tief Luft.
»Hört zu. Ich weiß, dass Kevin tot ist.« Er bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Ich höre keine Stimmen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hinter mir her ist. Ich habe auch nicht die Absicht, über eine Klippe zu rasen. Also, entspannt euch. Okay?«
»Du hattest letzte Nacht einen dieser Träume?«, fragte Connor nach.
Sean krümmte sich innerlich. Er hatte Connor vor einigen Jahren von seinen Träumen erzählt und bereute es seither bitterlich. Connor war ausgerastet und hatte Davy mit reingezogen. Es war zu einer üblen Szene gekommen.
Aber die Träume hatten ihn in den Wahnsinn getrieben. Immer wieder Kevin, der darauf bestand, dass er nicht verrückt war, dass er keinen Selbstmord begangen hatte. Dass Liv noch immer in Gefahr schwebte. Und dass Sean ein feiger, vernagelter Trottel war, wenn er auf dieses lahme Vertuschungsmanöver hereinfiel. Nimm dir mein Skizzenbuch vor, hatte er ihn aufgefordert. Darin findest du den Hinweis. Sperr die Augen auf, Spatzenhirn.
Aber sie hatten sich sein Skizzenbuch vorgenommen, verflucht noch mal. Sie hatten es in seine Einzelteile zerlegt, es aus jedem Blickwinkel analysiert und dabei rein gar nichts entdeckt.
Weil es nichts zu entdecken gab. Kevin war krank gewesen, genau wie ihr Vater. Die bösen Kerle, die Vertuschung, die Gefahr, in der Liv schwebte – alles paranoide Wahnvorstellungen. Das war die schmerzvolle Schlussfolgerung, zu der Davy und Connor schließlich gelangt waren. Die Notizen in Kevins Skizzenbuch ähnelten viel zu stark den wahnsinnigen Kritzeleien ihres Vaters in seinen letzten Lebensjahren. Sean erinnerte sich an die Paranoia seines Vaters nicht so klar wie seine älteren Brüder, aber er erinnerte sich.
Trotzdem hatte er lange gebraucht, um ihr Urteil zu akzeptieren. Vielleicht hatte er es auch nie akzeptiert. Seine Brüder befürchteten, dass er genauso durchgeknallt sein könnte wie sein Zwilling. Möglicherweise war er es. Wer konnte das schon sagen? Es war nicht wichtig.
Er konnte die Träume nicht verhindern. Er konnte sich nicht gewaltsam zwingen, etwas zu glauben. Er konnte nicht einfach schlucken, dass sein Zwilling sich umgebracht haben sollte, ohne irgendjemanden um Hilfe zu bitten. Zumindest nicht bis zu dem Moment, in dem er Liv mit dem Skizzenbuch losgeschickt hatte. Und da war es bereits zu spät gewesen.
»Ich träume gelegentlich von Kevin«, gestand er leise. »Es ist keine große Sache mehr. Ich bin daran gewöhnt. Macht euch deswegen keine Sorgen.«
Die fünf Männer verharrten in tiefem Schweigen, bis sie Seans Eigentumswohnung erreichten. Bilder flimmerten hinter seinen geschlossenen Lidern vorbei, von sich windenden Körpern, blinkenden Lichtern, nackten Mädchen, besinnungslos im Bett. Von Connors Killer, der gleich einem Troll unter einer Brücke lauerte und Wissenschaftsstudenten zum Frühstück verspeiste.
Und dann das eigentliche Highlight, dem er nie entfliehen konnte.
Liv, die ihn mit großen, verletzten Augen anstarrte. Heute vor fünfzehn Jahren. Der Tag, an dem sein Leben über ihm einstürzte.
Sie war zu ihm ins Gefängnis gekommen, völlig fertig von ihrer Begegnung mit Kevin. Den Tränen nahe, weil ihre Familie sie unter Druck setzte, ein Flugzeug nach Boston zu besteigen. Er hatte in der Ausnüchterungszelle gesessen, während Bart und Amelia Endicott eine Lösung suchten, wie sie ihn von ihrer Tochter fernhalten konnten.
Sie hätten sich die Mühe sparen können. Das Schicksal hatte ihnen die Arbeit abgenommen.
Der Polizist hatte ihr nicht erlaubt, Kevins Skizzenbuch mit nach drinnen zu nehmen, aber sie hatte seine Notiz herausgerissen und sie sich in den BH gesteckt. Sie war in einem der Codes ihres Vaters geschrieben.Er konnte diesen Codes so mühelos entziffern wie seine Muttersprache.
Das Mitternachtsprojekt versucht, mich umzubringen. Sie haben Liv gesehen. Sie töten sie, wenn sie sie finden. Sorg dafür, dass sie noch heute die Stadt verlässt, sonst stirbt sie. Zieh die harte Nummer ab. Beweise auf den Bändern in EFPC. HC hinter zähl die Vögel B63.
Er hatte jedes verdammte Wort geglaubt, zumindest die, die er verstanden hatte. Warum auch nicht? Himmel, er war in Eamon McClouds Haus aufgewachsen. Der Mann war der festen Überzeugung gewesen, auf Schritt und Tritt von Feinden verfolgt zu werden. Bis zum bitteren Ende. Es hatte nie eine Zeit gegeben, in der Sean nicht wegen der Feinde seines Vaters in Alarmbereitschaft gewesen wäre. Abgesehen davon hatte Kevin sich noch nie geirrt. Kevin hatte in seinem ganzen Leben nicht gelogen. Kevin war brillant, mutig, ein Fels in der Brandung. Seans Rettungsanker.
