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July Winter

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Beschreibung

**Finde das Licht in der Finsternis …**  Schon ihr ganzes Leben wird Prinzessin Anthea von der Außenwelt abgeschirmt, denn allein ihr magisches Blut vermag es, das Königreich Aurasis vor den Mächten der Dunkelheit zu schützen. Dennoch gelingt das Unmögliche: Die Thronerbin wird ausgerechnet am Tag ihrer Vermählung überfallen und entführt. Und zwar von niemand Geringerem als dem gefürchtetsten Krieger des Bösen. Doch obwohl er sie zu dem mächtigen Schwarzmagier Salis bringen soll, scheint er mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen. Mehr und mehr spürt Anthea, dass dieser furchteinflößende Kämpfer vielleicht doch mehr ist als pure Dunkelheit ...  Bist du bereit, dich deinen größten Ängsten zu stellen, um den Mann deines Herzens zu retten?  //»Die Macht des goldenen Blutes« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.// 

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Impress

Die Macht der Gefühle

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July Winter

Die Macht des goldenen Blutes

**Finde das Licht in der Finsternis …**

Schon ihr ganzes Leben wird Prinzessin Anthea von der Außenwelt abgeschirmt, denn allein ihr magisches Blut vermag es, das Königreich Aurasis vor den Mächten der Dunkelheit zu schützen. Dennoch gelingt das Unmögliche: Die Thronerbin wird ausgerechnet am Tag ihrer Vermählung überfallen und entführt. Und zwar von niemand Geringerem als dem gefürchtetsten Krieger des Bösen. Doch obwohl er sie zu dem mächtigen Schwarzmagier Salis bringen soll, scheint er mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen. Mehr und mehr spürt Anthea, dass dieser furchteinflößende Kämpfer vielleicht doch mehr ist als pure Dunkelheit …

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Vita

Danksagung

© privat

July Winter liebte schon als Kind mythologische Geschichten mit tapferen Helden und verfasste bereits im Alter von acht Jahren ihre ersten kleinen Kurzgeschichten. Während des Studiums der Europäischen Literaturen entwickelte sie die ersten Ideen für ihren eigenen Roman und schuf ihre ganz eigene Fantasywelt – unterstützt von Freunden und Familie sowie epischen Soundtracks und einem großen Pott Kaffee. July Winter lebt mit ihrem Partner in der Nähe von Berlin.

Für alle, die manchmal das Gefühl haben, ihr Licht zu verlieren.Denk immer daran, du strahlst heller als jeder Stern am Firmament.

PROLOG

Ein markerschütternder Schrei hallte durch die zahlreichen Gänge des Schlosses. So hell wie der Klang einer Geige und doch so schmerzverzerrt, dass das alte Gemäuer zu beben begann.

Regungslos verharrte Gawain vor dem Schlafgemach seiner Frau, blickte starr aus dem Fenster und versuchte händeringend, die Fassung zu wahren. So sehr er sich auch bemühte, die Maske eines unerschütterlichen Königs aufrechtzuerhalten, konnte er doch nicht verhindern, bei jedem weiteren Schrei zusammenzuzucken. Gezeichnet von entsetzlichen Qualen hatten diese Laute längst nichts mehr mit der sonst so sanften Stimme seiner Gemahlin gemein.

Arianas Wehen hatten bereits vor Stunden eingesetzt und mit jedem leidvollen Schrei wuchs seine Angst. Er durfte weder sie noch das Kind verlieren. Es war beinahe absurd, denn obwohl es noch nicht einmal geboren war, hing bereits jetzt so viel von diesem jungen, unschuldigen Leben ab. Dieses Kind würde die Herrscherlinie retten und sein adliges Blut ein für alle Mal in die Reihe der Könige aufnehmen. Es würde seinen Namen unsterblich machen.

Es musste überleben.

Mit zitternden Fingern fuhr sich Gawain durch das blonde Haar, nahm einen tiefen Atemzug und richtete den Blick weiter in die Ferne. Die Nacht hatte ihre dunklen Schwingen längst über Aurasis ausgebreitet und hüllte das Land in eine bedrückende Schwärze. Weder das helle Licht des Mondes noch das ferne Glitzern der Sterne waren am Firmament zu erkennen. Nur das unheilvolle Flackern unzähliger Feuerstellen nicht weit vor den Stadttoren durchbrach die Finsternis. Ein Anblick, der Gawain erschaudern ließ. Das Kriegslager des Feindes war nicht mehr weit entfernt.

Salis und seine versklavten Kreaturen waren auf dem Vormarsch. Inzwischen hatten sie den Grenzfluss überquert und die äußeren Mauern der Stadt beinahe erreicht. Obwohl Gawains Soldaten fortwährend versucht hatten, den Feind zurückzudrängen, war es ihnen doch nicht gelungen, sie zum Rückzug zu zwingen. Denn der einzige Weg führte über den silbernen Fluss, direkt in den veterischen Wald. Und dort waren Salis’ Männer im Vorteil. Sie kannten die Tücken, die im undurchdringlichen Dickicht lauerten und wussten um die grauenvollen Kreaturen, die dort hausten und nur darauf warteten, frisches Fleisch zwischen ihre Klauen zu bekommen.

Dieser Kampf glich einem ewigen Spiel, einem unaufhörlichen Kräftemessen, das Gawain auf Dauer nicht gewinnen konnte. Ihm war bewusst, dass Salis diesen Krieg absichtlich in die Länge zog, dass er sich daran ergötzte, wie seine Soldaten mit jedem Tag müder wurden und das Volk in Hoffnungslosigkeit versank. Gawain selbst hatte Ariana, die Prinzessin der Goldenen Stadt, erst vor wenigen Monaten geheiratet und trug seit Kurzem die Krone auf dem Kopf. Er wusste, dass das Vertrauen in seine Fähigkeiten als Herrscher nach wie vor auf die Probe gestellt wurde und längst nicht gefestigt war. Doch Gawain würde nicht aufgeben. Es hieß, solange die Goldene Stadt stand, solange das Herz Aurasis’ schlug, würde das Reich überdauern.

Alles, was er brauchte, war ein glühender Funken, der die Hoffnung neu entfachte. Der den Soldaten neuen Kampfesmut verlieh und seinem Volk einen Weg der Zuversicht offenbarte.

Und jener Funke sollte in dieser Nacht geboren werden. Dieses Kind würde verdeutlichen, dass die Königslinie nicht versagt hatte und sie den Glauben an einen Sieg nicht aufgeben durften. Noch nicht.

Angespannt ballte Gawain die Hände zu Fäusten und hielt an diesem Gedanken fest. Er klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an seinen letzten Atemzug.

Erneut schrie Ariana unter Qualen auf, doch diesmal war ihre Stimme so schrill, dass sich der König ruckartig umwandte und auf das Schlafgemach zutrat. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er konnte den hämmernden Puls bis in die Fingerspitzen fühlen. Mehrere Stimmen wurden laut, hektische Rufe erklangen und dann … Dann wurde es schlagartig still.

Hunderte Gedanken schossen Gawain durch den Kopf, die Gefühle überschlugen sich in seinem Inneren und ließen eine schmerzliche Vorahnung in ihm aufkeimen.

Doch dann hörte er es.

Der helle Schrei eines neugeborenen Kindes zerschnitt die Luft und brachte sein Herz aus dem Takt. Wie von selbst setzten sich Gawains Füße in Bewegung, ehe er die vergoldete Klinke kraftvoll nach unten drückte und über die Türschwelle trat.

Das Erste, was er wahrnahm, war das herbe Aroma verschiedener Kräuter, vermischt mit dem metallischen Geruch von Blut. Trotzdem die Fenster weit geöffnet waren und ein kühler Windzug durch den Raum zog, wurde die Atmosphäre von einer schwülen, feuchtwarmen Luft erfüllt. Arianas Bett befand sich am Ende des Raums, eingehüllt in einen durchscheinenden Baldachin. Die meisten Kissen und Decken waren achtlos zu Boden geworfen worden, während das knisternde Kaminfeuer und unzählige Kerzen die Szenerie in ein flackerndes Spiel aus Licht und Schatten tauchten.

»Haben sie es geschafft?«

Gawains Stimme klang rauer als gewöhnlich. Unsicherheit und Angst spiegelten sich darin wider, während er versuchte, einen Blick auf seine Frau zu erhaschen. Belion, der Leibarzt der königlichen Familie, stand dicht über Ariana gebeugt, ehe er zu ihm herumfuhr und ihn angespannt musterte. Schweißperlen glänzten auf seiner faltigen Stirn, die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Sie leben«, verkündete der Arzt, doch lag in diesen Worten ein Unterton, der Gawains Angst von Neuem aufflammen ließ. Besorgt legte er die Stirn in Falten und sah, wie zwei Bedienstete mehrere rotbefleckte Laken zusammenrafften und eine Schale mit blutbesudelten Geburtsinstrumenten hinaustrugen. In diesem Moment schrie der Säugling abermals auf. Hastig stürmte Gawain an das Kopfende des Bettes, schaute in Arianas fahles, von Schmerzen gezeichnetes Gesicht und ließ den Blick zu dem kleinen Bündel an ihrer Brust gleiten.

