In den Schatten lauert der Tod - Shannon McKenna - E-Book

In den Schatten lauert der Tod E-Book

Shannon McKenna

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Beschreibung

Der ehemalige FBI-Agent Connor McCloud wurde von seinem besten Freund Ed verraten und verlor dadurch seinen Job. Doch als er Ed hinter Gitter bringt, stirbt damit auch jede Hoffnung darauf, die Frau seines Lebens zu erobern - Eds Tochter Erin. Da gelingt einem gefährlichen Kriminellen die Flucht aus dem Gefängnis, und Connor fürchtet, dass dieser es auf Erin abgesehen hat. Er muss seine große Liebe um jeden Preis beschützen und darf ihr doch seine tiefen Gefühle nicht zeigen ...

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Inhalt

Titel

Prolog

1

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5

6

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Impressum

 

Shannon McKenna

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

 

Prolog

Der fensterlose Raum war dunkel. Die einzige Beleuchtung kam von einer Reihe flimmernder Apparate, die leise, intermittierende Pieptöne abgaben.

Die Tür ging auf. Eine Frau trat in das Zimmer und knipste eine Lampe an. Das Licht fiel auf einen Mann, der auf einer schmalen Matratze aus schwarzem Hightech-Latexschaum lag. Sein bleicher, ausgezehrter Körper war übersät mit haarfeinen Nadeln, die über Drähte mit den Maschinen hinter ihm verbunden waren.

Die mit einem weißen Laborkittel bekleidete Frau sperrte die Tür hinter sich ab. Sie war mittleren Alters, hatte stahlgraues Haar und ein vorspringendes Kinn. Ihre schmalen Lippen waren in einem hellen, grausamen Rot geschminkt.

Mit ebenso flinken wie geübten Bewegungen zog sie die Nadeln aus seinem Körper. Sie ölte ihre Hände ein, holte tief Luft und führte vorbereitende Vitalübungen durch, um Kraft und Wärme in ihre großen, plumpen Hände zu bringen. Dann begann sie den Mann fachmännisch zu massieren, von vorn und von hinten, von den Füßen bis hin zu seinem kahl werdenden Schädel. Mit düsterer, beängstigend intensiver Miene massierte sie sein Gesicht.

Als sie damit fertig war, nahm sie ihm mehrere Blutproben ab. Sie maß seinen Blutdruck, seinen Puls. Sie brachte das komplizierte Muster von Nadeln wieder an und veränderte ein paar Einstellungen an den Apparaten. Sie erneuerte die von einem Tropfständer baumelnden Plastikbeutel, die den Mann mit Nahrung und Medikamenten versorgten. Dann nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn auf beide Wangen und auf seinen halb geöffneten Mund.

Der Kuss war lang und leidenschaftlich. Als sie den Kopf hob, glänzten ihre Augen, und ihr Gesicht war gerötet. Ihr Atem ging schnell, und die Abdrücke ihres Lippenstifts auf seiner bleichen Haut erweckten den Eindruck, als wäre er gebissen worden.

Sie schaltete das Licht aus, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

Abermals wurde die Dunkelheit nur von farbigen Lämpchen, die blinkten und pulsierten, sowie einem leisen, unregelmäßigen Piepen durchbrochen.

 

1

Das silberne Handy, das auf dem Beifahrersitz des beigefarbenen Cadillacs lag, brummte und vibrierte wie eine verendende Fliege auf einem staubigen Fensterbrett.

Connor fläzte sich tiefer in den Fahrersitz und starrte es mürrisch an. Normale Menschen waren so gepolt, dass sie nach dem Ding gegriffen und einen Blick auf die Nummer geworfen hätten und dann rangegangen wären. Bei ihm waren diese Funktionen nicht intakt, die Programmierungen gelöscht. Selbst erschrocken über seine Gleichgültigkeit, beobachtete er es weiter. Vielleicht war »erschrocken« zu viel gesagt. »Verblüfft« käme der Sache näher. Lass das Ding klingeln, bis es kapituliert. Fünfmal. Sechs. Sieben. Acht. Das Handy zeigte sich beharrlich und brummte verärgert weiter.

Bei vierzehn gab es angewidert auf.

Durch die Regentropfen, die über die Windschutzscheibe rannen, fixierte sein Blick wieder Tiffs derzeitiges Liebesnest. Es war ein großes, hässliches Stadthaus, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Die Welt jenseits des Autos war eine trübe Mixtur aus Grün- und Grautönen. Im Schlafzimmer im ersten Stock brannte noch immer Licht. Tiff ließ sich Zeit. Connor schaute auf seine Armbanduhr. Normalerweise zählte sie zu der fixen Maximal-zwanzig-Minuten-Sorte von Frauen, nur dass sie diese Treppe schon vor knapp vierzig Minuten hochgestiegen war. Für sie ein Rekord.

Vielleicht war es ja wahre Liebe.

Connor schnaubte, während er die schwere Kamera in Position brachte und das Teleobjektiv auf die Eingangstür richtete. Er wünschte sich, sie würde sich beeilen. Sobald er die Fotos hätte, für die ihr Ehemann McCloud Investigative Services bezahlte, wäre sein Job erledigt, und er könnte sich wieder verkriechen. Eine düstere Bar und ein Glas Single Malt, irgendwo, wo das fahlgraue Tageslicht seine Augen nicht reizen würde. Wo er sich darauf konzentrieren konnte, nicht an Erin zu denken.

Seufzend ließ er die Kamera sinken und kramte seinen Tabak samt Zigarettenpapier hervor. Nachdem er aus seinem Koma erwacht war, hatte ihm die peinigende Langeweile während seiner Reha die brillante Idee beschert, auf Selbstgedrehte umzusteigen, weil er sich eingebildet hatte, dass er länger bräuchte und folglich weniger rauchen würde, wenn er sie ausschließlich mit seiner kaputten Hand drehte. Das Problem war nur, dass er sehr schnell sehr gut darin geworden war. Inzwischen konnte er, ohne hinzusehen, in Sekundenschnelle mit beiden Händen eine perfekte Zigarette drehen. So viel zu seinem armseligen Versuch, sich in Selbstbeherrschung zu üben.

Seine Finger auf Autopilot geschaltet und die Augen weiter auf das Haus gerichtet, drehte er die Zigarette, während er träge darüber nachsann, wer der Anrufer gewesen sein könnte. Nur drei Personen kannten die Nummer: sein Freund Seth sowie seine beiden Brüder Sean und Davy. Ganz sicher hatte Seth an einem Samstagnachmittag Besseres zu tun, als ihn anzurufen. Der Mistkerl steckte bis zur Halskrause im Flitterwochenglück mit Raine. Vermutlich wälzte er sich gerade im Bett und vollzog sexuelle Handlungen, die in manchen Südstaaten noch immer gegen das Gesetz verstießen. Dieser verdammte Glückspilz.

Connor verzog, von sich selbst angeekelt, den Mund. Auch Seth hatte unter all der Scheiße zu leiden gehabt, die während der letzten Monate über sie hereingebrochen war. Er war ein guter Kerl und ein echter Freund, wenn auch ein schwieriger. Er verdiente das Glück, das er mit Raine gefunden hatte. Es stand ihm, Connor, nicht zu, neidisch zu sein, aber Herrgott noch mal … Die beiden zu beobachten, wie sie wie Glühwürmchen strahlten, die Hüften aneinanderschmiegten und sich gegenseitig das Gesicht ableckten, na ja … das alles war nicht gerade hilfreich.

Connor riss seine Gedanken von diesen sinnlosen Überlegungen los und musterte das Handy. Seth konnte es also nicht gewesen sein. Er schaute wieder auf die Uhr. Sein jüngerer Bruder Sean war um diese Zeit im Dojo, wo er einen Nachmittagskurs im Kickboxen gab. Damit blieb nur sein älterer Bruder Davy.

Aus purer Langeweile nahm er das Handy, um die Nummer zu checken, als das verdammte Ding in seiner Hand zu schnarren anfing, so als hätte es nur darauf gewartet, und Connor fluchend zusammenfuhr. Dieser Mistkerl mit seinem telepathischen Gespür. Davys Instinkte und sein Näschen für perfektes Timing waren legendär.

Er kapitulierte und drückte mit einem angewiderten Grunzen die Annahmetaste. »Was?«

»Nick hat angerufen.« Davys tiefe Stimme war schroff und geschäftsmäßig.

»Und?«

»Was meinst du mit ›Und?‹? Der Kerl ist dein Freund. Du brauchst deine Freunde, Con. Du hast jahrelang mit ihm zusammengearbeitet, und er …«

»Jetzt arbeite ich nicht mehr mit ihm zusammen«, sagte Connor dumpf. »Ich arbeite mit keinem von ihnen mehr zusammen.«

Davy gab einen unartikulierten Frustlaut von sich. »Ich weiß, dass ich versprochen habe, diese Nummer nicht weiterzugeben, aber das war ein Fehler. Ruf ihn an, sonst werde ich …«

»Wage es bloß nicht!«

»Dann zwing mich nicht dazu.«

»Ich schmeiß das Handy in die erstbeste Mülltonne«, warnte Connor ihn. »Ich scheiß auf das Ding.«

Beinahe konnte er hören, wie sein älterer Bruder mit den Zähnen knirschte. »Deine Einstellung ist wirklich zum Kotzen«, grollte Davy.

»Versuch nicht ständig, mich rumzukommandieren, dann nervt es dich auch nicht so«, schlug Connor vor.

Davy quittierte das mit einer langen Pause, die dazu gedacht war, Connor ein schlechtes Gewissen zu machen. Es funktionierte nicht. Er saß es einfach aus.