Zieh die harte Nummer ab. Es war ein Slogan ihres Vaters. Ein Mann tat, was getan werden musste, selbst wenn es wehtat. Liv war in Gefahr gewesen und musste verschwinden. Wenn er ihr das gesagt hätte, hätte sie sich geweigert und mit ihm diskutiert, und wäre sie getötet worden, hätte er die Schuld daran getragen, weil er weich gewesen wäre, weil er nicht die harte Nummer abgezogen hätte.
Also hatte er es getan. Es war so einfach gewesen, wie den Abzug einer Pistole zu betätigen.
Er hatte die Notiz eingesteckt. Einen gleichgültigen, kalten Blick aufgesetzt.
»Baby? Weißt du was? Das mit uns zwei wird nicht funktionieren«, sagte er. »Geh einfach, okay? Flieg nach Boston. Ich will dich nicht mehr sehen.«
Sie war fassungslos. Er wiederholte es eiskalt. Ja, sie habe ihn richtig verstanden. Nein, er wolle sie nicht mehr. Adios.
Sie war verwirrt und ratlos. »Aber … Ich dachte, du wolltest …«
»Dich nageln? Ja. Ich habe dreihundert Mäuse auf dich gewettet. Trotzdem halte ich die Dinge gern unkompliziert. Du bist viel zu anspruchsvoll. Du wirst dir irgendeinen College-Jungen suchen müssen, der dich entjungfert, weil ich es nämlich nicht tun werde, Babe.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Dreihundert …«
»Wir hatten eine Wette mit den Jungs laufen. Ich habe ihnen bis ins letzte Detail Bericht erstattet.« Er lachte, es war ein kurzer, hässlicher Laut. »Aber es geht so verflucht langsam voran. Es langweilt mich.«
»Es langweilt dich?«, wisperte sie.
Er beugte sich vor und starrte ihr in die Augen. »Ich. Liebe. Dich. Nicht. Verstanden? Ich will mich nicht von einer verwöhnten Prinzessin ummodeln lassen. Daddy und Mommy wollen dich an die Ostküste schicken? Gut. Verschwinde. Jetzt.«
Sean wartete. Sie war starr vor Schock. Er holte tief Luft, nahm seine letzte Energie zusammen und schleuderte ihr entgegen: »Verdammt noch mal, Liv! Geh jetzt!«
Es hatte funktioniert. Sie war gegangen. Sie war noch in derselben Nacht nach Boston geflogen.
Seitdem büßte er dafür. Er wusste nun, wie sich ein Chirurg fühlen musste. Die armen Schweine, von denen man in Zeitschriften las, weil sie Mist gebaut und versehentlich das falsche Auge, die falsche Lunge oder Niere entfernt hatten.
Seth stoppte mit dem Wagen vor Seans Wohnung, kramte sein Handy heraus und hielt es Sean vors Gesicht. »Hier.«
Sean winkte ab. »Vergiss es. Ich will es nicht.«
»Nimm es«, herrschte Seth ihn an. »Andernfalls verprügele ich dich damit.«
Sean seufzte und steckte es ein.
»Der, der das kurze Ende erwischt, wird bis Mitternacht den Babysitter für diesen Trottel spielen.« Davy streckte seine gewaltige Faust aus. Vier Schnüre baumelten daraus herab.
»Nein, stopp mal«, protestierte Sean. »Ich brauche keinen …«
»Halt die Klappe«, befahl Davy. Er zog eine Schnur heraus – lang. Connor schnappte sich seine – lang. Seth und Miles zogen ihre.
Miles grunzte resigniert. Er hatte das kurze Stück erwischt.
»Glückwunsch. Der Job ist wie für dich gemacht«, witzelte Seth.
»Das ist demütigend«, stöhnte Sean.
»Was du nicht sagst. Wenn es dir nicht gefällt, hör auf, uns das jedes Jahr wieder anzutun.«
Sean schloss die Augen. Seine Augäpfel pochten unter dem Gewicht seiner Lider. Dahinter sah er Rot wie ein Blutfleck in seinem Hirn. Dann erblühte tiefes Schwarz in der Mitte und nahm seinen Platz ein. Dann wieder Rot. Schwarz. Das Hämmern seines eigensinnigen Herzens. Und dahinter Kevins Pick-up. Im endlosen Sturzflug.
Miles stieß die Tür auf und stieg aus. Sean folgte ihm.
»Hey. Erin hatte gestern ein Sonogramm«, sagte Connor plötzlich.
»Ach, ja?«, entgegnete Sean höflich. »Alles ist bestens, hoffe ich?«
»Ja, alles gut. Es ist ein Junge.«
»Oh. Äh … toll. Herzlichen Glückwunsch.« Er hatte das Gefühl, etwas Tiefgründigeres sagen zu müssen, aber sein Hirn war so leer wie der weiße Himmel.
»Wir werden ihn Kevin nennen«, fügte Connor hinzu.
Ein Schraubstock schien sich um seinen Kehlkopf zu schließen und zuzudrücken.