»Es war eine komplizierte Geburt, die Königin hat viel Blut verloren. Ihr könnt sehr stolz auf Ariana sein. Ich kenne nicht viele Frauen, die solch eine Tortur überleben würden«, erklärte Belion mit gedämpfter Stimme, ehe ein schwaches Lächeln auf seine Lippen trat.

»Ich gratuliere Euch zu einer wunderschönen Tochter, mein König.«

Unfähig, die Gefühle in seinem Inneren zu beschreiben, streckte der junge Herrscher die Hand nach dem Kind aus und bemerkte erst jetzt, wie stark seine Finger zitterten. Auch wenn er insgeheim auf einen männlichen Nachkommen gehofft hatte, würde eine junge Prinzessin doch ebenso ihren Zweck erfüllen. Sie würde den entscheidenden Funken Hoffnung entzünden.

Behutsam strich er seiner Tochter über den Kopf und zog dabei die Decke ein Stück zurück.

»Sie ist verletzt«, stellte Gawain erschrocken fest und besah den blutigen Kratzer hinter ihrem rechten Ohr. Umgehend schoss sein Blick zu Belion, der rasch nach der Decke griff, um das Haupt des Kindes zuzudecken. Dabei entging ihm jedoch nicht das merkwürdige Funkeln, das für den Bruchteil einer Sekunde in den Augen des Arztes aufblitzte.

»Wie ich bereits sagte, war die Geburt sehr schwer. Ich habe die Kleine mithilfe meiner Instrumente holen müssen. Der Kratzer ist nicht weiter tief und wird in den nächsten Tagen verheilen.«

Ein feiner Stich fuhr durch Gawains Brust und vermischte sich mit einem Gefühl, welches er nicht recht deuten konnte. Etwas stimmte nicht, irgendetwas entzog sich seiner Kenntnis. Abermals schaute er in Arianas blasses Gesicht und vernahm ihren schweren Atem. Sie schien derart erschöpft, dass sie nur mit Mühe die Lider offenhalten konnte. Doch als sich ihre Blicke für einen kurzen Moment trafen, erkannte er darin einen Ausdruck, den er noch niemals zuvor so klar und deutlich an ihr gesehen hatte.

Angst.

»Die Königin sollte sich nun ausruhen. Gebt ihr und Eurer Tochter ein wenig Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen«, bat Belion eindringlich, doch konnte das aufgesetzte Lächeln seine angespannte Miene nicht überspielen.

»Natürlich. Doch bevor ich gehe, möchte ich meine Tochter einmal im Arm halten«, erwiderte Gawain und griff nach dem kleinen Bündel.

»Mein König, ich weiß nicht, ob …«

Mit einem einzigen vernichtenden Blick ließ Gawain den Arzt verstummen. Er duldete keine Widerworte. Durch die plötzliche Bewegung aufgeschreckt, begann die junge Prinzessin erneut zu weinen und veranlasste den König dazu, sie sanft zu wiegen und sich ein paar Schritte vom Bett zu entfernen.

Langsam trat Gawain an den Kamin heran und zog im Schein des Feuers abermals die Decke ein Stück zurück. Er spürte, wie Liebe und Stolz von ihm Besitz ergriffen, während er das Gesicht seiner Tochter eingehend betrachtete.

»Willkommen, Prinzessin«, flüsterte er und streichelte sanft über ihr Haupt, als sich seine Glieder plötzlich versteiften.

In dem Glauben, ein Trugbild gesehen zu haben, trat er einen weiteren Schritt an den Feuerschein heran und fuhr mit dem Finger über die kleine Wunde, die sich hinter dem Ohr des Kindes verbarg. Und in jenem Moment, in dem der Säugling erneut aufschrie und Gawain das goldschimmernde Blut erblickte, spürte er, wie etwas in ihm zerbrach.

Er fühlte, wie jegliches Gefühl des Glücks zerschmettert wurde und nichts als Schmerz zurückblieb.

Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nur Wesen, die über magische Fähigkeiten verfügten, trugen goldenes Blut in sich. Wesen, die vor langer Zeit aus Aurasis verbannt worden waren und nun ein Leben in den Tiefen des veterischen Waldes fristeten.

Elfen.

Wie in Trance drehte sich Gawain zu Ariana, während alles in ihm schrie und sich vor Pein wandte. Sie hatte ihn betrogen. Sie hatte nicht nur ihren Mann, sondern den König von Aurasis hintergangen. Ein Verbrechen, das an Schwere kaum zu übertreffen war. Der bittere Geschmack des Verrats breitete sich auf seiner Zunge aus und vergiftete seinen Verstand mit einem alles verzehrenden Hass.

»Was hast du getan?«

Er sah den Glanz in ihren braunen Augen, die Panik, die jedwede Erschöpfung zurückdrängte und ihr dazu verhalf, mühevoll den Kopf zu heben.

»Gawain bitte, lass mich erklären …«

»Erklären?«, widerholte er fassungslos, während sich der Säugling schreiend in seinen Armen wand. Eine Woge der Abscheu jagte durch seinen Körper und ließ ihn leise nach Luft schnappen. Zu spüren, wie seine väterliche Liebe im Keim erstickt wurde, trieb ihn an den Rand des Erträglichen.

Dies war nicht sein Kind. Es war der Spross eines Elfen. Eines ehrlosen Wesens des Volkes, das nichts außer Niedertracht und Heimtücke kannte. Das goldene Blut war Zeuge seiner wahren Herkunft … und dem Verrat seiner Mutter.

»Mein König, bitte … gebt mir das Kind.«

Vorsichtig machte Belion einen Schritt auf ihn zu, während sein Blick verängstigt zwischen Gawain und dem Säugling hin und her schweifte.

»Du hast es gewusst.«

Der König war selbst überrascht, wie ruhig die Erkenntnis über seine Lippen trat. Sie stellte das vollkommene Gegenteil zu dem Durcheinander in seinem Inneren dar.

»Ich bitte Euch, Majestät … handelt nicht überstürzt! Gebt Eurer Frau die Möglichkeit, sich zu erklären!«

Ein trockenes Lachen erklomm Gawains Kehle. Er konnte den Hohn, der diesen Worten innewohnte, förmlich spüren.

»Meiner Frau? Diesen Titel hat dieses verräterische Weibsstück in jenem Moment verloren, als sie es wagte, mich zu hintergehen. Und ich werde …«

Ein ohrenbetäubender Knall zerschnitt die Luft und ließ die Mauern erzittern. Der König spürte, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann, ehe er den Blick rasch zu einem der geöffneten Fenster schwenkte. Panische Rufe wurden laut, Befehle hallten durch die kalte Nachtluft, und noch bevor Gawain den Säugling in Belions Arme drückte und Hals über Kopf zum Fenster stürzte, wusste er es bereits:

Salis war in die Stadt eingedrungen. Diese Nacht würde seinen Untergang bedeuten. Wut wandelte sich zu Verzweiflung und Hass zu einer zerstörerischen Entschlossenheit.

Auch wenn er soeben alles verloren hatte, was ihm lieb und teuer war, so würde er die Goldene Stadt dennoch nicht kampflos aufgeben. Wenn es schon in einem Gemetzel enden musste, dann würde er an der Spitze seiner Soldaten stehen. Und vielleicht … Ja, vielleicht würde sein Name so doch noch zu einer Legende werden.

»Ihr bleibt hier!«, befahl Gawain an Belion gewandt und vermied es, in Arianas Antlitz zu sehen. Er konnte ihr Gesicht nicht einen Moment länger ertragen.

»Und versucht erst gar nicht zu fliehen. Der Tod hat die Mauern dieser Stadt längst überwunden. Ihr könnt nirgendwo hin.« Mit diesen Worten hastete der König zur Tür, begleitet von den herzreißenden Schreien des Säuglings.

Auf den Gängen herrschte bereits wildes Durcheinander. Dumpfe Schritte hallten von den Wänden wider und vermischten sich mit verängstigten Rufen, die von allen Winkeln des Gebäudes ertönten.