»Er will mit dir sprechen«, fuhr Davy schließlich fort. Seine Stimme war gefährlich neutral. »Er sagte, es sei wichtig.«

Das Licht im Schlafzimmer des Hauses ging aus. Connor brachte die Kamera in Position. »Ich will es gar nicht erst wissen.«

Davy ließ ein angewidertes Grunzen hören. »Hast du Tiffs neuestes Abenteuer inzwischen auf Film?«

»Ist bloß noch eine Frage von Minuten. Sie wird gleich rauskommen.«

»Schon Pläne für danach?«

Connor zögerte. »Äh …«

»Ich hab ein paar Steaks im Kühlschrank«, versuchte Davy ihn zu ködern. »Und eine Kiste Anchor Steam.«

»Ich bin nicht wirklich hungrig.«

»Ich weiß. Das bist du schon seit eineinhalb Jahren nicht mehr. Darum hast du auch zwölf verdammte Kilo abgenommen. Schieß die Fotos, dann schaff deinen Arsch hierher. Du musst was essen.«

Connor seufzte. Sein Bruder sollte eigentlich wissen, wie nutzlos seine polternden Befehle waren, aber irgendwie kapierte er es nicht. Sein Sturkopf war härter als Zement. »Hör mal, Davy, es ist nicht so, dass ich deine Kochkünste nicht zu schätzen wüsste …«

»Nick hat Neuigkeiten über Novak, die dich interessieren dürften.«

Connor setzte sich so abrupt in seinem Sitz auf, dass die Kamera schmerzhaft mit seinem vernarbten Bein kollidierte »Novak? Was ist mit Novak?«

»Mehr weiß ich nicht. Das war alles, was er gesagt hat.«

»Das Dreckschwein verrottet gerade in seiner Zelle in einem Hochsicherheitsgefängnis. Was für Neuigkeiten kann es über ihn geben?«

»Ich schätze, du solltest Nick anrufen und es herausfinden, meinst du nicht? Danach siehst du zu, dass du herkommst. Ich mixe schon mal die Marinade. Bis später, Bruderherz.«

Zu erschüttert, um sich über Davys beiläufigen Kommandoton zu ärgern, starrte Connor das Handy in seinen Fingern an. Sie zitterten. Wow! Er hätte nicht gedacht, dass noch so viel Adrenalin in seinem Tank war.

Kurt Novak, der eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hatte, die Connors Leben wirkungsvoll zerstört hatten. Zumindest sah er es so an seinen selbstmitleidigen Tagen, die sich in letzter Zeit bedenklich häuften. Kurt Novak, der Connors Partner Jesse ermordet hatte. Der verantwortlich war für das Koma, die Narben, das Hinken. Der Connors Kollegen Ed Riggs erpresst und korrumpiert hatte.

Novak, der um ein Haar Erin, Eds Tochter, in seine widerlichen, dreckigen Finger gekriegt hätte. Ihr unfassbar knappes Entkommen hatte ihm monatelang Albträume beschert. Oh ja. Wenn es ein magisches Wort auf der Welt gab, das ihn abrupt aus dem Schlaf reißen und alles andere vergessen lassen konnte, dann war es der Name Novak.

Erin. Er rieb sich die Stirn und versuchte, nicht an das letzte Mal zu denken, als er ihr wunderhübsches Gesicht gesehen hatte, aber das Bild war unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Sie hatte in eine Decke gewickelt auf dem Rücksitz eines Streifenwagens gesessen. In einer Schockstarre. Ihre Augen vor Entsetzen über den Verrat riesengroß.

Er war es, der verantwortlich war für diesen Ausdruck in ihren Augen.

Zähneknirschend kämpfte er gegen das peinigende Aufwallen hilfloser Wut, das diese Erinnerung auslöste, und den Ansturm sinnlicher Visionen an. Sie sorgten dafür, dass er sich schuldig und schmutzig fühlte, trotzdem ließen sie ihn nicht los. Jedes einzelne Detail, das sein Gehirn in Bezug auf Erin abgespeichert hatte, war erotisch besetzt, bis hin zu dem elfenhaften Wirbel, den ihre dunklen Haare im Nacken bildeten, wenn sie sie hochnahm. Und dann die Art, wie sie die Welt mit ihren großen, nachdenklichen Augen betrachtete. Ruhig und beherrscht hatte sie ihre eigenen mysteriösen Schlüsse gezogen. Er brannte vor schmerzhaftem Verlangen zu erfahren, was sie dachte.

Und dann ihr schüchternes, süßes Lächeln, das plötzlich über ihr Gesicht zuckte. Wie ein Blitz, der sein Gehirn zum Schmelzen brachte.

Seine Augen erfassten eine plötzliche Bewegung, und er riss die Kamera hoch. Tiff war schon die Hälfte der Stufen hinuntergeeilt, bevor er eine schnelle Abfolge von Fotos schießen konnte. Sie warf einen verstohlenen Blick nach rechts, dann nach links, wobei ihr dunkles Haar über den beigefarbenen Regenmantel wogte. Der Mann folgte ihr die Treppe hinunter. Groß, um die vierzig, beginnende Glatze. Keiner von beiden wirkte besonders entspannt oder befriedigt. Er versuchte sie zu küssen. Tiff drehte sich weg, und der Kuss landete auf ihrem Ohr. Connor bekam alles auf Film.

Tiff stieg in ihren Wagen. Sie ließ ihn röhrend zum Leben erwachen und fuhr davon, schneller, als es auf der einsamen, regennassen Straße nötig gewesen wäre. Der Typ starrte ihr verwirrt hinterher. Ahnungsloser Trottel. Er hatte keine Ahnung, in welche Schlangengrube er gestolpert war. Die hatten diese Typen nie, bis es zu spät war.

Connor ließ die Kamera sinken. Der Mann stieg die Treppe hoch und verschwand mit hängenden Schultern im Haus. Diese Bilder sollten genug sein für Phil Kurtz, Tiffs hinterhältiges Arschloch von einem Ehemann. Wie es die Ironie wollte, betrog Phil Tiff nämlich auch. Er wollte lediglich sicherstellen, dass sie keine Chance hatte, ihn in der unvermeidbaren erbitterten Scheidungsschlacht über den Tisch zu ziehen.

Das Ganze widerte Connor an. Nicht, dass es ihn interessiert hätte, mit wem Tiff Kurtz schlief. Sie konnte es von ihm aus mit einer ganzen Armee glatzköpfiger Anzugträger treiben. Phil war ein solch weinerlicher, rachsüchtiger Scheißkerl, dass er es ihr fast nicht verübeln konnte, trotzdem tat er es. Er kam nicht dagegen an. Sie sollte Phil verlassen. Es sauber und ehrlich über die Bühne bringen. Ein neues Leben beginnen. Ein echtes Leben.

Ha! Als ob er das Recht hätte, sich ein Urteil anzumaßen. Er versuchte, über sich selbst zu lachen, aber das Lachen verklang tonlos. Er ertrug den Verrat nicht. Dieses Lügen und Betrügen, dieses Sich-heimlich-Davonstehlen wie ein ungezogener Hund, der versuchte, mit einer Gaunerei davonzukommen. Seine Brust zog sich zusammen, sodass er kaum noch Luft bekam. Was aber auch an den vielen filterlosen Zigaretten, die er qualmte, liegen konnte.

Es war seine eigene Schuld, dass er sich von Davy hatte überreden lassen, in der Detektei auszuhelfen. Er hatte den Gedanken nicht ertragen können, in seinen alten Job zurückzukehren, nach allem, was letzten Herbst passiert war. Aber er hätte es besser wissen müssen. Wenn man gerade erst einen Kollegen hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, weil der einem eine tödliche Falle gestellt hatte … nun ja, da war das Verfolgen treuloser Ehepartner therapeutisch gesehen nicht unbedingt hilfreich. Davy ging wohl davon aus, dass Tiff exakt die Art von absurd leicht lösbarer Aufgabe darstellte, die zu verbocken sogar seinem depressiven kleinen Bruder schwerfallen dürfte.

Oh Mann! Die Selbstmitleidsparty wurde langsam hässlich. Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich, seine Einstellung durch einen Akt purer Willenskraft in die richtigen Bahnen zu lenken. Davy hatte Tiff und ihr Gesindel an ihn abgeschoben, weil sie ihn anödeten, und wer konnte es ihm verübeln? Und falls Connor damit nicht klarkam, sollte er die Klappe halten und sich einen anderen Job suchen. Als Sicherheitswachmann zum Beispiel. Nachts, damit er nicht mit jemandem zusammenarbeiten musste. Vielleicht könnte er Hausmeister in einer großen Industrieanlage werden und dort Nacht für Nacht einen Besen kilometerlange verwaiste Gänge hinunterschieben. Na klar, das würde ihn bestimmt aufmuntern!

Es war nicht so, dass er an Geldmangel litt. Seine Wohnung war abbezahlt. Die Investitionen, zu denen Davy ihn genötigt hatte, waren goldrichtig gewesen. Er fuhr einen altehrwürdigen 1967er Cadillac, der nicht kaputtzukriegen war. Teure Klamotten interessierten ihn nicht. Er ging nicht mit Frauen aus. Nachdem er sich das Stereo- und Videosystem seiner Wahl gegönnt hatte, wusste er kaum noch, wofür er die Dividenden seiner Kapitalanlagen ausgeben sollte. Mit dem, was er auf der hohen Kante hatte, könnte er vermutlich auskommen, ohne je wieder arbeiten zu müssen.

Gott, was für trostlose Aussichten: weitere vierzig plus x Jahre sein Leben fristen, ohne etwas zu tun zu haben und jemandem etwas zu bedeuten. Der Gedanke ließ ihn erschaudern.