Connor legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es hilft, weißt du?«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Der Versuch, etwas zu verändern. Und wenn man es am Ende rechtzeitig schafft, einzugreifen und jemandem das Leben zu retten, oh Mann. Das ist das Beste, was einem verdammt noch mal passieren kann. Es entschädigt für so vieles.«
»Ja? Und was dann? Was geschieht danach? Wenn der Nervenkitzel verflogen ist?«
Connor zögerte. »Man fängt wieder von vorn an.«
Sean nickte. »Haargenau. Es dauert nie an, nicht wahr?«
»Nein«, räumte Connor ein. »Aber was ist schon für immer?«
Sean dachte darüber nach. »Das klingt sinnlos und ermüdend.«
Sein Bruder widersprach nicht. Er wandte sich mit versteinerter Miene ab. Sean ließ die Tür ins Schloss fallen. Der Chevy brauste davon.
2
Sean und Miles starrten einander an. Miles’ Mund war zu einem schmalen, entschlossenen Strich zusammengepresst. »Fang gar nicht erst an«, warnte er Sean. »Es ist zwecklos.«
Sean stöhnte innerlich. Nicht dass er den Kerl nicht von Herzen gerngehabt hätte. Miles war ein toller Typ. Ein guter Freund. Wahnsinnig nützlich, wenn es um technische Computerdetails ging, die Sean zu Tode langweilten. In den letzten Jahren, seit er in die Rolle des McCloud-Maskottchens geschlüpft war, hatte er seinen Wert unzählige Male unter Beweis gestellt. Aber Sean war heute nicht in der Verfassung für irgendjemanden den Mentor, Liebesratgeber, Cheerleader oder Mode-Guru zu spielen.
»Miles? Du weißt, dass ich dich liebe, oder? Aber ich möchte heute keine Gesellschaft«, sagte er erschöpft. »Also schleich dich. Verschwinde. Mach ’nen Abflug.«
»Nein.« Miles’ Stimme war unerbittlich.
Sean realisierte, dass er durch sein Zähneknirschen seinen Herzschlag beschleunigte. Er bemühte sich, seinen Kiefer zu lockern. »Okay, lass es mich anders ausdrücken«, sagte er. »Verzieh dich, oder ich verpasse dir ein neues Gesicht.«
Miles gab sich unbeeindruckt. »Wenn ich dich allein lasse, und du dich heute Nacht in Schwierigkeiten bringst, werden mir Davy, Con und Seth den Kopf abreißen und ihn auf einen Pfahl spießen. Du bist nur einer. Sie sind drei. Vergiss es.«
Sean stieg die Treppe zu seinem Apartment hoch. Jede Stufe war wie ein Hammerschlag gegen seinen Schädel. »Ich werde mich nicht in Schwierigkeiten bringen. Mir fehlt die Kraft.«
»Ich werde dir nicht auf die Nerven fallen.« Miles folgte ihm auf den Fersen. »Tu einfach, als wäre ich nicht da. Daran bin ich gewöhnt. Sieh dir nur meine Erfolgsbilanz bei den Frauen an. Ich bin so etwas wie der Unsichtbare Mann.«
Sean bedachte Miles mit einem skeptischen Blick, als er seine Tür aufsperrte. »Red nicht solchen Mist, wenn du bei den Frauen landen willst«, belehrte er ihn aus alter Gewohnheit. »Du darfst es noch nicht mal denken. Es ist der Kuss des Todes.«
»Schon klar.« Miles verdrehte die Augen. »Ach, übrigens. Ich bräuchte einen Gefallen.«
Sean stieß die Tür auf. »Es ist kein guter Tag, um mich um einen Gefallen zu bitten.«
»Du schuldest mir einen«, erinnerte Miles ihn, als er ihm nach drinnen folgte. »Einen großen sogar.«
Sean wirbelte herum, baute sich breitbeinig vor ihm auf und starrte Miles so wütend an, dass der zwei Schritte zurücktaumelte. »Was zum Teufel willst du, Miles?«
Der Junge schluckte hörbar. »Ich möchte, dass du mich nach Endicott Falls fährst.«
Sean musste über die Ironie der Bitte lachen. Er kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder, bevor er noch in seine eigene Küche kotzte. »Träum weiter, Kumpel. Ich hasse diese Stadt, besonders heute, und sie hasst mich noch mehr.«
»Ich habe während des ganzen Monats, den du in L. A. warst, deine Kickboxing-Kurse übernommen«, rief Miles ihm ins Gedächtnis. »Ich habe drei Tage damit verbracht, deinen Computer zu reparieren, als sich dieser Virus eingeschlichen hatte. Kostenlos.«
»Ach, halt die Klappe. Was willst du eigentlich in diesem rückständigen Nest?« Sean kam ein Gedanke. Er warf Miles einen düsteren, argwöhnischen Blick zu. »Ist Cindy nicht gerade dort, um mit ihrer Band zu proben? Sag nicht, dass du immer noch …«
»Absolut nicht. Ich bin komplett über Cindy hinweg.« Miles’ Stimme war fest. »Sie ist zwar dort, aber ich meide sie wie die Pest.«
Sean war nicht überzeugt. Miles hatte, schon lange bevor die McClouds ihn kennengelernt hatten, Cindy Riggs, Erins verführerische jüngere Schwester angeschmachtet. Eine spektakuläre Szene auf Connors und Erins Hochzeit hatte ihm endlich die Augen geöffnet, nur hatte ihn das nicht glücklicher gemacht. Im Gegenteil. Seither war er ein wandelnder Trauerkloß.