Als Gawain den Innenhof des Schlosses erreichte, stieg ihm der beißende Geruch von verbranntem Holz in die Nase. Die Luft wurde von einem Nebelschleier aus Staub und dunklem Rauch erfüllt. Bedienstete strömten panisch aus den umliegenden Gebäuden und versuchten den vielen Soldaten auszuweichen, die allesamt Richtung Haupttor liefen. Angeführt wurden sie von Leutnant Calan, der, als er den König erblickte, sofort auf ihn zu rannte.

»Mein König, Salis hat die nördliche Stadtmauer zerstört! Das Händlerviertel brennt. Hauptmann Enior hat sämtliche Männer zusammengerufen, doch wir wissen nicht, wie lange wir die Stadt halten können!«

Gawains Verstand glich einem tosenden Strudel. Es fiel ihm schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. So lange hatte er versucht, dem Schwarzmagier die Stirn zu bieten, doch schien es nun zu spät.

Er hatte alles verloren. Alles.

Für einen kurzen Moment senkte er die Lider und besah das goldene Blut, welches nach wie vor an seinen Fingern klebte. Die Abscheu erschütterte ihn bis ins Mark.

»Bezieht Position vor dem Haupttor, haltet Salis’ Schergen so lang es geht zurück!«, befahl er und ließ seinen Blick zu dem Brunnen schweifen, der sich in der Mitte des Schlosshofes befand.

Die mächtige Gestalt des Sonnengottes, dem Schutzpatron der Goldenen Stadt, erhob sich aus einem runden, aus weißem Stein gemeißelten Becken und reckte das steinerne Haupt zum Himmel empor. Der strahlende Gott mochte sie in dieser Nacht verlassen haben, doch Gawain würde dem Reich ein Ende bereiten, von dem die Barden noch Jahrzehnte singen würden.

Zuerst jedoch musste er das Blut dieses Bastards von seinen Händen waschen. Wenn er starb, dann als reiner Mensch. Weder Magie noch Verrat sollten seine Haut besudeln.

Während Leutnant Calan mit seinen Soldaten zum Haupttor stürmte, eilte Gawain auf den Brunnen zu und streckte seine Hand in das kalte Wasser.

Und in jenem Moment, in dem das Blut des Kindes die Oberfläche berührte, erstrahlte das Wasser in einem gleißend hellen Licht. Für einen kurzen Augenblick wurde die Nacht zum Tag und tauchte alles in einen weißen Glanz. Der strahlende Schein breitete sich über den Innenhof aus und reichte bis in den letzten Winkel der Stadt.

Von Panik ergriffen zog Gawain seine Hand aus dem Brunnen, taumelte nach hinten und stürzte zu Boden. Augenblicklich erlosch das Licht. Ein heiserer Schrei drang aus seiner Kehle und verband sich mit einem Grollen, das gewaltiger war als alles, was er jemals vernommen hatte. Es glich einem entsetzlichen Todesschrei, dessen Macht das Erdreich erzittern ließ.

Hastig versuchte der König zurück auf die Beine zu kommen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Brunnen zu bringen. Die Gebäude, die ihn ringsherum umgaben, ächzten und knackten, Staub und Steine fielen krachend zu Boden. Und in jenem Moment, in dem Gawain dachte, dass das Schloss über ihm im Innenhof einstürzen würde, verstummten sämtliche Geräusche. Es war, als hätte ein lautloser Befehl jedweden Klang zum Erliegen gebracht, als stünde die Zeit plötzlich still.

Mit pochendem Herzen schaute Gawain zum Himmel hinauf, der eben noch vom hellen Glanz erleuchtet worden war. Als sein Blick erneut zum Brunnen glitt, hörte er lediglich das leise Plätschern des Wassers, das sich sprudelnd in dem steinernen Becken verlor.

Hatte er all dies nur geträumt?

Mit wackeligen Beinen trat er einen vorsichtigen Schritt an die Skulptur des Sonnengottes heran, als plötzlich ein lauter Ruf von einem der Wachtürme erklang.

»Salis ist besiegt! Das Licht hat den Feind ausgelöscht! Die Stadt ist gerettet!«

Die Worte drangen nur langsam in Gawains Geist. Er fühlte sich in eine Art Trance versetzt.

Wie war das möglich?

Verwirrt zog der König die Stirn in Falten und versuchte sich die letzten Momente zu vergegenwärtigen. Instinktiv ließ er den Blick zu seinen Händen schweifen und spürte, wie die bittere Erkenntnis ihm die Kehle zuschnürte.

Ein erstickter Laut entfuhr ihm, während ihn die Wahrheit schonungslos zu Boden drückte.

Er wollte es nicht wahrhaben, doch es gab keine andere Erklärung: Das Blut des Kindes hatte die Stadt gerettet. In jenem Moment, in dem es sich mit dem Wasser verbunden hatte, musste es eine Art magischen Schutz ausgelöst haben. Einen Zauber, der vermutlich nicht nur die Stadt, sondern das ganze Reich gerettet hatte … Gawain wusste um die Macht der elfischen Magie, er kannte die Geschichten und Legenden, die von ihrer schützenden Wirkung schrieben.

Am liebsten hätte er freudlos aufgelacht und über die Ironie des Schicksals gespottet, doch er brachte keinen Ton heraus.

Dieses Kind, der lebendige Beweis für den Verrat seiner Frau, schien die Rettung Aurasis’ zu sein. In seinem Blut befand sich offenbar eine Kraft, welche die Dunkelheit zurückdrängen konnte.

Und er musste diese Macht für sich nutzen, selbst wenn dies bedeutete, das Leben des Mädchens zu verschonen und seine wahre Identität fortan zu verbergen.

Ein Gedanke, der so schmerzhaft war, dass es ihn innerlich zu zerreißen drohte.

1. ERLOSCHENE TRÄUME

Anthea

»Das hat ja eine halbe Ewigkeit gedauert.«

Das Herz schlug der Prinzessin bis zum Hals, als sie durch das geöffnete Fenster stieg, über den schmalen Sims balancierte und schließlich einen ersten Fuß auf das schräge Dach setzte. Die Luft war getränkt vom Duft unzähliger Wildblumen, vermischt mit einer harzigen Note, die der Westwind über die Ebenen von Aurasis trug. Erleichtert nahm Anthea einen tiefen Atemzug, pustete sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute zu dem blondgelockten Jungen, der sie mit einem verschmitzten Grinsen musterte.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Aris. Und nur damit das klar ist, ich war diejenige, die sich an insgesamt drei Wachen vorbeischleichen musste«, erwiderte sie, ehe sie sich neben ihrem Freund auf dem Dachfirst niederließ.

»Und ich dachte, du kennst den Weg inzwischen auswendig«, entgegnete der Junge amüsiert.

»Der Weg ist nicht das Problem, sondern der Wachwechsel. Mittlerweile ändern sie die Zeiten wöchentlich«, antwortete Anthea seufzend.

»Außerdem hat der Unterricht diesmal länger gedauert. Ich musste ein paar meiner Lektionen noch einmal neu aufschreiben.«

»Was war es diesmal? Hast du wieder zu viel Tinte benutzt?«

Aris’ graue Augen funkelten vor Schalk, ehe er sich entspannt nach hinten lehnte und die ausgestreckten Beine übereinanderschlug.

»So ähnlich. Meister Albert meint, dass meine Buchstaben so aussehen, als hätte ich sie mit einem Stock anstatt mit der Feder geschrieben. Er sagt, ihnen fehle der nötige Schwung. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was das bedeuten soll.«

Allein der Gedanke an die strenge Stimme ihres Lehrmeisters brachte Anthea dazu, die Augen zu verdrehen. Immer wieder hatte er von ihr verlangt, die Wörter neu aufzuschreiben, so lange, bis ihre Finger ganz steif geworden waren. Doch wie pflegte ihr Vater stets zu sagen? »Einer Prinzessin darf nur das Beste gut genug erscheinen. Es ist ihre Pflicht, jede Aufgabe mit Hingabe und beispiellosem Fleiß zu bewältigen. So lange, bis Perfektion zur Gewohnheit wird.« Ein verächtliches Schnaufen riss das Mädchen aus seinen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu Aris.