Connor fischte die ungerauchte Zigarette aus seiner Jackentasche. Alles wurde schmutzig und schäbig, alles ging kaputt, alles hatte seinen Preis. Es war an der Zeit, die Realität zu akzeptieren und das Schmollen einzustellen. Er musste sein Leben weiterleben. Irgendein Leben.

Früher hatte er sein Leben gemocht. Er hatte neun Jahre als Agent in einer verdeckt ermittelnden FBI-Einheit gearbeitet, die sein Partner Jesse scherzhaft Die Höhle genannt hatte, und er war gut darin gewesen, sich in die Rollen einzufühlen, die er spielte. Er hatte seinen Teil an Gräueltaten gesehen, und ja, manche davon hatten ihn bis in seine Träume verfolgt, trotzdem hatte er gleichzeitig auch die unglaublich tiefe Befriedigung erfahren, das tun zu können, wozu er sich berufen fühlte. Er hatte es geliebt, immer mitten im Geschehen zu sein, eingebunden in ein engmaschiges Netz ineinander verwobener Fäden – berühre einen davon, und das ganze Gebilde summt und vibriert. Sämtliche Sinne in Alarmbereitschaft, und das Gehirn arbeitete auf Hochtouren und schob Überstunden, während es Verbindungen und Zusammenhänge herstellte und Schlussfolgerungen zog.

Doch nun waren die Fäden gekappt. Er war abgestumpft und isoliert, befand sich im freien Fall. Welchen Nutzen hätte es, etwas über Novak zu erfahren? Er könnte nicht eingreifen. Sein Netz war zerrissen. Er hatte nichts zu geben. Was sollte es also bringen?

Er zündete die Zigarette an und durchforstete seine Erinnerung nach Nicks Telefonnummer. Sie ploppte unverzüglich grell blinkend auf dem Monitor in seinem Gehirn auf. Das fotografische Gedächtnis war ein typisches Merkmal der McClouds. Manchmal war es nützlich, manchmal nicht mehr als ein billiger Trick. Manchmal war es ein Fluch. Es hielt auf ewig Erinnerungen wach, die er lieber vergessen wollte. Wie zum Beispiel dieses schulterfreie weiße Leinentop, das Erin anlässlich des Picknicks der Riggs am 4. Juli getragen hatte. Sechs verdammte Jahre war das nun her, und das Bild war noch immer so messerscharf wie eine Glasscherbe. Sie hatte an jenem Tag auf einen BH verzichtet, wodurch er einen ausgezeichneten Eindruck von ihren wunderschönen Brüsten bekommen hatte. Hoch, weich, und mit zarten Spitzen waren sie bei jeder Bewegung auf und ab gehüpft. Dunkle, feste Brustwarzen, die sich überdeutlich hinter dem dünnen Stoff abzeichneten. Er war überrascht gewesen, dass Barbara, Erins Mutter, es ihr erlaubt hatte. Vor allem, nachdem sie Connor ertappt hatte, wie er Erin angestarrt hatte. Ihre Augen waren zu Eis gefroren.

Barbara war keine Idiotin. Sie hatte nicht gewollt, dass sich ihre junge, unschuldige Tochter mit einem Bullen einließ. Kein Wunder, so wie das für sie selbst ausgegangen war.

Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Erinnerungen verdrängen zu wollen. Dadurch gewannen sie nur an Intensität, bis sie übermächtig und mit Händen greifbar waren und alles andere überlagerten. So wie das Bild von Erins dunklen, gepeinigten Augen hinter der Scheibe des Streifenwagens. Erfüllt von dem schrecklichen Wissen um den Verrat.

Er inhalierte tief und starrte mit düsterer Miene das Handy an. Das letzte hatte er nach dem, was letzten Herbst passiert war, weggeworfen. Falls er dieses hier benutzte, um Nick anzurufen, hätte der seine neue Nummer. Nicht gut. Er mochte es, unerreichbar zu sein. Es passte zu seiner Gemütslage.

Connor schloss die Augen und dachte an letztes Weihnachten, als Davy und Sean ihm das verflixte Ding gegeben hatten. Es stammte aus Seths Spielzeugsammlung, was bedeutete, dass es über Dutzende von Hightech-Klingel- und Pfeiftönen verfügte, einige davon nützlich, andere nicht. Er hatte durch Seths Stapel von Benutzerhinweisen geblättert und Interesse geheuchelt, um niemandes Gefühle zu verletzen. Er entsann sich vage einer Funktion, durch die die Anruferkennung ausgeschaltet werden konnte, also durchstöberte er seine Erinnerung, fand die entsprechende Tastenfolge, gab sie ein, dann wählte er.

Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, während es klingelte.

»Nick Ward«, meldete sich sein ehemaliger Kollege.

»Hier ist Connor.«

»Sag bloß.« Nicks Stimme war frostig. »Und, leckst du immer noch deine Wunden, Con?«

Er hatte gewusst, dass das Gespräch schlecht laufen würde. »Könnten wir den Teil überspringen, Nick? Ich bin gerade nicht in Stimmung.«

»Deine Stimmung interessiert mich einen Scheiß. Ich war nicht derjenige, der dich verraten hat. Es gefällt mir nicht, für das bestraft zu werden, was Riggs dir angetan hat.«

»Ich bestrafe dich nicht«, verteidigte Connor sich.

»Nein? Was genau hast du dann die letzten sechs Monate gemacht, Arschloch?«

Connor verkroch sich tiefer in seinem Sitz. »Ich bin in letzter Zeit irgendwie nicht richtig auf dem Damm. Nimm das bitte nicht persönlich.«

Nick ließ ein unbefriedigtes Grunzen hören.

Connor wartete. »Also?«

»Also was?«

Nicks Tonfall zehrte an seinen Nerven. »Davy sagt, dass du Neuigkeiten für mich hast«, half er ihm auf die Sprünge. »Über Novak.«

»Ach das.« Nick, dieser Mistkerl, kostete das Ganze aus. »Ich dachte mir schon, dass das deine Aufmerksamkeit erregen würde. Novak ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.«

Ein Adrenalinstoß jagte durch Connors Venen. »Was zur Hölle soll das heißen? Wann? Wie?«

»Vor drei Nächten. Er und zwei seiner Schläger. Georg Luksch und Martin Olivier. Schlau eingefädelt, perfekt inszeniert, gute finanzielle Rückendeckung. Hilfe von außen, von drinnen vermutlich auch. Erstaunlicherweise wurde niemand getötet. Allem Anschein nach steckt Daddy Novak dahinter. Mit einer Milliarde Dollar lässt sich eine Menge erreichen. Sie sind bereits zurück in Europa. Novak und Luksch wurden in Frankreich gesichtet.«

Nick machte eine Pause und wartete auf Connors Reaktion, doch dem hatte es die Sprache verschlagen. Die Muskeln in seinem versehrten Bein verkrampften sich und schickten heiße Schmerzwellen durch seinen Oberschenkel. Er drückte mit einer Hand auf sein Bein und versuchte zu atmen.

»Ich dachte, du solltest Bescheid wissen. Immerhin hat Georg Luksch noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen«, fuhr Nick fort. »Nachdem du letzten Herbst sämtliche Knochen in seinem Gesicht zertrümmert hast.«

»Er hatte die Anweisung, Erin zu verletzen.« Connors Stimme vibrierte vor Anspannung. »Er bekam, was er verdiente.«

Nick wartete kurz, bevor er sagte: »Er hat sie nicht angerührt. Wir haben lediglich Eds Aussage, dass Luksch es vorgehabt haben soll, und Eds Glaubwürdigkeit ist unter aller Sau. Er wollte damit nur seine eigene Haut retten, aber hast du daran einen einzigen Gedanken verschwendet, bevor du den großen Retter markieren musstest? Oh nein! Du wolltest den Superhelden spielen. Himmelherrgott noch mal. Du kannst von Glück reden, dass du nicht im Dienst warst. Die hätten dich gevierteilt.«

»Georg Luksch ist ein verurteilter Mörder«, stieß Connor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Er war bereit, ihr wehzutun. Er kann von Glück reden, dass er nicht tot ist.«

»Ja. Schon klar. Was auch immer du sagst. Lassen wir deinen Heldenkomplex mal beiseite, ich wollte jedenfalls, dass du gewarnt bist. Nicht, dass es dich einen Scheiß interessiert oder du irgendjemandes Hilfe nötig hättest. Und natürlich hast du Besseres zu tun, als mit mir zu quatschen, deswegen werde ich dir nicht noch mehr von deiner kostbaren Zeit stehlen …«

»Jetzt komm schon, Nick. Tu das nicht.«

Etwas an Connors Stimme ließ Nick innehalten. »Ach, was soll’s!«, kapitulierte er erschöpft. »Falls irgendwas Ungewöhnliches passiert, ruf mich an, okay?«

»Das mach ich, danke«, versprach Connor. »Aber, äh … was ist mit Erin?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Novak hat sie nicht vergessen. Keine Chance. Es sollte jemand zu ihrem Schutz abgestellt werden. Am besten sofort.«

Nicks langes Schweigen ließ nichts Gutes erahnen. »Du bist ernsthaft in die Kleine verschossen, oder, Con?«

Connor biss die Zähne zusammen und zählte lautlos, bis er sein Temperament wieder unter Kontrolle hatte. »Nein«, antwortete er mit leiser, bedächtiger Stimme. »Aber jeder, der auch nur halbwegs was in der Birne hat, kann sich denken, dass sie auf seiner Abschussliste steht.«

Nick seufzte. »Du hast mir nicht zugehört, stimmt’s? Du bist in deiner eigenen Fantasiewelt gefangen. Wach endlich auf! Novak ist in Frankreich. Er wurde in Marseille gesehen. Er mag ein Monster sein, aber er ist kein Idiot. Er denkt nicht mehr an Erin. Gib mir keinen Grund zu bereuen, dass ich dich auf dem Laufenden halte, weil du es nicht verdienst.«

Connor schüttelte den Kopf. »Nick, ich kenne diesen Typen. Novak würde niemals …«

»Lass gut sein, Con. Bring dein Leben wieder auf die Reihe. Und pass auf dich auf.«

Damit legte er auf. Beschämt, weil er seine Nummer ausgeblendet hatte, starrte Connor das Telefon in seiner zitternden Hand an. Er widerrief die Funktion und drückte auf Wahlwiederholung. Rasch, bevor er seine Meinung ändern konnte.