»Ich arbeite heute Abend im Rock Bottom Roadhouse als Ton- und Lichttechniker für die Howling Furballs«, informierte Miles ihn. »Und morgen fange ich in der Endicott Falls School of Martial Arts aushilfsweise als Karatelehrer an.«
Sean war völlig von den Socken. »Kein Scheiß? Welchen Gürtel hast du inzwischen? Den braunen?«
»Nein. Ich habe letzten Monat die Prüfung für meinen ersten schwarzen Dan-Gürtel bestanden. Außerdem wurde meine Kata lobend erwähnt.« Der Stolz in Miles’ Stimme war unüberhörbar. »Davy hat mich einem Typen empfohlen, der in Endicott Falls ein Dojo leitet. Sie brauchen jemanden, der den Kurs übernimmt, während sich der reguläre Trainer von einer Knieoperation erholt … Es ist also keine große Sache.«
»Es ist eine sehr große Sache«, widersprach Sean. »Das ist echt cool. Das freut mich für dich.«
»Außerdem haben sich meine Eltern gerade einen neuen Wagen zugelegt. Sie überlassen mir ihren alten Ford. Dies ist das letzte Mal, dass ich dich erpressen muss, mich irgendwo hinzuchauffieren.«
»Das allein ist Grund genug, dich zu fahren«, gab Sean säuerlich nach. »Sag es nicht. Lass mich raten. Ein Sedan aus den frühen Neunzigern, richtig?«
Miles senkte den Blick. »Und? Wo liegt das Problem?«
»Beigefarben, oder? Ich verwette mein linkes Ei darauf, dass er kotzbeige ist.«
Miles zuckte defensiv mit den Schultern. »Und was wäre, wenn?«
»Ein Rentnerauto«, erklärte Sean. »Das Unsichtbare Auto für den Unsichtbaren Mann. Du musst etwas mit Testosteron fahren, mein Freund.«
»Er läuft«, grummelte Miles. »Er kostet nichts. Ich weiß, dass für dich fahrbare Untersätze modische Accessoires sind, aber es macht immer noch mehr Eindruck, als mit dem Bus zu fahren.«
»Kaum«, murmelte Sean. »Ich dachte, du arbeitest an Cons Studentenkiller-Sache.«
»Das werde ich. Auf Cyberbasis. Ich werde von Endicott Falls aus daran arbeiten.«
Sean holte zwei Bier aus dem Kühlschrank. Er gab Miles eines, dann trank er die Hälfte von seinem in einem Zug. »Gott, fühl ich mich scheiße.« Das rote Licht an seinem Anrufbeantworter blinkte hartnäckig. Er hörte ihn ab, um herauszufinden, was die Außenwelt von ihm wollte.
Die ersten beiden Anrufe betrafen seine Arbeit. Bei dem einen ging es um eine Rechnung, die er für einen Beraterjob vor ein paar Wochen gestellt hatte, der andere stammte von einem unabhängigen Regisseur aus L. A., der einen Film über amerikanische Soldaten im Irak drehte. Sean spulte beide vor. Er würde sich später damit befassen, sobald sein Hirn wieder funktionierte.
Die nächste Nachricht ließ ihn mit der Bierflasche an den Lippen erstarren.
»Hi, hier ist Carey Stratton. Ich hab es auf deinem Handy probiert. Das Mistding war ausgeschaltet. Ich habe das Internet nach deinem verschollenen Schätzchen durchforstet. Der Computer hat ein paar Neuigkeiten ausgespuckt. Olivia Endicott hatte ein Missgeschick, Kumpel. Jemand hat ihren Buchladen abgefackelt. Oh, und sie ist umgezogen. Sie lebt jetzt in Endicott Falls, Washington. Das ist nicht weit von dir, oder? Dies könnte deine Chance sein. Ergreif sie, Mann. Sie aus der Ferne anzuschmachten, ist nicht gut für deine Gesundheit, auch wenn es meine Miete bezahlt. Ich schicke dir eine E-Mail mit den Links. Für diesen Service berechne ich dir übrigens nichts. Und bleib locker, okay? Bis später, mein Freund.«
Sean stand wie angewurzelt da. Das Hirn leer, der Mund schlaff.
»Sean?«, wagte Miles einen Vorstoß. »Du verschüttest dein Bier.«
Sean zuckte erschrocken zusammen und richtete die Flasche auf. Er konnte nicht atmen. Er versuchte zu schlucken. Seine Kehle war trocken wie Wüstensand.
Liv. Zurück in Endicott Falls. Der letzten Nachricht nach, die er von dem Privatdetektiv bekommen hatte, arbeitete sie in Cincinnati, Ohio, als Forschungsbibliothekarin. Die neuesten Fotos, die Carey Stratton ihm geschickt hatte, waren dort letzten Dezember aufgenommen worden. Schwarz-Weiß-Bilder, mit Teleobjektiv geschossen. Liv, die gerade ihre Wohnung verließ. Liv, die lächelnd einen Hund streichelte. Liv, die ihre Post hereinholte, die Haare wie ein Glorienschein um ihren Kopf, mit gemustertem Zigeunerrock, der sich im Wind aufbauschte. Ihre Mutter, dieses Miststück von einer Gesellschaftslöwin, hatte diese langen, weiten Hippieröcke immer verabscheut.