»Warte nur ab, bis wir über Aurasis herrschen. Dann kannst du den alten Büchernarren mit einem einzigen Befehl vor die Tür setzen. Und ich werde für den Schutz des Reiches sorgen und dich von diesem dummen Ritual befreien.«

Ein zaghaftes Schmunzeln stahl sich auf Antheas Lippen, ehe sie instinktiv hinunter in den Palasthof sah. Beim Anblick des Brunnens spürte sie sogleich einen Stich in ihrer rechten Hand, der sie unweigerlich zusammenzucken ließ. Bald war es wieder so weit. Sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand, würde ihre Amme sie mit einer Nadel in den Finger stechen, einen Tropfen ihres Blutes in eine Phiole füllen und es dann in das sprudelnde Wasser träufeln. Lange hatte die Prinzessin gebraucht, um den Sinn hinter diesem Ritual zu verstehen und die Angst vor der spitzen Nadel zu verlieren. Ihr Vater sagte, dass sie stolz auf ihre Gabe sein solle. Dass es eine Ehre sei, diejenige zu sein, die der Sonnengott auserwählt hatte, um das Königreich zu schützen. Denn solange sich ihr Blut mit dem Wasser des Brunnens verband, konnten keine dunklen Mächte die Grenze Aurasis’ überschreiten. Ihre Gabe hielt das Böse auf Abstand und sorgte dafür, dass nicht ein Funken schwarzer Magie über den silbernen Fluss gelangte, denn das Wasser des Brunnens stand in direkter Verbindung zum Grenzfluss.

Doch jedes kostbare Geschenk war mit einem Opfer verbunden. Vor allem dann, wenn ein Gott seine Finger im Spiel hatte. Niemand wusste dies besser als Anthea, denn der Schutz ihrer Heimat ging Hand in Hand mit dem Verlust ihrer Freiheit.

»Das wäre wirklich schön«, flüsterte sie und spürte den winzigen Hoffnungsschimmer, den Aris’ Worte in ihr auslösten. In vier Jahren, wenn er das Mannesalter erreicht hatte, würden sie beide heiraten und das Land fortan als Königspaar regieren. Eine Verbindung, die bereits kurz nach ihrer Geburt beschlossen wurde, welche ihr Vater mit seinem engsten Freund und treuesten Lehnsherrn eingegangen war, um das Fortbestehen Aurasis’ zu sichern.

Und auch, wenn weder sie noch Aris irgendein Mitspracherecht besaßen, so konnte Anthea doch nichts Schlechtes an diesem Bund finden. Schließlich war es nicht jeder Prinzessin vergönnt, ihren besten Freund zu heiraten. In Aris’ Gegenwart musste sie sich nicht verstellen und konnte ganz sie selbst sein. Sie vertraute ihm und hoffte, dass sie beide einen Weg finden würden, das Land auch ohne ihr Blut zu schützen. Ein Gedanke, der Antheas Hoffnung beflügelte, selbst wenn ihr vier weitere Jahre wie eine halbe Ewigkeit vorkamen.

»Vater sagte, dass ihr morgen abreist.«

Während sie die Worte aussprach, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Betrübt schaute sie in Aris’ Antlitz und versuchte, den Kloß in ihrem Hals zu ignorieren. Mit seinen vierzehn Sommern war er schon beinahe so groß wie die Soldaten der Palastwache. Das blonde Haar wirkte im warmen Licht der letzten Sonnenstrahlen fast so weiß wie die Blüten der Apfelbäume, die im Frühling den Obstgarten in ein schneeweißes Meer verwandelten.

»Ja, leider«, bestätigte der Junge bedrückt. »Vater will, dass ich in den kommenden Wochen meine Ausbildung vertiefe. Ich soll ihm bei seinen fürstlichen Pflichten über die Schulter schauen und in die täglichen Geschäfte eingeführt werden.«

Der Glanz in Aris’ grauen Augen verlor mit jedem Wort an Intensität. Sie beide wussten, dass es Monate dauern würde, bis sie sich wiedersahen.

»Aber diesmal schreibst du mir, versprochen?«

Der Fürstensohn stieß einen lauten Seufzer aus und ließ sich theatralisch nach hinten fallen.

»Muss das sein? Du weißt genau, wie sehr ich diesen Schreibkram hasse.«

»Jetzt komm schon. Wenigstens einmal die Woche«, bat Anthea und stieß ihm gespielt in die Seite.

»Einmal die Woche? Auf keinen Fall! Höchstens einmal im Monat!«

»Versprochen?«

»Wenn es sein muss.«

Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Prinzessin, doch konnte es die Trauer über ihre baldige Trennung nicht gänzlich überspielen. Bedrückt nahm sie einen weiteren Atemzug und ließ den Blick über die Häuser ihrer Heimat schweifen. Die Goldene Stadt trug ihren Namen nicht allein aufgrund ihres unermesslichen Reichtums, sondern auch wegen ihrer einzigartigen Erscheinung.

Umgeben von sanften Hügeln und grünen Wiesen stach die Stadt wie ein schimmernder Bernstein aus der Landschaft hervor. Die gelben Dächer bildeten zusammen mit den aus Feldsteinen gefertigten Straßen und den unzähligen bunten Blumenkästen eine Sinfonie aus Farben. Vollkommen gleich, wie oft die Prinzessin diesen Anblick schon genossen hatte, sie verliebte sich jedes Mal aufs Neue in ihre Stadt. Bei klarer Sicht konnte man von ihrer Position aus sogar bis an die Grenze des Reiches schauen. Dort, wo sich der silberne Fluss einen rauschenden Weg durch die Landschaft bahnte und eine natürliche Barriere zum veterischen Wald bildete. Einem Ort, an dem Gerüchten zufolge noch immer Elfen und andere bösartige Wesen ihr Unwesen trieben und sehnsüchtig darauf warteten, dass Antheas Kräfte versiegten. Was wohl ein weiterer Grund dafür war, dass sie ständig überwacht wurde und weder mit den Kindern der Bediensteten spielen noch ohne Begleitung den Palastgarten erkunden durfte.

Allein hier, auf dem alten Dach der Palastküche, konnte sie einen Hauch von Freiheit spüren. Dies war ihr Zufluchtsort. Ihr Geheimnis, das sie allein mit Aris teilte. Hier gab es weder strenge Regeln noch tadelnde Blicke. Hier gab es nur sie zwei und eine Fülle von Träumen, die selbst die vielen Sterne am Firmament zu übertreffen schienen.

Doch jeder Traum musste einmal enden.

»Ich glaube, wir sollten langsam runterklettern. Wahrscheinlich sucht Eloise längst nach uns.«

Vorsichtig lugte Anthea über den Rand des Daches, doch konnte sie die füllige Gestalt ihres Kindermädchens nirgends entdecken.

»Warte noch kurz.«

Der nervöse Unterton in Aris’ Stimme ließ die Prinzessin aufhorchen. Neugierig beobachtete sie, wie er in der Innentasche seines blauen Jacketts nestelte.

»Ich will dir noch etwas geben. Streck die Hand aus.«

Mit klopfendem Herzen tat sie wie ihr geheißen und spürte nur einen Augenblick später, wie etwas Kühles ihre Haut berührte. Überrascht erblickte sie einen kupferfarbenen Anhänger in Form eines Flügels.

»Der ist ja wunderschön«, hauchte sie und bewegte ihre Hand so, dass das Metall im Schein des Abendlichts zu funkeln begann.

»Ich habe auch so einen«, bemerkte Aris und zog einen zweiten, aus Silber gefertigten Flügel hervor.

»Ich schlage vor, dass wir die Anhänger bis zu unserem nächsten Treffen immer bei uns tragen und dann untereinander tauschen. So haben wir immer etwas, was uns an den anderen erinnert.«

Ein warmes Gefühl breitete sich in Antheas Brust aus. Ihr war bewusst, dass es sich bei diesem Anhänger um etwas ganz Besonderes handelte.

»Eine großartige Idee«, erwiderte sie und schloss ihre Finger um das kühle Metall.

»Prinzessin Anthea!«

Die gereizte Stimme ihres Kindermädchens hallte durch den Innenhof und gab der Prinzessin einen Ruck. Sie waren schon viel zu lang hier oben.

»Nichts wie weg hier!«

***

Anthea hatte nie gut einschlafen können, wenn Aris tags zuvor mit seinen Eltern und dem fürstlichen Gefolge abgereist war. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und versuchte vergeblich, sich auf das Prasseln der Regentopfen zu konzentrieren.

Während Eloise im angrenzenden Nebenraum so laut schnarchte, dass vermutlich der halbe Palast darunter litt, war die Prinzessin hellwach und starrte auf den durchscheinenden Stoff ihres Baldachins. Missmutig dachte sie daran, wie langweilig die nächsten Wochen werden würden, als sie plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch vernahm. Das Donnern von beschlagenen Hufen hallte durch die Nachtluft und vermischte sich mit lautem Geschrei. Rasch schlug sie ihre Bettdecke zurück, eilte zum Fenster und spähte hinunter in den Hof. Sie sah zwei berittene Soldaten, die von ihren Pferden sprangen und auf direktem Weg in den nahen Thronsaal liefen.

Anthea wusste nicht genau warum, doch mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Nervös ließ sie ihren Blick zum angrenzenden Zimmer schweifen, in welchem Eloise noch immer die absonderlichsten Geräusche von sich gab, ehe sie auf nackten Füßen durch das Schlafgemach schlich, die Tür öffnete und rasch hindurchhuschte.