»Nick Ward«, erklang die schroffe Stimme seines Freundes.

»Speicher die Nummer ab«, forderte Connor ihn auf.

Nick stieß ein überraschtes Lachen aus. »Wow, ich fühle mich ja so geehrt.«

»Das freut mich. Bis bald, Nick.«

»Das hoffe ich.«

Connor unterbrach die Verbindung und ließ das Handy auf den Sitz fallen. Seine Gedanken rasten. Novak war unvorstellbar reich. Er verfügte über die finanziellen Möglichkeiten und die nötige Intelligenz, um das einzig Kluge zu tun und sich eine neue Identität, ein komplett neues Leben zu kaufen. Nur dass Connor ihn schon seit Jahren studierte. Novak würde nicht das einzig Kluge tun. Er würde verflucht noch mal ausschließlich das tun, worauf er Lust hatte. Er hielt sich für einen Gott. Diese Wahnvorstellung hatte ihn schon einmal alle Vorsicht vergessen lassen. Und genau diese Wahnvorstellung machte ihn so tödlich, wenn sein Stolz verletzt war.

Besonders für Erin. Mist, warum war er der Einzige, der das erkannte? Sein Partner Jesse hätte es begriffen, aber Jesse lebte nicht mehr. Novak hatte ihn vor sechzehn Monaten zu Tode gequält.

Erin war Novak durch die Finger geschlüpft. Er würde das als persönlichen Affront auffassen. Niemals würde er aus Vernunftgründen auf seine Rache verzichten.

Sein Bein verkrampfte sich wieder. Er grub die Finger hinein und versuchte dagegen anzuatmen. Er und seine Brüder konnten sich gegenseitig schützen, aber Erin lag praktisch mit ausgestreckten Armen auf einem Opferaltar. Und er, Connor, war derjenige, der sie dorthin geführt hatte. Seine Zeugenaussage hatte ihren Vater ins Gefängnis gebracht. Sie musste ihn dafür abgrundtief hassen, und wer könnte es ihr verdenken?

Er vergrub das Gesicht in den Händen und stöhnte. Erin musste im Zentrum von Novaks perversen Gedanken stehen.

Genau wie sie immer im Zentrum seiner eigenen stand.

Er versuchte, die Sache logisch anzugehen, aber mit Logik kam man hier nicht weit. Er musste auf seine Gefühle vertrauen. Wenn das FBI sie nicht beschützen würde, musste er diese Aufgabe eben selbst übernehmen. Er war so verdammt berechenbar. Erin war so unschuldig und süß, dass sie unweigerlich jeden seiner schwachsinnigen Möchtegernheld-Knöpfe drückte. Und auch die Jahre heißer, detaillierter Sexfantasien, die er über sie gesponnen hatte, trugen nicht gerade dazu bei, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte.

Gleichzeitig machte die Vorstellung, eine echte Aufgabe zu haben, eine Aufgabe, die tatsächlich wichtig für jemanden sein könnte, seine Konzentration mit einem Mal so laserscharf, dass es wehtat. Sie verscheuchte den Nebel, der ihm seit Monaten die Sicht nahm. Sein ganzer Körper pulsierte vor wilder, spannungsgeladener Energie.

Er musste es tun, ganz egal, wie sehr sie ihn hasste. Der Gedanke, sie wiederzusehen, trieb ihm die Hitze ins Gesicht, machte seinen Schwanz hart und ließ sein Herz ungestüm gegen seine Rippen pochen.

Großer Gott, sie machte ihm mehr Angst als Novak.

Betreff: Neue Akquisition

Datum: Samstag, 18. Mai, 14:54

Von: »Claude Mueller«

An: »Erin Riggs«

Sehr geehrte Ms Riggs,

vielen Dank, dass Sie mir eine Kopie Ihrer Magisterarbeit zukommen ließen. Ich bin fasziniert von Ihren Theorien bezüglich der religiösen Bedeutung ornithologischer Darstellungen auf keltischen Artefakten aus der La-Tène-Zeit. Erst kürzlich erwarb ich einen aus dem 3. Jahrhundert vor Christus stammenden Kriegerhelm, dessen Scheitel ein mechanischer Bronzerabe ziert (im Anhang als JPG). Ich freue mich darauf, Ihre Meinung dazu zu hören.

Neben dem Helm gibt es mehrere andere neue Objekte, die ich Ihnen zeigen möchte. Auf meinem Weg nach Hongkong werde ich morgen in Oregon, genauer gesagt dem Silver Fork Bay Resort, einen Zwischenstopp einlegen. Ich werde spätabends eintreffen und am nächsten Tag weiterreisen. Natürlich ist das sehr kurzfristig, deshalb würde ich verstehen, wenn Sie es nicht einrichten können, trotzdem nahm ich mir die Freiheit, auf Ihren Namen ein elektronisches Ticket für den morgigen Sea-Tac-Portland-Shuttle zu reservieren. In Portland wird Sie eine Limousine erwarten, die Sie zur Küste bringt. Wir können uns die Stücke Montagmorgen gemeinsam ansehen und dann zu Mittag essen, falls es die Zeit erlaubt.

Ich hoffe, Sie finden mich nicht anmaßend. Bitte, kommen Sie! Ich kann es kaum erwarten, Sie endlich persönlich zu treffen, auch wenn ich noch immer das seltsame Gefühl habe, Sie längst zu kennen.

Ich vertraue darauf, dass dieselbe finanzielle Vergütung wie bisher für Sie akzeptabel ist. JPGs der Objekte, von denen ich möchte, dass Sie sie sich ansehen, finden Sie in der Anlage.

Ihr sehr ergebener

Claude Mueller

Quicksilver Foundation

Erin sprang von ihrem Stuhl und führte ein Freudentänzchen auf. Die Wände der Einzimmerapartments im Kinsdale Arms waren zu dünn, als dass sie sich ein Triumphgeheul hätte erlauben können, deshalb presste sie die Hand vor den Mund, um ihre Freudenschreie zu ekstatischen Quietschlauten abzuschwächen. Sie las die E-Mail auf dem Monitor wieder und wieder, nur um sich zu vergewissern, dass noch immer das Gleiche darin stand.

Dieser Job würde ihren Kopf aus der Schlinge ziehen, und das gerade noch rechtzeitig. Vermutlich bewirkte sie mit ihrem Herumgehüpfe, dass der zänkischen Mieterin unter ihr der verrottete Deckenputz auf den Kopf rieselte, aber das kümmerte sie nicht. Vielleicht hatte der große Wer-auch-immer entschieden, dass sie in letzter Zeit genügend Pech gehabt hatte, und beschlossen, ihr eine Verschnaufpause zu gönnen.

Mit einem missbilligenden Maunzen forderte Edna eine Erklärung für die ungehörige Aufregung. Erin nahm sie hoch, aber sie drückte die zimperliche Katze zu fest. Edna sprang mit einem angewiderten Prrrt aus ihren Armen.

Erin drehte sich mit albernen Tanzschritten im Kreis. Endlich wendete sich das Blatt. Ihr Blick fiel auf die Kreuzstickerei über ihrem Schreibtisch, die besagte: »Du erschaffst dir deine Realität jeden Tag aufs Neue.« Zum ersten Mal seit Monaten hatte sie nicht das Gefühl, als ob jemand sie in einem herablassenden Ton fragte: »Und das ist alles, was du zustande bringst?«

Sie hatte das Ding vor vier Monaten gestickt, direkt nachdem sie aus ihrem Job gefeuert worden war. Sie war so wütend gewesen, dass sie kaum mehr klar denken konnte, und die Handarbeit war ein Versuch gewesen, ihre negative, selbstzerstörerische Energie in eine positive Richtung zu lenken. Allerdings hatte sie ihn am Ende als gescheitertes Experiment abgehakt. Vor allem, weil sie die Stickerei jedes Mal, wenn sie sie sah, von der Wand reißen und quer durchs Zimmer schleudern wollte.

Nun ja. Es war der Gedanke, der zählte. Und sie musste sich zumindest bemühen, positiv zu denken. Mit ihrem Vater im Gefängnis, ihrer Mutter, die sich in ihr Schneckenhaus verkrochen hatte, und Cindy, die die Puppen tanzen ließ, konnte sie sich keine Sekunde des Selbstmitleids leisten.

Sie druckte Muellers E-Mail zusammen mit dem angehängten E-Ticket aus. Erste Klasse. Wie nett. Nicht, dass ihr die Holzklasse etwas ausgemacht hätte. Auch ein Greyhound-Bus wäre völlig in Ordnung gewesen. Himmel, sie hätte bereitwillig zugestimmt, per Anhalter nach Silver Fork zu fahren, aber verwöhnt zu werden war wie Balsam für ihr angeschlagenes Ego. Sie musterte die wasserfleckigen Wände der trostlosen Einzimmerwohnung mit dem einzelnen Fenster, das auf eine rußige, kahle Ziegelmauer blickte, und seufzte.