Also war Liv noch immer eine Rebellin. Gott sei Dank.
Die jüngsten Fotos, gleichzeitig seine ungeschlagenen Favoriten, bewahrte er in einem Ordner auf dem Bord über seinem Computer auf. So hatte er sie immer zur Hand. Sie hatten inzwischen Eselsohren und waren an den Rändern eingerissen.
Er schlitterte durch die Bierpfütze, als er in seinen Computerraum stürmte, Careys E-Mail abrief und die Links anklickte. Er las alles, dann noch einmal. Es war wahr. Brandstiftung, um Himmels willen. Seine Hände zitterten.
»Sie ist diejenige, hm?«
Miles’ leise Stimme aus Richtung Tür ließ ihn zusammenfahren. Er hatte den Jungen ganz vergessen. »Was? Sie ist wer?«
»Die, für die du diesen gewaltigen Ordner auf deinem Computer angelegt hast«, antwortete Miles. »Der Grund, warum du es nie länger als vier Tage mit einem Mädchen aushältst.«
»Was zur Hölle weißt du über meine Ordner?«, herrschte er ihn an. »Ich habe dir nie die Erlaubnis gegeben, in meinen Privatdateien herumzuschnüffeln!«
Miles fläzte seinen langen Körper auf den anderen Stuhl am Computer und bedachte Sean mit seinem traurigen Welpenblick. »Erinnerst du dich an diese drei Tage, die ich damit verbracht habe, deine Daten zu rekonstruieren, nachdem dein System zusammengebrochen war?«
»Oh.« Sean bedeckte sein Gesicht mit seiner zitternden Hand. »Ich Trottel.«
Miles räusperte sich. »Es ist ziemlich schwierig, Geheimnisse vor seinem Computerdoktor zu haben.« Sein Tonfall war entschuldigend. »Tut mir echt leid.«
Sean starrte auf den Monitor. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Niemand hatte von seinem Hobby, Liv Endicott zu observieren, erfahren sollen. Es war nur ein kleiner, privater Spleen, der genaueren Nachfragen nicht standgehalten hätte. Vor niemandem. Sicher nicht vor seinen Brüdern. Nicht mal vor ihm selbst.
»Du hast es nie angesprochen«, murmelte er.
Miles zuckte die Achseln. »Ich fand, ich hatte nicht das Recht, zu urteilen. Gleichzeitig war es irgendwie skurril. Ich hätte nicht gedacht, dass du das in dir hast. Diese Besessenheit, meine ich.«
Sean zog eine Grimasse. »Ich bin nicht besessen. Und es ist nicht skurriler als dieser Videoausschnitt von Cindy, auf dem sie eine Kusshand wirft, den du als Bildschirmschoner benutzt hast«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das ist Besessenheit, mein Freund.«
»Ich habe diesen Bildschirmschoner gelöscht«, rechtfertigte Miles sich. »Jetzt habe ich eine Schar Zugvögel. Das ist sehr entspannend.«
Sean stieß einen spöttischen Pfiff aus. »Wow, das klingt nach einem echten Heißmacher. Entspannung ist das Letzte, was du brauchst, Junge. Du brauchst …«
»Heißen Sex, ja. Das hast du mir schon gefühlte tausendmal vorgehalten«, fiel Miles ihm ungeduldig ins Wort. »Also, wer ist sie?«
Sean vergrub sein glühendes Gesicht in den Händen. »Ein Mädchen aus meiner Heimatstadt«, antwortete er dumpf. »Eine direkte Nachfahrin unseres illustren Stadtgründers, Augustus Endicott. Seine Urururenkelin, glaube ich. Kennst du dieses Bronzestandbild von den Gründungsvätern vor der Bibliothek? Der große Kerl ganz vorn, der aussieht, als hätte er einen Stock verschluckt?«
»Oh, Mann.« Miles pfiff anerkennend durch die Zähne. »Die Familie? Dann ist sie die Erbin dieser riesigen Baufirma? Hut ab. Bart Endicott gehört praktisch die ganze Stadt. Und was ihm nicht gehört, das baut er.«
»Erzähl mir was Neues.« Seans Stimme klang freudlos.
Auf seinem Stuhl lümmelnd, musterte Miles ihn nachdenklich unter schweren Lidern hervor. »Hmm. Also ist sie der Grund, warum du es tust.«
Sean sah ihn misstrauisch an. »Was tue ich?«
Er zog eine Braue hoch. »Alles ficken, was einen Puls hat.«
»Ich ficke nicht alles, was einen Puls besitzt«, fuhr Sean gespielt beleidigt auf. »Ich bleibe bei meinem Qualitätsstandard und beschränke mich auf endoskelettale Organismen. Ich halte mich immer an Wirbeltiere. Und ich treibe es nie mit Reptilien. Nie.«
»Ach, halt doch die Klappe«, grummelte Miles. »Du männliches Flittchen. Es ist einfach nicht fair.«
Sean warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Miles hatte sich zum Positiven verändert, seit er Zeit mit den McClouds verbrachte. Das Resultat von zwei Jahren unerbittlichen Kampftrainings, das er nach jener denkwürdigen Schlacht im Alley Cat Club begonnen hatte, als sie Cindy vor ihrem damaligen schmierigen Zuhälterfreund gerettet hatten.