Dies war nicht ihr erster nächtlicher Streifzug durch den Palast, sie wusste genau, welche Gänge sie wählen musste, um ungesehen an ihr Ziel zu kommen. Flink wie ein Schatten eilte sie durch die mit Fackeln beleuchteten Flure und wich gezielt den müden Blicken der Soldaten aus.

Als Anthea einen der beiden Seiteneingänge erreichte, die direkt in den Thronsaal führten, hielt sie aufgeregt die Luft an. Sie konnte den Klang mehrerer Stimmen vernehmen, von denen eine eindeutig ihrem Vater gehörte. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Klinke und öffnete die Tür nur einen kleinen Spaltbreit, gerade weit genug, um die Gespräche ein wenig deutlicher verstehen zu können.

»Seid Ihr sicher?«

König Gawain klang angespannt, nahezu unwirsch.

»Vollkommen, Majestät. Es tut mir leid.«

Die Stimme des Soldaten wirkte erschöpft, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Und der Junge? Was ist mit Aris?«

Antheas Herz machte einen Satz nach vorn, während sie sich fest auf die Unterlippe biss.

»Es gab keine Überlebenden. Von der Kutsche ist fast nichts übriggeblieben. Selbst die Bäume in der Umgebung wurden völlig zerstört. Es war ein einziges Massaker. Die Familie wurde nicht nur getötet, sie wurde in Stücke gerissen.«

Antheas Augen weiteten sich vor Entsetzen. Hastig schlug sie sich die Hände vor den Mund, ehe sie einen lautlosen Schrei ausstieß. Tränen sammelten sich in ihren Augen und strömten ungehalten über ihre Wangen. Alles in ihr tobte und kämpfte gegen die schreckliche Erkenntnis an, die unaufhaltsam in ihren Kopf drang und nur einen einzigen Gedanken zuließ.

Aris war tot.

Sie hatte ihren besten Freund verloren.

***

Ein Schrei zerriss die Stille und verlor sich in der Dunkelheit. Ruckartig schnellte Anthea hoch und ließ ihren Blick panisch umherschweifen, doch alles was sie sah, waren die schemenhaften Umrisse ihres Baldachins. Das wilde Trommeln ihres Herzens hallte so laut in den Ohren wider, dass sie den Rhythmus bis in die Fingerspitzen spüren konnte.

Es war nur ein Traum.

Immer wieder wiederholte sie diesen Satz, so lange, bis sich ihre schnelle Atmung allmählich beruhigte. Es war merkwürdig, denn obwohl Anthea eine tiefe Leere in sich fühlte, schien ihr Kopf doch in einem Meer aus Erinnerungen zu versinken. Erinnerungen an eine vergangene, bessere Zeit.

Erneut flackerten die intensiven Bilder vor ihren Augen auf, wie Funken, die glühend durch die kalte Nachtluft stoben und sich in der Atmosphäre verloren.

Sie sah Aris’ jugendliches Gesicht vor sich, hörte sein sorgloses Lachen und spürte die schmerzhafte Wunde, die sein Verlust hinterlassen hatte. Selbst jetzt, nach nunmehr acht Jahren, fühlten sich die Erinnerungen an ihre Freundschaft so lebendig an, als hätten sie erst gestern gemeinsam auf dem Küchendach gesessen und ihrer Zukunft entgegengeblickt.

Wer hätte damals schon ahnen können, dass nichts von alledem übrigbleiben und all ihre Träume zu Staub und Asche zerfallen würden?

Unwirsch blinzelte Anthea die aufsteigenden Tränen weg und fuhr sich durch das lange Haar. Sie konnte die bedrückende Dunkelheit keinen Moment länger ertragen. Hastig schlug sie die Federdecke zurück und kam mit einem Satz auf die Beine. Sofort spürte sie den unliebsamen Schwindel, der ihr in den vergangenen Monaten ein verhasster Begleiter geworden war. Tanzende Lichter tauchten vor Antheas Augen auf und verklärten ihr die Sicht. Ein leises Stöhnen trat über ihre Lippen, während sie die Arme ausstreckte, in der Hoffnung, das Gleichgewicht zu halten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und wankte auf das halbrunde Fenster zu, das sich auf der linken Seite ihres Schlafgemachs befand. Mit geübtem Griff öffnete sie das Scharnier und zog den Rahmen bis zum Anschlag auf.

Der frische Nordwind empfing Anthea mit erhoffter Intensität. Er blies ihr so stark ins Gesicht, dass sie die Lider senkte und die Arme um ihre Mitte schlang. Konzentriert nahm die Prinzessin einen tiefen Atemzug, sog die wohlbekannten Gerüche von kaltem Rauch und nassem Gras ein und spürte, wie sie allmählich die Kontrolle über ihre Sinne zurückerlangte.

»Es war nur ein Traum.«

Wie lächerlich es sich anfühlte, jene Tatsache laut auszusprechen, doch so naiv es auch sein mochte, es hatte eine beruhigende Wirkung. Dieser einfache Satz zog die Grenze zwischen Erinnerung und Realität und erschuf eine Mauer, die stärker war als der mächtigste Verteidigungswall. Mit einem leisen Seufzen hob Anthea den Blick und schaute in den Himmel hinauf. Der Tag würde in Kürze anbrechen und es konnte nicht mehr lange dauern, bis erste Rauchschwaden aus den Schornsteinen stiegen und die Fensterläden geöffnet wurden, bis die Luft vom Duft frischer Backwaren erfüllt wurde und die Händler damit begannen, ihre Stände für kaufwillige Kunden vorzubereiten. Gerade jetzt ließen es sich die Kaufleute nicht nehmen, ihre Waren in einem tadellosen Zustand zu präsentieren, denn jeden Tag strömten mehr Menschen in die Goldene Stadt, um der großen Feierlichkeit beizuwohnen: der Vermählung ihrer geliebten Prinzessin mit dem reichsten Fürstensohn des Landes.

Mit einem dumpfen Knall schloss Anthea das Fenster, legte eine Handfläche auf das kalte Glas und versuchte, den aufsteigenden Druck herunterzuschlucken.

Ihr letzter Tag als Thronerbin brach in Kürze an. Schon morgen würde sie Marius heiraten und zur Königin gekrönt werden. Gemeinsam würden sie fortan über Aurasis herrschen oder, um es mit anderen Worten auszudrücken, sie würde schweigend dabei zusehen, wie er das Reich lenkte.

Dies war keine Hochzeit, durch die sie ihre Freiheit erlangte. Nein, es war der Tag, an dem sie ihre Zelle wechseln und in ein größeres und weitaus gefährlicheres Gefängnis ziehen würde.

2. VERÄNDERTE ZEITEN

Anthea

»Das wird jetzt etwas brennen.«

»Ich weiß.«

Anthea schenkte ihrer Zofe ein schwaches Lächeln, ehe sie den Blick auf die große Fensterfront richtete. Den rechten Arm über die hölzerne Sessellehne gestreckt, saß sie inmitten ihres Salons und bemühte sich darum, dem flauen Gefühl in ihrem Magen keinerlei Beachtung zu schenken. Sie wusste, welcher Schmerz sie erwartete, wie es sich anfühlte, wenn das Metall ihre Haut durchdrang und ihr Blut zutage trat. Und Himmel, sie hasste dieses Gefühl. Sie verabscheute es wie nichts anderes auf der Welt.

Ein Zucken durchfuhr ihren Körper, als die Klinge ihre Armbeuge berührte. Für einen kurzen Moment schloss die Prinzessin die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, das unangenehme Brennen zu ignorieren.

»Gleich geschafft.«

Die Stimme ihrer Zofe hatte etwas Warmes, Mitfühlendes an sich. Sie wusste, wie Anthea unter dieser Prozedur litt, wie sehr sie die tägliche Blutabnahme schwächte. Früher hatte es sich nur um einen kleinen Stich gehandelt, um einen winzigen Tropfen Blut, doch je älter Anthea wurde, desto mehr Magie schien vonnöten zu sein. Inzwischen brauchte es zwei volle Phiolen, um den Schutzzauber aufrechtzuerhalten. Ein Umstand, der nicht nur sie, sondern vor allem ihren Vater beschäftigte … und ängstigte.

»Fertig«, murmelte Isobel und drückte ein weißes Stück Stoff auf die frische Schnittwunde. Anschließend legte sie die Glasfläschchen auf ein silbernes Tablett und erhob sich.

»Ich bringe die schnell nach unten und komme dann mit deinem Frühstück zurück. Irgendwelche besonderen Wünsche?«

»Einen Kräutertee und einen anderen Hochzeitstag, bitte.«

Ein schiefes Lächeln stahl sich auf die Lippen der Zofe, doch konnte es nicht über den besorgten Ausdruck in ihren grünen Augen hinwegtäuschen.