Aber das Wichtigste zuerst. Sie nahm ihren Terminkalender zur Hand, blätterte bis zu ihrer To-do-Liste für heute und fügte hinzu: Zeitarbeitsfirma anrufen. Tonia bitten, Edna zu füttern. Mom anrufen. Packen. Sie wählte die Nummer der Zeitarbeitsfirma.

»Hallo, hier ist Erin Riggs mit einer Nachricht für Kelly. Ich werde es am Montag nicht zu Winger, Drexler & Lowe schaffen. Es hat sich kurzfristig eine beruflich bedingte Reise ergeben, die ich morgen antreten werde. Ich habe sämtliche Fallabschriften aktualisiert, sie werden also nur jemanden brauchen, der die Telefone bedient. Dienstag bin ich selbstverständlich zurück. Danke und ein schönes Wochenende.«

Gewaltsam bezwang sie ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ohne vorherige Ankündigung einen Tag freinahm. Ihr Honorar für einen ihrer Beraterjobs betrug fast so viel, wie sie bei dreizehn Dollar pro Stunde in zwei Wochen bei der Zeitarbeitsfirma verdiente. Und war es nicht das, worum es bei Zeitarbeit ging? Weniger Verpflichtungen auf beiden Seiten, richtig? Richtig. So wie in einer dieser Beziehungen, in denen man sich gegenseitig die Freiheit lässt, auch mit anderen auszugehen. Nicht, dass sie in dieser Hinsicht eine Expertin gewesen wäre. Oder hinsichtlich irgendeiner Art von Beziehung.

Es war schwer, sich an dieses Heute-hier-morgen-dort-Konzept der Zeitarbeit zu gewöhnen. Sie warf sich gern in die Arbeit und gab dann zweihundert Prozent. Darum war es für sie auch so schrecklich schmerzvoll gewesen, aus einem Job gefeuert zu werden, in dem sie schon arbeitete, seit sie mit der Uni fertig war. Sie war Assistenzkuratorin für die wachsende Sammlung keltischer Antiquitäten am Huppert Institute gewesen.

Sie hatte sich den Arsch abgearbeitet und einen hervorragenden Job gemacht, bis Lydia, ihre Chefin, eine fadenscheinige Rechtfertigung gefunden hatte, sie loszuwerden während des Medienrummels, der den Gerichtsprozess ihres Vaters begleitet hatte. Sie hatte sich darauf berufen, dass Erin wegen ihrer persönlichen Probleme zu abgelenkt sei, um ihre Aufgaben zu erfüllen, doch es war offenkundig, dass sie Erin als Gefahr für den guten Ruf des Museums betrachtete. Abschreckend für zukünftige Sponsoren. »Unappetitlich« war das Wort, das Lydia an dem Tag ihrer Kündigung gebraucht hatte. Welcher zufälligerweise derselbe Tag war, an dem ein Rudel blutrünstiger Journalisten Erin zur Arbeit verfolgt hatte, um zu erfahren, wie sie sich wegen der Videos fühlte.

Diese berüchtigten, nicht jugendfreien Videos von ihrem Vater und seiner Geliebten, die als Druckmittel benutzt worden waren, um ihn zu Korruption und Mord zu treiben. Dieselben Videos, die jetzt, Gott allein wusste, wie oder warum, im Internet jedem zugänglich waren, um sich daran zu ergötzen.

Erin versuchte, diese Erinnerung auszublenden, indem sie ihr abgenutztes, die geistige Gesundheit erhaltendes Mantra herunterbetete: Es gibt nichts, für das ich mich schämen müsste. Auch das wird vorbeigehen … Es half ums Verrecken nicht mehr – nicht, dass es das je getan hätte. Lydia hatte Erin persönlich die Schuld an der ganzen Sache gegeben.

Zur Hölle mit Lydia, und das Gleiche galt für ihren Vater, der ihnen diesen ganzen widerwärtigen öffentlichen Schlamassel eingebrockt hatte. Ihr Zorn fühlte sich an wie Gift, das durch ihre Adern strömte und bewirkte, dass sie sich schuldig und schmutzig vorkam. Ihr Vater zahlte für das, was er getan hatte, den höchstmöglichen Preis. Wütend und angepisst zu sein, würde an der Situation nichts ändern. Ganz davon abgesehen, hatte sie auch gar nicht die Zeit, Trübsal zu blasen, also war es die bessere Lösung, sich zu beschäftigen.

Dieser Gedanke war ein weiterer Rettungsanker für ihre geistige Gesundheit. Der beste von allen. Er war idiotisch und uncool, aber was Coolness betraf, war sie ohnehin ein hoffnungsloser Fall. Schlagt uncool im Wörterbuch nach, und ihr werdet ein Foto von Erin Riggs finden. Die ständig wahnsinnig beschäftigte Erin Riggs.

Sie spitzte einen Bleistift und strich Zeitarbeitsfirma anrufen durch. Natürlich war es idiotisch, Punkte auf ihrer Liste zu notieren, nur um sie gleich darauf wieder durchzustreichen. Aber sie suchte nach dem flüchtigen Gefühl, eine Aufgabe vollbracht zu haben. Der Rest war ihr egal. Jeder noch so kleine Erfolg half. Selbst der banalste.

Moms Rechnungen stand nach wie vor ganz oben auf der Liste. Der Punkt, der sie am meisten beängstigte und deprimierte. Erin beschloss, noch ein paar Minuten Zeit zu schinden, indem sie die Nummer ihrer Freundin Tonia wählte. Der Anrufbeantworter sprang an. »Hallo, Tonia? Ich habe einen Eilauftrag von Mueller erhalten und muss morgen an die Küste fliegen. Meinst du, du könntest vorbeikommen und Edna füttern? Gib mir bitte Bescheid. Und zerbrich dir nicht den Kopf, falls es nicht geht, ich finde dann eine andere Lösung. Wir hören uns später.«

Sie legte auf. Ihr wurde vor Besorgnis flau im Magen, als sie das Scheckbuch, die Kontoauszüge, ihren Taschenrechner und den Stapel ungeöffneter Post zusammensammelte, den sie bei ihrem letzten Besuch zu Hause unter dem Briefschlitz gefunden und mitgenommen hatte. Nachdem sie die Werbesendungen entsorgt hatte, war der Stoß nur noch halb so hoch, aber auf vielen der übrig gebliebenen Kuverts prangte in gruselig roter Schablonenschrift Letzte Mahnung. Brrr. Die landeten auf einem Extrastapel.

Sie sortierte die Papiere zu ordentlichen Haufen. Unbezahlte Grundsteuer, schon seit Monaten fällig. Drohbriefe von Inkassobüros. Überfällige Hypothekenraten. Überfällige Telefonrechnungen. Arztrechnungen. Kreditkartenabrechnungen mit hohen Beträgen. Ein Brief aus dem Schatzmeisterbüro des Endicott Falls College: »… bedauern die Notwendigkeit, Cynthia Riggs das Stipendium aufgrund mangelnder akademischer Leistungen abzuerkennen.« Dieses Schreiben sorgte dafür, dass Erin die Augen schloss und die Hand auf den Mund presste.

Los, mach weiter! Es bringt nichts, sich damit aufzuhalten. Organisiertes Vorgehen beruhigte die Nerven. Es rückte die Dinge ins rechte Licht. Erin stapelte Inkassobürobriefe auf einen Haufen, überfällige Mahnungen auf einen anderen und machte drei Spalten in ihr Notizbuch: Extrem überfällig, Überfällig und Fällig. Sie addierte die Beträge und verglich sie mit dem, was auf dem Konto ihrer Mutter noch übrig war. Ihr rutschte das Herz in die Hose.

Selbst wenn sie ihr mageres Girokonto komplett plünderte, konnte sie die Deckungslücke in der Extrem überfällig-Spalte nicht ausgleichen. Ihre Mutter musste sich einen Job suchen, das war der einzige Ausweg. Bloß hatte Erin in letzter Zeit noch nicht einmal das Glück, ihre Mutter auch nur aus dem Bett zu bekommen, geschweige denn hinaus auf den Arbeitsmarkt.

Doch ihr blieb nichts anderes übrig, oder sie würde das Haus verlieren, das Barbara als Braut bezogen hatte. Das würde ihrer Mutter hundertprozentig den Rest geben.

Erin legte das Gesicht auf den akkuraten Stapel Rechnungen und kämpfte gegen das Bedürfnis zu weinen an. Ihren Tränen freien Lauf zu lassen, war nicht konstruktiv. Sie hatte es in den letzten Monaten oft genug ausprobiert, deshalb musste sie es wissen. Sie brauchte frische Ideen, neue Lösungen. Es war nur so schwer, ohne Hilfe über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Ihr müdes, einsames Gehirn fühlte sich an, als wäre es in einer Schachtel eingesperrt. Mit Ketten außen rum.

Dieser Auftrag von Claude Mueller war ein Geschenk des Himmels. Er war ein mysteriöser Zeitgenosse, ein einsiedlerischer, kunstliebender Multimillionär und gleichzeitig Verwalter des gigantischen Quicksilver-Fonds. Er hatte sie bei einer Internetrecherche zum Thema »Keltische Artefakte« zufällig entdeckt und war bei einem ihrer Artikel gelandet, der auf ihrer Website zu lesen war. Im Zuge der Gründung einer eigenen Beraterfirma hatte sie die Homepage selbst gestaltet. Er hatte angefangen, ihr E-Mails zu schicken, in denen er ihre Artikel kommentierte, ihr Fragen stellte und sogar um eine Kopie ihrer Promotionsschrift bat. Oh Mann. Der ultimative Egokick für eine Altertumsnärrin wie sie.