Miles war in jener Nacht zu Brei geschlagen worden, hatte dann aber den festen Willen entwickelt, wie die McClouds kämpfen zu lernen. Das war zwar ein hehres Ziel, aber sie hatten gute Fortschritte gemacht. Er besaß inzwischen immerhin den schwarzen Gürtel. Sie hatten ihm eine aufrechte Haltung antrainiert, und das viele Gewichtheben, das Davy ihm aufgebürdet hatte, hatte seiner schmächtigen Gestalt und der eingesunkenen Brust mehr als gutgetan. Er ernährte sich jetzt von echtem Essen, nicht nur von Burgern und Cola, darum sah er auch nicht mehr wie ein unterernährter Vampir aus. Sogar Seans unaufhörliche Ermahnungen, sich selbst besser zu pflegen, trugen erste Früchte. Miles hatte zwar noch bei Weitem keinen erstklassigen Geschmack, aber sein T-Shirt war sauber, und die Haare hatte er zu einem glänzenden Pferdeschwanz zusammengebunden, statt es in schlaffen, fettigen Strähnen in sein bleiches Gesicht hängen zu lassen. Er hatte seine hässliche runde Brille entsorgt, und seine Hakennase sah ohne sie gleich viel besser aus. Gegen seine Akne hatte er sogar Antibiotika eingenommen, dem Himmel sei Dank, und die zurückgebliebenen Narben verliehen seinem Gesicht ein kerniges, wettergegerbtes Aussehen. Dazu die großen Hundeaugen, die kräftigen Bizepse, und voilà: Gar nicht mal so übel. Wenn er nur ein bisschen lockerließe und hin und wieder vielleicht mal lachen würde, sähe er wie ein Mann aus, der mit minimalem Aufwand eine Frau flachlegen könnte. Und es wurde höchste Zeit. Der Junge war ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte.
»Sind diese Karatekurse, die du gibst, gemischt?«, erkundigte sich Sean.
Miles schnaubte. »Ich trainiere Kinder. Im Alter von vier bis zwölf.«
Sean zuckte die Achseln. »Es gibt immer heiße und hungrige alleinerziehende Mütter.«
»Das ist vielleicht ein Schock für dich, aber manche Menschen tun Dinge aus Gründen, die nicht zwingend auf Sex abzielen.«
Sean riss die Augen auf. »Wirklich? Es macht mich betroffen zu hören, dass ein gesunder fünfundzwanzigjähriger Mann solche Kommentare von sich gibt. Entweder bist du krank, nicht ganz dicht in der Birne, ein verkappter Schwuler, oder du lügst.«
»Ich bin nicht …«
»Schwul, ja. Ich weiß ganz genau, dass du das nicht bist«, vollendete Sean. »Du bist besessen von Cindy, seit ich dich kenne. Du siehst auch nicht krank aus. Bleibt nur noch, dass du nicht ganz dicht oder ein Lügner bist. Du hast die freie Wahl. Ich kaufe dir beides ab.«
Miles presste die Lippen zusammen. »Ich bin vollkommen über sie hinweg. Und ich will ihren Namen den Rest meines Lebens nicht mehr hören, verstanden?«
Sean schämte sich ein wenig. Er hatte es wieder einmal übertrieben. Er war daran gewöhnt, seine Brüder zu provozieren, die hart im Nehmen waren und ein dickes Fell hatten. Manchmal war ihr kleiner Kumpel Miles einfach zu weich für das unbarmherzige Gefrotzel der McClouds. »Du hast recht. Ich entschuldige mich.«
»Also, was ist jetzt? Fährst du mich hin?« Miles sah ihn verschmitzt an. »Du willst doch bestimmt die Sache mit dem Buchladen dieses Mädchens überprüfen?«
Sean antwortete mit einem missmutigen Grunzen. So ein opportunistischer, Schuldgefühle weckender Mistkerl. Er wandte sich wieder dem Computer zu und überflog ein weiteres Mal die Berichte.
Natürlich würde er das nicht tun. Er war nicht so dumm, nicht masochistisch genug.
Aber etwas in ihm rumorte, kribbelte, ließ ihm keine Ruhe mehr, seit er Livs Namen laut ausgesprochen gehört hatte. Er wusste nicht, wann er dieses Kribbeln zuletzt gespürt hatte. Vielleicht schon nicht mehr, seit …
Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte? Oh, bitte. Das war doch bescheuert.
Er würde eine sorgfältige und erschöpfende Studie sämtlicher Höhepunkte seines Lebens durchführen, bevor er das zugäbe. So viel zum Thema Erbärmlichkeit.
Trotzdem. Wer war sie heute?
Nicht dass diese brennende Neugier auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Ganz im Gegenteil. Liv verabscheute ihn aus tiefster Seele. Sie hielt ihn für die Ausgeburt des Bösen. Und das zu Recht. Und von Liv Endicott verachtet, verschmäht, verhöhnt oder auf andere Weise erniedrigt zu werden … verdammt.