»Der Tee kommt sofort! Für den weiteren Wunsch bräuchten wir allerdings einen guten Fluchtplan. Ich fürchte, wir geraten sonst in Zeitnot.«

»Es würde schon reichen, einen Ort zu finden, an dem wir Marius zur Zeit der Vermählung einsperren können.«

»Perfekt, ich schaue auf dem Weg in die Küche gleich mal nach einem geeigneten Raum.« Für einen kurzen Moment sahen sich die Prinzessin und ihre Zofe schweigend an, ehe beide zu lachen begannen. Kein fröhliches, sorgloses Lachen, sondern vielmehr ein trostloser, verhaltener Klang, der schnell versiegte, sobald Isobel den Raum verließ. Auch wenn Anthea wusste, dass es keinen Ausweg aus dieser Verbindung gab, so taten ihr die kleinen Scherze dennoch gut. Isobel war nicht nur ihre Kammerzofe, sondern ihre engste und einzige Freundin. Als Eloise vor knapp drei Sommern erkrankte, war ihr Vater damit einverstanden gewesen, die Tochter des hiesigen Hofmarschalls in Antheas Dienste zu stellen. Es war hierzulande nicht unüblich, dass junge Mädchen aus dem niederen Adel als Zofen ausgebildet wurden, und da sich Anthea und Isobel ohnehin schon seit Jahren kannten, konnte sie sich keinen besseren Ersatz vorstellen.

Die Finger auf den Stoff in ihrer Armbeuge gedrückt, erhob sich die Prinzessin und spürte sogleich den verhassten Schwindel in sich aufsteigen. Angespannt nahm sie einen tiefen Atemzug und versuchte gegen das unangenehme Gefühl anzukämpfen, doch es war offensichtlich – sie wurde mit jedem Tag schwächer. Allerdings versuchte sie diese Tatsache gekonnt zu ignorieren. Schließlich war sie die Thronerbin Aurasis’, die Prinzessin der Goldenen Stadt und vom Sonnengott persönlich auserwählt, das Reich zu schützen. Sie durfte keine Schwäche zeigen, denn alles, was sie tat, geschah zum Wohle ihres Volkes. Sie musste stark bleiben, erhobenen Hauptes voranschreiten und ihr Schicksal schweigend annehmen. Dies waren die Sätze, die sie sich täglich einredete, die sie wie ein Gedicht wiederholte, in der Hoffnung, dass sie nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Herz erreichten.

Als sich ihr Kopf nicht länger anfühlte, als wäre er an ein klappriges Wagenrad gebunden, öffnete Anthea die Augen und zog sich den Gürtel ihres cremefarbenen Morgenmantels ein wenig enger um die Taille. Langsam schritt sie an die große Fensterfront heran und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie fielen in dünnen Lichtkegeln in ihr Gemach und tauchten alles in einen goldenen Schein. Gedankenverloren streckte die Prinzessin ihre Hand nach einem der Strahlen aus und beobachtete die winzigen Staubkörnchen, die tanzend durch die Morgenluft wirbelten. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, während das Licht ihre sonst bläulichen Adern zu unzähligen goldenen Linien verfärbte, die sich von den Fingern bis hinunter zur Armbeuge ausbreiteten. Sie konnte dabei zusehen, wie sich die Schnittwunde in Sekundenschnelle schloss und weder eine Rötung noch eine Narbe zurückblieben. Dies war einer der wenigen Vorzüge ihrer Blutmagie. Sowohl der Schein des Feuers als auch das Licht der Sonne verrieten, welch mächtige Gabe in ihr ruhte. Doch vermochte nur die Kraft der Sonne ihre Wunden auch zu heilen. Dies war zumindest ein kleiner Trost für all die vielen Entbehrungen.

Bedrückt ließ Anthea den Blick über die unzähligen gelben Dächer schweifen. Die Fenster erlaubten ihr dank der erhöhten Lage ihres Gemachs eine weite Sicht über die Stadt, welche sich direkt unterhalb der Palastmauern erstreckte. Selbst von dort oben konnte sie das geschäftige Treiben vernehmen, das aus jedem Winkel des Reiches zu kommen schien. Die gesamte Atmosphäre war von einer vorfreudigen Spannung erfüllt, die die Luft regelrecht zum Flirren brachte und das gesamte Volk, vollkommen gleich ob Fürst oder Bettler, mitzureißen schien. Selbst im Palasthof herrschte ein reger Trubel, der die Prinzessin an einen bunten Ameisenhaufen erinnerte. Als Anthea inmitten der vielen Bediensteten den blonden Schopf ihrer Zofe erkannte, zog sich ihr Magen unweigerlich zusammen. Zielsicher bewegte sich Isobel auf die Mitte des Innenhofs zu und huschte geschickt unter einer Bank hindurch, die zwei Knechte auf ihren breiten Schultern trugen. Erst als sie den Brunnen erreichte, hielt sie kurz inne und wechselte ein paar Worte mit einem der vier Soldaten, die das Bauwerk bewachten. Als dieser sie passieren ließ, ging sie auf das flache Becken zu, nahm eine der gläsernen Phiolen vom Tablett und träufelte den dunkelroten Inhalt vorsichtig hinein.

Ein Kribbeln schoss durch Antheas Körper und durchfuhr sie vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen. Es war, als hielte die Welt den Atem an, nur um darauf zu warten, dass sich der mächtige Zauber entfaltete. Selbst die Bediensteten stellten ihrer Arbeit ein und schauten neugierig zum Brunnen hinüber.

Sobald sich ihr Blut mit dem klaren Wasser verband, spürte Anthea, wie sich die Magie ausbreitete. Das anfängliche kribbelnde Gefühl wich einem kalten Schauer, der sich binnen eines Herzschlags in einen heißen Strom verwandelte und ihre Haut zum Glühen brachte. Die Wasseroberfläche des Brunnens begann zu schimmern, erst sanft wie ein glitzernder Tautropfen, dann so hell wie der erste Strahl der Morgensonne. Rasch schaute sie zum Horizont, dort, wo der silberne Fluss das Reich begrenzte, und sah, wie nur einen Augenblick später ein gleißend helles Licht vom Fluss her erschien. Der Beweis, dass der Zauber wirkte und das Reich weiterhin geschützt wurde.

Zumindest laut der Theorie.

Schwer schluckend senkte Anthea den Blick und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war inzwischen über acht Monate her, dass sie zum ersten Mal Meldung über das Verschwinden von Menschen nahe der Grenze des Reiches erhalten hatte. Kurz darauf begannen Gerüchte über dunkle Gestalten zu kursieren, die es trotz der Blutmagie geschafft haben sollten, das Reich zu betreten.

Und von diesem Tag an veränderte sich alles.

Die morgendliche Blutabnahme wurde auf zwei volle Phiolen erhöht und die Wachposten an den Außengrenzen verdreifacht.

Ein leises Seufzen entfuhr Anthea, ehe sie vom Fenster wegtrat und auf eines ihrer hohen, mit unzähligen Büchern bestückten Regale zuging. Gezielt griff sie nach einem alten, mit floralen Ornamenten verzierten Buch mit Ledereinband und legte es achtlos zur Seite, denn das, was sie tatsächlich suchte, befand sich hinter dem dicken Wälzer. Blind tastete sie nach einem kleinen Stoffsäckchen, das sich dicht an der Rückwand des Regals befand und zog es hervor. Obwohl sich beim Anblick des dunkelblauen Samts ein Lächeln auf ihre Lippen schlich, spürte sie dennoch, wie sich Schwermut in ihrem Herzen ausbreitete. Mühelos knotete sie die goldenen Kordeln des Säckchens auf und ließ den Inhalt in ihre Handfläche fallen.

Beim Anblick des bronzefarbenen Flügels fuhr ein feiner Stich durch ihre Brust und ließ die Erinnerungen an Aris erneut lebendig werden. Auch wenn sie wusste, dass sie nicht ewig der Vergangenheit nachhängen konnte, würde sie sich doch nie von dem Schmuckstück trennen können. Es war ein Teil von ihr, den sie für immer bei sich tragen würde. Vollkommen gleich, was auch geschehen mochte.

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss Anthea aus ihren Gedanken und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Hastig legte sie den Anhänger zurück in das Säckchen, schob es zurück ins Regal und stellte das alte Buch davor.

»Wie ich sehe, hat dich die Vorliebe für staubige Literatur mal wieder überrumpelt.« Mit einem schiefen Grinsen trat Isobel in den Salon. In den Händen hielt sie ein großes Tablett, auf dem sich zwei zugedeckte Teller und eine dampfende Teekanne befanden.