Schließlich hatte er ihr den Vorschlag unterbreitet, nach Chicago zu kommen, um die Echtheit einiger seiner Neuanschaffungen zu überprüfen, und wegen der Höhe ihres Honorars noch nicht mal mit der Wimper gezuckt. Besser gesagt, seine Untergebenen hatten das nicht getan. Er selbst war damals gerade in Paris gewesen. Sie hatte ihn weder da persönlich getroffen noch bei einem der drei Folgeaufträge, deren Vergütung jedes Mal ein Glücksfall gewesen war. Mit der ersten Zahlung hatte sie ihren Umzug aus der Wohnung auf der Queen Anne in dieses wesentlich preisgünstigere Zimmer im heruntergekommenen Kinsdale Arms finanziert. Der zweite und der dritte Job, beide in San Diego, hatten es ihr ermöglicht, den Eigenanteil ihrer Mutter für die letzten Arztrechnungen zu bezahlen. Mit dem Santa-Fe-Auftrag hatte sie zwei der überfälligen Hypothekenzahlungen ihrer Mutter beglichen. Und dieser würde, wenigstens hoffte sie das, beinahe die Extrem überfällig-Spalte abdecken.

Für Mueller zu arbeiten, war unglaublich stilvoll gewesen. Erste Klasse, sämtliche Spesen extra. Es war wunderbar gewesen, mit Achtung und Respekt behandelt zu werden. Was für eine willkommene Abwechslung zu der armseligen Tretmühle ihres Alltags, in dem sie sich wegen versäumter Hypothekenzahlungen mit Banken herumschlagen musste, ihren Vermieter anbettelte, den Kammerjäger zu bestellen, oder den ganzen Januar ohne warmes Wasser fristete. Und dann all die geschmacklosen Details, die im Lauf der Gerichtsverhandlung ihres Vaters eins nach dem anderen ans Licht gekommen waren, bis Erin am Ende gar nichts mehr schocken konnte. Na ja, fast gar nichts mehr. Diese Videos waren dann doch ein ziemlicher Hammer gewesen.

Genug. Konzentrier dich auf das Wesentliche. Claude Mueller wollte sie also persönlich treffen? Wie schmeichelhaft! Auch sie war neugierig auf ihn. Sie heftete die Rechnungen zusammen, verstaute sie in dem mit Moms Rechnungen markierten Ordner in ihrem Aktenschrank und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Muellers E-Mail zu.

Sie musste in ihrer Antwort den perfekten Ton treffen. Warm und enthusiastisch, dabei aber nicht unreif oder, Gott bewahre, verzweifelt. Reserviert und gleichzeitig mit einem Touch persönlichem Interesse, das gegen Ende aufblitzte. Ich freue mich schon darauf … wie schön, endlich die Gelegenheit zu bekommen, Sie persönlich kennenzulernen etc. Eine Empfehlung von Mueller könnte die Initialzündung für ihr hoch spezialisiertes Beratungsunternehmen sein. An eine Museumstätigkeit in Seattle war nicht mehr zu denken, seit das Huppert Institute sie gefeuert hatte. Sie würde die Stadt verlassen müssen, um der dunklen Wolke, die über ihrem Kopf hing, zu entfliehen. Gleichzeitig konnte sie ihre Mutter und Cindy unmöglich sich selbst überlassen, solange beide so labil waren.

Sie hatte sämtliche Informationen zusammengetragen, die sie im Internet über Mueller finden konnte. Er war öffentlichkeitsscheu, dennoch wurde er aufgrund seiner großzügigen Spenden an die Kunstwelt immer wieder in Museumsmagazinen erwähnt. Ihre Kollegen aus der Abteilung für Spendenzuschüsse und Entwicklung schwärmten ununterbrochen vom Umfang des Quicksilver-Fonds. Mueller war Mitte vierzig und lebte auf einer Privatinsel vor der südfranzösischen Küste. Das war alles, was sie wusste.

Sie las ihre Antwort und klickte auf SENDEN. Mal sehen. Vielleicht würde der Mann sich ja als attraktiv und charmant entpuppen. In seinen E-Mails schien er unterschwellig mit ihr zu flirten. Er war klug und gebildet. Dazu noch reich, nicht, dass ihr das wichtig gewesen wäre, trotzdem war es eine interessante Tatsache, die abzuspeichern sich lohnte. Er schätzte die sinnliche, enigmatische Schönheit keltischer Artefakte, die auch ihre Leidenschaft waren. Er war ein Sammler schöner Objekte.

Überhaupt kein Vergleich zu Connor McCloud.

Autsch! Verdammt. Dabei hatte sie sich eben erst insgeheim auf die Schulter geklopft, weil sie seit Stunden nicht an Connor gedacht hatte. Sie versuchte, ihn aus ihren Gedanken zu verscheuchen, aber es war zu spät. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, während des Albtraums am Crystal Mountain vergangenen Herbst, war sein Haar so lang, struppig und wild gewesen wie das eines keltischen Kriegers. Während hinter ihm Georg Luksch auf eine Tragbahre geladen worden war, hatte er sich auf seine blutbesudelte Krücke gestützt und sie angestarrt. Seine Miene war hart und grimmig gewesen, seine Augen hatten ihre durchbohrt. Ein kaum kontrollierbarer Zorn hatte in ihnen gelodert. Dieses Bild hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Das war der Tag gewesen, an dem ihr Leben angefangen hatte, völlig aus den Fugen zu geraten. Und Connor war derjenige gewesen, der ihren Vater in Untersuchungshaft gebracht hatte. Ihr Vater, der Verräter und Mörder. Gott, wann würde das alles ein bisschen weniger wehtun?

Zehn Jahre lang war sie bis über beide Ohren in Connor McCloud verknallt gewesen, genauer gesagt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr, als ihr Vater die Rekruten, die er für die neue Undercover-Einheit trainierte, zum Abendessen nach Hause mitgebracht hatte. Ein Blick auf ihn, und irgendetwas in ihrem Innersten war heiß und sanft und töricht geworden. Seine schrägen Augen, das schimmernde Grün eines Gletschersees. Sein schmales, kluges Gesicht mit all den Flächen und Kanten. Die sexy Grübchen in seinen Wangen, wenn er grinste. Sein golden funkelnder Bartschatten. Er war immer ruhig und schüchtern gewesen, wenn er bei ihnen zu Hause gegessen hatte, und hatte seinem gesprächigen Partner Jesse den Großteil der Unterhaltung überlassen, aber wann immer er dann doch sprach, hatte sein gelassener, erotischer Bariton sie am ganzen Körper erschaudern lassen. Sein Haar war eine zerzauste Mähne, eine verrückte Mischung aus jeder erdenklichen Nuance von Blond. Sie sehnte sich danach, die dicke, weiche Fülle zu berühren, ihr Gesicht darin zu vergraben und seinen Duft einzuatmen.

Sein Körper war jahrelang Zentrum ihrer heißesten erotischen Träume gewesen, wenn sie allein in ihrem Bett lag. Er war so groß und schlank und muskulös. Straff wie eine Peitschenschnur, jeder einzelne Muskel definiert, dabei so anmutig und gelenkig wie ein Tänzer. Sie hatte es geliebt, wenn er seine Ärmel nach oben schob und sie einen Blick auf seine starken, sehnigen Arme erhaschen konnte. Seine breiten Schultern und langen, eleganten Hände, diese kraftvollen Beine, dieser göttliche Hintern, der in ausgeblichenen Jeans einfach großartig aussah. Er war so umwerfend, dass ihr schwindlig wurde.

Jahrelang war sie in seiner Gegenwart einsilbig und gehemmt gewesen, bevor ihre heimlich gehegte romantische Hoffnung, schließlich doch noch sein Interesse zu wecken, wenn sie erst einen Busen hätte oder den Mut finden würde, mit ihm zu sprechen, sich an jenem Tag am Crystal Mountain für alle Zeiten verflüchtigt hatte. Als sie entdecken musste, dass ihr Vater mit einem üblen Verbrecher gemeinsame Sache machte. Und dass Georg Luksch, der Mann, der sie in der Skihütte angebaggert hatte, ein Auftragskiller war, der ihr nicht von der Seite wich, um ihren Vater auf diese Weise zu kontrollieren.

Und als sie erfuhr, dass es Dads Verrat gewesen war, der Jesse – und um ein Haar auch Connor – das Leben gekostet hatte.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, trotz des brennenden Schmerzes in ihrer Brust zu atmen. Herrje, das hatte ihren geheimen Fantasien einen Dämpfer versetzt!

Erin seufzte über ihre eigene Dummheit. Sie hatte wichtigere Probleme als unerfüllte Begierde. Zum Beispiel die finanzielle Situation ihrer Mutter. Du musst dich beschäftigen, ermahnte sie sich, während sie Barbaras Nummer wählte. Immer beschäftigt zu sein, war die bessere Lösung.

Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der von Ihnen gewählte Anschluss stillgelegt wurde …

Oh Gott. Es kam ihr vor, als hätte sie das Telefon ihrer Mutter erst letzte Woche wieder freischalten lassen. Sie konnte die Stadt nicht verlassen, ohne zuvor nach ihr gesehen zu haben.

Sie schnappte sich ihre Schlüssel, noch bevor sie sich bremsen konnte. Ihr Wagen war schon vor Monaten zwangsversteigert worden. Trotzdem hatte sie den Automatismus noch immer nicht abgelegt. Sie rannte die Treppe hinunter, stieß die Haustür auf und hob das Gesicht zum Himmel. Die Wolken lösten sich gerade auf. Ein Stern funkelte am Horizont.

»Hallo, Erin.«

Die tiefe Stimme löste eine Schockwelle intensiven Erkennens in ihrem Körper aus. Sie taumelte zurück.

Connor McCloud stand genau vor ihr und starrte sie an.