Das wäre der ultimative Schlag ins Gesicht.
3
Es war der Strauß weißer Schwertlilien, der ihr am meisten zusetzte. Die unverhohlene, höhnische Unverfrorenheit dieser Geste. Als ob der Kerl sie angespuckt hätte.
Liv ballte die Fäuste und versuchte zu atmen. Ihre Bauchmuskeln waren derart angespannt, dass sie sie bewusst entkrampfen musste, damit ihre Lungen sich weiten konnten. Der Kaffee, den sie vor einer Weile getrunken hatte, rumorte in ihrem Magen und drohte, ihr wieder hochzukommen. Sie sollte ihn besser loswerden, aber sie musste immer weinen, wenn sie sich erbrach, und es war nicht ausgeschlossen, dass der Feuerteufel, der ihren Buchladen angezündet hatte, sie durch einen Feldstecher beobachtete, dabei bösartig kicherte und sich über seine sabbernden Lippen leckte. Womöglich fixierte er sie mit seinen kalten, kleinen, knopfartigen Reptilienaugen wie ein Tyrannosaurus Rex.
Ihr Blick musterte die Gebäude in ihrer Umgebung, deren Umrisse von der Rauchwolke vernebelt wurden. Er könnte sie aus einem dieser Fenster heraus observieren. Liv fröstelte. Sie würde nicht zulassen, dass er sie wie ein verletztes kleines Mädchen schluchzen sah.
T-Rex hatte das Bouquet auf einem der Kerosinkanister direkt vor dem Haus abgelegt. Er versuchte nicht mal zu verhehlen, was er getan hatte. Er hatte sogar eine Karte daran befestigt. Für Olivia, in Liebe, von du-weißt-schon-wem, war darauf gedruckt. Derselbe Schrifttyp, den er in seinen E-Mails benutzt hatte. Die E-Mails, die sie zu ignorieren versucht hatte.
Offensichtlich gefiel es dem T-Rex nicht, ignoriert zu werden.
Nun ja. Jetzt genoss er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Er hatte genau die stürmische Reaktion bekommen, auf die er aus gewesen war. Die Polizisten hatten keinen Hehl aus ihrer Missbilligung gemacht, weil sie den Tatort verunreinigt hatte. Sie hatte nicht an praktische Details wie Fingerabdrücke gedacht, als sie laut kreischend den Strauß zerfetzt und mit den Füßen zertrampelt hatte. Sie hatte eine echte Show abgeliefert. Ihre Eltern waren sprachlos vor Entsetzen gewesen.
Tja, niemand war perfekt.
Liv atmete keuchend aus. Ihr Hirn drehte sich weiter um die üblichen Plattitüden über die Notwendigkeit des Loslassens. Alles ging einmal vorüber, und so weiter und so fort. Mit diesem Zeug hatte sie erst kürzlich ihre Selbsthilfe-, Spiritualität- und New-Age-Regale aufgestockt. Dieser ganze esoterische Quatsch war gerade sehr beliebt. Sie verspürte das Bedürfnis, jemanden zu schlagen. Wer interessierte sich schon für die illusorische Natur der Realität, wenn er auf die Trümmer seines Lebenstraums starrte?
Sie war nicht vergeistigt genug, um sich einfach damit abzufinden.
Außerdem war sie so unglaublich wütend. Sie wollte demjenigen, der das getan hatte, Schmerzen zufügen. Schlimme Schmerzen. Es in die Länge ziehen, bis er bedauerte, dass seine Eltern sich je kennengelernt hatten.
Und das von einer Frau, die Spinnen einfing und sie im Garten aussetzte, weil sie es nicht über sich brachte, sie zu töten. Sogar die dicken, scheußlichen, haarigen Exemplare.
Gott, es tat so weh. Sie hatte so viel von sich selbst in diesen Laden gesteckt. Alles, was sie hatte, und noch viel mehr. Niemals hatte ihr etwas so viel bedeutet. In ihrem ganzen Leben nicht.
Abgesehen von einer denkwürdigen Ausnahme, meldete sich ihr innerer Kommentator zu Wort.
Oh, nein. Auf gar keinen Fall würde sie sich gestatten, jetzt an Sean McCloud zu denken. Jedes verdammte Desaster zu seiner Zeit, vielen Dank auch.
Sie stocherte in der Asche herum, während die Gedanken wild umherwirbelten. Wer war dieser Kerl? Was hatte er gegen sie? Sie hatte keine natürlichen Feinde. Sie war die personifizierte Kompromissbereitschaft. Stets freundlich und hilfsbereit. Man erntet, was man sät, so lief das doch. War heutzutage denn auf gar nichts mehr Verlass?
Dieses New-Age-Zeug, das sie bestellt hatte, musste ihr das Gehirn vernebelt haben. Oder vielleicht hatte sie in ihrem früheren Leben etwas Schreckliches verbrochen, eine Schneise der Zerstörung hinter sich hergezogen. Als Gräfin Dracula oder so was. Jetzt musste sie nur die ihr innewohnende böse Gräfin dazu bringen, diesen Hurensohn zu schnappen und ihm seine Eier auf einem Tablett zu servieren. Hier bitte, Freundchen, schön weit den Mund öffnen.
Wenn er sie nicht zuerst schnappte. Sie fröstelte trotz der Augustsonne und den Hitzewellen, die flirrend von den qualmenden Kohlen aufstiegen.