»Es gehört zu meiner Pflicht, mich zu jeder Tages- und Nachtzeit weiterzubilden«, erwiderte Anthea spitz.

»Selbstverständlich. Und das gilt vor allem für Aufsätze über Schmuckanhänger und Gedichte, die von alter Jugendliebe handeln?« Mit einem leisen Klirren stellte die Zofe das Tablett auf den Esstisch, der sich umringt von einer grün gepolsterten Sitzgarnitur auf der rechten Seite des Salons befand.

»Vergiss bei deinen Aufzählungen nicht das Werk Vom guten Benehmen einer Zofe«, entgegnete die Prinzessin, ehe sie sich auf der weichen Sitzbank niederließ. Der Duft von frisch gebackenem Brot und das herbe Aroma des Kräutertees stiegen ihr in die Nase und ließen ihren Magen knurren. Umgehend griff sie nach der Teekanne und füllte zwei Tassen. Anschließend reichte sie eine davon Isobel, die diese mit einem dankbaren Lächeln entgegennahm, ehe sie sich neben ihr niederließ.

»Du hast heute Nacht wieder von ihm geträumt, nicht wahr?«

Noch ehe Anthea einen Schluck trinken konnte, ließ sie die Porzellantasse zurück auf die Untertasse sinken.

»Ist das so offensichtlich?«

»Jedes Mal, wenn die Erinnerungen an Aris zurückkehren, holst du den Anhänger aus seinem Versteck«, bestätigte die Zofe und strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Anthea.«

Die Prinzessin spürte, wie der Druck in ihrer Brust an Intensität gewann, doch anstatt ihm nachzugeben, setzte sie ein gespieltes Lächeln auf und schaute ihrer Freundin in die grünen Augen.

»Das ist nicht nötig. Es geht mir gut. Vermutlich liegt es an diesem ganzen Wirbel um die Hochzeit.« Ein Teil von ihr, tief in ihrem Inneren verborgen, beschimpfte sie augenblicklich als Heuchlerin, die sich vor ihren wahren Gefühlen verschloss und die Wahrheit weglächelte. So, wie sie es stets gelernt hatte.

»Mit diesem Gesichtsausdruck kannst du vielleicht deinem Vater etwas vormachen, doch mir brauchst du davon nichts erzählen«, entgegnete die Zofe und legte die Stirn in Falten. »Weißt du, ich bin der Meinung, dass du deinen Freund nicht vergessen solltest, doch ich denke auch, dass es dir nicht guttut, immer wieder in die Vergangenheit zurückzukehren. Morgen heiratest du Marius und wirst zur Königin gekrönt. Deine Zukunft liegt vor dir und du darfst nicht wegschauen.«

Für einen kurzen Augenblick ließ Anthea diese Worte auf sich wirken und stellte die Teetasse zurück auf den Tisch.

»Vermutlich hast du nicht ganz Unrecht«, gestand sie bedrückt, »jede junge Frau sollte sich glücklich schätzen, einen Mann wie Marius heiraten zu dürfen.«

»Also eines steht fest, eure Kinder werden die wohl hübschesten im gesamten Land.«

Anthea stöhnte genervt auf und stieß ihrer Freundin in die Seite.

»Was denn? Ich sage nur die Wahrheit. Du hast das Aussehen eines zugegeben recht aufmüpfigen Schwans und er erfüllt so ziemlich jedes Merkmal, das eine Frau an einem Mann schätzen sollte. Ich meine, er ist groß, gutaussehend und von edler Herkunft. Außerdem ist sein Vater der einflussreichste Fürst Aurasis’. Seine Ländereien umfassen den gesamten Süden.«

»Ja, er besitzt wirklich alle Eigenschaften, die mein Vater für angemessen erachtet«, erwiderte Anthea und verdrehte die Augen. »Bedauerlicherweise trägt er aber keinen Funken Mitgefühl in sich und ist kalt wie ein Stein. Bei all unseren arrangierten Treffen habe ich ihn kein einziges Mal lachen gehört. Er interessiert sich nur für Waffen und ist pausenlos damit beschäftigt, meinem Vater gefällig zu sein. Es ist mir bisher nicht ein einziges Mal gelungen, ein zwangloses Gespräch mit ihm zu führen. Wir haben nicht eine Gemeinsamkeit.«

»Du solltest ja auch nicht mit ihm reden, sondern ihn bloß heiraten!«

Antheas Augen weiteten sich vor Verblüffung.

»Ist das dein Ernst?«

»Also wenn wir dieses ganze Unterfangen einmal nüchtern betrachten, wirst du Marius nach der Hochzeit eh kaum zu Gesicht bekommen. Er ist dann König. Er wird den lieben langen Tag damit beschäftigt sein, sich mit den Fürsten des Reiches zu treffen, Verträge zu besiegeln und irgendwelche Dekrete aufzusetzen. Deine Aufgabe hingegen wird es sein, gut auszusehen, Einladungen für Teegesellschaften zu unterschreiben und die Entscheidungen deines Mannes mit einem stummen Lächeln abzusegnen.«

Die Klarheit, mit der Isobel ihr künftiges Leben beschrieb, fühlte sich nicht nur falsch, sondern absolut lächerlich an. Auch wenn Anthea vermutlich besser als jede andere wusste, dass ihre Aufgabe als Königin rein repräsentativen Zwecken galt, schmerzte es dennoch unverhofft stark, sich diese Tatsache so deutlich vor Augen zu führen. Sie würde nichts weiter sein als eine schöne Hülle. Eine Puppe, der man atemberaubende Kleider anzog, die sich anmutig von einer gesellschaftlichen Verpflichtung zur nächsten bewegte und schweigsam lächelte. Ihre einzige sinnvolle Aufgabe würde darin bestehen, einen Thronerben zu gebären, dem sie ihre Blutmagie übertrug.

»Anthea, ist alles in Ordnung?«

Vorsichtig legte Isobel ihr eine Hand auf den Unterarm.

»Es tut mir leid. Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dann …«

»Nein. Nein, das hast du nicht«, fiel ihr die Prinzessin ins Wort und straffte mühsam die Schultern.

»Es ist nur so, dass …«

Ja, was war es eigentlich? Anthea konnte ihre Gefühle nur schwer in Worte fassen. Da war dieses Verlangen, ein Wunsch, der tief in ihrem Herzen ruhte und sehnlichst darauf wartete, endlich ausgesprochen zu werden.

Doch Worte besaßen Macht, und die Angst davor, diesen Wunsch mit ebenjener Macht zu zerstören, war schlimmer als alles, was sie jemals hatte erdulden müssen. Sie war mehr. Viel mehr als ein hübsches Gesicht oder die Prinzessin, die über magisches Blut verfügte. Doch ihre unsichtbaren Fesseln hielten sie zurück und ließen sie verstummen.

»Schau mal«, begann Isobel und rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Wenn du ein Kind bekommst, das mit derselben Magie gesegnet ist wie du, dann wird es für dich so viel einfacher werden. Du wirst nicht länger alle Last allein auf deinen Schultern tragen. Dann wirst du endlich das erhalten, was du dir schon so lange wünschst.«

»Und was wäre das?«

Anthea sah, wie ihre Zofe kurz um Worte rang, ehe sie ihre Hand ergriff.

»Freiheit.«

***

Salzgebirge - 6 Tage zuvor

Reav

Seine Schritte hallten donnernd von den hohen Felswänden wider und verloren sich in einer Finsternis, die schon seit Jahrhunderten von keinem Tageslicht mehr berührt worden war. Er konnte die Anwesenheit der Schatten spüren, die abseits des Ganges lauerten und nur darauf warteten, ihn mit ihren kalten Zungen zu berühren, sollte er auch nur einen Schritt in die alles verschlingende Dunkelheit treten. Jedes Mal, wenn er eine der schmalen Säulen passierte, auf deren Haupt eine lodernde grüne Flamme thronte, sah er die verfluchten Gestalten schemenhaft vorbeiziehen. Das magische Feuer zog sie an wie Motten, die dem verlockenden Schein nicht widerstehen konnten. Doch anders als die geflügelten Insekten würden diese Kreaturen niemals in der Lage sein, in den flackernden Kegel zu treten. Sie würden niemals erfahren, dass ihre Suche nach Wärme vergeblich war. Dass alles, wonach sie sich sehnten, einzig aus Lug und Trug bestand.

Wie sehr er diesen Ort doch verabscheute.

Die Menschen nannten ihn Die schwarze Festung, die Elfen Caésirat. Der Ursprung des Bösen.

Und beide hatten sie recht.