 

2

Er lehnte gegen einen uralten, zerbeulten beigefarbenen Cadillac, der im Halteverbot parkte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen glimmenden Zigarettenstummel. Er beugte sich nach unten und drückte ihn aus. Sein Gesichtsausdruck war hart und düster, und er schien wütend zu sein. Als er sich wieder aufrichtete, überragte er sie ein gutes Stück. Sie hatte ganz vergessen, wie groß er war. Einen Meter neunzig oder etwas ähnlich Absurdes.

Erin hielt die Hand vor ihren offenen Mund. Dann zwang sie sich, sie runterzunehmen. Kopf hoch, Schultern zurück, press die Knie nicht zusammen!, befahl sie sich. »Warum lungerst du vor meinem Haus herum?«

Er kniff seine dunklen Brauen zusammen. »Ich lungere nicht herum«, brummte er. »Ich hab nur noch schnell eine geraucht, bevor ich bei dir klingeln wollte.«

Sein lohfarbenes Haar war noch länger und wilder als am Crystal Mountain, sein hageres, kantiges Gesicht noch schmaler. Seine grünen Augen bildeten einen funkelnden Kontrast zu den dunklen Schatten der Erschöpfung darunter. Der Wind spielte mit seinen Haaren, die ihm offen auf die breiten Schultern hingen. Sie wehten ihm ins Gesicht, und er strich sie mit einer Hand zurück. Es war die mit der furchtbaren Brandnarbe.

Seine grimmige, unversöhnliche Miene erinnerte an einen keltischen Barbarenkrieger, der gerade in die Schlacht zog. Härtet sein Haar mit Kalk, gebt ihm einen Bronzehelm, einen Halsreif aus verdrilltem Gold, einen Kettenpanzer – nur dass die meisten keltischen Krieger der Eisenzeit Rüstungen verschmäht hatten, um ihre Furchtlosigkeit unter Beweis zu stellen, tönte die kleinliche Gelehrte in ihr. Sie waren nackt und mit herausforderndem Zorngebrüll aufs Schlachtfeld gestürmt.

Oh nein. Hör auf damit. Denk bloß nicht in diese Richtung.

Sie wollte dieses Bild nicht in ihrem Kopf haben, aber es war zu spät. Sie stellte sich Connors großen, harten, sehnigen Körper bereits vor. Splitterfasernackt.

Nervös senkte sie den Blick. Sie fixierte die Zigarettenkippen, die um seine abgewetzten Stiefel verstreut lagen. Drei an der Zahl.

Sie schaute auf. »Drei Zigaretten? Auf mich wirkt das sehr wohl wie herumlungern.«

Er wirkte ertappt. »Ich musste noch meinen Mut zusammennehmen.«

»Um an meiner Tür zu klingeln?« Sie konnte den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Jetzt mach mal halblang. So furchteinflößend bin ich wahrlich nicht.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Glaub mir, für mich schon.«

»Hmm. Ich bin froh, dass es jemanden gibt, auf den ich diese Wirkung habe, weil nämlich der Rest der Welt derzeit nicht allzu beeindruckt von mir zu sein scheint«, spottete sie.

Seine Miene war so unerschütterlich, dass sie das Bedürfnis zu brabbeln überkam. »Warum musst du deinen Mut zusammennehmen, um mit mir zu sprechen?«

»Deine letzten Worte an mich waren alles andere als herzlich. Es war so was in der Art von: ›Hau endlich ab, du kranker Mistkerl!‹.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Meine Güte, habe ich das wirklich gesagt?«

»Es war eine grauenvolle Situation. Du warst völlig durcheinander.«

»Es tut mir leid. Fürs Protokoll: Du hattest es nicht verdient.«

Seine Augen waren so unglaublich strahlend. Wie konnte eine derart kühle Farbe solche Glut verströmen? Sie versengte ihr das Gesicht und sorgte dafür, dass sich etwas tief in ihrem Körper heiß und eng zusammenzog. Erin schlang die Arme um sich. »Es gab mildernde Umstände.«

»Oh ja, die gab es. Geht es dir gut, Erin?«

Ein Windstoß erfasste sie und ließ Connors langen Mantel um seine Knie flattern. Fröstelnd zog Erin ihre dünne Jeansjacke enger um sich. Es hatte ihr schon so lange niemand mehr diese Frage gestellt, dass sie vergessen hatte, was sie darauf antworten sollte. »Hast du etwa drei ganze Zigarettenlängen vor meinem Haus gewartet, um dich danach zu erkundigen?«, wich sie aus.

Ein kurzes, schroffes Kopfschütteln war die Antwort.

»Also … warum dann?«

»Ich habe meine Frage zuerst gestellt.«

Sie schaute nach unten, weg, zur Seite, überall sonst hin, aber sein Blick war wie ein Magnet, der ihre Augen wieder zu seinen zog und die Wahrheit aus ihr heraussaugte. Ihr Vater hatte ihn früher immer einen verdammten Hellseher genannt. Connor hatte ihn nervös gemacht. Aus gutem Grund, wie sich herausstellte.

»Ach, vergiss es«, kapitulierte er schließlich. »Ich hätte nicht fragen sollen. Trotzdem muss ich dringend mit dir sprechen, Erin. Kann ich mit nach oben kommen?«

Die Vorstellung, seine überwältigende männliche Präsenz in ihr schäbiges kleines Apartment zu lassen, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wich zurück und prallte gegen das schmiedeeiserne Geländer. »Ich, äh, war gerade auf dem Weg zu meiner Mutter, und ich habe es ein bisschen eilig, weil der Bus gleich kommt, deshalb …«

»Ich fahre dich hin. Wir können unterwegs reden.«

Na super! Das wäre ja noch schlimmer – allein mit einem gigantischen Barbarenkrieger in einem Auto eingesperrt zu sein. Sie würde seinen forschenden Blicken nicht lange standhalten können, solange sie sich so weinerlich, zittrig und verletzlich fühlte.

Sie schüttelte den Kopf und trat den Rückzug in Richtung Bushaltestelle an. »Nein. Es tut mir leid. Bitte, Connor. Halte dich einfach … von mir fern.« Sie drehte sich um und wollte die Flucht ergreifen, als er von hinten die Arme um sie schloss. »Erin. Hör mir zu.«

Seine männliche Wärme hüllte sie ein und trieb ihre überreizten Nerven einer Panikattacke entgegen.

»Fass mich nicht an!«, warnte sie ihn. »Sonst schreie ich.«

Unnachgiebig hielt er sie weiter fest. »Bitte, tu das nicht. Du musst mir zuhören, Erin. Novak ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.«

Ein Wirbel schwarzer Flecken tanzte vor ihren Augen. Sie sackte in sich zusammen und war plötzlich dankbar für die starken Arme, die sie stützten. »Novak?« Ihre Stimme war ein winziges, heiseres Flüstern.

»Er ist letzte Nacht geflohen. Zusammen mit zwei seiner Kumpanen. Georg Luksch ist einer davon.«

Ihre Finger gruben sich in seine stählernen Unterarme. Ihr drehte sich der Kopf, und ihr Magen rebellierte. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stöhnte sie.

»Setz dich auf die Treppe. Leg den Kopf zwischen die Knie.« Er kauerte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Seine Berührung war leicht und behutsam, trotzdem ging sie ihr durch Mark und Bein.

»Ich hasse es, dir Angst zu machen«, sagte er. »Aber du musstest es erfahren.«

»Ach ja?« Sie schaute zu ihm hoch. »Wozu soll das gut sein?«

»Damit du Maßnahmen ergreifen kannst, um dich zu schützen.« Er klang, als ob er etwas feststellte, das eigentlich zu offensichtlich war, um ausgesprochen werden zu müssen.

Erin legte das Gesicht wieder zwischen ihre Knie. Ein verbittertes Lachen, das mehr wie ein trockenes Husten klang, schüttelte sie. Sich schützen. Ha! Was konnte sie denn groß tun? Eine Armee anheuern? Eine Kanone kaufen? In eine Festung ziehen? Sie hatte so hart darum gekämpft, diesen Albtraum hinter sich zu lassen, aber in Wahrheit hatte sie sich die ganze Zeit im Kreis gedreht, nur um jetzt mit dem Gesicht voran wieder mitten hineinzustürzen.

Sie hob den Kopf und starrte ins Leere. »Ich kann mich damit nicht auseinandersetzen«, flüsterte sie. »Ich will es nicht wissen. Ich habe genug durchgemacht.«

»Was du willst, ist vollkommen irrelevant. Du musst …«

»Ich sage dir, was ich muss, Connor McCloud.« Sie entzog sich ihm und stand mit wackligen Beinen auf. »Ich muss zu meiner Mutter fahren, ihre Rechnungen und Hypothekenraten bezahlen und ihr Telefon freischalten lassen, weil sie sich weigert, ihr Bett zu verlassen. Anschließend muss ich Cindys Schule anrufen und betteln, dass sie ihr das Stipendium nicht aberkennen. Ich nehme den Bus, weil ich meinen Job verloren habe und mein Auto zwangsversteigert wurde. Um psychopathische Mörder werde ich mir später Gedanken machen. Ah, da kommt mein Bus! Jedenfalls vielen Dank für deine Besorgnis. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.«

Connors Gesicht war düster vor Kummer. »Ich wollte nicht, dass du verletzt wirst, Erin. Ich hätte alles getan, um das zu verhindern.«

Sein Ausdruck machte ihr das Herz schwer und schnürte ihr die Kehle zu. Der Bus hielt mit quietschenden Bremsen, und eine erstickende Dieselwolke nebelte sie ein. Seufzend öffnete die Tür ihren Schlund.