Mit schmutzigen Händen wischte sie die Tränen weg und starrte blinzelnd auf den Trümmerhaufen. All die Monate harter Arbeit für nichts.
Es hatte sich so gut angefühlt, den Buchladen ihrer Träume zum Leben zu erwecken. Als wäre sie endlich angekommen. Books & Brew war ihr Baby. Ihre Idee, ihre Investition, ihr Risiko. Ihr armseliges, verkohltes Scheitern.
Sei dankbar, dass es nachts passiert ist. Das Feuer hat nicht um sich gegriffen. Die Angestellten waren zu Hause. Niemand wurde verletzt, erinnerte sie sich zum millionsten Mal.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie fuhr zusammen. »Keine Sorge«, ertönte eine vertraute Stimme. »Es ist nicht so schlimm. Der Laden war versichert, oder?«
Es war Blair Madden, der Vizepräsident von Endicott Construction Enterprises und gleichzeitig die rechte Hand ihres Vaters. Blair hatte nie viel Taktgefühl besessen, aber das war sogar für ihn ein starkes Stück.
Liv drehte sich um. »Wie bitte? Es ist nicht so schlimm? Ich soll mir keine Sorgen machen?«
»Ich meinte doch nur, dass der Laden ersetzbar ist.« Blair nahm die Hand von ihrer rußigen, nackten Schulter und wischte sie diskret an seiner perfekt gebügelten hellbraunen Hose ab. »Es ist ja nicht so, als hätte es sich um einen kulturellen Meilenstein gehandelt. Bleib auf dem Teppich.«
»Livvy? Grundgütiger? Du bist immer noch hier?«
Sie zuckte zusammen, als sie den rasiermesserscharfen Tonfall ihrer Mutter hörte. Amelia Endicott stieg aus dem Mercedes, der am Randstein parkte, und stöckelte vorsichtig, um ihre Sandalen nicht zu beschmutzen, auf sie zu. »Du solltest nicht hier draußen sein!«, zeterte sie.
»Ich werde heimkommen, sobald ich bereit bin, Mutter«, sagte Liv.
Die Frau wurde sichtlich wütend. »Ich verstehe«, fauchte sie. »Das ist mal wieder typisch für dich. Du musst die Dinge auf deine Art machen und deinen Dickkopf durchsetzen.«
»Ganz genau«, murmelte Liv. »Mal wieder typisch für mich.«
Es kostete Energie, sich ihrer Mutter entgegenzustellen. Die Frau hatte wie ein Diktator über ihre Kindheit und Jugend geherrscht, hatte Livs Kleidung, ihre Schulen, ihre Freunde ausgewählt.
Außer während dieses einen denkwürdigen Sommers.
Ja, richtig. Ihre Mutter hatte ihr das Sean-Debakel anschließend fünf ganze Jahre unter die Nase gerieben, um sie daran zu erinnern, was passierte, wenn Liv nicht auf sie hörte. Ausnahmsweise hatte Amelia in diesem Fall recht behalten. Was Liv bis heute wie ein Stachel im Fleisch saß.
Schließlich hatte sie ihre Eltern gezwungen zu akzeptieren, dass sie erwachsen war und ihre eigenen Entscheidungen traf. Aber kaum war T-Rex mit seinem Kerosinkanister auf der Bildfläche erschienen, fühlten sie sich bemüßigt, sie wieder in eine erstickende Geschenkschachtel zu packen und mit einer Seidenschleife zu versehen. Olivia Endicott, verwöhnt und herausgeputzt, um der Familie zur Ehre zu gereichen, wenn sie doch nur: 1) diese überflüssigen fünfzehn Pfund verlöre, 2) die richtigen Schuhe trüge, 3) sich kleidete wie eine Dame, 4) Blair Madden heiratete und 5) für Endicott Construction Enterprises arbeitete.
Blair wählte diesen unpassenden Moment, um ihr den Arm um die Schulter zu legen. Liv wich zur Seite aus, bevor sie den Reflex kontrollieren konnte.
Er verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. »Ich versuche nur zu helfen«, erklärte er steif. »Du benimmst dich kindisch, weißt du das? Und zickig.«
Ich bin ein bisschen gestresst, falls es dir entgangen sein sollte. Sie schluckte die sarkastische Bemerkung runter. »Bitte entschuldige, Blair«, sagte sie stattdessen. »Ich ertrage es im Moment nur nicht, angefasst zu werden.«
Der Blick ihrer Mutter glitt über ihren Körper, und ihre Lippen wurden schmal. »Ich kann nicht fassen, dass du dich in diesem Aufzug in der Öffentlichkeit zeigst.«
Liv musterte ihre weite Hose und das kurze Tanktop. Sie war zu dem Feuer gerannt, sobald sie die Nachricht bekommen hatte, ohne ihre Pyjamahose gegen etwas anderes zu tauschen. Selbst mit zwanzig hatte sie keinen Bauch gehabt, der straff genug für diesen Look gewesen wäre, und mit zweiunddreißig konnte sie das erst recht nicht von sich behaupten. Sie trug auch keinen BH. Sie könnte sich ihre Brüste wie eine Kriegerin einfach über die Schulter werfen. Und was ihre Hose betraf …