Inmitten des schroffen Salzgebirges, weit hinter dem veterischen Wald, erhob sich ein einzelner dunkler Berg, der wie ein Juwel über allen Gipfeln thronte. Bei klarer Sicht schimmerte seine schneebedeckte Spitze wie ein Diamant, während sie an anderen Tagen inmitten einer dichten Wolkendecke verschwand. Umgeben von kahlem Gestein und zerklüfteten Felsen war dieser Berg nahezu unerreichbar, es sei denn, man war schon einmal dort gewesen. Doch dies konnten nur die wenigstens von sich behaupten. Es hieß, dass jeder, der auch nur einen Fuß ins Salzgebirge setzte, entweder den Tod oder die Einsamkeit suchte. Möglicherweise auch beides. Die zahlreichen verwinkelten Pfade verzweigten sich zu einem undurchdringlichen Geflecht, aus dem es kein Entkommen gab.

Doch er kannte den Weg. Ihm waren die tiefen Schluchten und steilen Abhänge wohlbekannt. Man hätte ihm die Augen verbinden und seine Hände in Eisen legen können, er hätte diesen verfluchten Ort stets wiedergefunden. Immer und immer wieder.

Hier, umgeben von Kälte und nackten Höhlenwänden, war er aufgewachsen. Hier hatte er um sein Leben gekämpft und unter dem wachsamen Blick seines Herrn gelernt, seine Gegner zu bezwingen.

Manche nannten ihn den Sohn des Bösen, andere schlicht Reav, angelehnt an das elfische Wort für Unheil. Zugegeben, zwei grässliche Namen, doch waren sie alles, was er an Titeln besaß. Denn sollte er jemals einen richtigen Namen besessen haben, so hatte er ihn längst vergessen. Mit einem leisen Seufzen fuhr sich Reav durch das nasse, weißblonde Haar und strich die lästigen Strähnen aus dem Gesicht.

»Ich hoffe, du bringst erfreuliche Neuigkeiten.«

Kaum hatte er den Gang hinter sich gelassen und einen ersten Fuß in den riesigen, spärlich beleuchteten Saal gesetzt, ertönte eine Stimme, deren tiefes Grollen den gesamten Berg erzittern ließ. Der Boden unter seinen Stiefeln begann zu beben, während kleine Steine von der hohen Decke rieselten und sich in dichten Staubwolken verloren. Noch ehe Reav wusste, wie ihm geschah, jagte ein brennender Schmerz durch seine Brust und ließ ihn hastig nach Luft schnappen. Instinktiv griff er nach dem silbernen Amulett, das an einer langen Kette unter seiner zerschlissenen Tunika hing. Das sonst so kühle Metall glich einem glühenden Brandeisen, das sich tief in seine Haut fraß und dort ein flammendes Mal hinterließ. Wäre ihm der Schmerz nach all den Jahren nicht derart vertraut gewesen, hätte er vermutlich laut aufgeschrien und versucht, sich die verhasste Kette vom Hals zu reißen. Doch er wusste, dass es keinen Sinn ergab. Dass niemand ihn von diesen Qualen erlösen konnte. Ausgenommen der Person, die ihn einst an jenes Amulett gekettet hatte.

Dem Schmerz zum Trotz setzte er seinen Weg fort und bemühte sich darum, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Er vermied es, seine Aufmerksamkeit auf die schroffen Felswände zu richten, die mit blutroten Symbolen besudelt waren, oder hinauf zu den rostigen Käfigen zu schauen, aus deren Richtung ein leises Wimmern erklang.

Erst als Reav das hohe Podest inmitten des Saals erreichte, hielt er in seiner Bewegung inne und schaute die polierten Stufen empor. Sie führten zu einem steinernen Thron, über dem das skelettierte Haupt eines uralten Naturgeistes hing.

»Nun?«

Abermals fraßen sich die unsichtbaren Flammen durch seinen Brustkorb und ließen ihn gequält aufkeuchen.

»Habe ich Euch jemals enttäuscht?«

Er presste die Worte unter zusammengebissenen Zähnen hervor und zwang sich, eine aufrechte Haltung zu wahren. Niemals würde er vor dem Herrn der schwarzen Festung auf die Knie sinken. Niemals.

Ein heiseres Lachen ertönte und ließ die kalte Luft vibrieren. Es war ein unnatürlicher, von Bosheit gezeichneter Laut, der ihn bis ins Mark durchdrang.

»Glaub mir, früher oder später wird jeder Schüler seinen Meister enttäuschen, jeder Sohn den eigenen Vater ins Unglück stürzen und jeder Freund zum Feind mutieren.«

Noch ehe die Worte verklangen, strich ein eisiger Luftzug über Reavs Wangen. Er spürte, wie eine Woge dunkler Magie durch den Saal strömte und sich lautlos an den schroffen Felswänden brach. Dunkle Nebelschwaden krochen aus den Mauern, fielen von der meterhohen Decke hinab und sickerten aus dem Boden. Während die Temperatur mit jedem Herzschlag sank und sich Reavs Atem zu Dunst verformte, schwebten die dünnen Wolken das Podest hinauf und verbanden sich dort zu einer Materie, die binnen weniger Sekunden menschliche Züge annahm. Die gesamte Szenerie wirkte, als wäre sie einem Alptraum entsprungen.

»Verrat liegt den Wurzeln eines jeden Wesens zugrunde und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jene Fäulnis zutage tritt. Es bleiben daher nur zwei Möglichkeiten. Entweder man lernt die Zeit zu kontrollieren, oder man bemächtigt sich dem freien Willen des anderen.«

Ein hochgewachsener Mann entstieg der Dunkelheit und musterte Reav aus bleichen, leblosen Augen. Die fahle Haut war ebenso weiß wie das lange Haar, das ihm bis zu den Schulterblättern glitt und von letzten Nebelschwaden durchdrungen wurde. Zwei spitze Ohren lugten darunter hervor und zeugten von seiner elfischen Abstammung. Doch während sich jene Wesen in der Regel durch ein reines, makelloses Gesicht auszeichneten, wurde seines von tiefen Narben verunstaltet. Ein Preis, den der Gebrauch schwarzer Magie mit sich brachte und der von keinem Zauber der Welt verhüllt werden konnte. Den Körper in einen weinroten, mit goldenen Ornamenten bestickten Mantel gehüllt, erinnerte seine Erscheinung an die eines Königs. Eines Königs ohne Krone, doch mit entsetzlicher Macht.

Salis’ Magie durchströmte ihn wie einen reißenden Fluss und verlieh ihm eine geisterhafte Aura. Der Hexer musterte Reav mit undurchdringlicher Miene, ehe sich seine schmalen Lippen zu einem zynischen Lächeln verzogen. Lautlos stieg er die Stufen des Podests hinab und kam so dicht vor Reav zum Stehen, dass dieser seinen kalten Atem auf der Haut spüren konnte.

»Und da keine Magie der Welt es vermag, die Zeit zu bezwingen, entschied ich mich für den freien Willen.«

Ein Kribbeln durchfuhr Reavs Körper und brachte seine Fingerspitzen zum Zucken. Er spürte, wie die unsichtbare Verbindung zwischen dem Amulett und Salis an Stärke gewann und seine Macht von ihm Besitz ergriff.

»Wie weit seid ihr diesmal vorgedrungen?«

»Wir haben es bis an den Rand des Weihers geschafft.«

Die Worte kamen wie von selbst über Reavs Lippen. Vollkommen gleich, wie sehr er sich dagegen wehrte, der Fluch brach seinen Willen. In den vergangenen Monaten waren er und einige von Salis’ versklavten Marionetten über den silbernen Fluss gedrungen, um in Erfahrung zu bringen, wie rasch die Magie der Prinzessin versiegte. Anfangs hatten sie nur wenige Meilen zurücklegen können, doch mittlerweile drangen sie immer tiefer ins Landesinnere vor. Während seine Aufgabe darin bestand, die Wege in der nahen Umgebung auszukundschaften, zog ein Teil seiner Männer plündernd und brandschatzend durch die naheliegenden Dörfer. Jene, die sich ihnen dabei in den Weg stellten, wurden entweder getötet oder verschleppt. Wobei Ersteres das wohl gnädigere Schicksal war.

»Wie erfreulich. Die Kräfte des Mädchens lassen schneller nach, als ich erwartet habe. Ein Vorteil, den wir zu unseren Gunsten nutzen müssen.«

Ein gefährliches Funkeln blitzte in Salis’ Augen auf.

»In fünf Tagen, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, wird die Prinzessin der Goldenen Stadt den Bund der Ehe eingehen.« Der Magier stieß einen abwertenden Laut aus und hob die rechte Hand. Eine grüne Flamme stieg zwischen seinen dünnen Fingern empor und ließ sein Antlitz in einem zwielichtigen Schein erstrahlen.