Erin legte die Hand an Connors breite Brust, bevor sie sie, erschrocken über ihre eigene Kühnheit, wieder zurückzog. Sein Körper war so hart und warm.

»Ich weiß, dass es nicht deine Schuld war«, sagte sie. »Das, was mit Dad passiert ist. Er hat es sich selbst zuzuschreiben. Ich wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte, aber er wollte sich von niemandem helfen lassen. Keiner von uns ahnte, wie schlimm es wirklich war.«

»Miss!«, bellte der Busfahrer. »Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht?«

»Es war nicht deine Schuld«, wiederholte sie. Sie stieg ein und klammerte sich an der Haltestange fest, als der Bus mit einem Ruck anfuhr, dann sah sie zu, wie Connors hochgewachsene Gestalt in der Dämmerung kleiner wurde. Der Wind peitschte ihm das strubbelige Haar in sein ernstes, edel geformtes Gesicht. Der Mantel schlug um seine Beine. Seine durchdringenden Augen fixierten ihre, fesselten sie, bis der Bus um die Ecke bog und außer Sicht war.

Sie ließ sich auf einen Sitz sinken. Ihr Blick zuckte von Fahrgast zu Fahrgast, als fürchtete sie, dass Georg Luksch plötzlich aus dem Nichts auftauchen und ihr dieses verführerische Lächeln zuwerfen könnte, das sie vor sechs Monaten am Crystal Mountain aus der Fassung gebracht hatte. Sie war überrascht und erfreut gewesen, dass sich ein Mann von seinem Kaliber für sie interessiert hatte. Fast war sie versucht gewesen, es mit ihm zu probieren, nur um den Fluch ihrer selbst auferlegten Enthaltsamkeit abzuschütteln – aber irgendetwas hatte sie zurückgehalten.

Ihre Freundinnen hatten am Ende die Geduld mit ihr verloren. Was zum Geier suchst du bei einem Mann, Erin? Georg ist intelligent, er ist gut gebaut, er ist charmant, er hat diesen sexy Akzent, er sieht aus wie ein GQ-Cover-Model, und er steht auf dich! Hör auf, dich wie eine verdammte Nonne zu gebärden! Los, schnapp ihn dir, Mädchen!

Sie hatte versucht zu erklären, dass die lässige Wärme, die Georg verströmte, sie nicht wärmte. Es war vergleichbar damit, wie ihre Geschmacksknospen sich nicht von Sacharin oder Süßstoff täuschen ließen. Die Süße war nicht echt, sie befriedigte nicht. Ihre Freundinnen hatten das als nicht überzeugend abgetan. Sie hatten ihr vorgeworfen, übermäßig wählerisch zu sein. Oder einfach zu feige.

Die Tatsache, dass sie mit diesem abscheulichen Mann nicht geschlafen hatte, war hinterher, als ihre Welt in Trümmern lag, ihr einziger kleiner, privater Triumph und Trost gewesen.

Niemand im Bus hatte die richtige Größe oder Statur, um Luksch zu sein. Jedes Mal, wenn das Gefährt ächzend an einer Haltestelle zum Stehen kam, hielt Erin die Luft an, bis sie sehen konnte, wer zugestiegen war. Ein junges Mädchen, das sich im Gothic-Stil kleidete, mit schwarzen Lippen und Piercings im Gesicht. Eine beleibte Dame lateinamerikanischer Abstammung. Eine junge Karrierefrau im Hosenanzug, die auf dem Heimweg war, nachdem sie an einem Samstag in irgendeinem Hochleistungsunternehmen Überstunden geschoben hatte, so wie Erin es selbst oft getan hatte, damals, in den guten, alten Zeiten, als sie noch fest angestellt gewesen war. Kein Georg. Nicht, dass sie sein Gesicht zwingend wiedererkannt hätte nach dem, was Connor damit angestellt hatte. Bei der Erinnerung an dieses blutige Gemetzel überrollte sie eine neue Welle der Übelkeit.

Sie verhielt sich wirklich idiotisch. Sollte Novak sich wirklich die Mühe machen, an sie zu denken, würde er nicht Georg schicken.

Es könnte jeder sein.

Novak las die E-Mail auf seinem Laptopmonitor, dann tippte er die Antwort ein. Obwohl er nur seine rechte Hand sowie Daumen und Mittelfinger seiner linken benutzte, bediente er die Tastatur flink und gekonnt. Er starrte auf den Text und rieb dabei die Stummel seiner entstellten Hand gegeneinander.

Eine konstante, pochende Erinnerung an die Rache, die man ihm schuldete.

Der Wind, der auf der Terrasse ging, ließ seine Augen tränen. Sie brannten und juckten, da sie nicht an die farbigen Kontaktlinsen gewöhnt waren, also holte er die Box aus seiner Tasche und nahm sie heraus. Die Klebemittel und die individuell gefertigten Prothesen, die seine Gesichtszüge verfremdeten, waren zwar unbequem, zum Glück aber nur eine vorübergehende Maßnahme. Er benötigte sie nur so lange, bis er eine letzte Runde kosmetischer Operationen organisiert hätte.

Sein Blick schweifte über die Stadt. Was für ein Genuss, nach Monaten innerhalb von Gefängnismauern endlich wieder die schroffen Gebirgszüge zu sehen, die das edelsteinfarbene Grün, Blau und Silbergrau Seattles säumten. Er klickte auf SENDEN und trank einen Schluck Cabernet aus einer prächtigen Nachbildung eines keltischen Trinkbechers aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus. Er war aus einem echten menschlichen Schädel gefertigt und mit gehämmertem Gold verziert. Ein exzentrischer Luxus, aber nach seiner Gefängniserfahrung durfte er sich den erlauben.

Er hatte Erin für dieses kostspielige neue Hobby zu danken. Seltsam, dass er erst jetzt eine Vorliebe für blutgetränkte Artefakte der Kelten entwickelt hatte. Ihr Hang zu Ritualmorden fand sein Echo in seiner eigenen Seele.

Das Opfer, das er plante, war von den Göttern gesegnet. Er wusste das, weil Celia ihm als Vision erschienen war. Es berührte ihn immer, wenn ihn einer seiner Engel besuchte. Sie waren zu ihm ins Krankenhaus gekommen, als er mit dem Tod gerungen hatte, und sie hatten ihm im Gefängnis Trost gespendet. Seelen, die er befreit hatte, die für immer jung und schön bleiben würden. Ihre Geister waren um ihn geschwebt, bekümmert, ihn leiden zu sehen. Belinda war zu ihm gekommen, genau wie Paola und Brigitte und all die anderen, aber als Celia ihm erschienen war, war das etwas Besonderes. Celia war die Erste gewesen.

Er kostete wieder von dem Wein, und sein Herzschlag beschleunigte sich, als er an jene Nacht zurückdachte, die sein Leben von Grund auf verändert hatte. Er hatte Celias liebreizenden Körper genommen, und als er in ihr gekommen war, hatte sich der Impuls gleich einem Flaschengeist manifestiert und in ihm das übermächtige Bedürfnis entfacht, die Daumen auf den hämmernden Puls in ihrem Hals zu legen und zuzudrücken.

Sie hatte sich unter ihm gewunden, ihr Gesicht hatte sich verfärbt, ihre Augen waren, erfüllt von wachsendem Begreifen, aus den Höhlen getreten. Celia konnte nicht sprechen, sie konnte nur keuchen, dennoch hatte er ihr leidenschaftliches Einverständnis gespürt. Sie waren zu einem einzigen Bewusstsein verschmolzen. Sie war sein Engel, und sie bot ihm sein Leben dar.

Die dunklen Götter hatten in jener Nacht Anspruch auf ihn erhoben. Und er hatte verstanden, welchen Tribut die Götter forderten, bevor sie ihm Macht und Göttlichkeit verliehen. Sie hatten ihn als den Ihren gezeichnet, und er würde sich würdig erweisen.

Celia war noch Jungfrau gewesen. Das hatte er hinterher herausgefunden, als er sich wusch. Wie ergreifend! Es war ein Fluch, derart sensibel zu sein. Dazu verdammt, wieder und wieder nach der Perfektion von Celias Opfer zu suchen und sie doch nie ganz zu finden.

Die Terrassentür wurde geöffnet. Er fühlte das rot glühende Flirren von Georgs Energie, ohne sich umdrehen zu müssen. »Trink ein Glas Wein, Georg. Genieße die Vorzüge der Freiheit! Du willst dich einfach nicht entspannen. Das bringt uns in Gefahr.«

»Ich möchte keinen Wein.«

Novak sah ihn an. Die wulstige pinkfarbene Narbe, die Georgs Wange verunzierte, hob sich grell gegen seine Gefängnisblässe ab. Sein schönes blondes Haar war stoppelkurz rasiert, und seine Augen glommen wie Kohlenstücke. »Hast du schlechte Laune, Georg? Ich hasse schlechte Laune.«

»Warum darf ich sie nicht einfach umbringen?«, zischte er. »Ich werde sowieso für den Rest meines Lebens auf der Flucht sein. Es ist mir egal, ob …«

»Ich will etwas Besseres als das für dich, mein Freund. Du darfst nicht riskieren, noch einmal erwischt zu werden.«

»Ich habe längst entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, erwiderte Georg. »Ich werde eher sterben, bevor ich wieder in den Knast wandere.«

»Natürlich hast du das. Ich danke dir für deine Hingabe. Trotzdem wirst du, sobald du dich beruhigt hast, erkennen, dass mein Plan besser ist.«

Georgs Gesicht war eine schmerzverzerrte Fratze. »Ich ertrage es nicht. Ich sterbe.« Er stieß die Worte in dem unverständlichen ungarischen Dialekt aus, der ihnen beiden gemein war.